Cover

Über dieses Buch

Emmanuel Bove ist ein unerklärlicher Mythos: Zu Lebzeiten ein anerkannter, gefeierter Literat, wurde er nach seinem Tod 1945 schnell vergessen. Erst in den siebziger Jahren kam es zu einer Renaissance, im deutschsprachigen Raum durch die Übersetzungen von Peter Handke: Meine Freunde, Armand und Bécon-les-Bruyères.

Emmanuel Bove wird am 20. April 1898 in Paris geboren, seine Kindheit und Jugend sind gekennzeichnet von großer Armut. Nach dreijähriger Militärzeit heiratet er die Lehrerin Suzanne Valois und lebt vorübergehend wegen des günstigen Wechselkurses in Österreich. Hier beginnt er zu schreiben. Mit seinem Erstling Meine Freunde wird er sogleich bekannt. Dennoch kann er die Fesseln seiner Kindheit nicht abstreifen. Seine Helden sind stets »antriebsschwache Eigenbrötler, die ihre Tage in ärmlichen Zimmern oder auf den Boulevards von Paris verrinnen lassen, in mehr oder weniger optimistischer Erwartung einer Wende, die ihnen zu Glück und Ansehen verhelfen soll«, so Andreas Nentwich in der Zeit.

Der unerklärliche Mythos, der um Bove entstanden war, bildet den Ausgangspunkt für das biographische Unternehmen von Raymond Cousse, dessen Pionierarbeit von Jean-Luc Bitton nach dessen Tod abgeschlossen wurde. Nach mehr als zehn Jahren minutiöser Recherchen gelingt es, den Schleier um Emmanuel Bove und sein Werk zu lüften.

Die Autoren

Raymound Cousse, geboren 1942 in Saint-Germain-en-Laye, war Schriftsteller und Theaterregisseur. 1991, noch mitten in der Arbeit an dieser Biographie, setzte er seinem Leben überraschend ein Ende.

Jean-Luc Bitton, geboren 1959 in Lyon, lebt in Paris und arbeitet schwerpunktmäßig in den Bereichen Film, Video und Medien.

Der Übersetzer

Thomas Laux, geboren 1955 in Düsseldorf. Studium der Germanistik und Romanistik, Staatsexamen, Promotion 1987 in Romanistik. Literaturkritiker und Übersetzer aus dem Französischen (u. a. Bove, Henri Thomas, Hervé Guibert, Jacques Chauviré).

Gesammelte Werke in 21 Bänden

Geschichte eines Wahnsinnigen. Erzählungen (Deutsche Erstausgabe)

Flucht. Erzählung

Die letzte Nacht. Roman

Aftalion, Alexandre. Erzählung

Ein Junggeselle. Roman

Die Liebe des Pierre Neuhart. Roman

Dinah. Roman

Der Mord an Suzy Pommier. Kriminalroman

Ein Außenseiter. Roman

Menschen und Masken. Roman

Die Ahnung. Roman

Flucht in der Nacht. Roman

Einstellung des Verfahrens. Roman

Journal – geschrieben im Winter. Roman

Die Verbündeten. Roman

Ein Mann, der wusste. Roman

Ein Vater und seine Tochter. Roman

Colette Salmand. Roman

Der Stiefsohn. Roman

Schuld. Roman

Begegnung und andere Erzählungen

Mehr zum Autor unter www.emmanuelbove.de

Emmanuel Bove
Eine Biographie

von Raymond Cousse
und Jean-Luc Bitton

Aus dem Französischen
von Thomas Laux

Mit einem Vorwort
von Peter Handke

Edition diá

Inhalt

Peter Handke: Brief an Jean-Luc Bitton

Jean-Luc Bitton: Vorwort

Emmanuel Bobovnikoff

Der schönste Titel der Welt

Schreiben, »was das Zeug hält«

1929–1939: Eine Ahnung

Ein Mann mit Erfahrungen

Haben Sie schon mal Emmanuel Bove gelesen?

Anhang

Verstreute Texte Emmanuel Boves

Biographie

Reise um eine Wohnung

Rückkehr

Dichterseele

Nachts im Viertel um die Hallen von Paris

Berühmte Verhaftungen

Wenn Kasper die Kinder der Fürsorge zum Lachen bringt

Maurice Betz

Georges Braque

Ben Sussan

Max Jacob ist tot

Tagebuchseiten (1936–1939)

Arbeitsnotizen

Zeittafel

Bibliographie

Impressum

Raymond Cousse zum Gedenken

Lieber Jean-Luc Bitton,

(und beinahe hätte ich hinzugefügt »lieber Raymond Cousse«), Ihre Biographie über Emmanuel Bove hat mich in den letzten Tagen begleitet, über die Hügel der Hauts-de-Seine hinweg, von Ville d’Avray nach Marnes-la-Coquette, von Marnes nach Garches, von Garches nach Vaucresson, durch den Wald von Saint-Cucufa nach Rueil, tags darauf dann durch Sèvres, Saint-Cloud, Boulogne und das 16. Pariser Arrondissement hindurch und, nachdem ich die Mirabeau-Brücke überquert hatte, bis zu einem Café im 15. Ich beendete die Lektüre in einem Zug nach Saint-Quentin-en-Yveslines. Ihr Buch kann einen über das Leben und die Arbeit (und die Tragödie) eines schreibenden Menschen einiges lehren. Beides passt auch gut zusammen, die Heftigkeit von Raymond Cousse einerseits, Ihre Distanz andererseits. Es ist ein tiefes und weites (luftiges) Buch geworden. An mehreren Stellen kamen mir fast die Tränen (und zwar bei den Bove-Zitaten, die alle am rechten Platz sind). Oft hörte ich beim Lesen die Autos hinter dem Friedhof von Montparnasse vorbeifahren, wo Bove beerdigt ist. Es war ein angenehmes Geräusch, zusammen mit dem Rauschen der Bäume auf dem Friedhof. Und welch einen Bruder er hatte! Der bei seinem Tod sagte, dass er ihn »dennoch geliebt habe« (oder trotz allem?). Emmanuel Bove müsste zum heiligen Schutzpatron der (reinen) Schriftsteller erkoren werden, noch mehr als Kafka und genauso wie Anton Tschechow und Francis Scott Fitzgerald. Bald mache ich mich nach Compiègne auf, wegen der Jahre, die er da unten (da oben) verbracht hat. »Le piège« (sein viertes Meisterwerk nach »Mes amis«, »Armand« und »Bécon-les-Bruyères«) erscheint bald auf Deutsch. Es ist schon eine Schande, dass es mir, einem Ausländer, obliegt, anstelle eines französischen Schriftstellers ein sogenanntes Vorwort für Ihre Biographie zu schreiben. Bei der Lektüre notierte ich mir den Satz von Max Jacob: »Hier stellt die Analyse keinen Luxus dar wie bei Proust … Ihre Analyse jedenfalls hebt nicht wegen irgendwelcher Luxus- und Kunstbagatellen vom Boden ab.«

Und dann noch die Sätze von Bove selbst, als er schon fast am Ende war: »Wenn ich keine Geschichten erzählen kann, dann kann ich zumindest die Wahrheit sagen. Mag sein, dass dies meine Bestimmung auf Erden ist.« Nun, er konnte Geschichten erzählen. Ich weiß: das Wort »groß« ist einem Schriftsteller sehr selten angemessen und oft schon gar nicht den sogenannten »großen« Schriftstellern. Aber Bove ist groß. Groß, das meint: er überlässt anderen den Platz.

