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Norbert Treuheit (Hrsg.)

Best of Frankenkrimis

 

14 Crime Stories

 

 

 

ars vivendi

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (Erste Auflage März 2016)

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Umschlaggestaltung: FYFF, Nürnberg

Covermotiv: ars vivendi

 

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-710-0

 

Inhalt

Sigrun Arenz – Füße im Feuer

Jan Beinßen – Zeit zum Sterben

Veit Bronnenmeyer – Mord im Regionalexpress

Theobald Fuchs – Der Tote im Wehr

Tommie Goerz – Steinbruch

Thomas Kastura – Mafia Bamberga

Tessa Korber – Das Loch

Dirk Kruse – Das kalte Herz

Killen McNeill – Pfarrers Kinder, Müllers Vieh

Petra Nacke – Nightliner

Horst Prosch – Süßer klangen die Glocken nie

Jeff Röckelein – Ja verreck

Elmar Tannert – Unterm Apfelbaum

Helmut Vorndran – Untödlich

Die Autoren

Der Herausgeber

Textnachweis

 

Sigrun Arenz – Füße im Feuer

»Mein ist die Rache, redet Gott.«

(C. F. Meyer, Die Füße im Feuer)

 

Der Glühwein lag in der Tasse, rot und duftend, mit einem leicht öligen Film darauf. Ruhte und duftete nach Nelken und warmem Alkohol. Eine einzelne Schneeflocke segelte auf ihn herab und funkelte einen Augenblick lang beinahe, ehe sie auf der Oberfläche des heißen Weins zerschmolz. Rot lag er in der Tasse, schwer und duftend und flüchtig. Er roch nach Nelken und Zimt und Zitrone. Er roch, wie alle roten Dinge, nach Liebe und nach Blut.

 

Ein seelenloser Korridor, in hartes Kunstlicht getaucht, ohne Blick hinaus. Die Tür vor ihr öffnete sich, und trotz allem, was vorausgegangen war, zögerte sie, hindurchzutreten, die Hand krampfhaft um den Riemen ihrer Tasche geschlossen. Jenseits der Tür lag ihre Befreiung, und doch war sie sich für einen langen Moment des Zweifels nicht sicher, ob sie diesen Schritt wirklich machen sollte. Vielleicht war es Furcht vor dem, was danach folgen würde. Was kommt nach der Hölle?

Sie zögerte und ging dann doch weiter, hatte tief drinnen ja gewusst, dass sie es tun würde, wunderte sich immer noch, wie leicht es gewesen war. Die Tür hatte sich aufgetan, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, ihr den Weg frei zu machen. Vielleicht lag es daran, dass Weihnachten war und selbst Beamte der Justizvollzugsanstalt es an diesen Tagen nicht so genau nahmen. Sie klammerte sich an den Gedanken, dass jetzt alles anders werden würde, sie wirklich frei werden und die Vergangenheit hinter sich lassen würde. Ein Schritt hindurch, und die Tür zum Zellentrakt schloss sich hinter ihr. Sie war drinnen.

 

Ein Besuchsraum, dessen kahle Nüchternheit durch einen Adventskranz halbherzig aufgebrochen war. »Besuch für Sie«, das war alles, was Meier zu ihm gesagt hatte, und ein wenig gegrinst hatte er dabei, ein wenig anzüglich, ein wenig verschwörerisch, als ob das alles ein abgesprochenes Spiel zwischen ihnen sei. Vielleicht, weil Weihnachten war und selbst Beamte der JVA an so einem Tag ein wenig anders tickten.

»Besuch für Sie.«

Mit ihr hatte er nicht gerechnet. Sie trug ihr Haar anders, kurz geschnitten und glatt geföhnt, und es dauerte einen Augenblick, bis er wirklich begriff, wen er da sah. Es war Weihnachten, und sie war gekommen. »Besuch für Sie.« Die Tür mit dem vergitterten Sichtfenster darin schloss sich hinter ihr. Sie waren allein.

 

Die Luft war frostig, und ein paar Schneeflocken segelten träge durch die Luft, fingen im Fallen das Licht von Hunderten von Lämpchen auf, um dann sofort unter Hunderte von Füßen getreten zu werden. Und überall gerötete Hände und Ohren und aufgestellte Kragen und Schals und Wollmützen und die Kälte. Christkindlesmarkt in Nürnberg; sie waren zu sechst, außer ihm noch das unattraktive blonde Mädchen, der Kommilitone mit den Hundeaugen, dann das Pärchen aus dem Proseminar, ineinander versunken die zwei, als gäbe es die Welt um sie herum nicht. Und sie, mit ihrer bunten Umhängetasche und ihrem Lachen, das in der kalten Luft glitzerte wie die wenigen Schneeflocken, die es schafften, durch ihr Blickfeld zu treiben. Frostiger Atem dampfte vor den Gesichtern. Zugleich die Hitze: Körper, aufgeheizt von Glühwein und Feststimmung, die Menschenmassen, die Lichter, und die Gerüche nach Holz und Alkohol, feuchter Wolle, menschlichen Ausdünstungen, Zimt und Nelken, nach Fleisch, das auf den Grills der Würstchenbuden zischte und brutzelte. Der Gedanke an menschliches Fleisch, das sich unter Lagen von Jacken und Pullovern und Unterwäsche verbarg, und man konnte nicht wissen, ob es fror oder erhitzt war und aufgeregt.

