DENNIS FREISCHLAD

DIESSEITS DER TAGE

EIN SOMMER AUF KUBA

© 2017 DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung: Herburg Weiland, München

Umschlagfotos: Michael Christopher Brown / Magnum Photos

Fotos: Dennis Freischlad, Miloš Jevtic, Hermes Villena

Karten: Dennis Freischlad, Gerald Konopik, DuMont Reisekartografie

ISBN 978-3-6164-9151-6

www.dumontreise.de

Für Hermes und Demián

Nunca cansado, nunca triste, nunca culpado

»Ich sah was ich nicht sah,

aber das Auge?

Bestätigte.«

JOSÉ LEZAMA LIMA, »FRAGMENTE DER NACHT«

Fumigación! Normalerweise wird das Rauchgemisch zur Moskitoabwehr per Handgebläse in die Häuser gewölkt – manchmal schickt die Revolutionsarmee aber auch dieses Auto.

Wenn es nachts nicht regnet, wird aus meiner Herberge Casa Azul die „Terraza Azul“. Linny und Hermes noch im Tiefschlaf.

Eine der täglichen Sitzungen mit Mayra, patrona der Casa Azul

In der Innenstadt von Santiago de Cuba

Santiago de Cuba, Hauptstadt der Revolution. Szenen aus der Calle Santa Rosa und Rafael in seinem Hauseingang

Bilderbuchtag mit Abuela – damals und heute

Schriftsetzer der alten Schule im Herzen Santiagos

Ausflug nach Siboney, Hausstrand Santiagos, mit Violetta und Familie (links). Abends: Party in der Calle Santa Rosa mit den Streetcats

Der Friedhof Santa Ifigenia, letzte Ruhestätte etlicher kubanischer Helden

Boxtraining in der Sala de Polivalente, mit Francisco und García

Blick von der Casa Azul über Santiago de Cuba

INHALT

Santiago de Cuba – Teil 1

Guantánamo

Baracoa

Santiago de Cuba – Teil 2

Bildstrecke

Kubanische Begriffe

Quellennachweis

Danksagung

Über den Autor

Santiago de Cuba

Teil 1

Das Hören ist der erste Sinn Santiagos.

Noch bevor ich die Augen in den Himmel hebe und die Haut um ihr Feingefühltes weiß, rattern unten die Wägelchen. Der Hahn hat Morgenstunden hinter sich, Radios laufen, von der Straße strömen die Stimmen. Nur von meiner Terrasse ist noch kein Geräusch zu hören. Die Topfpflanzen stehen still in der Luft und Steine wärmen das Licht. Meine Matratze bleibt stumm, mein Laken, die Zeit; stumm auch die Außenspüle und über mir das noch lippenlose Blau. Ich stehe auf, erinnere mich kurz der Sterne, mit denen ich eingeschlafen bin, und höre den ersten Ausschreier sein Hör-mein-Liedchen, sein Kauf-mein-Bisschen singen.

»Las velas, flores, flores, las velas, flooooores …«

Ich ziehe mich aufs Mäuerchen.

Unter mir die Straße mit den üblichen Wangenküssern, Schreihälsen, Tausendfachern: Eine Bewunderung in stundenlangen Anfängen, die niemandem dient und alle glücklich macht. Gegenüber alles wie immer. Das Haus verschluckt wie jeden Morgen seine Tagesration Menschen und spuckt andere auf die Straße, und wie jeden Tag kann ich mich kaum sattsehen an diesem Zauber, der die Santiagueros so exakt beschreibt wie sonst nur die Lust. Apotheose von Menschen und Göttern: Die Wände fast eingestürzt oder gerade so aufgezogen, unverputzt, abgebröckelt, die Patina lediglich eine vorübergehende Schönheit über dem unersättlichen Staub, dem Zerfallenden und dem Schwarz, das den Schimmel frisst; Holztürplanken, morsch und verwachsen, Wellblech über dem Kopf, klappriges Habe-kaum-Gut in der Form durchgesessener Möbel und abgetretener Böden, der dreibeinige Tisch unter der nackten Glühbirne, zerbeulte Töpfe und rostende Wassertonnen, insgesamt in den Ruin getriebenes Material, fensterlos, asbestfarben – doch die Menschen treten aus ihren Häusern wie Engel.

Ich baue mein Nachtlager ab, schleppe die Matratze zurück ins Zimmer und dusche mich mit der rostigen Dose. Von unten Milsys Stimme, die nach mir schreit.

»¡Ven aka!«

Verschlafen steht sie in der Küche, schlägt Eier in die Pfanne und drückt mir den Telefonhörer in die Hand. »Mi amor, du wirst es nicht glauben, aber ich habe von meinem Sohn geträumt, von der Finca, und jetzt ruft er an und will mit dir sprechen.«

»Mit mir?«

»Natürlich! Du warst auch in meinem Traum.«

Ich nehme den Hörer und sage »Hallo«. Milsys Sohn kenne ich nur von ihren Erzählungen, wir haben uns noch nie getroffen. Nach den üblichen Begrüßungen und »Wie geht’s« spricht er so schnell und viel, dass ich kaum ein Wort verstehe. Aber da sitze ich bereits im Schaukelstuhl, jenem Instrumental, das Gott erfunden hat, um sich und der gesamten Schöpfung zu vergeben; Milsy hat mir den cafecito hingestellt, der Ventilator läuft, nichts kann noch schiefgehen. Ich wippe vor und zurück und höre nicht auf zu wippen. José redet und redet, es tut uns beiden gut: das Erzählen, das Zuhören. Wenn er laut auflacht, lache ich mit und streue hier und da ein »Exactamente« ein, dann ist die Tortilla fertig und ich verabschiede mich mit dem Versprechen, ihn selbstverständlich bald auf der Finca besuchen zu kommen.

Ja, mit Milsy.

Ja, wie in dem Traum.

Mit dem zweiten Kaffee hocke ich mich in die Haustür und blinzle die Calle Santa Rosa hinunter. Parfüms, Wägelchen, durchuniformierte Schulkinder, dünne Hunde auf flachen Dächern und eine Meile weit die Straße runter nur Licht und Gold, Gold und Licht. Ein sich den Hügel heraufkämpfender Lada mit zwei schallend lachenden Männern. Der Schatten meiner Füße im klarer werdenden Licht, im heißer werdenden Tagesblau. Die Kinder wie Kinder und Männer und Frauen so flatternd und leicht, als sei der Morgen gerade erst zu ihrem Körper geworden, als hätte er sich ihnen angepasst, ergeben wie ein Stück biegsames Metall.

Nebenan geht das Eisengitter auf und Ivan streckt seinen Kopf hinaus. Er setzt sich zu mir, die Granma unter dem Arm, Kubas größte Zeitung, wenn man die paar Seiten Parteinachrichten unbedingt eine Zeitung nennen will. »Hier!«, sagt er und wirft sie mir in den Schoß. »Cojones, alles ist eine riesengroße Scheiße, aber Kuba ist das einzige Land der Welt, wo die Zeitungen nur gute Nachrichten drucken.«

Gerade, als ich die Granma aufgeschlagen habe, höre ich die Maschine. Ich stehe auf und schaue den Hügel hoch. In der Tat ist schon wieder Dienstag und sie steht bereits dort oben, wo der Asphalt endet und nur noch der Himmel weiter in die Welt zieht. Von dort arbeitet sie sich langsam meine geliebte Straße hinunter, Fidels Revolutionsarmee, um uns alle umzubringen.