Und ununterbrochen fällt starker Regen in Le Petit-Clamart, wo ich statt eines Vorworts diese Zeilen schreibe. Ich werde diesen Brief in Bièvre oder in Igny aufgeben …

Gruß,
Peter Handke
10. Januar 1994

»Ich bin nichts. Ich werde nie etwas sein. Ich kann nicht einmal etwas sein wollen. Abgesehn davon trage ich in mir alle Träume der Welt.«
Fernando Pessoa (»Tabakladen«)

»Denk daran: Die einfachsten Worte, die flüssigsten Redewendungen sind die, die am meisten zum Ausdruck bringen.«
Pierre Reverdy (»Le livre de mon bord«)

»Man darf sich nie von der Menschheit lösen, denn aus der Ferne läuft man Gefahr, ihr mildernde Umstände einzuräumen.«
Albert Cossery (»Un complot de saltimbanques«)

»Es müsste eine überaus seltsame Neugierde sich künftiger Menschen bemächtigen und sie dazu drängen, Nachforschungen im Standesregister zu betreiben, damit die Spur seiner Person aus dem Verborgenen auftauche.«
Emmanuel Bove (»Die unterbrochene Meditation«, Fragment)

Für Madé

Alles war zu tun. Zehn Jahre lang jagte Raymond Cousse, das Tonbandgerät über die Schulter gehängt, den Erinnerungen der letzten Zeugen des Schriftstellers Emmanuel Bobovnikoff, genannt Bove, hinterher. Es sollte ein Wettlauf mit der Zeit sein, denn der Autor von »Meine Freunde« wäre heute ja selbst bereits 97 Jahre alt. Mit unendlicher Geduld trug er die einzelnen Teile des Puzzles zusammen, so dass sich nach und nach die Umrisse des aus der literarischen Versenkung hervorgeholten Schriftstellers abzeichneten. Was ihn und mich verband, war dieselbe Passion für Emmanuel Bove. Die Jahre hindurch tauschten wir gleich zwei Detektiven unsere Indizien aus, teilten wir miteinander unsere Entdeckungen, aber auch die Momente der Enttäuschung, die diese Art von Recherche mitunter begleiten. Bei unserem Vorhaben hatten wir permanent mit Zweifeln zu kämpfen, wollten wir doch rekonstruieren, was Bove gerade zu verwischen bemüht war. Darauf bedacht, jegliche Schlussfolgerung oder endgültige Interpretation zu vermeiden, waren wir übereingekommen, dieses Streben nach Anonymität und Diskretion, das uns jedenfalls durch die Geschichte selbst schon aufgezwungen war, zu respektieren.

»Seltsamer Bove«, schreibt der belgische Dichter Christian Dotremont. »Alles ist seltsam in seinem Leben, und alles kommt demjenigen, der ihn kennenlernen will, seltsam vor.« Einige Monate vor seinem Freitod bat mich Raymond Cousse, den biographischen Bericht, den er chronologisch mit der Kindheit begonnen und bis zu den Anfängen der Schriftstellerkarriere weitergeführt hatte, zu vollenden.

Selbst Schriftsteller, stand Raymond Cousse der heiklen Aufgabe, die jegliche Erstellung einer Biographie mit sich bringt, kritisch gegenüber. Folgende in einem seiner Arbeitshefte gefundene Notiz reflektiert seine Zweifel sehr deutlich: »Der Biograph kaschiert systematisch das, was er nicht weiß, und organisiert das, was er sagt, im Hinblick auf diese Unkenntnis.« Ich habe seine Recherchen mit genau diesem Wissen im Hinterkopf weiterverfolgt. Nun liegt das Buch vor, für ihn, für die derzeitigen und für die kommenden Leser Boves.

Ich möchte Marie-Claude und Christine Cousse unendlich danken; sie haben mich während meiner Arbeit ermutigt und unterstützt. Ich möchte aber Nora de Meyenbourg, die Tochter Boves, nicht unerwähnt lassen, die mir mit seltener Freundlichkeit Zugang zu ihrem Haus und zu ihren Erinnerungen gewährt hat, und auch diejenigen nicht, die auf die eine oder andere Art zum Zustandekommen dieses Werkes beigetragen haben. Allen ein herzliches Danke.

Jean-Luc Bitton
Paris im Januar 1994

Emmanuel Bobovnikoff [1]

Léon Bobovnikoff, Emmanuel Boves jüngerer Bruder, hatte Mitte der dreißiger Jahre die Erinnerungen seiner Mutter in einem etwa hundertseitigen Heft zusammengetragen. Beide lebten damals zurückgezogen in Saint-Georges-d’Orques, in der Nähe von Montpellier, und konnten sich nur dank der Überweisungen, die Emmanuel ihnen zukommen ließ, über Wasser halten. Die Mutter erzählte ihre Erinnerungen, und Léon brachte sie zu Papier, darum bemüht, ihnen einen literarischen Ton zu verleihen.

Ich lernte Léon 1982 kennen, acht Jahre vor seinem Tod, da war er achtzig Jahre alt. Über vier Stunden lang hatte ich ihn interviewt, und er hatte mir aus besagtem Heft Seiten vorgelesen, die er jeweils kommentierte. Später dann, nach zähen Verhandlungen, hatte er mir – ebenso wie seinem Halbbruder Victor und Emmanuels Tochter Nora – ein fotokopiertes Exemplar dieses Heftes ausgehändigt, freilich nicht ohne es zuvor von einigen, in seinen Augen kompromittierenden Details gesäubert zu haben. So hatte er beispielsweise eine Anspielung auf das »zweifelhafte Weiß« der Krawatten seines Vaters unterdrückt, was zumindest dann komisch erscheint, wenn man weiß (und man wird es später sehen), wie er sonst mit ihm umging.

Weder Léon noch seine Mutter gingen einer Arbeit nach. Beide wurden von Emmanuel versorgt, ohne dass sie es jemals in Erwägung zogen, selbst für ihren Unterhalt aufzukommen. Bove hatte sie übrigens, zumindest zu Anfang, in diesem Müßiggang bestärkt. Er besaß damals ein mäßiges Einkommen, doch je mehr seine Einkünfte dem Zufall unterworfen waren, desto mehr verschlechterte sich die Lage. Als Léon 1990 stirbt, findet man in seinen Unterlagen etwa 220 Briefe von seinem Bruder Emmanuel. Diese sind in vielerlei Hinsicht aufschlussreich, besonders interessant ist indes, dass sich keiner darunter befindet, in dem nicht von dem Geld die Rede ist, das der Schriftsteller den beiden zukommen lassen will. Léon und seine Mutter lebten in dieser Hinsicht in einer wahrhaften Paranoia. Sie glaubten, Emmanuel sei reich, zum einen dank seiner mutmaßlichen Verkaufserfolge, zum anderen, weil seine zweite Frau, Louise, die Tochter eines Bankiers war. In Wirklichkeit lebten Emmanuel und Louise nach anfänglich problemlosen Jahren (1928–1932) in ärmlichen Verhältnissen, umso mehr, als Bove Unterhalt an seine erste Frau, Suzanne, zu zahlen hatte, welche die Obhut über ihre beiden Kinder behalten hatte. Er kam dieser Zahlung im Übrigen nur sehr sporadisch nach.

