Böschemeyer, Uwe Das Leben meint uns

PIPER

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ISBN 978-3-492-97638-1

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2002

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VORWORT

 

Die meisten Menschen sehnen sich zwar nach einer Partnerschaft, doch wenn sie sie erleben, sind viele von ihr enttäuscht. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Einer der Hauptgründe liegt zweifellos im Mangel an Kenntnis dessen, was eine gute Partnerschaft braucht. Einige Beispiele: Nur wenigen ist bewußt genug, daß jeder mit seinen eigenen Augen sieht und er oder sie daher manche Situation zwangsläufig anders beurteilt als der Partner oder die Partnerin. Nur wenige machen sich klar, daß jeder seine eigene Geschichte hat und keiner so bleibt, wie er am Beginn der Partnerschaft war. Mancher verkennt, daß er nicht alles Glück der Welt vom anderen erwarten kann. Andere denken nicht daran, daß zu einer guten Beziehung auch Kultur gehört. Viele Paare durchschauen nicht, daß ihre Spannungen nicht primär ein Beziehungsproblem sind, sondern aus eigenen ungelösten Lebensfragen resultieren. In diesem Buch soll davon und von vielem anderen mehr die Rede sein.

Seit über 30 Jahren denke ich mit Menschen über ihre Probleme nach und suche mit ihnen nach Lösungen. Seit 20 Jahren leite ich das »Hamburger Institut für Existenzanalyse und Logotherapie«. Existenzanalytische Logotherapie – sie wurde von dem berühmten Wiener Arzt Viktor E. Frankl begründet – ist Psychotherapie, die um die Frage nach sinnvollem Leben kreist. Sinn ist konkret, ist nichts von der Realität Abgehobenes, sondern meint das jeweils Wichtigste im Leben, und Leben besteht aus täglich wechselnden Situationen. Der Menschenkenner C. G. Jung hat einmal gesagt, die meisten seelischen und körperlichen Störungen seien Leiden der Seele, die ihren Sinn nicht gefunden habe. Die Praxis zeigt, daß dieser Satz stimmt. Und deshalb sind Störungen, gleich welcher Art, Herausforderungen zur Suche nach einem gelingenden und daher sinnvollen Leben.

Meine Mitarbeiter und ich haben in der Praxis mit Störungen aller Art zu tun, z. B. mit Ängsten, Depressionen, Zwängen, Süchten, pychosomatischen Störungen, Krisen unterschiedlichster Art, aber auch mit Menschen, die klug genug sind, ihre Persönlichkeit weiterzubilden, um Störungen vorzubeugen.

Manche Besucher unseres Instituts kommen bewußt mit dem Anliegen, an den Problemen ihrer Partnerschaft arbeiten zu wollen. Andere dagegen, und das sind die meisten, erkennen erst im Lauf der Gespräche, daß ihre Beziehungsschwierigkeiten schwerwiegender sind, als sie angenommen haben. Und dann zeigt sich häufig, daß diese Probleme vor allem in ihnen selbst begründet sind.

Ich habe viel Hoffnung für Menschen, die in die Krise geraten sind, auch für jene, die meinen, ihnen sei nicht mehr zu helfen. Das hat seinen Grund.

Alles Leben ist vom Wechselspiel polarer Strukturen bestimmt. Wir begegnen ihm überall. Es gibt den Tag und die Nacht, die Hitze und die Kälte, die Geburt und den Tod, die Natur und den Geist, den Mann und die Frau, die Liebe und den Haß, die Verzweiflung und die Hoffnung etc.

Wir würden nie Positives erleben, wenn es nicht Negatives gäbe. Wir würden nie Freiheit erleben, wenn es keine Unfreiheit gäbe. Wir würden nie Glück erfahren, wenn wir kein Leid erführen. Ein Stern strahlt nur auf dunklem Hintergrund. Das Meer rauscht nur, weil wir die Ebbe kennen. Das Leben finden wir so kostbar, weil der Tod es begrenzt. Alles Gegensätzliche bedingt sich, gehört zusammen, ist im Grunde eine Einheit.

