Cover

Über dieses Buch

Fernando Castelli, Filmfreak aus Buenos Aires, hat’s nicht leicht. Um sich und seine despotische Mutter über Wasser zu halten, schuftet er als Angestellter in einem Videoladen und kocht in seiner freien Zeit in einer Filmproduktionsfirma den Kaffee für die eiskalte Chefin. Kein Wunder, dass er Träume hat. Und ein Über-Ich namens Jack the Ripper, das ihm dabei hilft, sie zu verwirklichen: Fernando soll sich in einen Serienkiller verwandeln und den grausigen Plot für das oscarverdächtige, millionenschwere Drehbuch selbst besorgen.

Und schon geht sie los, José Pablo Feinmanns Romanparodie auf die blutrünstige Massenkultur. Leichen pflastern Fernandos Weg zum Ruhm, und ein paar Ohren dienen als Trophäen. Wenn das letzte abgeschnitten ist, ist das Drehbuch fertig, Fernandos Chefin reich und die schöne Ana Espinosa als Märtyrerin des Privatfernsehens gen Himmel gefahren. Inspektor Colombres hingegen muss einsehen, dass die Tage des argentinischen Machos gezählt sind, und geht zum Showdown ins Kino.

Das frivole Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit ist hier Motor des Geschehens. Im Fadenkreuz dieses großartigen Schriftstellers steht der unersättliche Hunger der modernen Spaßgesellschaft auf Dramen und Sensationen, die ebenso schnell verwurstet wie vergessen werden.

»Feinmann bringt es fertig, die schönsten, einprägsamsten und grusligsten Szenarien von Alfred Hitchcock bis Stephen King mit der dämlichen Harmlosigkeit von Seifenopern aufs Eleganteste zu kombinieren. In einem Stil, dass man sich beim Lesen einfach laut amüsieren muss!« (Neue Zürcher Zeitung)

»José Pablo Feinmanns Geschichte ist kunstvoll komponiert und hat hohes Tempo […] und obendrein ist sie so spannend, dass man sie vor dem verblüffenden Ende kaum mehr aus der Hand legen mag.« (Burkhard Scherer, Frankfurter Allgemeine)

Der Autor

José Pablo Feinmann wurde 1943 in Buenos Aires geboren. Der Romancier, Journalist, Drehbuchautor und Philosoph ist Leitfigur einer Generation jüngerer argentinischer Schriftsteller. Neben zwölf Romanen schrieb er zahlreiche Essays und philosophische Abhandlungen, er ist Kolumnist der Tageszeitung »Página 12« und moderiert seit 2010 die vielbeachtete Fernsehsendung »Filosofía aquí y ahora«. Er hat mit prominenten Regisseuren zusammengearbeitet, darunter Eduardo de Gregorio und Hector Oliveira; zwei seiner Romane wurden verfilmt.

Die Übersetzer

Thomas Brovot, geb. 1958, übersetzt aus dem Spanischen und Französischen, u. a. Juan Goytisolo, Federico García Lorca, Mario Vargas Llosa, Joann Sfar.

Christian Hansen, geb. 1962, übersetzt aus dem Spanischen und Französischen, u. a. Roberto Bolaño, Alan Pauls.

Für ihre Übersetzungen wurden beide mehrfach ausgezeichnet.