Léon führte pingelig Buch über die überwiesenen oder eben ausgebliebenen monatlichen Beträge seines Bruders. Gleich neben die Beträge notierte er die Adresse und mitunter irgendein Ereignis, so dass Emmanuels Lebensweg von 1924 (Zeitpunkt seiner literarischen Anfänge) bis 1937 (Tod der Mutter) nachverfolgt werden konnte. Darüber hinaus hatte er beim Verfassen dieses Heftes eine synoptische Übersicht über die Jahre 1915 bis 1924 erstellt. Schließlich gibt dieses Heft auch – freilich unbeabsichtigt – umfangreich Aufschluss über Emmanuels Kindheit, von der Zeugung bis hin zum Ende seiner Jugend. Dank Léons Archivierungstrieb lässt sich so eine exakte Chronologie aufstellen, die 39 der insgesamt 47 Lebensjahre Boves umfasst. Ohne Léons hartnäckige Manie, alles festzuhalten, wäre jeglicher Biographieversuch unmöglich gewesen, zumindest was die Zeit vor Boves Auftritt auf der literarischen Bühne betrifft, und das ist immerhin die Hälfte seines Lebens.

Natürlich liegen die Dinge nicht ganz so einfach. Aufgrund seiner Voreingenommenheit – um es gelinde auszudrücken – widerruft Léon immer wieder, was er zuvor schon eingeräumt hatte. Außer wenn ihn sein Gedächtnis im Stich lässt (was aber sehr selten der Fall ist), entsprechen die von ihm vorgebrachten Fakten stets der Wahrheit. Ein Archivar lügt nicht, das widerspräche seinem Wesen. Nicht ein einziges Mal habe ich ihn diesbezüglich ertappt. Ich glaube, er war der Lüge gar nicht fähig. Freilich aber liefert er seine Interpretation und seine Sicht der Dinge. Bis zum Tod seiner Mutter – da war er 34 – führt er neben ihr eine armselige und kärgliche Existenz. Oftmals schlafen sie im selben Bett, und seine Mutter untersagt ihm, sich mit Frauen einzulassen. Und wie er selbst einräumt, hat er niemals daran gedacht, gegen dieses ungeheuerliche Verbot aufzubegehren. Von da an lebten die beiden in einem ewigen Ressentiment, zunächst dem Vater gegenüber, aber dann auch gegenüber Emily, der »reichen Engländerin«, die beschuldigt wird, ihnen Vater und Ehemann »geraubt« zu haben; schließlich aber auch gegenüber Emmanuel, der dafür verantwortlich gemacht wird, dass sie im Elend dahinvegetieren mussten, wo er sie doch retten können hätte, wenn er es nur gewollt hätte.

Noch vierzig Jahre nach dessen Tod nahm Léon es seinem Bruder übel, sie so »im Stich gelassen« zu haben, ihn und seine »arme Mutter«. Unausweichlich liefen da bei ihm die Tränen. Während einer entkrampfteren Unterhaltung musste er freilich zugeben, dass sich seine Klagen über seinen Bruder und sogar über seinen Vater auf Voreingenommenheit gründeten, doch immer wieder kam er auf seine Ur-Obsession zurück, auf die Ungerechtigkeit, deren Opfer er und seine Mutter gewesen seien. Darüber kam er nicht hinweg, wenn es nicht überhaupt sein Lebenssinn war. Seine Mutter war eben eine arme Frau, die nicht imstande war, ihm etwas anderes zu vermitteln. Aber Léons Mutter war auch die Mutter Emmanuels, und man wird später sehen, wie sehr seine Psyche und sein Werk von ihr geprägt sind. Emmanuel wird versuchen, die unglücklichen Umstände, die Léon akzeptierte, durch die Literatur zu bannen. Sein ganzes Leben lang glaubt er, dass ihm dies gelingen könne. Als er später dann begreift, dass es seine Kräfte übersteigt, stirbt er – an einer ordnungsgemäß registrierten Krankheit, sicherlich, aber mehr noch aus Erschöpfung, ein Elend zu überwinden, das letztendlich sein gesamtes Leben bestimmt hat. Er stirbt mit 47, Léon mit 88 Jahren. Nicht ganz zufällig konnte der eine das ihm Innewohnende freisetzen und der andere nicht. Was heißen soll, dass im Falle Emmanuel Boves die Literatur daran nicht ganz unschuldig sein dürfte. Léons Aussagen sind von entscheidender Bedeutung, und von daher ist es notwendig, ihn hier kurz zu porträtieren. Als ich ihn kennenlernte, wohnte er schon seit etlichen Jahren in Versailles, in einer Wohnung, die ihm selbst gehörte. Er war in jeder Hinsicht eine Figur der Vergangenheit, sowohl von seiner Mentalität als auch von seiner Kleidung her – dicker Überzieher, schwere Schnürstiefel und Baskenmütze zu jeder Jahreszeit – oder auch in Bezug auf seine Ernährung (so kochte er sein Gemüse noch nach der antiquierten »Carton«-Methode, das heißt, indem er öfter das Wasser wechselte). Seine Wohnungseinrichtung war dementsprechend: Sie war wie die Dekoration für einen der Romane seines Bruders, etwa für »Mes amis« oder für »Un père et sa fille« (»Ein Vater und seine Tochter«). Er lebte abgeschnitten von der Welt, besaß keinen Fernseher, hörte kaum Radio und las nur selten Zeitung. Er führte ein Tagebuch, in das er mit geradezu manischer Präzision den Preis des Gemüses vom Markt eintrug, die geführten Telefongespräche und das, was ihm geantwortet wurde, ob die angerufene Person da gewesen war oder die Leitung belegt war. Alle Jahre wieder verschickte er Neujahrsglückwünsche und notierte in verschiedenen Farben, ob darauf geantwortet worden war, und wenn, auf welche Weise, brieflich oder telefonisch, ohne dabei freilich das genaue Datum zu vergessen. Nach dem Tod der Mutter war er verschiedenen Beschäftigungen nachgegangen und war schließlich als technischer Zeichner in Pension gegangen. Er spekulierte auch an der Börse und verbuchte am Ende sogar bedeutende Gewinne, die er dann auf etwa zehn verschiedene Bankkonten verteilte – zum Leidwesen des Notars, der, als das Testament eröffnet wurde, sich die Haare raufte. Bei sich zu Hause hortete er Radiergummis, Stifte und anderes Büromaterial, das bei der Wohnungsauflösung mehr als zehn Müllbeutel füllte.

Die Neuherausgabe der Werke seines Bruders kam für ihn überraschend. Sie war auch Gelegenheit, mehr als dreißig Jahre nach Emmanuels Tod die Verbindung mit der Familie herzustellen – und insbesondere alle Beschwerden ihm gegenüber erneut auf den Tisch zu bringen. Er fertigte Kopien des besagten Heftes an und verteilte sie mit offenkundiger Lust auf Rache an die Angehörigen. Von den Artikeln über die Bücher seines Bruders behielt er nur die Verrisse. Als ein Redakteur von »L’Express« Bove auf einer ganzen Seite niedermachte, bewahrte er den Artikel in seiner Brieftasche auf und ließ es sich nicht nehmen, ihn jedem, der ihn hören wollte, vorzulesen. Im Mai 1983 hatte ich ihn für ein verlängertes Wochenende zu mir aufs Land eingeladen. Er war trotz seiner achtzig Jahre noch sehr rüstig und fuhr noch beinahe jeden Tag von Versailles nach Paris. Es war vorgesehen, dass ich ihn am Abend des dritten Tages bei mir mit dem Auto nach Versailles zurückbringen sollte. Als der Augenblick des Aufbruchs gekommen war, fragte er mich: »Könnte ich nicht ein paar Tage länger bleiben?« Der flehende Ton war haargenau der von Victor Bâton aus »Mes amis«.