Irgendwann sah er, wie sie mit einer ungeduldigen Handbewegung ihre Mütze vom Kopf zog und in die blaue Winterabendluft atmete, ihr Gesicht ein wenig gerötet, und das lange Haar rollte, rötlichbraun, befreit, über den Kragen ihrer Winterjacke.

 

Er wusste, warum sie ihre Haare abgeschnitten hatte.

Sie setzte sich ihm gegenüber, ohne ein Wort zu sagen, schlüpfte unter dem Riemen ihrer Umhängetasche durch, die sie über der Schulter getragen hatte – war das erlaubt? Er konnte sich nicht erinnern, es war so lange her seit dem letzten Besucher, er hatte nie darauf geachtet. Vielleicht hatten sie eine Ausnahme gemacht, weil Weihnachten war, aber jedenfalls hatte sie eine Tasche dabei und legte sie auf den Tisch vor sich, die Hände ruhten auf dem bunten Stoff, ohne loszulassen. Schöne Hände, schlank und wohlgeformt, schmal, aber nicht schwach, nicht zerbrechlich.

Er wusste auch, dass die Tasche eine Mauer war zwischen ihm und ihr. Früher wäre ihm das nicht aufgefallen. In seinem alten Leben, als er nur wahrgenommen hatte, was er sehen wollte, als die Welt sich um ihn gedreht hatte und alles, alles nur in Bezug auf ihn und seine Wünsche und Abneigungen wichtig gewesen war. Halsstarrig war sie gewesen, damals. Schön und halsstarrig. Nicht, dass er das Wort jemals benutzt hätte in seinem alten Leben – jetzt kam es ihm in den Sinn, mit den Worten aus einer Ballade, die er gelesen hatte – »ein fein, halsstarrig Weib«. Auch Balladen gehörten zu seinem neuen Leben, in dem er in den Gesichtern seiner Mithäftlinge lesen konnte und Dinge verstand, die niemand aussprach. In dem er wusste, warum sie sich die Haare abgeschnitten hatte, warum sie nicht mehr dieselbe sein wollte, weder äußerlich noch innerlich.

Was er nicht deuten konnte, auch nicht nach diesen zwei Jahren, nicht nach dem Prozess und nicht nach den vielen einsamen Stunden des Lesens und Beobachtens, war ihr Gesichtsausdruck, als sie die Tasche zwischen ihnen öffnete und einen länglichen Gegenstand heraushob.

»Ich habe dir etwas mitgebracht«, erklärte sie und schraubte den Deckel der Thermoskanne auf.

Zwischen ihnen, auf dem blanken Holztisch, stand eine Tasse mit dampfendem Glühwein.

 

»Ich hol uns noch was zu trinken«, hat er gesagt und ist zum Stand zurückgegangen, wo er erst einmal stehen bleibt, dankbar für den Anorak, der lang genug ist, um seine Erregung zu verbergen. Er ist überhitzt, die paar Schneeflocken, die aus der immer dunkler werdenden Luft auf sein Gesicht fallen, bewirken nichts weiter, als ihm zu zeigen, wie heiß er ist. Der Schnee scheint auf seiner Haut zu glühen, ihn zu verbrennen, ist so heiß wie die Berührung ihrer Hand vorhin, als sie ihn gestreift hat. Beim Umdrehen, im Gespräch mit der blonden Freundin, die er hasst, weil sie sich für sie umdreht, mit dem Kommilitonen, den er verachtet, weil er dieses Lächeln aufsetzt, wenn er mit ihr redet, bewundernd, ein bisschen hilflos. Der Typ ist verliebt in sie, sie, die er hasst, weil sie halsstarrig ist und schön und ihn anmacht und dann so tut, als sei nichts gewesen.

Wie sie ihr Haar befreit hat, als sie die Mütze abgestreift hat, wie es, rötlichbraun und plötzlich lose, das Licht gefangen hat von den Weihnachtssternen und Lichterketten über dem Christkindlesmarkt. Wie sie sich umgewandt hat, sodass ihr bloßer Hals direkt vor seinen Augen lag, weiß und glatt, und das Blut hat in ihren Adern gepocht. Wie ihre Hand ihn gestreift hat beim Umdrehen, tausend Grad heiß, sodass er die Stelle noch jetzt spürt wie eine Wunde, wie ein Brandzeichen – und dann hat sie sich abgewendet und mit den anderen geredet, und als er etwas zu ihr gesagt hat, hat sie ihm diesen Blick zugeworfen. Einen Blick, als ob er ein Niemand wäre, oder jemand, der da sein könnte oder auch nicht, der keinen Unterschied macht, der keine Bedeutung hat. Du Schlampe, hat er gedacht, und dann hat er ihr Haar wieder gesehen, mit den Lichtpünktchen darin, und hat die Worte gesagt. Um wegzukommen von ihr, ja, aber vor allem, um sie zu bestrafen.

»Ich hol uns noch was zu trinken.«

 

Der Glühwein lag in der Tasse, ein leicht öliger Film darauf, und erfüllte den kleinen Besuchsraum der JVA mit dem Duft nach Nelken und Zimt und Zitrone. Er roch, wie alle roten Dinge, nach Liebe und nach Angst.