Ich sage Milsy Bescheid, die das Haus in ein Tollhaus verwandelt und wegpackt, was wegzupacken ist. Ich suche meine Trainingssachen zusammen, schließe alle Fenster, verbarrikadiere die Türen und bin abfahrbereit unten auf der Straße, als der erste Soldat mit seinem Vergeltungsgebläse direkt vor mir steht, Maske und Maschine absetzt und dem Ausländer freudestrahlend mit beiden Händen eine Hand schüttelt. Nebenan quillt der Rauch aus Presidentes Haus, Hunde bellen, die ganze Straße hustet und stinkt. Ivan schleppt Abuela, sein Mütterchen, auf die Straße, dreht sich zu mir und tätigt die in Kuba so großzügig ausgeführte Halsabschneidegeste, kommentiert mit dem großzügigsten Grinsen der Welt.

»Permiso, Entschuldigung«, sagt der Soldat, schiebt sich die Gasmaske wieder auf und mich freundlich zur Seite, »aber ich muss jetzt arbeiten.«

¡Fumigación!

Olivgrüne Anzüge, Wägelchen voller kleiner Giftfässer und ein Auftrag, dem sich nichts entgegensetzen lässt: Die Dreifaltigkeit jeden Dienstags, unaufhörlich wie das Erdenrund. So zieht die Armee durch Santiago de Cuba, um durch die Ausräucherung des menschlichen Wohnraums Moskitos zu töten.

Buenas, willkommen, kommen sie ruhig herein!

Die Soldaten stürmen jedes Haus mit ihrer handlichen Nebelmaschine, die sitzt wie eine Waffe und ein Gemisch aus Diesel und Benzin in alle auffindbaren vier Wände wölkt. Es bleibt keine andere Wahl, als das Haus zu verlassen und auf der Straße zu warten, bis sich das meiste verzogen hat. Anschließend bleibt keine andere Wahl, als sein Haus irgendwann wieder zu betreten. Die Giftschlieren in der Luft, der Geruch von Benzin an den Möbeln, an den Wänden, auf dem Obst, den Kleidern. Von der fumigación wird einem schlecht, die Nase beginnt zu laufen – was Moskitos tötet, wird eben auch den Menschen langsam zur Strecke bringen, aber was soll man machen? Etwa ein Straßentänzchen mit dem Sohnemann, wie es Abuela gerade improvisiert? Etwa weiter Kaffee kochen für alle Wartenden, wie Richard es tut? Etwa quatschen und lachen und witzeln und dem nächsten prächtigen Hintern hinterherpfeifen, weil all diese Schönheit, fumigación hin oder her, noch immer umsonst ist? Etwa einfach warten, bis das Leben ganz von alleine weitergeht, wie es dies schon immer getan hat?

Ich halte mir ein Motorrad an und durchquere die Stadt.

Vom Hotel Deportivo aus laufe ich die letzten Meter vorbei am Baseballstadion, den ersten müden Joggern und schließlich dem Pförtner der Sportfakultät, ein fröhlich auf seinem Stuhl festgesessenes Andenken der Zeit, der mich wie jeden Morgen mit seinem »Buenas, Schweinsteiger« empfängt. Vorbei am Hauptgebäude, verziert mit den Wandbildern Raúls, Ches und Fidels, vorbei an dem einzigen Baum und den Hang hinunter zur Cafeteria Olimpia, die nichts anzubieten hat außer der Musik aus dem MP3-Player, und die ist geschenkt.

Das alte Schwimmbecken leer und verdreckt, der Sprungturm einsturzbereit, auf der Tribüne der umgekippte Flutlichtmast. Hier gibt es schon lange kein Wasser mehr, keine Schwimmer, keinen Applaus unter Flutlicht. Es ist neun Uhr und ich sitze im Schatten und schwitze. Außer Jusmani, dem kräftigsten, breitesten und nuschelndsten Teil des Trainerstabs, ist noch niemand zu sehen.

Jusmani schließt das Tor auf und wir treten ins dunkle Gym respektive Kellergewölbe, in dessen gestandener Schwüle das staatliche Boxteam von Santiago de Cuba für die Ostkuba-Meisterschaften trainiert. Ein niedriger, dunkler Raum, in dem der Schweiß von tausend tropischen Trainingsstunden die Luft säuert. Inventar: ein provisorisch hingeknallter Boxring, aus dessen Boden man sich Splitter reißt und dessen oberstes Ringseil kurz überm Bauchnabel endet. Hinzukommen vier absterbende Boxsäcke, die nur deshalb an einem Eisenträger hängen, weil man pragmatischerweise den drumherum liegenden Stein aus der Decke geschlagen hat; eine Hantel ohne Gewichte, ein Besenstiel und in der Ecke die schauerlichen Reste von Schuhen, die selbst in Kuba keinen Weitergebrauch mehr finden.

Gerade, als ich mich warmmachen will, ertönt die knattrigversoffene Stimme meines Trainers.

Francisco ist ein Wunder von einem Meter sechzig. Ein schiefes Wunder, aber Wunder nichtsdestotrotz. Grinsend und knatternd – seine Stimme immer auf einer Frequenz, als stiegen mit ihr kleine nasse Luftblasen auf, als stünden seine Lungen stets ein wenig voll Bier – schaukelt er in den Raum. Die zerschlissene Saufnase ist noch rot von der Anstrengung, die ihn sein Tag bisher gekostet hat, und die einzig noch verbliebenen zwei Zähne der unteren Zahnreihe schmückt ein Lächeln, das all seinen Sanftmut, seinen Stolz und das treugute Herz offenlegt.

»Ihr Schwuchteln«, tönt er, »wehe ich bin heute umsonst aufgestanden! Was für ein gottverdammter, heißer Tag …«

Nachdem er sich schmerzhaft auf die alte Holzbank niedergelassen hat, verläuft alles normal. Wir sitzen herum, Francisco erzählt mir seinen letzten Abend oder was ihm sonst gerade durch den Kopf geht, einiges aus den Nachrichten, das ihm gefällt, Erinnerungen an seine Auslandseinsätze in Afrika und Frauengeschichten von früher. Ein großes Wortwerk für einen Tag, der solcherart Zuspruch notwendig hat, um in Gang zu kommen. Schließlich und plötzlich dann das Signal zum Aufbruch:

»Hopp jetzt, was sitzt ihr hier rum! Seid ihr zum Nachdenken hierhergekommen, was bildet ihr euch ein, na los! Beweg deinen Arsch, Dennis, García, an den Boxsack, aber schnell!«

Nach dem Aufwärmen beginnt und beendet Luis die heutigen Sparring-Runden, indem er mit einem Eisenhaken gegen eine bereits zusammenbrechende Metallbank hämmert, auf der er selbst Platz genommen hat. Francisco nimmt mich zur Seite und macht mit mir Sondereinheiten von Schritten und Kombinationen, bis ich mich kaum noch konzentrieren kann. »Alemán crudo«, schreit er. »Deutsche sind hässliche Dummköpfe! Und die Arme nicht so weit zusammen, du bist keine Mama, die ihr Kindchen wiegt, du bist hier, um zu schlagen und geschlagen zu werden. Und merk dir, das ist zwar ein Kampf, aber Kampf hat einen Rhythmus wie alles im Leben. Finde deinen Rhythmus, überhaupt einen, ist mir ganz egal! Bewege dich leicht, bleib locker – du musst beweglich bleiben, beim Ausweichen und beim Denken! Hör mal auf und schwing einfach die Hüfte, wie beim Tanz! Ja, ja, genau so!«

Ich schwinge die Hüfte.

