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Werner Brorsen

Der Marschenmörder

Kriminalroman

Boyens Buchverlag
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1

Timm Thode hockt in seiner Bodenkammer. Vorsichtig schiebt er die Gardine ein Stück beiseite, blickt lauernd auf den Innenhof hinunter.

„Wo is de fuule Sack? He schall mi helpen!“ Das ist Cornils, der Bruder. Er belädt einen Ackerwagen mit Steinen. Ist wütend auf Timm, der ihm dabei helfen sollte und sich wieder einmal vor der Arbeit drückt.

Nervös saugt Timm an seiner Zigarette, benutzt eine Blechdose als Aschenbecher. Weiß er doch, dass der Alte fuchsteufelswild wird, wenn er ihn beim Rauchen erwischt, während die Brüder ihrer Arbeit nachgehen.

Jetzt entdeckt er Martin und Reimer. Sie überqueren, jeder einen Dreschflegel in der Hand, den Hof. Suchend schauen sie sich um. Timm duckt sich impulsiv. Auch sie haben ihn auf dem Kieker, hassen ihn ob seiner Faulheit. Kopfschüttelnd betreten sie die Groot-Deel, wo der Roggen gedroschen wird.

Johann, der 21-Jährige, spannt zwei Pferde vor den offenen Landauer. Vater und Mutter steigen ein. Timm hat erfahren, dass sie, gemeinsam mit den Nachbarn Jakob und Hanne Schwarzkopf, beim Bauern Starck auf dem Beidenflether Riep zu Kaffee und Abendbrot eingeladen sind. Johann zieht die Zügel an, schwingt die Peitsche, das Gefährt rumpelt vom Hof.

Timms Lippen verziehen sich zu einem bösartigen Grinsen. Die Gelegenheit ist da. Alle sind hübsch verteilt.

Er schleicht aus dem Haus und in die Scheune. Ergreift dort eine Handspake, prüft das Gewicht der etwa acht Kilo schweren, aus Eschenholz gefertigten Keule, die zum Stampfen des Bodens benutzt wird.

Martin kommt mit einem Bund Stroh auf die Scheune zu. Timm versteckt sich hinter einer Pyramide aus Strohballen, lässt den 24-Jährigen vorbeigehen. Schlägt von hinten zu. Martin stürzt zu Boden, gibt noch einige Laute von sich. Timm zertrümmert ihm den Schädel, durchwühlt seine Taschen, nimmt Martins Geldtasche und seine Silberuhr an sich.

Nach knapp zwanzig Minuten nähert sich Reimer der Scheune, ebenfalls mit einem großen Bund Stroh. Für den 14-Jährigen reicht ein Schlag mit der mörderischen Spake. Lautlos sinkt er zu Boden. Stirbt.

Die Leichen versteckt Timm unter Strohballen. Gelassen geht er über den Hof in Richtung des Wohn- und Wirtschaftsgebäudes.

Cornils kommt ihm entgegen, tadelt ihn wegen seiner Drückebergerei. Doch Timm winkt ab, bittet den Bruder, das letzte Stroh aus der Groot-Deel in die Scheune zu schaffen.

Cornils zögert, will sich von Timm, dem verachteten Faulpelz und Bettnässer, nichts auftragen lassen.

„Martin hett dat seggt“, betont Timm mit Nachdruck. Das wirkt, denn Martin, der älteste der Thode-Brüder, vertritt den Vater, wenn dieser abwesend ist.

Missmutig begibt sich Cornils zur Groot-Deel. Wenige Minuten später betritt er, schwer beladen mit den letzten Strohgebinden, die Scheune. Timm versucht, die Handspake hinter seinem Rücken zu verstecken. Doch Cornils hat sie bereits entdeckt. Nichtsahnend scherzt er: „Na, wo sünd de Zigeuners?“ Denn am Mittagstisch war von einer Gruppe junger Männer die Rede, die sich seit Wochen in der Wilstermarsch herumtreiben und denen man den Diebstahl von sieben Hühnern und fünf Kaninchen zuschreibt.