Ihm wurde kalt, als er ihr ins Gesicht sah. Ihre Augen – ein lichtes Braun – waren unverwandt auf ihn gerichtet, unerbittlich, rätselhaft. Sie sagte nichts. Nicht »trink« und nichts sonst, starrte ihn nur an, auffordernd, erbarmungslos. Und er wusste, dass sie gekommen war, um mit ihm abzurechnen, mit ihm abzuschließen, die Vergangenheit endgültig hinter sich zu lassen.

Was er nicht wusste, was er nicht deuten konnte, war das Wie.

 

Er hatte erst dem Kommilitonen seinen Becher gereicht, dann der Blondine. Für das ineinander versunkene Pärchen hatte er keinen Glühwein mitgebracht. Seinen eigenen Becher stellte er auf dem wackligen Tisch ab, um den sie herumstanden; es war der dritte – oder der vierte? Ganz sicher war er sich nicht.

Den letzten Becher reichte er ihr. »Danke«, erwiderte sie, und ihr Lächeln hatte dieselbe Farbe wie die Lichterketten an der Bude neben ihnen, wie der Schnee und wie die vereinzelten Sterne am dunkelblauen Winterhimmel. »Ich sollte gar nichts mehr trinken, ich hatte schon zwei«, fügte sie hinzu, mit einem Kichern, das nicht ganz so klar klang wie noch vor einer Stunde, »aber ich bin ja mit der U-Bahn da, gut, dass ich nicht mehr fahren muss, aber hoffentlich sind nachher nicht so viele Betrunkene unterwegs, die einem vor die Füße kotzen.« Ihre Stimme klang lebhaft, aber die Worte kamen ein wenig zu schnell, und die Silben rannen ein bisschen ineinander; sie vertrug nicht viel. Seine Hände zitterten, als sie ihre Hand ausstreckte, um ihm den Becher abzunehmen. Einen Moment lang sah er auf den dunklen Glühwein darin, mit dem leicht öligen Film darauf, der nach Zimt und Nelken duftete, und etwas in ihm wollte schreien: »Trink nicht!«, wollte ihr die Tasse aus der Hand schlagen und vergessen, dass er ihn ihr je hatte geben wollen, wollte den Glühwein und die Tropfen, die er hineingekippt hatte, im Schneematsch verschüttet sehen, rot wie die Liebe, wie ihr Haar, wie vergossenes Blut. Aber dann wandte sie sich von ihm ab, dem Kommilitonen und der Blonden zu, lächelte, dass die Sterne zerschmolzen, und ihr Lächeln war nicht für ihn, nicht für ihn alleine, sondern für den anderen mit seinem albernen, liebeskranken Blick, und für die Freundin, deren nichtssagendes Gesicht von Kälte und Glühwein gerötet war, umfasste sogar das Pärchen, das von nichts etwas mitbekam. Und ihm blieb der Blick auf die Lichtpünktchen in ihrem Haar und auf ihren entblößten Nacken, und er dachte an ihre Halsstarrigkeit, und dass es ihr recht geschah, dass sie es nicht anders verdient hatte, und er dachte an das Rot von Wein und von Liebe, und an das Blut, das durch ihre Adern rann. »Trink«, dachte er voller Lust und Verzweiflung und Rachsucht.

 

»Trink«, sagte sie nun doch. Nichts weiter. Die braunen Augen sahen ihn unverwandt an, nur ihn diesmal, als gäbe es niemanden auf der Welt außer ihm. Der Blick machte ihm Angst. Es war absurd, überlegte er mit klopfendem Herzen, Angst zu haben. Was konnte sie ihm antun, hier und jetzt, unter dem kümmerlichen Adventskranz des Besuchsraums der JVA? Wenn sie sich rächen wollte, wenn sie diesen Glühwein … unmöglich. Dann hätte sie sich keinen schlechteren Ort aussuchen können, keine unpassendere Gelegenheit. Jeder würde wissen, dass sie es getan hatte. Vielleicht würde sie das Gebäude noch unbehelligt verlassen können, aber sie würde niemals davonkommen. Der Duft von Nelken und Zimt und heißem Alkohol strich zu ihm herüber, und sein Magen zog sich zusammen. Natürlich wusste sie das alles, überlegte er, als er wieder aufsah zu den braunen Augen, die noch immer prüfend auf ihm ruhten. Aber was, wenn es ihr egal war, was mit ihr danach passierte? Wenn Rache das Einzige war, woran ihr noch etwas lag?

 

Der Geruch nach Alkohol und Erbrochenem war schwach, aber die ganze Zeit präsent. Um ihn die unvollkommene Dunkelheit der nächtlichen Stadt. Von weit her hörte er das Grölen einiger Betrunkener. Er war alleine mit dem Geruch nach Alkohol und Erbrochenem und Blut. Alleine, wenn man die reglose Gestalt nicht zählte, die auf dem Boden lag. Ihr Blick hatte Sterne zerschmelzen können, aber nicht jetzt, nicht, seit sie ihm lachend den Glühweinbecher aus der Hand genommen und getrunken hatte. Ohne ihren Blick und ihr Lachen und ihre wache Persönlichkeit war sie so klein gewesen, nichts als eine Puppe, ein lebloses Ding, mit dem er machen konnte, was er wollte. Und nun lag sie dort und hätte wie ein vergessenes Spielzeug gewirkt, wäre da nicht das langsame Heben und Senken des Brustkorbs gewesen, und das Blut.