Er steht sogar auf, verkatert und gelenkgeplagt, um in die Hände zu klatschen.

»¡Alemán crudo! Und jetzt: Salsa!«

Dann vorbei an in Schaukelstühlen dösenden Großmüttern;

vorbei an plattgetretenen Kakerlaken, die auch nichts anderes sind als braune Heuschrecken;

vorbei an allem, was Licht ist und Stein und Lichtstein in dieser Stadt;

vorbei an einem Dominospieler, der aussieht wie Mississippi John Hurt;

vorbei an leeren, von Pferden gezogenen Müllfässern;

vorbei an den Alten, die sich zur Radiomusik an die casas lehnen;

vorbei an den Alten, die nichts mehr hören, aber die Augen aufschlagen wie Schmetterlinge;

vorbei an den Messerschleifern, Trinkern, Taugebloßen, die Arm in Arm mit dem Tag ihre Kreise ziehen;

vorbei am grenzenlosen Mittag, der so dick und schwer ist wie frisches Fleisch;

vorbei an Hunderten Hunden auf Hunderten Dächern;

vorbei an Beton, Kalk, an Kunterbuntseelen, vorbei an Sonne und Gas;

vorbei an jenen, die plärren, das Leben sei hart, und vorbei an jenen, die flüstern, das Leben sei schön;

»Santiago es Santiago«, steht auf einem Bus, um der Wahrheit zu dienen:

»Santiago ist Santiago.«

Ich lasse mich an der Trocha absetzen, um die letzten Meter nach Hause zu laufen. In einem Hauseingang ein Mädchen, vielleicht um die zehn Jahre alt, und ihr halb nackter Freund. Sie wischt ihm seinen Schweiß mit ihrem Finger von der Unterhose bis zur Brust, fährt um die Brustwarze, leckt sich den nassen Finger, schiebt ihn sich im Mund herum, holt aus und gibt ihm eine Ohrfeige.

Er fasst ihr in den Schritt und wirft seinen Mund an ihren Hals.

Die Liebe im Sommer, bei Gott, die Liebe!

Zu Hause sind die Hähne trocken. Die Dusche schon seit einer Woche ohne Wasser. Ich muss mich so weit in den Reservetank hineinbeugen, dass meine Füße den Boden nicht mehr berühren. Die alte Konservendose, mit der ich das Wasser fische und die wir zum Duschen benutzen, kratzt bereits am Boden.

»Noch ein, wenn wir sparsam sind auch zwei Tage«, sage ich zu Milo, der neben mir steht und mit zusammengekniffenen Augen den Himmel absucht.

»Dann haben wir ein Problem.«

Nach dem Mittagsschlaf sitze ich mit Milo und den beiden Damen des Hauses in den Schaukelstühlen. Am Beispiel von George Harrison, der mit achtundfünfzig Jahren an Lungenkrebs gestorben ist, wird im TV Werbung gegen das Rauchen gemacht. Ich schalte um. Auf dem Bildungssender laufen Mathematikaufgaben, unterlegt mit klassischer Musik. Der cafecito ist getrunken und wir haben nichts zu tun, als auf den Nachmittag oder sonst was zu warten.

Es ist diese eigenartige kubanische Stunde zwischen drei und vier Uhr, eine Zeit weder lebendig noch tot, weder an- noch abwesend. Ein Vorhandensein, gegen das sich nichts unternehmen lässt. Man kann nicht mehr schlafen, das hat man hinter sich, und noch erlauben es der letzte Traum und die Hitze nicht, gänzlich wach zu werden als Mensch unter Menschen. Rum hebt die Stimmung, sicherlich, packt sich den Körper mit seinem dunklen Wasser und reißt sich einige Ufer.

Der Cubay füllt die Gläser, nur Mayra und Milsy wollen nichts trinken.

Milo schließt die Augen und prostet mit dem Glas in die Luft.

»Wie ein König«, sagt Mayra, »wie der König von Montenegro, und jetzt auch noch Kuba. Denni, schau ihn dir an! Als ihr hier ankamt, war er weiß und kannte keine Liebe. Jetzt hat er Sonne und bringt jede Nacht eine negrita mit nach Hause, ai, ai, ai.«

Ihr zufriedenes, herausforderndes Grinsen: Mögen die Spiele beginnen! Mayra wartet auf Milos Retour, indem sie noch mal die Nase rümpft, Augenfunkel auflegt und die negrita-Geste ausführt, der Klassiker im Pantheon der sieben großen kubanischen Gesten:

1.  Fidel: als zupfe man sich den langen Kinnbart.

2.  Gefängnis: das Umgreifen des linken Handgelenks mit der rechten Hand.

3.  Sex: das Aneinanderreiben beider ausgestreckter Zeigefinger.

4.  Ich finde dich heiß: das Klatschen mit geschlossenen Fäusten.

5.  Etwas ist sehr gut, sehr schön: ein zugeworfener Handkuss, trotz angetäuschter Kussbewegung allerdings vom Kinn aus ausgeführt.

6.  Flaco, ein Dürrer oder eine Dürre: in die Höhe gereckter kleiner Finger.

7.  Schwarze, negritas und negritos: das Reiben des Zeigefingers auf dem Unterarm.

»Es ist schön«, sagt Milo und nimmt einen ordentlichen Schluck, »auf der Welt eine Insel zu wissen, auf der alle armen Leuten gut leben. Alle, sogar die Touristen.«

»So arm dieser Milo, natürlich«, plärrt Mayra und wuchtet ihr Gewicht nach vorne, um die Herrscherhaltung einzunehmen, mit der sie sich immer mit ihm darüber streitet, wer von den beiden ärmer dran ist. Ich schenke mir ein, schubse mich vor und zurück und genieße das Schauspiel.

»Montenegro, das ist Europa. Und du arbeitest auf einem Kreuzfahrtschiff, du hast die halbe Welt gesehen, Mister Cruzero. Wie viele Frauen hast du von dem Schiff in deine Berge geschleppt, ha, wie viele Frauen?«

»Hey, ich arbeite dort als Fotograf, hallo? Das ist ein kleiner Job, wo ich fast nichts verdiene. Nicht jeder Ausländer hat viel Geld, auch arme Leute reisen.«

»Wer mit dem Flugzeug nach Kuba kommen kann und weiterreisen nach Mexiko, der …«

»Darauf habe ich lange gespart, und hier esse ich Reis mit Bohnen und fahre mit dem billigsten Bus. Da hilft mir keiner. Im Gegensatz zu dir habe ich keine Exilfamilie in Miami, die mich mit Dollars finanziert.«

»Ja, ja, hier bist du ein König und in deinem Land ein Bettler, nicht wahr?!«

»Wer reist hier zwei Mal im Jahr nach Havanna? Mit dem Flugzeug!«

(Milsy reicht mir einen Teller mit Mangos. Ich soll beim Zuhören ja nicht verhungern.)