Als Timm die Keule erhebt, erblasst Cornils. „Oh Gott! Wat wullt du denn?“, stößt er hervor. Versucht dem Schlag auszuweichen, der seine linke Schulter trifft. Wankend flieht er ins Innere der Scheune. In wenigen Sekunden hat Timm ihn eingeholt, versetzt ihm vier, fünf weitere Schläge gegen den Kopf und schleift die grausam zugerichtete Leiche zu den anderen.

Er hetzt zur Pumpe hinter dem Kuhstall, wäscht die blutigen Hände, schleicht in seine Kammer, wechselt Jacke und Hose, stopft die verschmutzte Kleidung unters Bett.

Die ihm zugewiesene Tagesarbeit fällt ihm ein. Er darf sie nicht vernachlässigen. Das würde auffallen und könnte seinen Plan durchkreuzen. Er macht sich ans Füttern der Schweine.

Mit einem Spaten geht er anschließend zum nahen Stördeich und vergräbt dort Martins Uhr und dessen Geldtasche, die er zuvor geleert hat.

Anschließend setzt er sich mit seiner Schwester Anna und dem Dienstmädchen Abel zum Abendessen an den Küchentisch.

2

Der riesige Eichentisch, an dem bis zu vierzehn Personen Platz finden, wirkt verwaist. Anna, die Tochter des Hauses, vom ansonsten strengen und wortkargen Vater maßlos verwöhnt, und Abel Dehn, das fleißige, schüchterne Dienstmädchen, sind von Timm abgerückt, haben zwei Plätze zwischen sich und dem Einzelgänger geschaffen.

Dass die Mädchen ihn kaum eines Blickes würdigen, ignoriert Timm. Er genießt es, als einziger Mann am Tisch zu sitzen, fordert eine zweite Portion Bratkartoffeln, schlürft genießerisch die Milchsuppe, bricht vom Roggenbrot große Stücke, kaut schmatzend.

Den „Weibern“ gegenüber gibt er sich zunächst schweigsam und mürrisch, dann zunehmend aufgeräumt und großspurig. Auf gekünstelte Art versucht er zu scherzen: „Geiht doch nix över een ruhich Huus.“ Abel wirft ihm einen kurzen Blick zu, schielt suchend nach den für die Brüder gedeckten Plätzen.

Anna, die Lebhafte, stets Vergnügte, bemerkt es, springt auf, will sie zum Abendessen rufen. Timm erstarrt. Erkennt die gefährliche Situation. Hebt abwehrend die Hand und findet blitzschnell eine Erklärung: „De sünd op’t Feld. De Ossen sünd utbroken un all wedder in den Weeten!“

Das rettet ihn. Denn erst vor einigen Tagen haben die Rinder im Weizen erheblichen Schaden angerichtet und den Bauern zu Wutausbrüchen gebracht.

Eine knappe Stunde später rollt der Landauer auf den Hof. Bauer Johann und seine Frau Margaretha betreten das Haus und suchen sofort das Schlafzimmer auf, denn die Arbeit auf dem Marschhof beginnt um fünf Uhr in der Frühe. Timm hat die Ankunft vom Kuhstall aus beobachtet. Während Johann die Pferde ausspannt, geht er zum Wagenschauer, öffnet einen der Türflügel und ruft dem Bruder zu, ihm zu helfen, ein Wagen stehe im Wege. Er stellt sich hinter den geschlossenen Türflügel und erschlägt mit der Spake den arglos eintretenden Johann.

Abermals muss Timm die Kleidung wechseln. In den Kammern der Brüder findet er Jacke und Hose, wartet bis gegen 22 Uhr, schleicht ums Wohnhaus und klopft an das Fenster des elterlichen Schlafzimmers.

Der Vater, schon im Halbschlaf, ist sofort hellwach, als er hört, die Ochsen seien wieder im Weizen, die Brüder seien bereits dort. „Denn mutt ik wull mit“, seufzt Johann Thode. Nach wenigen Minuten steht er vor der Haustür, nickt Timm kurz zu: „Kumm!“ Und geht mit schnellen, langen Schritten voran in Richtung des Weizenfeldes. Timm hält sich, die Spake unter einem Brett versteckt, knapp hinter ihm, knallt sie dem Vater, kaum dass sie den Hof verlassen haben, gegen die linke Schläfe. Sofort schlägt er ein zweites und drittes Mal zu. Er weiß um die in der gesamten Wilstermarsch legendäre Kraft des 56-Jährigen, von dem man erzählt, er könne mit einer Hand einen 240 Pfund schweren Mehlsack stemmen. Doch gegen die hinterhältige Heimtücke seines Sohnes hat er keine Chance.