 

Ihr Blick machte ihn klein, so als säße er am Ende eines umgedrehten Fernglases, winzig und weit entfernt von allem, ein Objekt zum Beobachten, kein Mensch.

Der Glühwein stand zwischen ihnen auf dem Tisch, rot und mit einem leicht öligen Film darauf. Ihre braunen Augen sahen ihn an, mit diesem distanzierten, kalten Ausdruck, vor dem er zurückschreckte. Sie wollte ihn dazu zwingen zu trinken, mit nichts als ihrem Blick, ihrem schrecklichen, unerbittlichen Blick. Du musst das nicht trinken, sagte er sich, wiederholte es in seinem Kopf wie etwas, das er sich einprägen musste, um es nicht zu vergessen. Sie kann dich nicht zwingen.

Er konnte die Tasse einfach stehen lassen. Aufstehen, fortgehen. Nach Meier rufen, der auf der anderen Seite saß, und ihn bitten, seine Besucherin wieder hinauszuführen. Er war ein Gefangener, aber diese Freiheit hatte er. Du musst das nicht trinken.

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, stand sie langsam auf, schlüpfte wieder unter dem Riemen ihrer Tasche hindurch, sah ihn noch immer an, aber ohne diese schreckliche, erbarmungslose Intensität. Und auf einmal begriff er, was sie hinter diesem Blick verborgen hatte: die Hölle. Auf dem Tisch stand der Becher mit dem Glühwein, und er hatte die Wahl. Er konnte ihn stehen lassen und fortgehen, und niemand, selbst sie, konnte ihn daran hindern, diese Entscheidung zu treffen.

 

»Warum haben Sie es getan?«

Schweigen.

»Haben Sie gar nichts zu sagen? Sind Sie sich eigentlich bewusst, wie schwer Ihre Tat wiegt? Wollen Sie nicht wenigstens um Verzeihung bitten, Ihre Schuld eingestehen? Wissen Sie eigentlich, was Sie da getan haben? Tut Ihnen Ihre Tat wirklich überhaupt nicht leid?«

Er dachte an ihr Lächeln, als sie sich zu ihrer Freundin und dem Kommilitonen umgedreht hatte. An die Lichtpünktchen in ihrem Haar. An den Geruch nach Alkohol und Blut. An ihre unbewegte Gestalt im Dunkeln. An die Wärme ihrer Hand, zuvor, und an die kalte, schlaffe Hülle, zu der er sie gemacht hatte. Sah sie starr im Gerichtsraum sitzen, ohne Regung erzählen, als spreche sie nicht von sich, sondern von einer anderen Frau. Dachte daran, wie sein Verteidiger sie bedrängt hatte, ihre Glaubwürdigkeit und ihre Motive in Zweifel gezogen hatte. Dachte, dass er ihr Leben zerstört hatte, vielleicht nicht für immer, vielleicht nicht endgültig, aber wer konnte das wissen? Fühlte irgendwo unter seiner eigenen Angst und der Taubheit, die sich während des langen Prozesses eingestellt hatte, unter der Wut über die aussichtslose Lage, in die sie ihn gebracht hatte, die Scham über sich selbst, so tief verborgen, dass er sie nicht aussprechen konnte.

»Haben Sie wirklich gar nichts zu sagen?«

Er schwieg.

 

Sie hatte sich zum Gehen gewandt, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Finger, schlank, aber nicht zerbrechlich, hatten sich um den Riemen ihrer bunten Tasche geschlossen. Er hatte sie nicht vernichtet. Sie war durch die Hölle gegangen und auf der anderen Seite herausgetreten, und eines Tages würde ihr Lächeln wieder Sterne zerschmelzen, wenn auch nicht für ihn. Und auf einmal begriff er, warum sie wirklich gekommen war und von ihm eine Entscheidung erwartet hatte. Er konnte trinken oder nicht, er hatte die Wahl. Sie hatte sie nicht gehabt. Welchen Grund hätte sie gehabt, ihm zu misstrauen? Und er hatte ihr Leben in der Hand gehabt und es beinahe zerbrochen. Es war Zeit, zu seiner Schuld zu stehen.

»Warte«, sagte er, und sie wandte sich an der Tür um.

Er nahm die Tasse mit dem Glühwein, der rot und schwer wirkte, nur noch lauwarm jetzt, und begann zu trinken. Der Geschmack von Zimt und Nelken erfüllte seinen Mund.

Sie nickte ihm zu, dann verließ sie den Besuchsraum. Ihre Schritte hallten durch den Korridor, als der Beamte sie hinausbegleitete. Die Tür zum Zellentrakt schloss sich hinter ihr, und sie trat in die kühle Dezemberluft hinaus.