Zwei Jahre später spielte ich eines meiner Theaterstücke in Paris. Fünf Minuten bevor ich auf die Bühne muss, eröffnet man mir, dass ein älterer Herr an der Kasse ein Heidenspektakel veranstalte, weil man ihn daran hindere, mich zu sehen. Ich bestätige, dass dies nicht möglich sei, sage aber auch, dass man sich gerne nach der Veranstaltung treffen könne. Eine Minute später höre ich, wie heftig gegen alle Logentüren getrommelt wird, währenddessen die Logenschließerin den Kopf verliert und bettelt: »Aber Monsieur, so nehmen Sie doch Vernunft an!« Es war Léon. Er war ganz aus dem Häuschen. Ich dachte, irgendetwas Schlimmes sei vorgefallen, aber nein, er wollte mich lediglich sehen und mir die Hand schütteln. Mit fast 83 Jahren war er extra deshalb aus Versailles gekommen. Danach war er beruhigt wieder abgezogen. Wie soll man da nicht an ein typisches Verhalten bestimmter Bove’scher Helden oder gar an den Bove’schen Helden par excellence denken?

Léon war als Person ebenso rührend wie lästig. Er hatte ein krankhaftes Bedürfnis danach, geliebt zu werden. Doch wenn es dazu kam, dann forderte er immer mehr, bis er den Bruch provozierte. Gewiss verlangte er unbewusst nach diesem Bruch, damit er wieder zu seiner Verbitterung und seinem Groll zurückfinden konnte. Man spürte, dass er das Schicksal provozieren musste, um die Welt verabscheuen, in Einsamkeit versinken und mit bestem Gewissen am Schäbigen kleben zu dürfen. Denkt man an Oblomow [2], an Raskolnikow [3] oder an die Figuren Tschechows, dann hat man es da vielleicht mit etwas zu tun, was man gemeinhin als die »slawische Seele« bezeichnet. Wie auch immer, Boves Werk bewegt sich in diesem Universum. Nur unternahm er, im Unterschied zu Léon, zumindest den Versuch, diesem Schicksal, das ihn schließlich doch erdrücken sollte, mittels der Literatur zu entkommen.

Die Mutter

Henriette Michels, Emmanuels Mutter, wurde am 7. Dezember 1874 im Großherzogtum Luxemburg, in dem kleinen, nahe der Hauptstadt gelegenen Dorf Bertrange (Bertringen) geboren. Die Winter dort waren streng. Mitunter konnte der Schnee jeglichen Verkehr für längere Zeit zum Erliegen bringen. Das Haus der Familie lag mitten im Dorf.

»Vater Michels war ein aufrechter Landwirt, der mit Holz und Kalköfen handelte. Unglücklicherweise trank dieser Mann eine Menge Gläschen Schnaps, was zu seinem allmählichen Ruin führte. Da er seine Geschäfte schlecht verwaltete, machte er Schulden, deren Ursache er selbst kaum wahrnahm. Schließlich brachte man ihn dazu, sein Hab und Gut zu verkaufen. Kurz und gut: Eines Abends kam er betrunken nach Hause und starb am darauffolgenden Tag mit 54 Jahren an einem Schlaganfall.« Und Léons Schlussfolgerung: »Sein Körper war nach seinem Tod violett angelaufen: Er vertrug halt keinen Alkohol.« [4]

Henriette war damals dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Sie war das sechste von zwölf Kindern; zwei von ihnen starben früh: »Jeden Tag, von ihrem zartesten Alter an, mussten die Kinder in die 8-Uhr-Messe gehen. Von da aus marschierte man in die Schule, die von Ordensschwestern geführt wurde. Besser, man wusste seine Lektionen, ansonsten schlug die Lehrerin einem mit dem Lineal auf die Fingerspitzen. Geschenke in Form von Naturalien wurden nicht abgelehnt, und die Kinder von reichen Bauern wurden nur selten bestraft.«

Die Michels-Geschwister mochten einander nicht besonders. Boves Mutter erinnerte sich an die eine oder andere ungerechte Tracht Prügel, die sie von ihren Brüdern verabreicht bekam. Léon sah in diesen brutalen Ausschreitungen die Folge eines »Wiederaufkeimens germanisch-keltischer Barbarei«. Wegen ihrer »Arglosigkeit« war sie auch den Boshaftigkeiten ihrer älteren Schwestern ausgesetzt, die, wie Léon verdeutlicht, »in einer Zeit ersonnen wurden, als der Vater noch gesund war«. Tatsächlich aber hat es den Anschein, als ob Emmanuels Mutter geistig nicht ganz auf der Höhe gewesen sei: »Durch den väterlichen Alkoholmissbrauch vorbelastet, war Henriette wahrscheinlich geistig zurückgeblieben, was ihre ungeheuerliche Ignoranz in allen Dingen begreiflich machen könnte. Von daher erklärt sich auch ihre völlige Unfähigkeit, sich gegen die Wechselfälle des Lebens zu wehren. Ihre Arglosigkeit und ihre Unschuld waren so groß, dass sie die Boshaftigkeit der anderen nicht einmal begriff. Da sie mit 17 noch nicht ihre Regel hatte, bildete sie sich ein, schwanger zu sein, wobei sie keinen blassen Schimmer hatte, wie ein Mädchen überhaupt in einen solchen Zustand geraten konnte.«

Léon kommentierte diesen Passus des Heftes mit den Worten: »Von vornherein war meine Mutter durch ihren alkoholkranken Vater vorbelastet. Deshalb war sie unfähig, sich mit anderen zu raufen. Sie war ein Opfer, verstehen Sie? Es ist sogar ein Wunder, dass mein Bruder und ich damit fertig geworden sind. Ja, meine arme Mutter war vom Kopf her zurückgeblieben.« [5]

Freilich sollte man diese Schwäche nicht überbewerten. Henriette hatte nichts von einem Dorftrottel. Ich stieß auf einige von ihr beschriebene Zettel, die vom Ende des letzten Jahrhunderts stammen müssen. Sie notiert da einige Küchenrezepte auf Deutsch, hier und da gibt es Einsprengsel auf Französisch, eine Sprache, die sie damals noch äußerst schlecht sprach. Ihre Schrift ist primitiv, aber sorgfältig – es ist die deutsche Schreibschrift (Sütterlin) der damaligen Zeit –, und die französischen Worte sind fehlerfrei.