Timm holt vom nahen Hof eine Schubkarre und einen Spaten. Gräbt eine Grasnarbe auf, legt die Leiche auf die Karre und bedeckt sie mit den Soden. Schafft sie in den Pferdestall.

Die beiden Schäferhunde, seine Lieblinge, riechen Blut. Bellen wütend, fletschen die Zähne. Timm erwürgt einen, versucht dem anderen die Kehle durchzuschneiden. Der entkommt und läuft heulend davon.

3

Der Mord an seinem Vater, der Transport des mehr als zwei Zentner schweren Körpers mit der Schubkarre zum Pferdestall hat Timm erschöpft. Es mag auch die alles beherrschende Persönlichkeit des angesehenen Marschbauern gewesen sein, die ihn vor Angst erbeben ließ, bevor er das Mordinstrument zum ersten Schlag hob gegen den einzigen Menschen, der für ihn eine Respektsperson war, trotz aller Geringschätzung, mit der Johann Thode seinen Zweitgeborenen behandelte.

Blass und schweißbedeckt sitzt er vor dem Pferdestall auf einem Sägebock, schaut über den Hof. Das Wohnhaus liegt im Dunkeln, in keinem der vielen Räume brennt Licht. Ruckartig steht er auf, schleudert die Bake in eine Ecke hinter dem Dunghaufen und ergreift eine an einen Holzblock angelehnte Axt. Forschen Schrittes überquert er den Hof und betritt das Haus, dessen Türen wie immer unverschlossen sind.

Leise öffnet er die Tür zum Schlafzimmer der Eltern, erschrickt, als er die Mutter im Halbdunkel am Fenster stehen sieht. Auf dem Nachttisch flackert eine Kerze. Sie spendet gerade so viel Licht, dass er die Umrisse der Frau erkennen kann. Wie angewurzelt bleibt Timm im Türrahmen stehen. Doch Margaretha Thode dreht sich nicht um, blickt unverwandt in Richtung der großen Hofpforte. Sie wartet offenbar auf ihren Mann, den sie draußen auf dem Feld wähnt, wo er gemeinsam mit den Söhnen versucht, die Ochsen aus dem kurz vor dem Einbringen stehenden Weizen zu vertreiben.

Timm nähert sich, die Axt in der Rechten, leise, mit angehaltenem Atem der Mutter, die ihm immer noch den Rücken zukehrt. Haut ihr die Axt mit der stumpfen Seite auf den Kopf. Die 53-Jährige sinkt zusammen, röchelt am Boden liegend mit fast tonloser Stimme: „Wat wullt du?“ Timm schlägt noch zweimal zu. Margaretha Thode rührt sich nicht mehr.

4

Im Bett ihres Mädchenzimmers ist Anna erwacht durch seltsame Geräusche, die sie zunächst verwirren. Sie setzt sich auf, horcht. Schlagartig wird ihr bewusst, dass nebenan etwas Ungewöhnliches, ja, Schreckliches geschieht. Zitternd steigt sie aus dem Bett, vergisst die Petroleumlampe anzuzünden, tastet sich in der Dunkelheit zur Tür, die ihr kleines Zimmer vom Schlafgemach der Eltern trennt.

Ein Streit zwischen den Eltern? Unmöglich! Die Mutter ist eine stolze, selbstbewusste Frau, Tochter des Hofbesitzers Marten Krey in Brockdorf. Doch nie hat sie sich dem Wort und der Meinung ihres Gatten widersetzt. Und nie, solange Anna zurückdenken kann, hat es zwischen beiden auch nur einen unfriedlichen Wortwechsel gegeben.

Mit klopfendem Herzen steht sie an der Tür. Wagt nicht, durchs Schlüsselloch zu gucken. Im Elternzimmer ist es plötzlich still. Totenstill. Anna beschließt, sich leise zurückzuziehen. Da wird die Tür aufgerissen. Timm, in blutbespritzten Kleidern, starrt sie an mit düsterem, seltsam entschlossenem Blick.