José Pablo Feinmann
Die Verbrechen des van Gogh

Kriminalroman

Aus dem argentinischen Spanisch
von Thomas Brovot und Christian Hansen

Edition diá

Inhalt

Über dieses Buch

Kapitel I: Erstes Ohr

1. Die Wirklichkeit erschaffen

2. Jack the Ripper

3. Das Auge der Marion Crane

4. Doña Clara Castelli, Witwe

5. Der Todeskuss

6. Mütterchen die Treppe hinunterstoßen

7. Nelly

8. Eine Frage von Jack the Ripper

9. Die Phantasie der Schriftsteller

10. Eine merkwürdige Unterhaltung

11. Blutige Pläne

12. Seitensprünge

13. Whisky im Gesicht

14. Nicht nur ein Heft

15. Fernandos Notizen

16. Frage, was lieber

17. Ein Gesicht des Teufels

18. Der Tod macht seine Aufwartung

19. Rickys Tricks

20. Ein Schüler des Rippers

21. Fernandos Notizen

22. Die Serie des Serienmörders

23. Lupe Quintana

24. Das erste Verbrechen

Kapitel II: Zweites Ohr

1. Mary Ann Nichols

2. Kommissar Pietri

3. Nelly, Fotomodell

4. Fernandos Drehbuch

5. Adiós, Tim Cruise

6. Der Verrückte will auf sich aufmerksam machen

7. Ana Espinosa

8. Diese übergeschnappte Hexe

9. Ana, ein neuer Star

10. Fernando schwankt

11. Der Himmel wartet

12. Der Clown-Mörder

13. Ein Geschenk für Ana

14. Erwachsene Alpträume

15. Die letzten Tage von Pompeji

16. Neue Erfahrungen

17. Der Schatz der alten Dame

18. Ein unerwarteter Besuch

19. Fragen und Antworten

20. Einen allerletzten Satz

21. Guten Abend, unartige Ana

Kapitel III: Drittes Ohr

1. Die Medien belagern Pietri

2. Fernandos Notizen

3. Die nächste Beerdigung wird Ihre eigene sein

4. Ana Espinosa fordert erneut heraus

5. Ein schlechter Tag für Fernando

6. Das Blitzen der Klinge

7. Schon wieder der Clown

8. Weitere Fragen und Antworten

9. Literatur von vorgestern

10. Nur gute Freunde

11. Gekniffen wird nicht

12. Ein gemeinsames Grab

13. Die Politiker

14. Einen Schurken für Harrison Ford

15. Nelly und Teresa, Verschwörerinnen

16. Fernandos Drehbuch

17. Colombres ermorden?

18. Nur nichts überstürzen

19. Ein tödlicher Ricky Mintrone

Kapitel IV: Viertes Ohr

1. Der Ripper mag keine Ravioli

2. Fünf Buchstaben mit Blut

3. Der Mörder der Demokratie

4. Die neunziger Jahre

5. Die Massenmedien im Rausch

6. Ich bin nicht van Gogh

7. Eine Erzählung von Borges

8. Elementar, Holmes

9. Eine Differenz bleibt

10. Ay, Carmela!

11. Greta Toland in der Bredouille

12. Die drei Pfeifen

13. Noch drei Verbrechen

14. Ein 40er Mercury

15. Ein Revolutionär

16. Nichts steht geschrieben

17. Eine so gute Geschichte hätte Borges nie geschrieben.

18. Der verräterische Satz

19. Fragen ohne Antworten

Kapitel V: Fünftes Ohr

1. Ein monströser Kater

2. Der Sieg über die Inflation ist nicht alles

3. Verliebt

4. Colombres wird modernisiert

5. Sie lieben sich

6. Sie ist das Kino

7. Fernandos Drehbuch

8. Dunkel und buschig

9. Noch einmal die Massenmedien

10. Ein Blick

11. Intelligente Frauen

12. Fernandos Notizen

13. Teresa

14. Fliehen und wieder auftauchen

15. Das große Finale

16. Das Böse ist unendlich

17. Pressekonferenz im Hyatt

18. Abschiedstango

Bibliographie

Impressum

Für María Julia Bertotto,
das Herz weiß, warum

Kapitel I
Erstes Ohr

1. Die Wirklichkeit erschaffen

Es war in jenen Tagen, als ihm Jack the Ripper erschien.

Fernando Castelli war gerade dreißig Jahre alt geworden, schrieb Drehbücher, und kein einziges hatte man je verfilmt. Noch konnte er nicht ahnen, dass er, damit dies geschah – das heißt, damit wenigstens eins verfilmt wurde, wenigstens eins –, erst zu einem unfehlbaren und brillanten Serienmörder werden musste. Was er dagegen sehr wohl ahnte, war, dass sein Leben auf des Messers Schneide stand, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb und mit der Zeit auch nichts mehr zu rechtfertigen. Würde er den Rest seiner Tage im Groll verbringen oder Trübsal blasen?