»Ai, das ist für uns Kubaner billiger als mit dem Bus, und mein Rücken und meine Beine, schau, damit zwanzig Stunden mit einem Bus nach Havanna, dann kannst du mich dort gleich auf den Friedhof kippen …«

»Arme Mayra …«

»So ist es. Aber mein Milo, dir soll es immer gut gehen, dafür werde ich schon sorgen. In meinem Haus wird es dir an nichts mangeln. Wie mein Sohn!«

Sie steht auf, packt seinen Kopf zwischen ihre Hände und knutscht ihn, bis sein Atem knapp wird.

Nachdem der Punktsieg an Milo, die Haltungsnoten aufgrund von Zähnefletschen, divenhafter Halbohnmachten und abschließenden Abschmatzereien erneut an Mayra gegangen sind, machen Milo und ich uns runter zu Rafael und Anailis. Vorbei an Bruno, dem schönsten Hund der Welt, vorbei an den kleinen Hauscafeterias und der ruinösen Gewalt der Häuser und Straßenschlachten, den Schönheiten Santiagos – als kippte ständig alles in eine bereits verlorene Zeit, um das Vergehen nachzuholen.

An der Kreuzung, wo die Calle Santa Rosa nach einer langen Geraden wieder hügelauf steigt, steht die Tür wie immer offen.

»¡Oye, señor!«

Rafael streckt seinen Kopf aus dem Zimmer, sein bubenhaftes Gesicht, die Verspieltheit in den Gesichtszügen, das krause, ergraute Mulattenhaar über den funkelnden Augen, die platte Boxernase und das seit Jahrzehnten unvollendete Tattoo auf seinem linken Oberarm. Für das Grabsymbol hatte die Farbe noch gereicht. Den Schriftzug »Bon Jovi« hat der Künstler dann einfach ohne Tinte in die Haut gewetzt.

Er rollt aus seinem Zimmer und freut sich über die roten Hollywood, die wir ihm mitgebracht haben.

Ob Anailis auch da sei, fragt Milo, und Rafael verneint. Sie sei nebenan bei einer Freundin, komme aber bald wieder. Bueno. Warum also nicht auf sie warten auf dem schönsten Warteplatz Santiagos, dieser kleinen Plattform, welche die paar Treppenstufen zu Rafaels Wohnung abrundet und von der aus man im Mittelpunkt Tivolís sitzt. Wie gemacht, um alles andere gut oder schlecht sein zu lassen. Nur noch die übrig gebliebene, volle, bunte und großartige Welt, wie sie unaufhörlich vorkommt in ihrem Menschenzauber, den großen Sommertagen und der vollendeten, weil kostenlosen Langeweile.

Eine Zigarette, ein bisschen Unterhaltung, kaum Klamotten tragen müssen, ein Glas Rum. Keine Viertelstunde an diesem Ort und man weiß, was alle Kubaner wissen: Um diese erdengetragene, in Augenlicht und Körpersaft stehende Welt ist es geschehen. Nichts kann man noch tun, verhindern oder hinzufügen: Die Kontrolle haben eben die orishas, die Castros, Gott und sein Sohn im Himmel, die von den Tagen ohnehin und märchenhaft erzählte Weltstunde, der Tod und die Kreisläufe von Schlaf und Wachen, Leben und Tod. Es gibt nicht viel, also erwartet man wenig neben der großen Sonne und den Schönheiten, die hier vorbeikommen, Frauen und Männer, aufsteigend wie Vormittagssonnen. So viel Zeit, so viel Hitze. Das Glück Kubas bleibt eine simple Rechnung: Dreißig Leute gehen vorbei, siebenundzwanzig davon lachen und grüßen.

Schließlich kommt Anailis, Rafaels Tochter, mit ihrer Freundin Clara. Clara, die mit ihren siebzehn Jahren aussieht wie vierzehn, und Anailis, die mit ihren siebzehn Jahren aussieht wie siebzehn. Milo hat sich nach einigen Tagen Mutmachung durchgerungen, sie zum Tanzen einzuladen; immerhin ist sie nach kubanischer Jahresrechnung schon seit über zwei Jahren eine Frau. Sie lächelt schüchtern, nickt, sagt zu, die Sommersprossen auf ihrer Nase fliegen leuchtend umher. Auch Rafael gibt seine Zustimmung. Anailis macht sich fertig, zwängt ihren jungen, mit allen Wogen der Weiblichkeit voll besetzten Körper in ihr Lieblingsoutfit und schießt einige Selfies. Die beiden machen sich auf den Weg in die Tanzbars der Stadt.

Rafael und ich wünschen ihnen das Beste.

Besorgt sind wir nicht.

Zu Unrecht, wie sich bald herausstellen wird.

Clara setzt sich eine Weile zu uns und dreht die Haare um ihre Finger, während Rafael von seinen Taekwondo-Jahren erzählt und mir in der Theorie die Abläufe erklärt, die der an den Rollstuhl Gefesselte nicht mehr vormachen kann. Dann die Geschichte eines legendären Touristen aus Indien, der hier am Park Céspedes bestohlen wurde und die Kampfkunst beherrschte. Er habe die Räuber verfolgt und sie dermaßen verprügelt, dass er von der Polizei ins Gefängnis geworfen worden sei, weil man ihn für einen Mafia-Don gehalten habe.

Besuche: Ein Nachbar, von dem Rafael einen Fernseher kaufen will. Die ersten Preisverhandlungen werden derart nebensächlich betrieben, als stünde nur der Erfolg eines freundlichen Small-Talks auf dem Spiel.

Ein weiterer Nachbar, der Rafael eine Schachfigur zurückgibt.

Der von mir der Einfachheit nur El Loco genannte Verrückte, der sich liebend gern an dieser Ecke rumtreibt, schenkt uns einen Karton, den er sofort zurückhaben möchte. Den nächsten Leuten, denen er das Ding schenkt, erzählt er, er habe ihn von uns gestohlen. Auch sie müssen den Karton wieder hergeben. Am gegenüberliegenden Haus wirft er ihn immer wieder an die Wand, um ihn immer wieder aufzufangen.

Eine junge Mulattin mit ihrem kleinen blonden und ziemlich weißen Mädchen, das Kind keine zwei Jahre alt.

Clara nimmt sie auf den Arm und fragt:

»Na, wo ist deine Schwester?«

Die Kleine macht die Halsabschneidegeste.

»Ja, deine Schwester ist tot, und dein Vater, wo ist der?«

Sie dreht den Zeigefinger an der Schläfe, eine weitere der in Kuba so häufig ausgeführten Universalgesten. Noch kein vernünftiges Wort sprechen können, denke ich, aber das aus dem Effeff!

Nach einigen Küssen verabschieden sich Mutter und Kind.

»Warum ist ihr Vater verrückt?«, frage ich.

»Italiener«, sagt Rafael und zündet sich eine Hollywood an, womit alles gesagt wäre.

Mit dem Beginn der Dämmerung gehe ich meine gewohnte Route runter zur Bucht, vorbei an den nun durchatmenden Häusern, die großen Treppen hinabsteigend, vorbei an den Hunderten auf der Straße spielenden Kindern und den großen Lagerhallen am Hafen, vorbei an den Bratfettfahnen und Bierpartys, bis ich das Wasser und meinen nächsten Ausblick erreiche.