„Timm! Wat wullt du?“ Mit weit aufgerissenen Augen blickt Anna den Bruder an. Die blutigen Hände, die verschmutzte Kleidung, das seltsam verzerrte Gesicht.

Sie entdeckt die Axt in seiner Rechten. Zugleich lässt ein leises Wimmern aus dem Schlafzimmer sie zusammenfahren. Die Mutter. Sie liegt am Fenster in ihrem Blut. Das Gesicht zerschlagen.

Timm zur Seite schubsend, stürzt Anna schreiend ins Schlafzimmer. „Vadder! Vadder!“ Das Bett des Vater ist leer. Schon hat Timm sie gepackt. Zerrt sie zurück ins Mädchenzimmer. Schlägt mit der stumpfen Seite der Axt auf sie ein.

„Help mi! Help mi!“ Wo bleiben die Brüder? Keiner eilt ihr zu Hilfe. Sie sind nicht da, schießt es ihr heiß durch den Kopf. Im Weizen sind sie. Bei den Ochsen. Sie schreit weiter. „Help mi! Help mi!“Greift nach dem Axtstiel. Wehrt sich aus Leibeskräften.

Die unerwartete Gegenwehr verwirrt den Mörder. Er gerät in Wut auf die Schwester, die er so oft beneidet hat um ihren hellen Verstand, ihre blitzschnelle Auffassungsgabe, ihren fröhlichen Optimismus. Und er spürt, dass ihr verzweifelter Widerstand sein Vorhaben vereiteln kann. Fester packt er sie mit der Linken. Schlägt mit der scharfen Kante auf sie ein. Doch so oft er auf den Kopf zielt, er trifft nur Brust und Arme.

Annas Kraft schwindet. Ihr Schreien geht in Schluchzen über. „Lat mi leeven, min besten Timm. Lat mit leeven“, bettelt sie. „Ik heff di doch nix dahn.“

Mit letzter Kraft krallt die 18-Jährige ihre Hände in seine Jackenärmel. Beim Versuch, die Arme frei zu bekommen, entgleitet Timm die Axt, fällt krachend auf den Boden. Er will sie aufheben, doch Anna hindert ihn, hämmert die Fäuste gegen seine Brust.

Er tastet mit der Rechten nach der Axt. Weg ist sie. Weg. Unbemerkt hat Anna sie mit dem Fuß unter einen Stuhl geschoben.

Er greift mit bloßen Händen nach ihrem Hals. Doch auch das will ihm nicht gelingen.

Mit erneuter Kraft, die ihm unheimlich ist, stößt sie ihr Knie in seinen Bauch. Timm krümmt sich vor Schmerzen. Lässt kurz von Anna ab. Packt sie an den Oberarmen. Schleudert sie in den Alkoven.

Wild blickt er sich um. Reißt die Tür zur Küche auf. Da. In einem Korb auf der Anrichte. Das Brotmesser.

Anna hockt schluchzend in der Ecke ihre Alkovens. Hat sie den ungleichen Kampf aufgegeben? Oder gehofft, Timm würde, entsetzt über sein Tun, durch die Küche ins Freie fliehen?

Sie wehrt sich nicht mehr, als er mit dem Messer auf sie einsticht. Mehr als dreißig Mal, wie später die Ärzte feststellen werden. Sie flüsterte nur noch: „Ik glöv, ik bliev nu doot.“

Anna ist tot. Keuchend steht Timm vor ihrem Alkoven. Blickt erschöpft mit kalten Augen auf das, was er angerichtet hat.

Abel fällt ihm ein. Sein letztes Opfer. Er schleudert das Messer an die Wand. Sucht und findet die Axt. Durch die Küche will er. Hinaus auf die Diele und hinauf in die Kammer der 17-Jährigen.

Unterwegs vernimmt er ein Stöhnen. Die Mutter. Er fasst die Axt fester, versetzt der Sterbenden drei, vier letzte Schläge. Hastet hinaus.