Auf dem Hauptmarkt herrschte wie immer der vorweihnachtliche Wahnsinn. Menschenmassen pressten sich durch die engen Budenstraßen, über denen der Geruch nach Bratwurst, Alkohol und menschlichen Ausdünstungen lag. Einen Moment lang zögerte sie, die alte Beklemmung, die Angst, die monatelang ihr Begleiter gewesen war, schwer auf ihrer Brust. Dann holte sie tief Luft und betrat die Budenstadt zum ersten Mal seit jenem Abend.

 

Jan Beinßen – Zeit zum Sterben

»Wissen Sie, was das wirklich Tragische am Altwerden ist? Dass man unsichtbar wird. Ja, wirklich, es ist ein weitverbreitetes Phänomen. Als junger Mensch besitzt man gewisse Eigenschaften, die wahrgenommen werden: Man ist entweder dick oder dünn, groß oder klein, hübsch oder hässlich, in jedem Fall aber wird man beachtet. Das lässt mit dem Alter mehr und mehr nach, immer weniger Mitmenschen schenken einem Aufmerksamkeit – sie sehen durch einen hindurch. Unsichtbar, ja, man wird unsichtbar.«

Kriminaloberkommissarin Jasmin Stahl schmunzelte, als sie den betagten Mann ansah, der ihr gegen­übersaß. Sein weniges verbliebenes Haar lag in sorgsam arrangierten Strähnen silbergrau auf seiner hohen Stirn, das Gesicht war mit Dackelfalten überzogen, der Rücken gekrümmt. »Ich sehe Sie klar und deutlich vor mir sitzen, Herr Brehmke«, sagte sie, »und ich bin glücklich, mich mit einem der erfolgreichsten Kriminalbeamten aller Zeiten unterhalten zu dürfen.«

Brehmke griff ihr Lächeln auf. »Danke, aber meine Verdienste sind längst verblasst. Das war eine ganz andere Zeit damals, ein anderes Handwerk. Was hätte ich drum gegeben, wenn wir in meiner Ära schon so fortschrittliche Fahndungshilfen wie den DNA-Vergleich gehabt hätten. Nun ja, wir haben ja auch ohne moderne Methoden eine gute Quote erreicht.«

»Das kann man wohl sagen. Vor Ihrer Spürnase konnte kein Ganove sicher sein«, schmeichelte Jasmin Stahl dem Senior. »Ihr Ruf ist bis heute legendär.« Sie blickte sich in der mit dunklem Holz verkleideten Bibliothek des Heilig-Geist-Spitals um. Neben ihnen hielten sich einige andere Heimbewohner in dem überheizten Raum auf, stöberten in antiquarisch anmutenden Romanen und Bildbänden, beschäftigten sich mit Brettspielen oder starrten regungslos vor sich hin. Niemand schien ihnen Beachtung zu schenken. Dennoch senkte die junge Kommissarin die Stimme, als sie fragte: »Ich möchte nicht lange drum herum reden, Herr Brehmke: Sie haben mich mit Ihren Andeutungen am Telefon neugierig gemacht. Was genau ist vorgefallen? Sie sprachen von ominösen Todesfällen.«

Auch Brehmke redete leiser, als er antwortete: »Es ehrt Sie, dass Sie die wirren Worte eines Tattergreises ernst nehmen und mich nicht schon am Telefon abgewürgt haben. Ich an Ihrer Stelle hätte es nämlich wahrscheinlich getan. Schließlich ist es nichts Ungewöhnliches, wenn in einem Seniorenheim der ein oder andere das Zeitliche segnet. In diesem Fall eine immerhin schon einundneunzigjährige Frau.«

Jasmin Stahl schürzte die Lippen. Zugegeben: Hätte es sich bei dem Anrufer, der sich vor zwei Tagen bei ihr gemeldet hatte, nicht um den in ihren Kreisen hoch geachteten Altkommissar gehandelt, hätte sie dem Hinweis auf angebliche Unregelmäßigkeiten in dem altehrwürdigen Seniorenstift keine Bedeutung zugemessen. Noch dazu, wenn ein amtsärztlich ausgestellter Totenschein besagte, dass es sich um das natürliche Ableben einer Herzkranken handelte.

»Worin genau begründet sich Ihr Verdacht, dass es sich bei dem Tod der alten Dame …«

»Elfriede«, unterbrach Brehmke sie. »Sie hieß Elfriede Rumreich.«

»Gut, danke. Also, Herr Kollege, weshalb sollte Elfriede ermordet worden sein? Haben Sie konkrete Anhaltspunkte oder gar Beweise?«

Der alte Kommissar schüttelte behäbig den Kopf. »Nein, mit Beweisen kann ich nicht dienen. Auch nicht mit Anhaltspunkten im ermittlungstechnischen Sinn. Es ist bisher lediglich eine Vermutung.«

Jasmin Stahl war etwas enttäuscht, dass ihr Vorbild offensichtlich nichts in der Hand hatte, um seine Andeutungen mit Fakten belegen zu können. Das passte so gar nicht zu dem, was sie sich von dem versierten Fahnder erwartet hatte. Dennoch zeigte sie weiterhin Interesse: »Vermutungen sind schon mal ein Anfang. Schießen Sie los, Herr Brehm­ke: Was haben Sie entdeckt?«