Aber: Wir wollen nicht das Negative, wir wollen nicht die Unfreiheit, wir wollen nicht das Leid – und übersehen dabei, was geradezu tragisch zu nennen ist, daß die negativen Dinge die Voraussetzung für die Möglichkeit sind, das Positive, die Freiheit, die Hoffnung, das Glück und alle anderen sinnvollen Dinge erleben zu können. Am liebsten würden wir alles, was negativ ist, vermeiden, ausschalten, ausrotten oder wenigstens isolieren. Doch könnten wir es, lösten wir die innere Einheit der Gegensätze auf – und verlören unsere menschliche Identität.

So viele leidvolle Lebensprobleme resultieren aus diesem tiefen Mißverständnis der Grundstruktur des Lebens! So viele schwere Stunden könnten wir anders verstehen und anders erleben, wenn uns deutlicher wäre, daß wir nur dann kein volles Leben haben, wenn wir es nur zur Hälfte wollen. Die Suche nach Sinn bezieht sich auf alle Bereiche, auf die dunklen ebenso wie auf die hellen. Die Suche nach Glück konzentriert sich nur auf die hellen. Daher halbiert der, der nur das Glück sucht, sein eigenes Leben.

Weil aber alles Leben polar strukturiert ist, gibt es nicht nur die Krise, sondern auch deren Gegenpol: die Entwicklung. Die Entwicklung aus der Krise setzt allerdings dann erst ein, wenn man sich mit ihr auseinanderzusetzen beginnt. »Jede Krise«, sagt Bijan Amini »ist ein schicksalhaftes Faktum. Das Krisenereignis bedeutet aber nicht das Ende, sondern meist nur eine Wende. Sie tritt ein, wenn wir die Krise als Chance zum Neubeginn begreifen«[1].

Fast jede menschliche Krise ist eine Gunst. Fast jede Krise ist das Fieber der Seele, die ihren Sinn nicht (mehr) hinreichend fühlt und daher auf neues sinnvolles Leben drängt. Fast jede Krise ist auch Ausdruck von ungelebtem Leben, das darauf wartet, ausgelebt zu werden. Fast jede Krise ist eine Herausforderung zum Leben. Und: Fast jede Krise macht deutlich, daß jeder Mensch immer mehr ist als sein Problem. Wie jedoch die Wende aussieht, ist für den, der sich in einer Krise befindet, längere Zeit nicht erkennbar, und gerade das macht sie zunächst so schwer.

Worauf aber kann man in Zeiten, in denen manches fraglich geworden ist, hoffen? Darauf, daß keine Zeit der anderen gleicht –, daß alte Verletzungen die neuen Tage auf Dauer nicht dominieren müssen –, daß Menschen sich in ihren Gedanken, Empfindungen, Gefühlen und Handlungen verändern können, besonders dann, wenn die Not es verlangt –, daß Leben Entwicklung ist, daß sich neue Gründe für Leben dann zeigen, wenn sie gebraucht werden, daß gutes Leben manchmal auch von außen kommt –, daß die Hoffnung sich manchmal von selber zeigt, vielleicht sogar dann, wenn die Hoffnungslosigkeit am größten ist.

Wie aber läßt sich Hoffnung entwickeln? Dadurch, daß wir uns die vergangenen Hoffnungen vergegenwärtigen –, daß wir uns darüber empören, was unser Leben heute leblos macht –, daß wir nach den bisher ungelebten Wünschen fragen –, daß wir auf anderes, hoffnungsvolles Leben sehen –, daß wir die Hoffnung tiefer als bisher in uns selber suchen –, daß wir uns fragen, ob wir so hoffnungslos bleiben wollen.