Vor der Kammertür hält er inne. Hat Abel etwas mitbekommen? Ist sie gar geflüchtet und nun auf dem Weg zu Schwarzkopfs oder dem Dorfgendarm Ahrens im nahen Beidenfleth?

Erstmals erfasst ihn panische Angst. Alle Selbstbeherrschung muss er aufbieten, um leise die Tür zu öffnen. Er spitzt die Ohren, horcht in die Dunkelheit. Und vernimmt erleichtert die gleichmäßigen Atemzüge der Dienstmagd, die nach 14-stündiger Arbeit in Haus, Keller und Garten in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen ist.

Dennoch schleicht er, sorgsam jede Berührung mit Tisch, Stuhl und Kleiderschrank vermeidend, ans Bett, tastet nach Abels Kopf und erschlägt sie mit der Axt.

5

Von der Turmuhr der Beidenflether Kirche hallen zwölf dumpfe Schläge herüber. Mitternacht. Zwischen die Wolkengebirge schiebt sich der Halbmond, in dessen Licht der Mörder erkennt, was er angerichtet hat. Mehrmals hat er zugeschlagen, um in der Dunkelheit den Kopf der 17-Jährigen zu treffen, deren etwas großflächiges Antlitz jetzt eine blutige Masse ist.

Schlägt er die Hände vors Gesicht, um dem Anblick zu entrinnen? Wendet er sich ab, stürzt aus der Kammer, weg, nur weg vom Ort des Grauens? Nein. Timm Thode verharrt in eigentümlicher Erstarrung. Blickt mit großen, kalten Augen auf sein Opfer herab. Kommt es ihm in den Sinn, dass Abel Dehn ihm, dem Sohn ihres Brotherren, immer mit scheuer Distanz begegnete und stumm die Augen niederschlug, wenn die Brüder, oft untereinander zerstritten, sich einig waren, sobald es darum ging, ihm mit abfälligen Bemerkungen ihre Verachtung zu zeigen? Erinnert er sich, dass Abel ihm des Öfteren einen Brotkanten aufs Holzbrett legte, weil der grobe runde Roggenlaib schon zerrissen war und die Anderen sich große Stücke in den Mund schoben und gierig kauten, um satt zu sein, bevor der Herr des Hauses Gabel oder Löffel auf den Tisch legte und damit für alle die Mahlzeit beendete? Timm Thode kennt kein Erbarmen und empfindet keine Reue. Nicht einmal Bedauern, dass Abel, die Arbeitertochter aus Sankt Margarethen, gegen die er keinen Hass hegte, sterben musste wie die Seinen.

Er überlegt die nächsten Schritte. Angestrengt arbeitet sein träger Verstand. Er hat sich vorgenommen, sofort nach der Tötung der Menschen um ihn herum den Hof durch Feuer in Schutt und Asche zu legen. Doch nun erkennt er, dass die Zeit ihm davon zu laufen droht.

Vergeblich versucht er, die aufkommende Hektik zu zügeln. Rennt, als gelte es sein Leben zu retten, aus dem Wohnhaus über den Hof zur Scheune. Schleppt die unter Stroh verborgenen Leichen von Martin, Reimer und Cornils in ihre Kammern.

Den toten Vaters schleift er unter äußerstem Kraftaufwand aus dem Pferdestall ins Schlafzimmer, legt ihn auf das breite Ehebett, daneben die tote Mutter. Nur beim Anblick der fürchterlich zugerichteten Anna stockt er und weicht offenen Mundes zurück.

In der großen Diele hält er keuchend inne. Starrt in die Dunkelheit. Es fällt ihm ein, dass der Vater in seinem Ausgehrock stets eine Brieftasche bei sich trug. Er geht zurück ins Schlafzimmer, nimmt sie an sich, ohne den Inhalt zu überprüfen.

Noch einmal sucht er die Schlafkammern der Brüder und Annas Mädchenzimmer auf. Zertrümmert und plündert die Sparschweine von Reimer und Anna und sucht unter Martins Kleidung die besten Stücke heraus. Dann begibt er sich in die Waschküche, zieht sich aus, steigt in den großen Zuber, reinigt sich gründlich von Kopf bis Fuß, zieht Martins neue Cordhose und dessen Sonntagsjackett an.