Falls dem so sein sollte, sagte er sich, würde sich sein Dasein kaum von dem seiner Landsleute unterscheiden. (Ein Wort übrigens, das Fernando nur mit Abscheu benutzte: Landsleute.) Schließlich und endlich lebte er in einem Land der Trübseligen und Frustrierten. In einem Land, das auf das Ende des Jahrhunderts zuging und zwischen der oberflächlichen, dummen und schamlos zur Schau getragenen Fröhlichkeit einiger weniger und der Trostlosigkeit, Erbitterung und Ohnmacht der Übrigen keine Ruhe fand. Weshalb Fernando sich weder mit den einen noch mit den anderen identifizieren mochte. Weshalb Fernando das Wort Landsleute verabscheute. Denn mit ihm hatte das alles nichts zu tun. Denn er wollte sich weder auf die Seite der aufgeblasenen Dummköpfe schlagen noch auf die Seite derer, die in ihrer Ohnmacht resignierten. Denn er war Fernando Castelli: ein Einzelgänger. Und Einzelgänger haben keine Landsleute.

Außerdem, und das kam gar nicht so selten vor, hielt er sich gerne für etwas mehr als einen Einzelgänger. Er hielt sich gerne für einen Schriftsteller, eine Eigenschaft, die wahrscheinlich ein weiteres Gesicht der Einsamkeit war, ihr schönstes allerdings, wer wollte das bezweifeln, ihr faszinierendstes und auch die einzige Möglichkeit, die erdrückende Mauer der täglichen Wirklichkeit zu durchbrechen, hinter der sich vielleicht noch etwas anderes fand. Eine Utopie?, fragte er sich dann ironisch und lächelte in sich hinein.

Es amüsierte ihn, dieses abgegriffene, von Journalisten, Fernsehsoziologen und Politikern tausendfach entwertete Wort – Utopie – mit etwas so Zartem, Zerbrechlichem und Ungreifbarem wie seinem Schicksal in Verbindung zu bringen. Deshalb stellte er sich mit genau diesem entwerteten Wort auch so beharrlich die immer gleiche Frage, die seine ärgsten Obsessionen zum Ausdruck brachte.

Wie sah Fernando Castellis Utopie aus?

Er konnte ein paar Antworten versuchen.

Eine ging so: Er wollte ein großes Drehbuch schreiben, eine große Geschichte – die größte jemals erzählte Geschichte? –, und er wollte, dass nach dieser Geschichte ein Film gedreht würde – der größte jemals gedrehte Film? –, und er wollte Erfolg haben und als Autor triumphieren und für neue Filmprojekte umworben werden. All das konnte man mit Fug und Recht seine Utopie nennen.

Und doch zweifelte er. Was würde der Erfolg aus ihm machen? Würde er ihn nicht kopfüber und unwiderruflich in die Welt der aufgeblasenen Dummköpfe stürzen? Er kannte Beispiele genug, die ihm bewiesen, dass in dieser Welt des ausgehenden Jahrhunderts der Triumph, der Erfolg die Leute verblödete, dass er sie eitel und leer machte. Und diese Möglichkeit erschreckte ihn.

Wenngleich die andere ihn nicht weniger schreckte. Er wollte nicht der Mann aus dem Kellerloch sein. Er wollte nicht auf der anderen Seite stehen, auf der Schattenseite, verblassend in seiner Bedeutungslosigkeit, bloßer Zuschauer des pompösen Aufmarschs der Sieger, des Zirkus der happy few. Gab es nur entweder oder? So schwarz-weiß war die Wirklichkeit? So plump dualistisch?

Hier zeichnete sich nun etwas ab, das man allerdings die wahre Utopie des Fernando Castelli nennen könnte: Er wollte einen neuen Raum in der Wirklichkeit aufstoßen. Einen bislang nicht vorhandenen Raum. Einen Raum, der sich nur öffnete, um ihn, seinen Schöpfer, aufzunehmen. Einen Raum zwischen den selbstgefälligen Siegern und den tristen, gescheiterten Existenzen.

Er dachte: Die Wirklichkeit erschaffen.

Und dieser Gedanke machte ihn glücklich und stolz.

Es war in jenen Tagen, als ihm Jack the Ripper erschien.

2. Jack the Ripper

Zuerst war es ein leichter Nebel, der vom unauslotbaren Grund der Unwirklichkeit emporstieg und sich auf einen der Stühle im Zimmer herabsenkte. Dort verharrte er, ein paar Minuten nur. Er nahm keinerlei Gestalt an, noch gab er den leisesten Laut von sich. Es war nicht mehr als das, was es zu sein begonnen hatte und was es schließlich war, kaum dass es sich wieder auflöste: ein leichter Nebel.