Henriette war nicht etwa geistig behindert, sondern litt vielmehr an einer Blockade ihrer Gefühle. Sie war eine etwas einfältige Frau, die streng erzogen und durch die schweren Lebensbedingungen hart geworden war. Sicherlich war sie kaum in der Lage, ihren Kindern ein Gefühl der Geborgenheit zu geben. So ist das ungeheure emotionale Defizit zu erklären, das man bei Léon, aber auch, und kaum minder, bei Emmanuel und seinen Helden vorfindet, während Victor, ihr Halbbruder, der Sohn Emilys, sich in dieser Hinsicht absolut ausgeglichen zeigte. Im Gegensatz zu Léon, den erst der Tod der Mutter von dieser löst – da ist er 34 –, war Emmanuel bereits ab seinem zwölften Lebensjahr von ihr getrennt und lebte von da an mit seinem Vater sowie mit Emily zusammen, die er übrigens seit seiner frühesten Kindheit kannte, von der er umhegt wurde und die er immer als seine Adoptivmutter ansah. Wir werden auf Emmanuels Beziehung zu seiner Mutter zurückkommen müssen, wie im Übrigen auch auf die Beziehung zu Emily, denn hier liegen wichtige Schlüssel zum Verständnis seines Werkes.

Das Leben in Bertrange war nicht gerade fröhlich. Die Ablenkungen waren es auch nicht, und dies vor allem ist wichtig: »Dann und wann zogen preußische Vagabunden bettelnd durch das Dorf. Man gab ihnen ein Stück Brot mit einer Zwiebel drauf. Die Straßenjungen im Dorf rannten schreiend hinter ihnen her, sangen im Dialekt:

De Ache fol Fle
De Bockel fol Leiss
Knachtig Preiss!

Den Arsch voller Flöh’
Den Buckel voller Läus’
Dreckige Preuß’!«

Man nannte diese Bettler auch verächtlich »Pruscos« (von »Prussien« – Preuße). Das gesamte Heft hindurch ist dies der Name, den Henriette dem Vater ihrer Kinder gibt, der da schon zwanzig Jahre tot ist. Von Zeit zu Zeit nennt sie ihn in Abwandlung auch mal »den Russen«. Nicht ein einziges Mal wird sein Vorname genannt, auch nicht das Wort »Vater«. Hier erhält man einen Eindruck von dem Verhältnis der Eltern Boves zueinander, sowie von dem familiären Klima seiner Kindheit.

Henriette kam kurz vor ihrem siebzehnten Geburtstag, im Oktober 1891, in Paris an. Sie wohnte eine Zeitlang bei einem ihrer Brüder und suchte eine Anstellung. Keine leichte Aufgabe, denn zur damaligen Zeit herrschte ein Überangebot an Domestiken und Mädchen vom Lande, von denen Tag für Tag welche nach Paris kamen. Dennoch fand sie schließlich eine Stelle als Mädchen für alles. Die triumphierende Bourgeoisie der Belle Époque war nicht der Inbegriff der Großzügigkeit: »Die Frau des Hauses war von einer Kleinlichkeit, wie man sie nur selten antrifft, und von besonderer Bosheit. Sie machte das Essen selbst, weil sie offensichtlich jedwede Verschwendung vermeiden wollte. Alle Speisen wurden aufgetischt, nichts ließ sie in der Küche stehen. Henriette wartete auf das Ende des Essens, aber es blieb nie etwas übrig. Diese Leute taten so, als existiere sie gar nicht. Sie nagte buchstäblich am Hungertuch und musste sich mit ein paar Brotkanten begnügen. […] Henriette ging jeden Sonntag in die Kirche, aber ihre Herrin erlaubte ihr nur die 6-Uhr-Messe, damit sie den Tag wie alle anderen Tage der Woche auch um sieben Uhr beginnen konnte.«

Lohn und Wertschätzung waren natürlich dieser Großherzigkeit entsprechend veranschlagt. Bevor sie Emmanuels Vater traf, war Henriette vier derartigen Beschäftigungen nachgegangen, in Paris, in Orléans und in Marseille, wo sie zweieinhalb Jahre gelebt hatte.

Der Vater

Vater Emmanuel Bobovnikoff wird 1868 im jüdischen Ghetto von Kiew geboren. Die Annexion Polens hatte in Russland, speziell in Kiew, die bedeutendste Konzentration von Juden in Europa nach sich gezogen. Als Alexander II. 1881 einem Mordanschlag zum Opfer fällt, werden Juden dieser Tat bezichtigt, obwohl der Täter ein Russe ist. Danach sind unter den wohlwollenden Augen der zaristischen Polizei Pogrome, vor allem im Süden, in Odessa und in Kiew, an der Tagesordnung. Ebenso wird – vor allem in Kiew – jüdisches Wohngebiet eingeschränkt. Schließlich führt Alexander III. 1887 einen Numerus clausus für Juden ein, der sie von den Universitäten, von öffentlichen Ämtern, vom Anwaltsberuf etc. ausschließt. Dies ist der Beginn einer riesigen Emigrationswelle, vor allem in Richtung Vereinigte Staaten, die zwischen 1860 und 1910 gewaltige Ausmaße annehmen sollte.

Boves Vater betritt sehr wahrscheinlich Anfang 1897 französischen Boden. Er hatte Deutschland zu Fuß durchquert, sich einige Zeit in Berlin und Straßburg aufgehalten, und sprach auch danach noch länger normalerweise Deutsch. Schon zu dieser Zeit war der Antisemitismus in Deutschland nicht gerade ein gemäßigter. Boves Vater beschließt jedenfalls, sich in Paris niederzulassen.

Ohne Zweifel war er von armseliger Herkunft. Den Besuch seines Großvaters bei seinem Vater (die Szene spielt sich um 1908 in Emilys Wohnung ab) kommentiert Léon folgendermaßen: »Auf dem Boulevard du Montparnasse kam eines Tages auch Pruscos Vater an, aus Russland, in kleinen Etappen (und mit Läusen!). Er blieb etwa 14 Tage, diskutierte in russischer Sprache mit seinem Sohn und gab sich, was das Essen anging, stets mit einem Hering zufrieden. Dann kehrte er nach Russland zurück, um seine Frau zu holen. Drei oder vier Jahre später ließen sich beide zusammen in der Schweiz nieder.«

Einige Jahre zuvor hatte Boves Vater eine seiner Schwestern nach Versailles kommen lassen, wo diese eine Zeitlang mit Henriette und den beiden Kindern zusammenwohnen sollte: »Sie war über die Schweiz aus Russland gekommen. Sie war etwa 25 Jahre alt, keineswegs bösartig, dafür aber so abgestumpft, dass Henriette nicht glauben konnte, dass sie die Schwester des Prusco war, den sie ja für listig hielt. Man spürte, dass sie aus einem fernen Land kam, und dass sie in tiefem Elend gelebt hatte.«

Dies sei immerhin zu seiner Ehrenrettung gesagt: Vater Emmanuel Bobovnikoff ließ seine Familie aus Russland nachkommen. Sie ließ sich in Bern nieder, wo es ihr dann allmählich besser ging.