6

Der nächtliche Himmel hat aufgeklart. Sterne werden sichtbar, und der Halbmond wirft ein kaltes Licht auf das Anwesen des Marschbauern Johann Thode, den Stördeich und die weite Stille der Wilstermarsch. Es ist eine trügerische Ruhe, denn was hier geschehen ist, wird die Menschen aus ihrem Frieden, dem harten Alltag, den ruhigen Mußestunden, der derb-fröhlichen Geselligkeit an Sonn- und Feiertagen herausreißen. Wird Angst, Misstrauen und Unruhe bringen für lange Zeit.

Timm Thode steht vor dem Tor der großen Scheune, öffnet es und wirft einen gehetzten Blick in die Runde und zum Wagenschauer, der in unmittelbarer Nähe liegt. Erschrocken hält er inne. „Verdammt! Jehann! De liggt dor noch!“

Er hastet zu dem Wellblechschuppen, in dem die Kutsche, mehrere Ackerwagen, Pflüge, Heuwender, Eggen, Handgeschirr und eine Werkbank untergebracht sind. Im Halbdunkel stolpert er fast über den Bruder, der rücklings zwischen dem Landauer und einem Erntewagen liegt. Er weiß, er muss ihn hinausschaffen, in die leicht brennbare Scheune, besser noch, in seine Kammer.

Schon hat er ihn an den Stiefeln gepackt, will den Körper, dessen Größe und Gewicht dem des Vaters fast gleichkommt, aus dem Schauer ziehen, da fährt ihm ein heißer Schreck in die Glieder. Johann, der mit aufgerissenen Augen ins Leere starrt, den Mund wie zum Schrei geformt, hat die linke Hand bewegt. Timm ist zur Salzsäule erstarrt, lässt den Bruder fallen. Verfolgt mit irrem Blick, wie ein Zittern durch den Leib des Totgeglaubten läuft.

Wahnsinnige Angst packt ihn, den Abergläubigen, der als Kind nicht genug bekommen konnte von den Schauermärchen der alten Näherin Lene, von Todesgeistern, einäugigen Riesen, wandelnden Leichen und rachsüchtigen Mordopfern.

Die Knie versagen ihm. Kaum wagt er zu atmen. Und kann doch den Blick nicht wenden von dem vor Stunden Niedergeschlagenen. Schlagartig wird ihm bewusst, dass er „die Sache“ nicht zu Ende bringen wird. Dass er, gedemütigt von den groben Brüdern, geblendet von der Aussicht auf Reichtum und Unabhängigkeit, zu hoch gepokert hat.

Der Glockenschlag der Kirchenuhr von Sankt Nicolai, ein einziger, reißt ihn aus der Starre. Mehr kriechend als gehend bewegt er sich zur Werkbank, greift wahllos einen schweren Schmiedehammer. Torkelt zurück. Mehrmals schlägt er zu. Wirft den blutigen Hammer ins Dunkel.

Er wankt hinaus, lehnt sich mit beiden Händen an die Schuppentür und übergibt sich. Der Schreck hat ihm alle Kraft genommen. Und für kurze Zeit auch der kalten Logik beraubt, mit der er bisher seine Verbrechen beging. Unfähig, den schweren Körper Johanns auch nur um einen Meter zu bewegen, lässt er ihn unmittelbar hinter der Tür des Schuppens liegen.

7

Elend fühlt Timm Thode sich. Kraftlos. Ausgelaugt. Er ahnt, dass Johanns Leiche, drinnen im Wagenschauer, ihn entlarven und dem Gericht ausliefern wird. Aber nie, niemals wird er es schaffen, den 200 Pfund schweren Körper in die Scheune oder ins Wohnhaus zu schleifen zu den anderen, die dort mit zerschmetterten Schädeln und verrenkten Gliedern liegen. Mit fatalistischem Gleichmut wird ihm bewusst, dass sein sorgsam vorbedachter und bisher durch Zufälle begünstigter Zeitplan durcheinandergeraten ist. Längst hat die Turmuhr Eins geschlagen. Längst sollten Haus und Hof in Flammen stehen.