Hinter der Bucht steigen die Anfänge der Sierra Maestra auf, jener Berge, in denen sich die Guerillas um Che und Fidel zwei Jahre lang verschanzt hatten, bevor sie hier in Santiago die Revolutionsregierung ausriefen und sich als Helden auf den Weg nach Havanna machten, getragen auf den Schultern einer ganzen Nation. Heute versprechen die Berge ein Dahinter, einen anderen Ort. Zusammen mit dem Wasser gewinnt Santiago seinen Charme durch die Nähe zu dieser Sehnsucht, die sich als Falle entpuppt. Denn wegen der Berge glaubt man stets, man wäre der Höhenluft nahe, dass bei gutem Wind Unterholznebel und kühles Harz in die Stadt triebe. Aber nein. Um die Ecke rauscht das Meer und Santiago bleibt der heißeste Ort der gesamten Insel, und ich behaupte: ihr gleichzeitig schönster.

Das große Signal ist gegeben.

Seit es nach der Trockenzeit nun ab und zu regnet, sind die Dämmerungen gewaltig wie die Sierra. Santiago wird tänzelndes Licht und wiegt Tausende seiner Spiegel auf dem Wasser der Bucht. Alles hebt an zur großen Verwandlung, eine Stunde lang ist man stumm. Die Sichel des Mondes schwebt auf dem dunklen Wasser, zuckt auf und ab wie ein Tierchen. Kaum merkt man es: Jedes Mal, wenn man das Ufer verlässt und zurückkehrt in das Dickicht der Stadt, trägt man ein Lied auf den Lippen, ein bekanntes Lied, so warm wie der eigene Atem.

Abendessen bei La China. Ich bin der einzige Kunde. Neben dem guten und günstigen Essen mein Hauptgrund, diese Hausküche zu meinem Stammlokal gemacht zu haben.

Alondra kocht mir Bistec de cerdo a la Santiaguero: Schwein, darüber Schinken, darüber Käse und Soße. Cocu, der Papagei, sitzt in seinem Traumfänger, so unbeweglich, als wäre er lieber ein Stofftierchen, aber ab und an beweist er seine Lebendigkeit und kackt seelenruhig auf den Küchenboden.

Neben mir Señor Ehemann, der abends hier reinschleicht und den Rest seines Tagesprogramms bewegungslos vor der Glotze verbringt. Señor Ehemann hat ein Talent, man sollte ihn irgendwo anmelden. Er kann sich alles angucken, und zwar wirklich alles: dämliche Kindercartoons, Soaps, Singshows, sogar den ausgeschalteten Fernseher. Stundenlang, ohne nur einmal zu blinzeln. Zuerst ist es mir nur aufgefallen, dann habe ich es genau beobachtet: ohne zu blinzeln, was auch immer die Glotze hergibt, stundenlang wie gelähmt.

Irgendwer im TV erwähnt Fidel.

Alondra ruft aus der Küche:

»Wie alt ist er denn jetzt eigentlich, schon bestimmt hundert, oder?«

Und Señor Ehemann, trocken wie Husten und ehrlich wie die Wüste:

»Keine Ahnung, aber ich hoffe, der Bastard stirbt bald.«

Zurück in den Straßen.

Ein Fleischer beugt sich in seiner kleinen Stube über seine paar Brocken Schwein, murrt und schnippt seine Zigarette nach draußen, wo sie neben einer alten Frau landet.

»Que pinga, das darf doch nicht wahr sein, eine alte Frau zu bewerfen.«

Der Fleischer, die Hände voller Blut, blickt nach draußen und antwortet:

»Mi amor, heute ist dein Glückstag. Komm herein, du bekommst eine Suppe.«

Es war eine Überlegung wert.

Aber ich gehe dann doch nicht mehr rauf zur Plaza de Marte, um Rosi oder Kodi zu finden; auch ist es besser, Milo und Anailis mal schön allein zu lassen. Der Tag war gut, er hatte weder zu viel noch zu wenig mit sich gebracht in seiner leichten, überschaubaren Haltung, ein Tag so kubanisch wie Zungenschnalzen, das machte ihn kostbar. Nun noch etwas von ihm verlangen zu wollen, wäre respektlos.

Wer weiß, wie sich die Götter morgen dafür rächen würden.

Zurück in der Santa Rosa höre ich sie schon von draußen, schon einige Meter vor der Wohnungstür. Als ich aufschließe und im Wohnzimmer stehe, sitzen Mayra und Milsy in den Schaukelstühlen und essen zu Abend, meine beiden patronas, die sich in all ihrer Unterschiedlichkeit doch so ähnlich sind. Milsy in ihrer kurzen, engen Jeanshose, der hübschen Bluse und diesem immer etwas schüchternen Kleine-Mädchen-Blick, der sie auch mit ihren fast fünfzig Jahren nicht ins Alter hat weiterziehen lassen. Milsy mit dem Vorzug der Hingabe und dem Nachteil der Hingabe: Einige Hundejahre hat sie ihre sanfte Liebe gekostet, das verrät ihr Abgang in eine wohltemperierte Traurigkeit, die sie sich während des Kochens, Waschens und Aufräumens leistet, Erinnerungen, die sie sofort fortzublasen weiß, wenn sie wieder einen Menschen vor sich sieht, dem sie Gutes tun kann, der da ist für ihr mi amor, amorcito, für ein besito, für: Hast du schon was Gutes gegessen?

Und dann Mayra in all ihrer Pracht.

Mayra, das Riesenmutterschiff.

Mayra, der laute Berg aus heftigem Lachen, Verwünschungen und Fürsorglichkeit.

Mayra in ihrem Nacht- und Tageskleid, ihrem Strampelanzug, der wohl als Negligé oder dergleichen dienen soll, und ich sage das, ohne genau zu wissen, was ein Negligé genau sein soll. Also ist es ein Strampelanzug und, Gott beschütze uns alle, das einzig richtige Outfit für die Herrschergeste, mit der sie den Menschen zu Leibe rückt: Eingezwängt in dies zweiteilige, bunt oder mit Erdbeeren bedruckte Textil, das nicht in der Lage ist, all das herausquellende, sich losreißende Fett zu bannen, sitzt sie breitbeinig auf dem Thron, zu dem sie den Schaukelstuhl erkoren hat, den rechten nackten Arm hinter den Kopf geworfen, Achselhöhle und Armfleisch einer in die Jahre gekommenen Wrestlerin präsentierend, einer Wrestlerin wohlgemerkt, deren Kampf immer nur darin bestand, die zweite Riesenportion Reis mit Hähnchen noch hinterherzuwerfen oder nicht; so und nie anders beargwöhnt die Königin der Casa Azul, des Blauen Hauses, ihr Reich mit Argwohnaugen. Neben jeder nur angetäuschten Contenance kann es ihr Leib ebenfalls zu einer Heiterkeit bringen, sodass sie regelrecht aus dem Stuhl kippt.

Mayra redet und redet und redet, und Mayra ist eine Performerin vor dem Herrn, den sie unentwegt anruft. Ihr Gesicht beherrscht alle Züge und Winkel des menschlichen Mimikpantheons. Alle Hautschichten, Nerven und Muskeln hat sie derart unter Kontrolle, dass sie jede Emotion auszufleischen vermögen, sie rümpft die Nase, spitzlippt den Mund, wogt mit den Wangen und zieht die Stirn wellend, elektrisiert ihre Augenbrauen und kalibriert das Kinn wie ein Fähnlein im Wind.