Ansonsten ist Vater Bobovnikoff vor allem eine Figur aus den Romanen seines Sohnes, und zwar bevor es diese Figuren überhaupt gibt: zaghaft, Bohemien und Kauz in einem. Je nach Lust und Laune nennt er sich Student, Professor, Schriftsteller, Buchdrucker und sogar Verleger. Seine offiziellen Papiere sind allerdings prosaischer: »Ohne Beruf« heißt es da. Vor allem aber ist er ein ewiger Träumer, der permanent von Tricks und Bauernschläue lebt. Oder mit Léons Worten, der sich in diesen Dingen auskannte: »Das war so ein Typ, der sich sagte: ›Wenn es nun einmal Leute gibt, die zu viel Geld haben, dann muss man versuchen, davon zu profitieren.‹ Na ja, wenn man die Welt sieht, so wie sie ist, dann ist diese Position vertretbar.« Mit knapp dreißig Jahren schreibt er sich als Jurastudent an der Sorbonne ein, auch wenn er kaum einmal den Fuß dort hineinsetzt. Als »Professor« versucht er bestenfalls, hier und da ein paar Deutschstunden zu geben. Er verfasst ein Wörterbuch – zumindest einen Teil davon, denn er sprach damals sehr schlecht Französisch –, ein Wörterbuch für wohlhabende Russen, die 1900 zur Weltausstellung kommen. Man stößt darin auf Formulierungen wie diese: »Ich würde gern einen Tisch im Maxim’s reservieren lassen«, oder: »Haben Sie eine Suite, die auf den Monceau-Park hinausgeht?«, usw. Das Erscheinen des Buches wird durch ein zweisprachiges Miniplakat angekündigt, das da lautet:

»In Kürze erhältlich:
FRANZÖSISCH FÜR RUSSEN
von
E. BOBOVNIKOFF
Lehrbeauftragter an der
École des Ponts-et-Chaussées.«

Vermutlich handelte es sich um einen Kurs für deutschsprachige Russen, denn Victor versichert, dass sein Vater und seine Mutter sich untereinander sehr lange nur auf Deutsch verständigten, da das Französisch des Vaters eben zu schwach war. Tatsächlich ist Vater Bobovnikoff verlegerisch tätig, denn er veröffentlicht sein Wörterbuch auf Autorenkosten und erhält eine Ausstellgenehmigung, mit der er es im April 1900 auf einem Stand der Weltausstellung selbst verkaufen darf. Das Druckereiunternehmen sollte übrigens einige Jahre später in einem rasanten und aufsehenerregenden Fiasko enden.

Einige wollten in Boves Vater ein wichtiges ins Exil gezwungenes Mitglied der anarchistischen Bewegung sehen. Aber das ist nur Legende. Emmanuel Bobovnikoff gehörte keiner Bewegung an, auch wenn er in Paris und später in Genf häufig die russische Kolonie aufsuchte und folglich mit Lenin und Trotzki in Kontakt kam. Überdies waren es, als er mit Emily auf dem Boulevard du Montparnasse Nummer 123 wohnte, nur ein paar Schritte bis zur russischen Kolonie, die sich damals in der Rotonde niedergelassen hatte. Was den Anarchismus als Geisteshaltung – nicht als Parteicredo – angeht, so verfügte Boves Vater über ausreichende Ressourcen in sich selbst, um diese Bewegung ganz allein zu verkörpern. Vater Bobovnikoff war das exakte Gegenteil eines engagierten Menschen. Diesbezüglich liefert Léon eine Beschreibung, die ausnahmsweise einmal nicht parteiisch ist: »Unter seiner ironischen Maske machte der Prusco so gut wie nie den Mund auf, und Henriette hatte über seine Vergangenheit nie etwas erfahren, auch kaum mehr über seine Gegenwart, sieht man mal von seiner elenden Situation ab. Er kannte eine Menge exilierter Russen, Studenten, Freunde, die bereit waren, ihm einen Louisdor zu leihen, und er diskutierte gerne über soziale Fragen, über die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft, und meinte etwa: ›Eines Tages wird man noch die Luft zum Atmen bezahlen müssen.‹ Betrat er ein Café auf dem Boul’ Mich’, redete er den Kellner mit ›Bürger‹ an, was dieser nicht gerade als Kompliment verstand. Obwohl immer knapp bei Kasse, war er ein unverbesserlicher Schürzenjäger. Er spielte den Kavalier, konnte die Straße überqueren, um einer beschämten Passantin den offenen Schnürstiefel zuzubinden. Er nahm an den Festen im Quartier Latin teil und versäumte es nicht, Allotria zu treiben und die hübschen Mädchen mit Konfetti zu bewerfen. Er war ein mit einer lebhaften Intelligenz ausgestatteter Träumer, der von dem Wunsch beseelt war, es zu etwas zu bringen: Advokat, Professor, Schriftsteller, er wehrte sich dagegen, die in seinen Augen entwürdigende Situation eines unterjochten Proletariers zu akzeptieren. Er verachtete nicht die Arbeiter, dafür aber die kleinen eingebildeten Bürokraten, die er als ›Scheißkerle‹ bezeichnete. Häufig kam er zu unmöglichen Zeiten heim: drei Uhr, ja fünf Uhr morgens, und natürlich ohne irgendeine Erklärung abzugeben. Eines Tages sagte Henriette zu ihm: ›Du benimmst dich wie ein Apache.‹ Worauf er erwiderte: ›Na und? Bin ich denn keiner?‹«

Und Léon kommentiert: »Mein Vater war kein schlechter Kerl, trotz allem nicht. Er besaß einen Fundus an vornehmen Verhaltensweisen, hatte aber Ansprüche, die in einer fürchterlich ungerechten Gesellschaft seine Möglichkeiten überstiegen. Die erste Ungerechtigkeit war sein Entwurzeltsein, wo doch jeder Mensch nach Stabilität und Gleichgewicht strebt, danach, ein anständiges Leben zu führen. Vor allem wollte er kein Proletarier sein. Deshalb berauschte er sich an Titeln, die er nicht hatte, eben weil er sie erstrebte.« Von einem politisch Militanten und von den Bombenlegern des abklingenden Nihilismus sind wir also meilenweit entfernt.

Sein Glück, so wird man sehen, bestand darin, zu Beginn des Jahres 1900 Emily, der »reichen Engländerin«, zu begegnen. Glück für ihn, natürlich, aber vor allem auch für Emmanuel. Ohne diese Begegnung hätte es zwar einen zweiten Emmanuel Bobovnikoff gegeben, ganz bestimmt aber keinen Emmanuel Bove.

Der Schriftsteller hat sich nie öffentlich zu seinen Eltern geäußert; in diesem Punkt schwieg er, sowohl aus natürlich gegebener Diskretion als auch ganz bewusst. Es besteht kein Zweifel daran, dass er sich seiner Abstammung schämte – eine Scham, die zudem von einem sehr ausgeprägten Schuldgefühl begleitet war. Der Roman »Le beau-fils« (»Der Stiefsohn«) – ein in Boves Produktion unvergleichliches Buch, weil es sich dabei um eine kaum kaschierte Autobiographie handelt – ist in dieser Hinsicht leicht zu durchschauen. Das Bild der leiblichen Mutter – Henriette – wird zugunsten einer idealisierten Stiefmutter – Emily – systematisch entwertet, bis hin zum latenten, aber mythisierten Inzest. Zwischen diesen beiden Extremen erscheint die Figur des Vaters als schwankend. Geschildert wird dieser als ein

finsterer Mann, etwa dreißig Jahre alt, mit Spitzbart, recht feierlich mit einem Cut bekleidet. […] Mit seinem apathischen Naturell war er für keine geregelte Arbeit geschaffen. Faulenzen und Flanieren sagten ihm mehr zu als dieses Leben nach Zeitplan. […] Seine Ausbildung hatte er fast vollständig an den Nagel gehängt. Er stand spät auf. […] Er war unfähig, sich seine Zukunft vorzustellen. Er lebte in den Tag hinein […] bei der kleinsten Verstimmung verschloss er sich in ein Schweigen, das mehrere Tage andauern konnte und das er dann jäh brach, verbittert. […] Er klapperte die Straßen ab, um Deutschstunden zu geben. […] Ab und zu unterrichtete er, oder er nahm irgendeine Stelle an, die er zwei Monate später wieder kündigte. […] Unter dem Vorwand, Geld aufzutreiben, was ihm nur selten gelang, verließ er schon morgens seine Geliebte, um erst zurückzukehren, wenn sie schon schlief. [6]