Brehmke hob seinen Blick und ließ ihn langsam und beobachtend wie ein Adler auf Beutesuche über die Köpfe seiner Mitbewohner gleiten. Erst nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass sie noch immer nicht die Aufmerksamkeit der anderen erregt hatten, begann er mit seiner Erklärung: »Vor ungefähr einem Vierteljahr haben wir einen Neuzugang bekommen. Das ist an sich nichts Besonderes, denn die Abgänge – meist durch Tod oder Verlegungen ins Krankenhaus oder auf eine Palliativstation – werden in etwa durch das nachfolgende ›junge Blut‹, wie wir es nennen, aufgewogen. Alles Weitere folgt meistens einer Standardprozedur: Die Neuankömmlinge stellen zunächst klar, dass sie aus freien Stücken ins HeiGei eingezogen und selbstverständlich im Vollbesitz ­ihrer geistigen wie körperlichen Kräfte sind. Viele geben an, dass es sich um einen vorübergehenden Aufenthalt im Heim handele, etwa, weil ihre Angehörigen eine Auslandsreise unternähmen und sie in sicheren Händen wissen wollten. Die Neuen sondern sich anfangs ab und versuchen alles, um nicht in die Rituale und immer gleichen Abläufe des Heimlebens zu verfallen. Das hält zwei oder drei Wochen an, bei manchen auch etwas länger. Spätestens nach einem halben Jahr aber fügen sie sich in ihr Schicksal und akzeptieren, dass sie den letzten Lebensabschnitt erreicht haben und es kein Zurück gibt. Sie versuchen dann, dieses abschließende Kapitel mit Würde zu bestehen.« Brehmke sah seine junge Besucherin aus melancholisch verklärten Augen an. »Das mit der Würde ist der schwierigste Teil. Sie aufrechtzuerhalten, kostet unglaublich viel Energie. Doch sie zu verlieren, bedeutet das baldige Ende.«

»Wenn ich Sie ansehe, bin ich guten Mutes, dass Ihnen die Energie nicht so schnell ausgehen wird«, ermunterte Jasmin Stahl den Altkommissar und versuchte zu verbergen, wie nahe ihr seine Ausführungen gegangen waren.

»Das mag sein«, bestätigte Brehmke. »Denn ich habe einen starken inneren Antrieb, der meinen Lebenswillen über den achtzigsten Geburtstag hinaus beflügelt hat: Ich werde in Kürze zum zweiten Mal Uropa. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich es mich macht, dass ich die Generationen nach mir noch kennenlernen darf.« Das Lächeln, das sich bei der Erwähnung seiner Kinder, Enkel und des Urenkels in seinem Gesicht gebildet hatte, verschwand, als er anknüpfte: »Ein gewisser Herr, der vor etwa drei Monaten ins HeiGei eingezogen ist, verfügt über einen mindestens ebenso starken Lebenswillen. Doch ich kann es mit jeder Pore meines Körpers spüren, dass er seine Energie aus keiner guten Quelle schöpft.«

»Könnten Sie etwas konkreter werden?«, hakte Jasmin Stahl ein.

»Entschuldigen Sie meine Abschweifungen und die blumige Sprache. Ich fürchte, das gewöhnt man sich im Heim an. Es gibt hier ja keinen Grund zur Eile, der Hang zur Gemächlichkeit spiegelt sich in der Redeweise wider.« Er räusperte sich. »Wie schon gesagt: Ich habe keinerlei Beweise, aber seit dieser Mann im Haus ist, liegt eine unheimliche Bedrohung in der Luft. Nichts Greifbares, aber man kann es fühlen. Ich bin sicher, dass seine Anwesenheit mit Elfriedes Tod in Zusammenhang steht.«

»Mit Gefühlen allein überzeugen wir keinen Staatsanwalt – und schon gar keinen Richter«, redete Jasmin Stahl nun Klartext.

Brehmke zuckte zusammen. »Ja, selbstverständlich, Sie haben recht. Schreiben Sie meine unpräzisen Angaben meiner einsetzenden Senilität zu und haben Sie bitte ein Nachsehen mit mir. Ich will versuchen, Ihnen etwas Überprüfbares an die Hand zu geben: Bei besagtem Neuzugang handelt es sich um Günther Barschel, Jahrgang 1929, pensionierter Verwaltungsbeamter, verwitwet, keine Kinder. Barschel übersprang die Eingewöhnungsphase, suchte und fand vom ersten Tag an zahlreiche Kontakte. Er verpasst keine gemeinsame Mahlzeit, keinen Kirchgang und kein Freizeitangebot oder sonstigen Anlass zum geselligen Zusammensein.«

»Klingt nach einem aufgeschlossenen, unternehmungslustigen Mann.«

»Ohne Frage, ja. Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von Heimbewohnern, die ihn meiden. Das meine ich wörtlich: Sie gehen ihm aus dem Weg, haben sogar ihre angestammten Plätze im Speisesaal aufgegeben, um eine größere Distanz zu Barschel zu schaffen.«

»Gibt es dafür irgendwelche triftigen Gründe?«, wollte Jasmin Stahl wissen.