Er knirscht mit den Zähnen, wie so oft, wenn Schreckensträume ihn heimsuchen. Wenn klappernde Skelette, Furcht erregende Fratzen, besenreitende Hexen und hungrige Menschenfresser ihn aus dem Schlaf hochschrecken lassen. Täänknacker haben ihn die Brüder genannt. Und ihn mit weiteren Beinamen gefoppt: Dödelkopp, Fuulsack, Dummbüddel, Lakenpisser. Und er weiß: Wenn er nicht binnen einer halben Stunde sein Vorhaben zu Ende bringt, ist er schon in dieser Nacht verloren.

Fahrig reißt er in der düsteren Scheune Zündholz um Zündholz an. Legt Feuer an drei Stellen. Sieht die Flammen gierig am Stroh emporzüngeln. Raus hier! Er versucht zu rennen. Stolpert und stürzt. Weiter, nur weiter! Ins Haus, in die Goode Stuuv, die nur bei Familienfeiern und an Festtagen benutzt wird, oder wenn Besuch kommt. Zwischen mächtigen, mit Schonbezügen geschützten Sesseln und hochlehnigen Stühlen tastet er sich zum Fenster, reißt den Samtvorhang beiseite. Das Vertiko, ein halbhoher Eichenschrank, ist verschlossen. Wieder knirscht Timm mit den Zähnen. „Verdammt!“ Er hat nicht bedacht, dem Alten den Schlüssel abzunehmen, den dieser stets in der Westentasche bei sich trägt.

Suchend blickt er sich um in dem großen, im Mondlicht kalt und abweisend wirkenden Raum. Entdeckt den eisernen Schürhaken neben dem bis zur Decke reichenden weißen Kachelofen. Ungeschickt versucht er, die obere Schublade aufzuhebeln. Das harte, trockene Holz knackt und knirscht. Geschafft!

Er greift hinein. Abrechnungen mit Mühlenbesitzern, Schlachtermeistern, Viehhändlern, Quittungen, ein Schreibblock, das Neue Testament. Fieberhaft sucht er weiter. Findet im untersten Fach die Kassette. Wirft sie durchs Fenster auf den Hof. Springt hinterher.

Die Flammen haben das Dach der Scheune erreicht. Timm rafft die schwere Eichenkassette, hastet in Richtung Hoftor. Schaut sich im Laufen um. Und gerät erneut in Panik. Dat Huus!

Wie eine Trutzburg steht es da in der selbstbewussten, unerschütterlichen Würde, die von großen alten Bauernhäusern ausgeht, jetzt im Feuerschein der brennenden Scheune. Timm wirft die Kassette hin, rennt ins Haus, in die Küche und die angrenzende Besenkammer. Packt einen Stapel alter Zeitungen, reißt sie auseinander, legt Feuer im Schlafzimmer, in Martins Kammer, in der Gooden Stuuv. Er stürzt aus dem Haus, ohne sich noch einmal umzuschauen. Und begeht damit einen weiteren Fehler.

Timm hastet über den Hof. Die Kassette! Da liegt sie, dunkel und schwer, in einer von den Ackerwagen verursachten, nun hartgetrockneten Schlammspur. Er beugt sich, will den Kasten ergreifen, verspürt einen stechenden Schmerz im rechten Knie. Das Hosenbein ist zerrissen. Die Kassette unterm Arm, humpelt er durch das Hoftor, vorbei an gespenstischen Kopfweiden zum Hof von Jakob Schwarzkopf, dem nächsten Nachbarn.

Nicht ein einziges Mal schaut Timm zurück zum Elternhaus. Und bemerkt nicht, dass fast alle Fensterläden geschlossen sind und das Feuer mangels Sauerstoff nur zögernd um sich greift. Es wird am Ende nicht nur Schutt und Asche hinterlassen, sondern Spuren, die das Verbrechen verraten werden.

Erleichtert stellt er fest: Kein Licht im Haus von Jakob Schwarzkopf. Die Nachbarn schlafen. Auf dem seitlich zur Küche führenden, mit Kieseln gepflasterten Gartenweg stolpert er erneut, schlägt hin. Die Kassette landet in einem Rosenbeet. Timm tastet nach ihr, zieht sie im Liegen zu sich heran. Er kriecht, den Kasten vor sich herschiebend, zur Küchentür. Legt sich auf den Rücken. Stöhnt, wimmert, schreit.