Doch Fernando Castelli hatte nicht den geringsten Zweifel: Dieser leichte Nebel, diese bloße Dichte, die nach einer Gestalt suchte, war durch seinen Wunsch, seine Phantasie heraufbeschworen worden. Er selbst, sagte er sich, war seine Wunderlampe. Wie lange würde es dauern, bis der Geist sich zeigte?

Eine Woche ließ er auf sich warten. Aber was dann folgte – das heißt, was nach dem leichten Nebel kam –, war gleich eine echte Materialisation. Dies überraschte Fernando, der irgendeinen Zwischenschritt erwartet hatte, den Umriss eines Schattens, eine Silhouette, so etwas in der Art. Was folgte – wenngleich nicht im Zimmer, sondern draußen –, war ganz eindeutig Jack the Ripper.

Fernando sah ihn im Licht einer rötlichen Dämmerung, die schon mit den ersten schwarzen Schatten der Nacht verschmolz. Er sah ihn in diesem magischen Augenblick, wenn der Tag sich ergibt, wenn das Feuer des Abends zu Asche verglimmt und erkaltet, um sein Ende anzuzeigen, wenn der Tag schon zurückliegt, es aber noch nicht richtig Nacht ist. Dort sah Fernando Castelli zum ersten Mal Jack the Ripper, wie er, nicht ohne eine gewisse Feierlichkeit, seine Pfeife rauchte, mitten auf der Straße, mit seinem kleinen Hut, mit Mantel und Pelerine, mit seinem Arztköfferchen und seinem sorgfältig gestutzten Schnurrbart.

3. Das Auge der Marion Crane

Angetan mit den Kleidern seiner Mutter, stieß Norman Bates sein Messer wieder und wieder in den wehrlosen, nackten Körper von Marion Crane. Marion schrie sich die Seele aus dem Leib und hob ihre Hände, in dem vergeblichen Versuch, sich zu schützen, oder in dem noch vergeblicheren Bemühen, um Gnade zu flehen, denn eine Tötungsmaschine, und das war Norman Bates zu diesem Zeitpunkt, konnte niemals Gnade gewähren.

Nachdem er sein Werk mehr als vollbracht hatte, als er endlich zufrieden war, verschwand Norman aus dem Bild, und in der Dusche blieb nur Marions Körper zurück, an die weißen Fliesen gelehnt (waren sie wirklich weiß?), ehe sie auf den Boden der Wanne glitt, die Augen halb geschlossen, über ihnen der schwere, dunkle, endgültige Schleier des Todes. Und dann, mit einer vielleicht absurden Anstrengung, die mehr von dem Wunsch beseelt als in der Möglichkeit begründet war, weiterzuleben, denn ihre Verletzungen waren absolut tödlich, streckte Marion Crane ihre Hand nach dem Plastikvorhang der Dusche aus, hielt sich daran fest, um sich hochzuziehen, und zog mit solcher Kraft – wie stark mag das sein, wenn man sagt: mit letzter Kraft? –, dass der Vorhang, der mit Ringen an einer Stange befestigt war, sich mit einem atemberaubenden und schauerlichen Stakkato von ihr löste, Ring für Ring, wie das Knattern eines Maschinengewehrs; und Marion, die arme Marion, der weniger die vierzigtausend Dollar, die sie sich unter den Nagel gerissen hatte, zum Verhängnis geworden waren als der Entschluss, eine Nacht im Bates Motel zu verbringen, Marion sank, die Hand noch immer an den Plastikvorhang geklammert, sank, wenn man so sagen darf, dem Tod in die Arme.

Ihr Blut lief jetzt zum Abfluss der Wanne, wirbelte dort herum und verschwand, für immer. Danach zoomte die Kamera auf dieses dunkle, unendliche Loch (ein schwarzes Loch?), und in einer Überblendung sah man Marions rechtes Auge, offen, weit offen und entsetzlich starr. Das war alles. Zumindest für Marion Crane war das alles. Denn so war ihr Tod. So starb Marion Crane in Psycho, ermordet von Norman Bates.