»Mit Sicherheit ja. Aber ich kenne diese Gründe nicht – noch nicht.« Brehmke hob seine buschigen Brauen. »Elfriede zählte zu dem Kreis derjenigen, die Barschel auswichen.«

Jasmin Stahl sah ihren alten Kollegen eine Weile nachdenklich an. Dann sagte sie: »Ihre Beobachtungen in Ehren, Herr Brehmke. Aber in der Tatsache, dass Elfriede Herrn Barschel eventuell nicht leiden konnte und daher ihren Tisch nicht mit ihm teilte, erkenne ich kein Mordmotiv. Nicht mal einen Anfangsverdacht, der offizielle Ermittlungen legitimieren würde.«

In Brehmkes fahle Wangen kam Farbe: »Vollkommen verständlich, junge Dame. Ich erwarte nicht von Ihnen, dass Sie morgen eine Soko bilden und mit Ihren Kollegen das HeiGei auf den Kopf stellen. Aber wäre es möglich, dass Sie den Namen Günther Barschel durch den Polizeicomputer schicken und überprüfen, ob etwas gegen diesen Herrn vorliegt? Vielleicht geben Sie auch Elfriedes Namen ein, um nach Übereinstimmungen zu suchen.«

Jasmin Stahl wusste sehr wohl, dass sie selbst diesen kleinen Gefallen ablehnen müsste, doch sie meinte, es dem verdienstvollen Vorgänger schuldig zu sein, und sagte zu. »Versprechen Sie sich aber nicht zu viel davon«, sagte sie und erhob sich.

Auch Brehmke stand langsam auf, musste sich aber sogleich an der Stuhllehne abstützen. »Wenn sich mein Verdacht nicht erhärtet, ist das auch in Ordnung. Doch ich würde mich freuen, wenn Sie mir die Ergebnisse persönlich übermitteln – in meinem Alter bekommt man nicht mehr oft Besuch von einer so reizenden und gescheiten jungen Frau.«

 

***

 

»Hallo, Jasmin«, wurde die Kommissarin von Carola Frommhold im K11 begrüßt. Die Assistentin stellte ihr einen Milchkaffee auf den Schreibtisch, legte den morgendlichen Pressespiegel dazu und trug die wichtigsten Neuigkeiten vor, einige dienstliche, die meisten jedoch privater Natur. Denn ihrem biederen Aussehen zum Trotz genoss Carola Frommhold ein recht turbulentes Liebesleben, an dem sie Jasmin Stahl durch ihre detaillierten und blumigen Berichte bereitwillig teilhaben ließ – ob diese sie nun hören wollte oder nicht.

Zur Fußnote degradiert wurde von Carola Frommhold eine Nachricht, die, obwohl nur beiläufig erwähnt, Jasmin Stahl elektrisierte wie ein Stromschlag:

»Ach ja, und dann meinen die Kollegen, dass jeder einen Obolus leisten sollte, vielleicht fünf Euro oder so, für den Kranz zur Beerdigung. Immerhin war er ja etliche Jahre hier angestellt, der alte Kollege. Obwohl ich persönlich ihn ja gar nicht mehr kennengelernt habe, den Herrn Brehmke.«

»Was?« Jasmin Stahl sprang von ihrem Bürostuhl auf. »Brehmke ist gestorben? Warum weiß ich davon nichts?«

Die blasse Assistentin mit dem braven Pagenschnitt zuckte mit den Schultern. »Ja, am Freitag, aber dann kam ja das Wochenende dazwischen, sodass es sich erst jetzt bis ins Präsidium herumgesprochen hat. Der alte Herr ist im Seniorenheim friedlich eingeschlafen. Soll schon längere Zeit krank gewesen sein.«

»Krank? Das ist mir neu!« Jasmin schob die Kaffeetasse beiseite und zog sich das Telefon heran.

»Geben Sie fünf Euro dazu oder nicht?«, wollte Carola Frommhold wissen.

»Ja, selbstverständlich. Später. Jetzt habe ich Wichtigeres zu tun!« Jasmin gab der Assistentin mit einem energischen Wink zu verstehen, dass sie sich trollen sollte. Kurz darauf hatte sie Fritz Wanka am Apparat, zuständig für die Einsatzplanung des Kriminaldauerdienstes. Sie erkundigte sich nach dem Fall Brehmke, wurde aber abgespeist:

»Kindchen, das ist kein Fall«, belehrte Wanka sie. Der Endfünfziger mit der pragmatischen Grundhaltung eines Polizisten, den nichts mehr umhauen konnte, machte ihr klar, »dass Kollege Brehmke Diabetiker war und sich glücklich schätzen konnte, überhaupt so ein langes und ausgefülltes Leben genießen zu können.« Der Arzt, der den Tod festgestellt hatte, habe jedenfalls keine Veranlassung gesehen, die Polizei hinzuzuziehen. Und er, Wanka, sehe sie auch nicht.

Jasmin Stahl konnte dieser klaren Ansage auf Anhieb nichts entgegensetzen. Dennoch war sie höchst alarmiert, ließ alles stehen und liegen und machte sich auf den Weg ins HeiGei.

Als sie eintraf, parkten zwei Fahrzeuge im Innenhof des historischen Gemäuers: ein Ambulanzauto und ein Leichenwagen. Jasmin schwante Böses, und tatsächlich bestätigte ihr eine unverbindlich freundliche Dame am Empfang, dass in der Nacht eine Heimbewohnerin verstorben sei. Jasmin Stahl zeigte ihren Dienstausweis und erfuhr den Namen der Toten: Gertrud Ebermann, siebenundachtzig Jahre. Todesursache: Herzversagen.