Als ich nach einer Stunde Zusammenkunft und Schunkelsein die Treppen zur Terrasse hinaufsteige, schreit sie mir noch nach, ich müsse eigentlich heute die Miete zahlen, sie messe ihre Erfolge in materiellen, nicht in spirituellen Dingen. »Gott hat mich hier auf die Erde geschickt, damit ich dieses Haus bewirtschafte und ich gebe dir die Geschichten für dein Buch, verstehst du, dann wirst du viel Geld machen mit deinem Buch, so hat es Gott gewollt, mein Junge, mein Sohn, und du wirst nach Kuba zurückkommen und dann nie wieder gehen, du baust dir ein Haus und wir sind Nachbarn. Für immer. Verstehst du?«

Ich schleppe die Matratze aus dem Zimmer und baue mir mein Nachtquartier auf der Terrasse, bevor ich aufs Dach klettere und die letzten Blicke über mein Viertel, über die Stadt werfe. Schon nimmt der Mond ab oder zu. Trommeln sind zu hören, präzise, tiefe Schläge in den Körper Santiagos, die Falter über den Dächern und die Katzen, die die Falter jagen. Ein Abend in seinem gelben Schönheitsschlaf, weich und verwaltend, die Nacht dann schwerelos und über den Farben verschwunden. Unter mir rollen sich die Häuser bis hinunter zur Bucht, dort alles bereits schwarz, bleifarben, alles wie ungeschehen, als hätte der Tag nie stattgefunden und als wäre das, was morgen wieder aus den Bildern hervortreten würde – Wohnraum aus Licht und Farbe – nichts weiter als eine grundlose Höflichkeit. Aber gerne, gerne mehr und immer weiter, egal wozu: Die Straßen Santiagos sind wanderbar wie die keiner anderen Stadt, die Stunden unendlich lang und groß wie lachende Münder.

Keine zwei Wochen bin ich nun hier. Was für ein Segen, blindlings in dieser Stadt gelandet zu sein, einzig einem Gefühl folgend. Meine anderen Leben in Köln und Indien, sie sind komplett vergessen. Santiago hat mich aufgenommen und beheimatet, als wäre ich nicht zum ersten Mal hier, sondern nur einige Zeit fort gewesen von dieser Antilleninsel, die so einfach funktioniert und doch so schwer zu begreifen ist, fort von diesem Stück grüner Erde, das seit einhundertfünfzig Jahren in einer permanenten Selbstbefreiung und Selbstfindung steckt, ein Land unvergleichbar mit einem zweiten dieses Erdenrunds.

Der erste Sozialstaat Lateinamerikas mit seinen weltberühmten Guerillas, seiner Revolution und seinen charismatischen Killern: poetische Bilderbuchmenschen in Blutlachen und Wirtschaftsämtern. Ein hemmungslos fruchtbares Land, in dem das Essen knapp ist und sich die Menschen in Friedenszeiten über Straßenköter hermachen mussten, durch ein Handels- und Wirtschaftsembargo so schmerzhaft isoliert und doch im Fokus der Weltgeschichte, die der winzigen Insel ihren entscheidenden Teil im Kräftemessen der Großmächte zusicherte. Ein Land, visioniert von einem Dichter, der mit gezogener Machete in jenem Unabhängigkeitskrieg fiel, den über ein halbes Jahrhundert später ein junger Anwalt namens Fidel Castro vollendete, groß angelegt zwischen Worten wie Würde, Gerechtigkeit und Freiheit. Man war sich einig: Revolution, das war das Menschsein, der Mann, die Frau. Sie mussten es schaffen, sich neu zu entwerfen und in sich schlummernde Lichter zu wecken. Nur so, nur so konnte es klappen: eine nachhaltige, substanzielle Veränderung der Gesellschaft und der Art, wie der Mensch in das Gesicht seines Bruders, seiner Schwester sieht. Nur so konnte das Glück strahlen: wenn es eine Seele hat.

Was für ein ungeheuerliches Experiment also in einem Land aller Hauttöne, gehalten in tausend dunklen Schattierungen, eine Insel bester Laune und tödlicher Langeweile, die Insel des Sons, der Rumba, der Conga und der großen afrokubanischen Religionen, welche die Sklaven mit über den Ozean brachten und die höchst selten sichtbare Reiche besingen, nichts als zumutbare Zustände irgendwo zwischen den Lebenden und den Toten. Die Insel von schwarzer Magie und heller Weltlichkeit, ein Land der alten Götter und der körperlichen Lust, so reich an Zeit, Rhythmus und Sonne, so arm an Elitismus und Devisen.

Kuba und die ganze Welt sind sich einig: Das Land steht an einem Scheidepunkt. Die seit dem Verschwinden des sowjetischen Partners betäubte, verarmte und doch nicht aufgebende Insel ist in dem Aufschwung, der heute in minimalen Schritten über die Insel schleicht, ohnmächtiger denn je. Die Zukunft bleibt ein Vakuum. Überall lässt es sich sehen und hören: Wenn sich jemals etwas ändert in diesem so pittoresk zurückgelassenen Land, dann ungefähr jetzt oder gleich, wenn sich das Aussterben der alten Revolutionsgarde beobachten lässt und die USA ihre eigentlich so liebe Insel wieder in die Arme schließen möchten, um sich das zurückzuholen, was die Kubaner ihnen gerechterweise genommen haben.

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern, in den Kokosschalen lesen es die Priester, in Havanna nicken die Diplomaten zum Takt der Gesprächsrunden: Es wird etwas passieren.

Die Frage ist nur: wann?

Die Antwort immer nur: was?

Je länger man in die Nacht schaut, desto heller leuchtet Santiago.

Auf den Dächern liest das Auge all dFas Gerümpel hervor, morsche Notfallrationen, löchriges Blech, rostige Reserven. Die Bucht liegt bleiern und schwer im Schoß des Wassers, das genauso andauernd ist wie die über den Dächern schwebenden Lieder: Trommeln, Glöckchen und schellenrunde Rhythmen, die an Changó appellieren, Yemayá anrufen, Eleguá bitten. Hier, wo einst Sklavenschiffe anlegten und Millionen Menschen auf die Felder geschleppt wurden, um das von den Spaniern importierte Zuckerrohr zu schneiden, rühren die Nachkommen der afrikanischen Sklaven noch immer an den Elementen und singen das Wiegenlied Santiagos, welches weder verstummt noch überhaupt verstummen kann.

In »Ankunft« schrieb Nicolas Guillén:

»Hier sind wir!

Feucht von den Wäldern gedeiht uns das Wort, eine zwingende Sonne geht uns auf in den Adern.

(…)

Unser Lied,

wie ein Muskel ists unter der Haut der Seele

unser einfaches Lied.«

Ich öffne die Augen ins Licht. Habe ich wirklich so lange geschlafen? Der Tag hellt an den Mauern, am gewölbten Grün der Topfpflanzen, umarmt den Stein mit Silberringen. Der Himmel empfängt den Augenstrahl mit weit aufgerissenem Herzen, ein Himmel in Weißblaublüten, der wächst mit den Blicken und prahlt mit all seinem Raum. Augenmaß: Wie kann es diese Farbe geben, und wie habe ich bei diesem Licht so lange pennen können?