Es ist immer heikel, von einem Roman auf das Leben des Autors zu schließen, ganz besonders bei Bove, aber hier gibt es eine übereinstimmende Analogie in den Porträts, die jeweils Léon und Emmanuel von ihrem Vater zeichnen. Es hieß, Emmanuel habe eine tiefe Zuneigung zu seinem Vater gehabt; wahrscheinlich ist dies auch so. Zugleich empfand er großes Mitleid mit seiner Mutter, zahlreiche Briefe belegen dies. Doch änderte das sicherlich nichts daran, dass er sich auf sich selbst zurückgeworfen und emotional alleingelassen fühlte. Wir haben bereits gesehen, dass seine Mutter nicht in der Lage war, ihm auch nur das geringste Gefühl von Geborgenheit zu geben. Sein Vater im Übrigen auch nicht, weil er zu instabil und zu willensschwach war, um als ausgleichender Faktor eine Rolle zu spielen. Wie man heute sagen würde, war er überhaupt kein »durchstrukturiertes« Kind – sicherlich wie Millionen anderer Kinder auch, nur haben diese leider keine dreißig Bücher geschrieben, unter denen sich mehrere Meisterwerke befinden, die auf die rätselhafte Persönlichkeit ihres Autors verweisen. Man versteht, warum er sich an Emily wie an einen Rettungsring klammert. Trotz ihrer turbulenten Beziehung ist sie es, durch die er zum Schriftsteller wird.

Man hat sich oft gefragt, was es mit Boves Hang zum Fatalismus, ja sogar zu einer gewissen Morbidität auf sich hat. Sicherlich gab es dafür eine Veranlagung. Doch ein aufmerksamer Blick auf seine Kindheit, auf die Persönlichkeit seiner Eltern und ihre – milde ausgedrückt – mangelnde Übereinstimmung liefert etliche Antworten auf diese Fragen. Es ist auch bezeichnend, dass das Schicksal des Sohns sich mit dem des Vaters fast deckt. Die Parallelität ist in jeder Hinsicht frappierend. Insbesondere die Familienstrukturen sind exakt die gleichen, und sie sollten im gleichen Alter und unter den gleichen Bedingungen ihr Leben beenden. Hier dürfte wohl mehr als nur Zufälligkeit vorliegen.

Emmanuels Geburt und Kindheit

Zu Beginn des Jahres 1897 kehrt Henriette aus Marseille zurück und nimmt in Paris, Rue Soufflot Nummer 9, wieder eine Stelle an. Diese Adresse ist deshalb so wichtig, weil an diesem Ort Emmanuel gezeugt wird. Henriettes neue Arbeitgeber sind Juden, wie Léon mehrfach erwähnt. Obwohl selbst Halbjude, war Léon ein erbitterter Antisemit. Als 1945 zahlreiche Zeitungen über den Tod seines Bruders berichteten, bewahrte er die Artikel auf und kritzelte einen Davidstern neben diejenigen Namen von Zeitungen, die seiner Meinung nach von Juden gestützt wurden, »Le Monde« etwa, oder auch »Les Nouvelles Littéraires«.

Dieser Arbeitsplatz nun war strapaziös: »Um sechs Uhr morgens, winters wie sommers, musste man in der Wohnung bei der Arbeit sein. Henriette stand also gegen fünf Uhr auf. Jeden Tag musste sie einen Teil des Morgens auf den Knien herumrutschen, um den Parkettboden zu bohnern. Den ganzen Tag hatte sie ihre Herrin im Rücken, und was für eine! Sie war kratzbürstig, unangenehm, und sie gab – einen winzigen Staubwedel in der Hand – in einem fort Gebote zur Sauberkeit von sich. Henriette bat darum, das Bohnern nicht auf Knien verrichten zu müssen. ›Nein‹, schrie die Herrin, ›ich will, dass das auf Knien gemacht wird.‹«

Es gibt kaum einen Grund, an der Richtigkeit dieser Aussage zu zweifeln. Denn zeigt eine Herrin ausnahmsweise einmal einen Anflug von Menschlichkeit gegenüber der Mutter Léons, lässt er dies nie unerwähnt.

Die Unterkunft war entsprechend: »Sie wohnte in einem Loch in der sechsten Etage. Kein Fenster, nur eine kleine Dachluke, die zehn Zentimeter weit geöffnet werden konnte. Dieses Loch war anderthalb Meter breit und zwei Meter lang. Gerade genug Platz für das Bett, einen Koffer und eine kleine Anrichte, mit einer Emailschüssel, um sich das Gesicht zu waschen; kein Stuhl, kein Tisch, nichts außer den nackten Wänden und der Tür.«

Und so schildert Henriette (in Léons Fassung) ihre Begegnung mit Emmanuels zukünftigem Vater. Sie war damals 22, und er, gerade frisch in Paris gelandet, 29 Jahre alt: »Wenn sich Henriette, die nach ihrem Arbeitstag fix und fertig war, gegen zehn Uhr abends in ihr Loch zurückschleppte, stieß sie fast jeden Abend auf einen Studenten, der in einer kleinen Mansarde auf demselben Treppenabsatz wohnte. Bei diesem Studenten handelte es sich um einen etwa dreißigjährigen Russen, der abgewetzte und zerlumpte Sachen anhatte, einen Spitzbart trug, welcher sich von einer weißen, nicht gerade sauberen Krawatte abhob, und der einen Klappzylinder auf dem Kopf hatte, so wie es für die Herren damals Mode war. In Wahrheit führte dieser Student ein elendiges Bohemeleben, schlug sich notdürftig durch, hatte ständig Krach und lebte vor allem auf Schulden, um das nicht enden wollende Studium weiterzufinanzieren. Er wusste nicht, wie er die unwissende und naive Henriette um den Finger wickeln konnte. Allabendlich schob er ihr Zettel unter die Tür, auf denen er seine Liebe beteuerte. Henriette sprach ziemlich schlecht Französisch, dafür verstand sie Deutsch umso besser. Der russische Student, der in Berlin und Straßburg gelebt hatte, konnte Deutsch. Daher versäumte er es nicht, sie in dieser Sprache anzusprechen. Als Henriette eines Abends auf dem Treppenabsatz stand und die Tür zu ihrer Bude offen gelassen hatte, um mit anderen Hausmädchen zu sprechen, gelang es dem Studenten, sich in Henriettes Zimmer zu schleichen und sich unter ihrem Bett zu verstecken. Als Henriette sich fertig ausgezogen hatte und in ihr Bett gehen wollte, kam der Russe zu Henriettes großem Entsetzen aus seinem Versteck hervor. Sie riss die Tür auf, schrie, rief um Hilfe. Andere Hausmädchen erschienen, während der Russe sich in sein Zimmer fortstahl – eine von ihnen jagte hinter ihm her und schüttete ihm aus einer Karaffe Wasser über den Kopf.