Wie, fragte sich Fernando Castelli jedes Mal, hatte Hitchcock die vollkommene Starre dieses Auges hinbekommen? Warum war dieses Auge, dieses reglose Auge, das erschütterndste Bild des Todes, das er je im Film gesehen hatte? War es ein Standfoto? Nein, das war es nicht, denn wenn man ganz genau hinsah, konnte man erkennen, wie der eine oder andere Tropfen über Marions Gesicht lief. Ob Hitchcock Janet Leigh, die Darstellerin der Marion Crane, wirklich umgebracht hatte? Auch das war wenig wahrscheinlich. Zwar hätte eine solche Szene – die Perfektion dieser Szene – es wohl gerechtfertigt, sie umzubringen, aber es war offensichtlich, dass der Meister es nicht getan hatte, denn Janet Leigh hatte nach Psycho noch in anderen Filmen gespielt.

So dass Fernando Castelli, der leidenschaftliche Cineast, der dieses und andere Geheimnisse der großartigen Szene gerne gelüftet hätte – sieben Tage hatten die Dreharbeiten gedauert, mit siebzig Einstellungen für fünfundvierzig Sekunden –, das Videoband bis zu der Stelle zurückspulte, wo Marion Crane in die Dusche trat und alles von neuem begann.

Heute aber sollte er diese Szene kein zweites Mal zu sehen bekommen.

4. Doña Clara Castelli, Witwe

Marion Crane schrie vor Schmerz und Entsetzen, Norman Bates ließ sein Messer erbarmungslos auf sie niedersausen, und Fernando Castelli, der in seinem Sessel hing, schaute durch seine Trotzki-Brille gebannt auf den Bildschirm, während er große Mengen Schokonüsse aß.

Exakt in diesem Moment ging die Tür auf. Es war seine Mutter, Fernandos Mutter, die sie öffnete, nachdem sie, unaufhaltsam wie das Geschoss einer Kanone, mit ihrem Rollstuhl gegen die Tür gekracht war. Derart ungestüm kam sie ins Zimmer, mit wutentbranntem Gesicht und bereit, alles niederzumachen.

»Idiot«, schrie sie, lauter noch als Marion Crane. »Schwachkopf! Jämmerlicher Versager!«

Fernando wandte den Blick nicht vom Bildschirm – gerade streckte Marion die Hand nach dem Duschvorhang aus, und gleich würden sich die Ringe von der Stange lösen –, und er hörte auch nicht auf, seine Schokonüsse zu essen. Kurz, er schaute seine Mutter nicht an. Er sagte nur gelassen:

»Sei nicht immer so lieb zu mir, Mama. Du wirst mich noch verziehen.«

Fernandos Mutter war, freundlich ausgedrückt, zum Fürchten. Ihre ausladenden Hüften wollten kaum in den Rollstuhl passen. Auf dem Kopf trug sie Lockenwickler in den buntesten Farben – schreienden Farben, genau genommen –, sie schwitzte, als würde sie ihr Leben in einem niemals endenden tropischen Sommer zubringen oder als wäre sie eine arme Seele, die in der Hölle schmort. Sie hatte ein Doppelkinn, hatte Warzen im Gesicht, aus denen kleine Härchen sprossen, kurze, spitze, bedrohliche Härchen, und mit Vorliebe aß sie – wie zum Beispiel gerade jetzt – kalte Nudeln, die sie aus einem schäbigen Aluminiumtopf fischte.

Fernando rührte sich nicht aus seinem Sessel und wandte kein Auge von den Bildern seines geliebten Films. (Waren die Fliesen wirklich weiß?) Seine Mutter ergriff wieder das Wort: »Du bist ja schon verzogen«, sagte sie. »Aber ich habe dich nicht verzogen. Auch nicht dein Vater. Gott hab ihn …«

»Selig«, ergänzte Fernando.

»Selig, ja«, jammerte seine Mutter. »Dein armer Vater, der sich abgerackert hat, um aus dir etwas Anständiges zu machen. Bis er … Bis sein Herz nicht mehr konnte!«

»Bis er vom Torre de los Ingleses gesprungen ist, Mama«, präzisierte Fernando, während er, immer grimmiger und ohne dass es ihn am Sprechen hinderte, seine Schokonüsse kaute. »Oder ist er etwa nicht vom Turm gesprungen? Aber nicht wegen mir. Wegen dir. Weil er es keine Sekunde länger mit dir ausgehalten hat.«

Doña Clara – denn so lautete der Name von Fernandos Mutter – keifte:

»Du Mistkerl! So etwas Gemeines kannst auch nur du sagen!«

»Würdest du so nett sein und, wenn irgend möglich, beim Sprechen nicht mit Nudeln spucken?«, bat Fernando.