Ich ziehe mich aufs Mäuerchen. Das ganze Mäuerchen bereits warm. Die Santa Rosa belebt, durchquert, belichtet, Richard sitzt auf seiner Treppe, trinkt Kaffee und schlägt einen Takt auf dem Oberschenkel. Gegenüber alles wunderbar einsturzbereit. Der Alte im ersten Stock stülpt sich ein Shirt über und knöpft es zu, um es wieder aufzuknöpfen. Dann begutachtet er eine Metallschüssel. Stumm und gestenlos versuche ich, ihn aus der Ferne zu bestärken, dass diese Art Nutzlosigkeiten ein gutes Omen des auch heute nicht beginnenden Tagewerks sind.

Ich schaffe meine Matratze ins Zimmer und beschließe, mich heute um meine Visumverlängerung zu kümmern.

Milsy hat mich schon gehört, »Corazon«, schreit sie von unten, »ich bin gleich fertig mit dem Frühstück, aber komm, ven aka!«

Unten angekommen drückt sie mir das Telefon in die Hand.

Wer dran sei, frage ich. Milsy bläst die Backen auf.

»Mayra, mi corazon, ¡dimme!«

»Mi hijo. Endlich bist du wach. Ich war schon auf der Terrasse heute Morgen und habe mich über dich gebeugt. Du hast geschlafen wie ein Baby, ai, dios mio, geschlafen wie ein toter Hitler.«

»Das ist prima. Mayracita, wie läuft die Arbeit?«

»Na, immer muss ich schauen, dass hier keiner verrückt wird. Und du?«

»Habe lange geschlafen, wie ein toter Hitler, und Milsy ist gleich mit der Tortilla fertig.«

»Bueno, sag ihr, sie soll auch …«

Mit der schnellsten Bewegung, die mein Arm jemals ausgeführt hat, gebe ich Milsy das Telefon zurück und hole meinen Reisepass. Das Ministerium für Immigration. Das ist alles, was ich weiß, also übersetze ich es Wort für Wort ins Spanische und frage Ivan, der vor seinem Haus die Schatten der Frauen zählt. Richard kommt mit zwei Tassen cafecito über die Straße, gefolgt von seiner Frau Maria – Ministerio de Inmigración, natürlich, jeder hat womöglich davon gehört und eine felsenfeste Ahnung, wo man es eventuell finden könnte. Die unterschiedlichen Adressen klingen so schön wie Silbermünzen, die man während einer Sonnenfinsternis in einen stillgelegten Wunschbrunnen rieseln lässt. Ohne Fantasie und Ratespiele, denke ich, ließe sich kein Menschenleben aushalten.

Je mehr Passanten und Nachbarn sich in die Runde gesellen, desto wirrer und lauter wird die Diskussion; niemand merkt, wie ich mich absetze und noch kurz bei Abuela reinschaue, Ivans Mutter, die das Radio leise gedreht hat und wissen will, was da draußen für ein Theater vor sich gehe.

Die seien alle verrückt, sage ich, sie solle mir Glück wünschen. Und Abuela antwortet:

»Glück, für was? Du bist noch jung. Du brauchst kein Glück. Du hast die Jugend. Das ist das Einzige, was du brauchst, mein Junge.«

Im menschenleeren Rum-Museum liegen die Empfangs- und Reinigungsdamen mit dem Kopf auf dem Tisch und schlafen. Ein Ventilator dreht sich für niemanden. Elvio sitzt im Ausstellungsraum, das eine Auge halb zu, das andere halb auf, und liest seinen Roman.

»Dennis! Trinken wir einen!«

Lachend flippt er den Ron Santiago auf, tätigt nach zwei Gläsern einige Anrufe und kritzelt mir eine Adresse ins Notizbuch. Zwanzig Minuten später stellt sich heraus, dass sich Elvios Telefonate ausgezahlt haben. Als ich der Empfangsdame der Visastelle, die es sich an einem Klappertischchen ungemütlich gemacht hat, mein Anliegen vortrage, führt sie mich in den langen Raum, den eine Glaswand in klimatisierte Bearbeitungszone und unklimatisierte Wartezone trennt.

»Tisch zwei, mi amorcito«, sagt sie und schafft es trotz verbaler Liebkoselei tatsächlich, nicht den Hauch eines Lächelns auf die Lippen zu quetschen.

Unter zwei verschrumpelten Luftballons, die jemand an die Wand getackert hat, sitzt also die Dame, mit der ich es zu tun haben werde. Ein kurzer Blick, kein Hallo, weder buenas noch mi amorcito.

Dann schickt sie mich zum Warten nach draußen.

»¿Último?«, frage ich in die Runde der circa fünfundzwanzig Wartenden. Das Ergebnis sind derart stumme oder erstaunte Gesichter, als hätte ich mich nach den Weltbewältigungsmaßnahmen von Plankton erkundigt. ¡Último! Überall, wo auf Kuba bereits gewartet wird, fragt der oder die neu Dazugekommene nach dem letzten Dazugekommenen, um seinen Platz in der unvorhandenen Warteschlange zu finden.

»Von mir aus, dann nicht«, schlussfolgere ich auf Deutsch, nehme Platz und warte eine höfliche Stunde unter dem dünnen Mantel meines Schweißes, bis ich endlich kapiere, dass ich wie alle anderen einfach reinspazieren und an den Tisch treten muss, sobald dieser nur den Anschein erweckt, irgendwann frei zu werden.

Die Zankerei ist vorprogrammiert. Von einem dürren Kerl wird mir vorgeworfen, mich dreist vorgedrängelt zu haben – nun denn! Erfolgreich spiele ich den dummen Touristen, der, so Gott es will, überhaupt nicht weiß, was er falsch oder überhaupt gemacht hat in diesem süßbraunen und so herrlich fremden Kokosnussland seiner Postkartenträume. Gelernt ist gelernt: Ich gucke so blöd, als beschränkte mein Schädel eine Landschaft aus Zwetschgen und Torf, und schon schiebe ich der Frau von Tisch Nummer zwei meine Touristenkarte unter die Nase.

Sie streckt sich nach vorn und schaut an mir herunter.

»Flip-Flops sind hier nicht erlaubt. Sie müssen Schuhe tragen. So können Sie hier keinen Antrag stellen.«

Als ich nach einer Phase des geistigen Schockvakuums meine Stimme wiedererlangt habe, frage ich drei Mal nach. Eine absolute Zumutung selbst für den entspanntesten Kubaner, dem nichts Schlimmeres geschehen kann, als sich wiederholen zu müssen. Fünfzig Jahre Wirtschaftsembargo sind dagegen ein Witz, den man mit einem Schulterzucken einkassiert. In der Tat eine kubanische Kuriosität, diese wohleingelebte Tiefenruhe, der weder Wassermangel noch Hunger oder Wartezeiten wirklich den Puls in die Höhe treiben können, aber wehe, wehe, man versteht ihre Nuscheleien nicht beim ersten Mal, wehe, die Musik ist zu laut oder die Spanischkenntnisse zu mies! Dann ruft man alle Götter und Heiligen an, legt sich Empörung in die feinen Gesichtszüge und wiederholt unter enormen seelischen Schmerzen sein Ausgesprochenes noch einmal, doppelt so schnell und drei Mal so laut! Diese Art der Ungeduld ist verständlich: Zeit ist kostbar, denn man hat einfach zu viel davon.