Drei Dinge sind für meine Arbeit besonders wichtig:

Dieses Buch will keine Partnerschaftsberatung ersetzen. Es leuchtet nicht in alle Winkel und Ecken des Zusammenlebens hinein. Es ist auch kein Lehrbuch über Ehe oder Partnerschaft. Es ist vielmehr ein Zusammenspiel von klärenden Gedanken und der Beschreibung von Szenen in Partnerschaften. Vor allem möchte das Buch ermutigen, anregen und Phantasien wecken, die bestehende Beziehung so bekömmlich wie möglich zu gestalten. Um eine gewisse Systematik zu erreichen, sind die Texte einigen wenigen Abschnitten zugeordnet. Die Anzahl der Texte, die zu den Abschnitten gehören, besagt allerdings nichts über die Bedeutung des jeweiligen Themas.

Manche Problemlösung scheint zu schön, um wahr werden zu können. Ich meine allerdings, daß es besonders in unserer Zeit wichtig ist, die Möglichkeiten im Leben, die möglichen Ziele und Wegweiser zu solchen Zielen herauszustellen.

Manche Passagen des Buches scheinen besonders frauenfreundlich zu sein. So sind sie auch gemeint. Denn aus meiner Sicht sind es vor allem die Frauen, die sich um Lösungen bemühen, wenn ein Paar in die Krise geraten ist.

Von Paaren ist die Rede. Ich meine damit Ehe und Partnerschaft, also Beziehungen von Menschen, die zusammenleben.

Lüneburg,

Uwe Böschemeyer

im August 2001

TEIL I

 

SZENEN IN PARTNERSCHAFTEN

1

 

Morgenmuffel

Sie kommt die Treppe herunter. Er sitzt bereits am Frühstückstisch. Sie strahlt ihn an, er sie nicht. Statt dessen teilt er ihr mit, welche Morgenlaus ihm über die Leber gelaufen ist.

»Übrigens,« beginnt er, »was du gestern abend gesagt hast …« Sie weiß schon, was er sagen will, umarmt ihn deshalb rasch und verschließt ihm den Mund mit einem leichten Kuß. Doch seine üble Laune verändert sich nur geringfügig. Er beginnt über gestern abend zu reden, zu reden, zu reden …

 

Sie schweigt, ißt nur wenig, versucht, etwas zu sagen, schweigt wieder.

Da sieht er sie an, sieht ihre dunkel gewordenen Augen. Nun versucht er, etwas zu sagen, schweigt wieder. Und begreift: Begreift, daß er die beste Frau der Welt hat –, daß seine ständige Morgenmuffelei der des »Ekel Alfred« gleicht –, daß er ihr den Beginn des Tages vermiest –, daß er sich selbst den Beginn des Tages vermiest –, daß es an der Zeit ist, sich fortan morgens nicht mehr gehen zu lassen.

Er sagt nichts von dem, was in ihm vorgeht. Behutsam legt er seine Hand auf ihre. Leise sagt er: »Verzeih.« Am nächsten Morgen kommt sie lächelnd die Treppe herunter. Er lächelt zurück.

2

 

Liebe ist mehr als ein Gefühl

Wieder einmal hat er keine Lust, mit ihr zu ihrer Familie zu fahren. Ihre Familie ist ihm fremd. Sie dagegen fährt gern mit ihm zu seinen Eltern und Geschwistern, obwohl seine Familie anders ist als ihre. Sie bittet ihn, greift ihn an, argumentiert mit ihm. Er bleibt stur. Dann schweigen sie.

 

Nach einer Weile sieht er sie weinen. Zwar will sie ihr Weinen vor ihm verbergen, er hat es trotzdem bemerkt. Noch hindert ihn sein Trotz, zu ihr zu gehen. Dann setzt er sich neben sie, berührt ihre Hand. Rasch wischt sie die Tränen weg. »Ich wollte dich nicht verletzen,« beginnt er vorsichtig. »Hast du aber,« entgegnet sie. Darauf weiß er nichts zu sagen, bleibt aber still bei ihr sitzen.