Doña Clara schluckte und keifte weiter:

»Blödmann!«

Fernando nahm die Fernbedienung, drückte auf stop, und das sehr offene, sehr tote Auge von Marion Crane verschwand vom Bildschirm. (Wie hatte Hitch das bloß so meisterhaft hingekriegt?) Er stellte die Schachtel Schokonüsse auf einen kleinen Tisch, erhob sich, betrachtete das Scheusal, zu dem seine Mutter geworden war – sie war nicht immer so gewesen –, und fragte:

»Darf man erfahren, was dich zu mir führt? Warum du so taktvoll mein Zimmer betreten hast?«

»Ich habe es satt, die Schreie von deinen Morden zu hören«, erklärte Doña Clara. »Nicht mal in Ruhe essen kann man. Ständig schreit in deinem Fernseher irgendjemand wie am Spieß. Messer, Blut, Mord und Totschlag. Und alles in diesem dämlichen Schwarz-Weiß!«

Sie schob sich eine weitere Gabel Nudeln in den Mund. Fernando sagte:

»Sie gefallen mir nun mal, Mama. Oder wäre es dir lieber, wenn ich Deckchen besticken würde wie du?«

»Ich bringe wenigstens Geld nach Hause«, antwortete Doña Clara in schneidendem Ton. »Du dagegen … ein Nichtsnutz!«, keifte sie, und wieder flogen kalte Nudeln aus ihrem Mund.

»Nichtsnutz? Ich?« Fernando war empört. »Ich habe zwei Jobs. Findest du das wenig?«

Mit unglaublicher Geschwindigkeit drehte Doña Clara ihren Rollstuhl und verließ das Zimmer.

»Ja, wenig!«, hörte Fernando sie brüllen. »Ich finde das wenig! Ich finde das erbärmlich wenig! Du führst ein jämmerliches Leben!«

Und indem sie weiter die unglaublichsten Dinge von sich gab – natürlich alle an Fernandos Adresse –, fegte sie quer über den Innenhof, verschwand in ihrem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Ein kleiner Blumentopf mit Geranien, der an einem Vogelbauer hing, geriet in heftige Bewegung und zerschellte auf den roten Steinplatten des Hofs. Ob das Blut von Marion Crane die Fliesen so rot wie diese Platten gefärbt hatte?, fragte sich Fernando. Dann schloss er die Zimmertür, lehnte sich dagegen und verbarg sein Gesicht in den Händen.

»Ich hasse sie«, knirschte er. »Ich hasse sie.« Er ließ die Hände sinken. Sein Gesicht und die Augen glänzten. »Wenn ich sie doch umbringen könnte«, murmelte er. »Und aufschlitzen …«

Er ging ein paar Schritte durchs Zimmer. Am Schreibtisch blieb er stehen. Die Lampe, die ihn von unten beschien, zeichnete seltsame Muster von Licht und Schatten auf sein Gesicht. Mit dumpfer Stimme, wobei er jedes Wort dehnte und kaute, sagte er:

»Sie aufschlitzen … Hätte ich nur den Mut dazu … Wäre ich doch … Wäre ich doch …«

»Jack the Ripper?«

Er stand neben dem Fernseher. Stand da in Mantel und Pelerine, mit seinem Arztköfferchen und dem sorgfältig gestutzten Schnurrbart. Er lächelte. Er schien zufrieden, nicht nur mit sich selbst, sondern, wenn man so sagen darf, mit der menschlichen Existenz im Allgemeinen.

Verdutzt, verwundert – wenngleich er seinen Augen wohl trauen musste, denn Jack stand genau vor ihm, neben dem Fernseher, hier in seinem Zimmer – rief Fernando:

»Jack the Ripper! Der größte Serienmörder der Kriminalgeschichte. Der im Londoner Nebel verschwand und nie gefasst werden konnte.«

Der Ripper nahm seinen kleinen Hut ab, stellte das Köfferchen neben den Schreibtisch und machte es sich in einem Sessel bequem. Er schlug die Beine übereinander. Und rauchte, natürlich, seine Pfeife.