Auch wenn ich mich nun vor ihr fürchte: Es ist unmöglich, ihr »¡No jangletas!« falsch zu verstehen.

Ich schaue mich um.

Suche jangletas und feixende Gesichter.

Vergebens. Ihre Kolleginnen nicken oder werfen mir abwertende Blicke zu.

Keine Flip-Flops im verdammten Ministerium der textilophilen Revolution! So hallt es mir durch den Kopf, als ich auf der Straße stehe, ein moto nach Hause nehme und mir auf der Terrasse Socken und Schuhe anziehe. In dem Moment, da ich zurück zur Visastelle will, ertönt das Messerwetzen.

Was folgt, ist monströses Geschrei.

Hier weiß jemand, dass seine letzte Stunde geschlagen hat.

Ich klettere auf das Treppengeländer, um eine komfortable Sicht über die Mauer auf den kleinen Dachhof nebenan zu haben. Die zwei Männer haben alles vorbereitet, Eimer, kochendes Wasser, Messer, blitzsauberes Lachen – ihre Routine ist beindruckend und die Handgriffe sitzen, als hätte man nie etwas anderes gemacht. Wortlos, aber pfeifend, gehen sie ans Werk. In den drei kleinen Betonställen hingegen veranstalten die nervösen Schweine einen Riesenlärm.

Einer der beiden, der sich mir kürzlich als Héctor vorgestellt hat, steigt über die kleine Betonmauer in den ersten Stall, drückt eines der Schweine zur Seite, setzt sich mit dem Knie und seinem ganzen Körpergewicht auf den sich wehrenden Körper und rammt, kurz oberhalb der Vorderbeine, das Messer in die Kehle. Nichts Lebendiges möchte sterben. Jeder Organismus kennt Angst. Aber nach einigen weiteren Stichen wird der Widerstand geringer, die Schreie leiser – Héctor packt den letzten Rest Leben an den Beinen und wirft ihn vor den Stall.

Das allerletzte Strampeln gegen den Tod, während sich der Boden rot färbt. Héctors Stiefel machen plitsch, platsch, sein Kollege raucht noch die letzten Züge seiner Hollywood. Als es ausgeblutet ist, werden einige Eimer heißes Wasser über das Schwein geschüttet, was noch einmal die allerletzten Zuckungen aus dem fast toten Körper herausholt – und die Enthaarung einleitet. Die Beine werden mit der Hand ausgewrungen. Dort lösen sich die Haare fast wie von selbst, der Rest wird mit einem Messer abgeschabt: der weiche Körper, die knorpeligen Ohren. Eine halbe Stunde dauert das Klingenputzen, Schaben und Weiterschaben, bis von der Sau nur noch ein schneeweißer, gummiartiger Körper übrig ist, der so fremd auf dem Steinboden liegt, als wäre er niemals von dieser Welt gewesen. Unmöglich, dass dieses Etwas jemals Puls und Leben beherbergte, dass es heute Morgen noch mit den Hufen scharrte und die Schnauze über den Boden trieb.

Héctor dreht sich zu mir hoch und fragt: »Sag mal, die EM, ist die in Frankreich oder Deutschland?«

»In Frankreich.«

»Nun gut, aber Deutschland wird gewinnen. Die Franzosen sind Schwuchteln!« Er lacht, flippt das Messer und schlitzt das auf dem Rücken liegende Tier der Länge nach auf, um es fachgerecht auszuhöhlen. In seiner Rolle als Zeremonienmeister, dessen einzige Liturgie die Musik ist, klopft er immer wieder mit dem Messer über das Fleisch und findet von Takt zu Takt. Nein, kein Son, keine Rumba oder Salsa. Es ist klassische Musik, die er vor sich hin summt; ab und zu erhebt er sich sogar und tut, als dirigiere er Eimer, Wasser und Klinge.

Neben ihm stapeln sich die Organe in einem einzigen schleimigen Gedärm- und Gewebehaufen, die Bauchhöhle des Schweines steht voll Blut. In einem Eimer Wasser wird der Pack Innereien gewaschen, blasiges Fasergewühl, und danach mit einem feinen Messer genauso fein voneinander getrennt.

Dann kommt das nächste Schwein dran. Das Wasser, mit dem die Gedärme gewaschen wurden, wird zu dem dritten Schwein geschüttet, das versucht, mit den Vorderpfoten an den Rand seines Stalls zu kommen.

Auch, wenn es nichts sieht: Seine Ohren und seine Nase werden ihm wohl alles verraten haben.

Eine Hollywood zur Belohnung.

Héctor und sein Kollege bringen, unterstützt von anderen Mitgliedern der Familie, die Leichen weg, verpacken die Innereien und waschen das Blut vom Boden. Bald ist jede Erinnerung an die Schlachtung verschwunden. Nur die Luft hält noch den Geruch von ausblutendem Fleisch. Das letzte verbliebene Schwein schaut mich mit traurigen, fragenden Augen an. »Besser hier als ein Leben im Schlachthof, Schweini«, ist der einzige Trost, der mir einfällt.

Immerhin hat es jetzt einen Namen.

Als ich vom Treppengeländer springe, grunzt Schweini mir etwas hinterher, was ich nicht verstehen will.

Zurück im Ministerium für korrekte Fußbekleidung sitze ich sofort wieder in der Wartehalle, da vier Mann auf einmal Tisch zwei belagert haben.

Die Dame vom Empfang macht eine Runde durch die Wartenden, sieht mich und sagt, ich hätte keine lange Hose an, das sei nicht erlaubt, amorcito, hier müsse man Schuhe und lange Hosen tragen, alles andere: sei im Ministerium nicht erlaubt.

Selbst in Panik ist es unmöglich, »¡Necesita pantalones!« falsch zu verstehen, also halte ich das Ganze für einen Scherz, durch den man sich lausbubenartig entschuldigen möchte, mich wegen so einer dummen Sache wie den jangletas nach Hause geschickt zu haben.

»Das ist schon okay«, sage ich wie ein Volltrottel. Aber nach einem weiteren Blick in ihr Gesicht wird mir klar, dass überhaupt nichts okay ist. Als ich nach einer weiteren Phase des geistigen Schockvakuums meine Stimme wiedererlangt habe, hole ich aus:

»Mi amor, gerade habt ihr mich nach Hause geschickt, damit ich mir Schuhe anziehe, da hatte ich bereits die kurze Hose an, denn man stelle sich das vor: Dieses Klima hier zwingt selbst Bitter- und Sauerstoff, Häuserwände und ganze Seelenlandstriche in die Knie, und die mit etwas Sonnenmilch eingeölte Penetranz der hominiden Schweißdrüsen hat in der gesamten Erdengeschichte noch immer die entblößten Luftzufuhrzonen von Zehenspitze bis Kniescheibe gerechtfertigt. Wie Sie wissen hat Buddha gelehrt, dass es zwar Leiden gibt, dieses aber überwunden werden kann. Wenn man schließlich bei der supramentalen Weltenraumbeherrschung ankommt und sich kraft seines Bewusstseins dem Leiden verweigert, sehr gerne; doch umsonst und völlig umstandsfrei ist der erste Schritt auf dem Pfad der Erleuchtung: das Verhindern von Schweißausbruch bei körperlicher Nichtaktivität.

Si claro,