»Verdammt, noch ein Opfer!«, entfuhr es der Kommissarin, woraufhin sie einen verwunderten Blick der Empfangsdame erntete.

»Entschuldigen Sie, aber von Opfer kann wohl kaum die Rede sein. Todesfälle gehören bei uns zur Tagesordnung, das liegt in der Natur der Dinge«, klärte sie Jasmin Stahl auf.

Diese wischte den Einwand beiseite und erkundigte sich, ob der Arzt, der den Totenschein ausgestellt hatte, noch im Haus sei. »Ja«, sagte die Empfangsfrau und beschrieb den Weg zum Ambulanzraum, wo der Doktor wahrscheinlich noch sitze und frühstücke.

»Stahl«, stellte sie sich dem Arzt vor, einem gutaussehenden Mann mit braunem Teint und grauen Schläfen. Sie hielt ihm ihren Ausweis entgegen. »Ich muss etwas über die jüngsten Todesfälle erfahren. Wir suchen nach Unstimmigkeiten, womöglich wurde von jemandem nachgeholfen.«

Der Arzt sah sie bass erstaunt an. Dann musterte er die Kommissarin von oben bis unten, als wollte er ihren eigenen Gesundheitszustand abschätzen, und sagte: »Wenn Sie annehmen, dass bei einem der alten Herrschaften ein Messer im Rücken steckte, muss ich Sie enttäuschen. Das wäre mir sicher aufgefallen.« Da Jasmin Stahl ihn bitterböse ansah, fügte er eilig hinzu: »Nichts für ungut. Aber ich erledige meine Arbeit hier im Heim ebenso gewissenhaft wie überall anders auch. Es handelte sich durchweg um medizinisch zweifelsfrei erklärbare und nachvollziehbare Todesursachen, samt und sonders natürlich.«

»Ich habe triftige Gründe zu der Annahme, dass dem nicht so ist«, blieb Jasmin Stahl beharrlich.

Der Arzt lächelte herablassend. »Dann möchte ich Sie in Ihrem Eifer nicht bremsen. Es steht Ihnen frei, eine weitere fachliche Meinung einzuholen. Aber ich glaube, Sie benötigen dafür eine richterliche Verfügung.«

»Die bekomme ich!«, gab sich die temperamentvolle Kommissarin selbstbewusst. Sie verkniff es sich hinzuzufügen: Darauf können Sie Gift nehmen.

Oberstaatsanwältin Katinka Blohm, bei der Jasmin Stahl noch am selben Vormittag vorsprach, ließ sie eiskalt abblitzen. Damit hätte sie zwar rechnen müssen, da sich beide aufgrund der gemeinsamen Zuneigung zu ein und demselben Mann nicht ausstehen konnten, doch diesmal standen ausschließlich sachliche Argumente im Raum:

Heilig-Geist-Spital

»Ein Brief von einem meiner Opis. Den sollte ich für ihn aufgeben. Hatte ich völlig vergessen. So’n Mist.«

»Halb so schlimm. Schmeiß ihn halt nachher in den Briefkasten. Wird ja nicht so eilig sein.«

Die zierliche Svenja verzog gequält das Gesicht. »Der Brief kommt vom alten Brehmke und ist ans Polizeipräsidium adressiert. Brehmke ist ja inzwischen …«

»Tot, ja«, vollendete Birgit den Satz. »Okay, dann sieht die Sache anders aus. Mmm, das gibt Ärger, wenn es rauskommt, dass du den Brief unterschlagen hast.«

Svenja lief feuerrot an. »Was heißt denn unterschlagen? Ich habe es ja nicht absichtlich getan!«

Birgit, deutlich stämmiger und resoluter als die jüngere Svenja, griff nach dem Brief und riss das Kuvert kurzerhand auf. »Werfen wir mal einen Blick auf das Geschreibsel, dann wissen wir, ob es was Wichtiges ist.«

»Aber du kannst doch nicht einfach …«, protestierte Svenja halbherzig.

Die andere faltete ein DIN-A4-Blatt auseinander und begann vorzulesen: »Liebe Frau Stahl, nach Ihrem freundlichen Besuch bei mir … blablabla … habe ich noch immer keine Beweise für meine Vermutung … blablabla … aber ich habe den Personenkreis der gefährdeten Kandidaten eingekreist … blablabla … dazu gehören nach meinem bisherigen Erkenntnisstand Frau Gertrud Ebermann sowie Herr … blalabla …« Birgit blickte auf. »Der Alte hat wohl bis zum Schluss nicht verstanden, dass er kein Polizist mehr ist, was? Traurig, das geht ja leider vielen so, dass sie es nicht wahrhaben wollen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden.« Sie zerknüllte den Brief. »Ich denke, diesen Unsinn können wir der Kripo ersparen. Die haben bestimmt Wichtigeres zu tun, als den Hirngespinsten eines Senilen nachzugehen.«

Mit diesen Worten warf sie den Brief in die Pegnitz, deren Strömung ihn sogleich erfasste, eine Weile wie ein Papierschiffchen auf und ab spülte, um ihn dann in einem kleinen Strudel versinken zu lassen.