Doch obwohl er einen Korb nach dem anderen bekam, gelangte er kraft seiner unangebrachten Hartnäckigkeit und einer seltenen Dreistigkeit, die in absolutem Gegensatz zu ihrer Schwäche und unerhörten Naivität stand, schließlich ans Ziel. Jedoch hatte Henriette einige Tage zuvor, als sie auf dem Balkon stand und einen Teppich ausklopfte und den mageren, bärtigen Russen schnellen Schritts herankommen sah, wohl aus irgendeiner Ahnung heraus einen Brechreiz verspürt. So als hätte sie vor dem Teufel persönlich gestanden oder vor einer Schlange. Sie sagte zu sich selbst: ›Egal, was für ein Mann, bloß nicht der da!‹ In der Folge dieser Ereignisse arbeitete Henriette wie ein Tier noch sechs oder sieben Monate bei den Salomons, obwohl sie schwanger war.«

Zu dieser Version existiert freilich keine andere Fassung. Boves Vater hat leider keine Memoiren verfasst. Aber die Angaben sind wie alles in dem Heft plausibel. Von daher soll es hier nicht darum gehen, über den Vater des Schriftstellers ein Urteil zu fällen oder für seine Mutter Partei zu ergreifen, sondern darum, zu zeigen, wie die Art ihrer Beziehung von Anfang an war. Da der Hass der Mutter unversöhnlich ist, so muss auf ihn hingewiesen werden, denn dies sagt einiges aus über das Unsicherheitsgefühl, das Bove während seiner Kindheit empfand. Die Beziehung zwischen seinem Vater und seiner Mutter ist, will man die Genese seines Werkes begreifen, von entscheidender Bedeutung.

Zwei Monate vor ihrer Niederkunft steckt der Prusco – wir werden mitunter, freilich ohne negative Konnotation, diese Bezeichnung beibehalten, um eine Verwechslung mit seinem Sohn zu vermeiden – Henriette mangels Geld in ein Haus der staatlichen Fürsorge für »ledige Mütter«. Sie bleibt dort etwa zwölf Tage und verlässt es dann auf ihren eigenen Wunsch hin.

Im März 1898 ziehen Emmanuels Eltern in ein leeres Zimmer auf der sechsten Etage eines Hauses gegenüber dem Friedhof Montparnasse. [7] Knapp zwei Monate später wird Emmanuel geboren: »Als es so weit ist, begleitet der Prusco Henriette zu Fuß ins Entbindungsheim auf dem Boulevard de Port-Royal. Er kannte dort einen Assistenzarzt, dem er Karten für das Théâtre-Français gab, denn er hatte entfernt etwas mit der Werbeabteilung zu tun. Henriettes Sohn wird also im Entbindungsheim des Boulevard de Port-Royal geboren, und zwar am Mittwoch, dem 20. April 1898, zwischen elf Uhr dreißig und zwölf Uhr. Das Kind wog sechseinhalb Pfund. Der Prusco wollte ihm seinen Vornamen geben: Emmanuel. Und so geschah es.«

Emmanuels Mutter bleibt etwa zehn Tage im Entbindungsheim. Sie kann ihren Sohn nicht stillen und muss wegen eines Abszesses an der linken Brust behandelt werden. 39 Jahre später wird sie an einem Krebs dieser linken Brust sterben. Léon beteuert, dass dieser Abszess, der nie richtig entfernt worden war, daran schuld gewesen sei.

Weil nun das Geld fehlt, muss Henriette sich schnell von ihrem Sohn trennen: »Während Henriette noch im Entbindungsheim war, machte der Prusco in Palaiseau eine Bäuerin ausfindig, die er mit ins Entbindungsheim nahm, um den kleinen Emmanuel abzuholen und ihn unverzüglich dieser Amme zu übergeben. Denn kaum genesen, musste Henriette sich wieder daranmachen, eine Stelle als Dienstmädchen zu finden.«

Sie kehrt also für einige Zeit auf den Boulevard Raspail zurück, verlässt gar den Vater Emmanuels, sucht einige Tage Zuflucht bei einem ihrer Brüder und findet eine Anstellung in Passy, wo sie ein paar Monate bleibt; danach, bis zum Herbst 1899, ist sie bei einem Notar auf dem Boulevard Haussmann. Da sie bei ihren Arbeitgebern den ganzen Sommer über in einem feuchten Keller in der Bretagne untergebracht ist, ist sie zu diesem Zeitpunkt vor Schmerzen in den Beinen wie gelähmt, so sehr, dass sie kaum noch gehen kann. Aus diesem Grund muss sie ihre Anstellung kündigen und zieht wieder mit dem Vater ihres Sohnes zusammen, zu dem sie den Kontakt, kurz nachdem sie von ihm weggegangen war, wieder aufgenommen hatte. Da sie die Amme nicht mehr bezahlen kann (40 Franc von den 50 Pfund Monatseinkommen gingen dafür drauf, und der Vater beteiligte sich an diesen Unterhaltskosten nicht im Geringsten), holt sie sich ihren Sohn zurück, und die Familie zieht Ende 1899 in eine kleine Wohnung in der Rue Lhomond.

»Henriette landet da mit dem kleinen Emmanuel, den man gerade einer Amme entrissen hat, die nicht mehr bezahlt werden konnte. Es handelte sich nicht um die von Palaiseau. Tatsächlich hatte der kleine Emmanuel innerhalb von 20 Monaten fünf oder sechs Ammen, so dass man etwas Geld sparen konnte, denn bei jedem Wechsel blieb man für mehrere Tage oder Wochen das Geld schuldig.« Am Rande erläutert Léon, dass Emmanuel mit sechzehn oder achtzehn Monaten laufen kann.

Zu dritt vegetiert man nun einige Monate in dieser Wohnung dahin: »Der kleine Emmanuel hatte also seine Mutter wieder. Da sie nicht laufen kann, bleibt Henriette über einen Monat lang mit ihrem Sohn in dieser kleinen Behausung im Bett liegen. Das Elend bleibt fortan an ihnen haften. Der Prusco unternahm verzweifelte, aber auch unergiebige Versuche, an Geld zu gelangen; da und dort gab er eine Stunde, pumpte ein paar Kumpel an, insbesondere d’Ostoya, den talentierten, aber nicht eben reichen Karikaturisten von ›L’Asiette au beurre‹, oder er erhielt Kredit bei den Ladenbesitzern. Nur zwei von drei Vierteljahresmieten für die Wohnung wurden bezahlt.« Bei Léon taucht diese Formulierung immer wieder auf. Während Emmanuels gesamter Kindheit werden seine Eltern und er selbst regelmäßig aus den Wohnungen, für deren Miete sie nicht mehr aufkommen können, hinausgeworfen.

Zu dieser Zeit ist die Beziehung der Eltern Emmanuels nicht ganz so zerrüttet, wie sie es im weiteren Verlauf sein wird. Léon räumt dies selbst ein, zumindest was die zwei in der Rue Lhomond verbrachten Jahre betrifft: »Es scheint, dass der Prusco damals Skrupel hatte, Henriette sitzenzulassen. Und er liebte seinen Sohn.«