8

Hanne Schwarzkopf, die füllige, resolute Bäuerin, erwacht aus leichtem Schlaf. Ärgert sich. Schon wieder die Katzen. Nacht für Nacht schleichen sie ums Haus. Rauben ihr die wohlverdiente Ruhe mit grässlichen Lauten, die jetzt sogar menschlichem Gewimmer gleichen. Aber was ist das? Taghell die Nacht! Sie reißt die verschlafenen Augen auf. Erhebt sich schwerfällig vom Lager. Tappt barfüßig zum Fenster.

Ihr stockt der Atem. Lichterloh brennt die Scheune des Nachbarn. Flammen schlagen aus einigen Fenstern des Wohnhauses. „Joggob! Wook op! Jehanns Hoff brennt!“ schreit sie mit sich überschlagender Stimme.

Jakob Schwarzkopf brummelt unwillig, wirft sich auf die linke Seite. Zu kräftig hat er gestern beim gemeinsamen Besuch mit den Thodes dem Lübecker Rotspon des Bauern Starck zugesprochen. Und liegt nun in bleiernem Schlaf. Hanne rüttelt an seinen Schultern. „Minschenkind! Wook op! Dat brennt bi Jehann!“

Mit einem Ruck ist der Bauer wach. Sitzt sekundenlang aufrecht im Alkoven. Springt heraus. Und steht nun offenen Mundes am Fenster: „O du leeve Gott!“

Er hastet die Treppe hoch. Reißt die Tür zur Knechtskammer auf. „Hinnerk! Opstahn! Füür bi Nahwer Thod!“ Der junge Knecht ist sofort auf den Beinen, fährt in Hose und Stiefel, reißt die Jacke vom Haken, blickt verstört aus der Dachluke.

„Los! Los!“ drängt der Bauer. Hinnerk stürmt die Treppe hinunter, rennt los. Er nimmt nicht wahr, dass bereits Helfer aus der Nachbarschaft unterwegs sind. Fuchtelt mit den Armen und schreit: „Thod’s Hoff brennt! Füür bi Thod‘!“

Johannes, der Sohn, ist bereits im Stall, legt seinem braunen Wallach lediglich das Zaumzeug an und gallopiert den Deich entlang ins Dorf, um den Gendarm zu wecken.

Hanne Schwarzkopf ist inzwischen zur Küche hinaus, steht erschrocken vor dem Mann, der vor der Tür liegt und heiser krächzt: „Füür!“ Immer wieder das eine Wort: „Füür!“ Ihr Mann kommt hinzu. Beugt sich nieder zu dem leichenblassen Gesicht. Seitlich schaut er zu Hanne hoch. „Dat is Timm. Jehanns Tweeten.“

Sie tragen ihn hinein, legen ihn auf die Küchenbank. Behutsam bettet Hanne seinen Kopf auf ein Kissen, holt aus der Wohnstube eine Wolldecke, breitet sie über den Körper des Ächzenden. Ihrem Mann nickt sie zu: „Loop röver. Ik tööv hier un lat den Dokder hol’n.“

Timm fühlt sich geborgen in der Nachbarsküche. Er ist sich sicher: Sein Plan ist gelungen. Die Flammen fressen alles, die Scheune, das Haus, die Ställe. Nichts als Asche werden sie übrig lassen. Auch von denen, die er umgebracht hat. Er schließt die Augen. Schlafen will er, nur noch schlafen. Hanne Schwarzkopf schaut, die Hände in die Hüften gestemmt, auf ihn herunter. Schüttelt den Kopf und seufzt: „De arme Jung.“

9

Mühsam humpelt Jakob Schwarzkopf an seinem Krückstock auf dem zerfurchten Feldweg zum Thode-Hof. Es sind nur einige hundert Meter, doch die rheumatischen Gelenkschmerzen machen ihm zu schaffen. Mit Entsetzen und Faszination erfüllt ihn der Anblick der gewaltig lodernden Flammen. Zugleich schiebt sich ihm immer wieder das Bild des jungen Mannes vor Augen, der vor seiner Tür lag.