»Ja.« Er nickte. »Da bin ich.« Er schaute Fernando in die Augen und fragte: »Kann ich dir helfen? Sag mir, was du dir wünschst. Ich werde es für dich tun. Oder dafür sorgen, dass du es tust.«

Fernando Castelli fühlte, dass sich etwas in seinem Leben – und zwar sehr bald – ändern würde.

Etwas, oder vielleicht alles, sagte er sich.

5. Der Todeskuss

Er war keineswegs der Nichtsnutz, als den ihn seine Mutter beschimpft hatte. Er besaß, wie er ihr klipp und klar gesagt hatte, zwei Jobs. Einen am Vormittag und einen am Nachmittag. Zwei Arbeitsverhältnisse, pflegte er sich in Anlehnung an die eine oder andere Marx-Lektüre zu sagen, in denen er den nötigen Mehrwert produzierte, um die Investition seiner Arbeitgeber zu rechtfertigen, das heißt: seinen Lohn. Das war alles, was er sich dazu sagte, er dachte weder an Revolte noch daran, die wirtschaftliche und soziale Ordnung des Systems zu verändern. 1973 war Fernando Castelli zehn Jahre alt gewesen. Die orkanartigen Stürme jener Zeit erreichten ihn als sanftes, stilles Lüftchen, und er musste noch nicht einmal Abstand gewinnen, um den Kopf frei zu haben für das Super-Action-Kino, das jeden Samstag zwischen 14 und 20 Uhr auf Kanal 11 lief. Er lebte einfach am Rande der sozialen Heilsbewegung der Siebziger. Er wuchs heran und trank Nesquik. Er wuchs heran, wie es ihm damals und in den darauf folgenden Jahren das größte Vergnügen bereitete: Filme schauend. Mit anderen Worten: Zwischen den beiden großen Marx der Geschichte hätte sich Fernando Castelli, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, für Groucho entschieden.

An den Vormittagen arbeitete er in einer kleinen, vor kurzem eröffneten Videothek. Der Inhaber, Anselmo Bermúdez, war ein beleibter Herr in den Sechzigern mit Halbglatze und einem erloschenen, schwarzen Zigarrenstumpen, den er sich rechts zwischen die Zähne klemmte. In jungen Jahren hatte Don Anselmo in Spanien für die Republik gekämpft, war in der Franco-Zeit ins Exil gegangen und in Argentinien zu einem emsigen und recht geizigen Geschäftsmann geworden. Er wollte, zweifellos in Erinnerung an den kämpferischen Elan seiner Jugend, den Laden Ay, Carmela! nennen, doch Fernando sagte ihm, das sei kein Name für eine Videothek, und schlug ihm einen anderen vor, den Don Anselmo zwar nicht überzeugend fand, den er aber akzeptierte, weil er vermutete, dass ein junger Bursche wie Fernando mehr von solchen Dingen verstand als ein alter Haudegen wie er. So hieß denn die Videothek Der Todeskuss.

Jeder tat, was er am liebsten machte und am besten konnte. Don Anselmo stand hinter der Theke, kassierte und gab das Wechselgeld heraus. Fernando stand im Laden und empfahl den Kunden Filme, lächelte, ertrug – mit Mühe – die Ignoranten, die Mittelmäßigen, die Leute, die sich für Filmklassiker nur interessierten, wenn sie nachkoloriert waren, die Sonntags-Cineasten, die sich genüsslich Casablanca ansehen konnten, während sie eine Schinken-Paprika-Pizza aßen und sich ihren ohnehin tauben Verstand mit einem Rotwein betäubten, der nach Kork schmeckte, wenn überhaupt nach etwas. Denn das waren die Schlimmsten: die faulen Früchte des sozialen Aufstiegs, Typen, die mit zwei Flaschen superteuren Weins unterm Arm – sagen wir, mit einem Caballero de la Cepa – auftauchten und allen Ernstes von Fernando verlangten: »Etwas zum Gruseln, Junge, einen Horrorfilm.« »Horrorfilm? Was für einen Horrorfilm? Einen von Tod Browning, von Terence Fisher oder von David Cronenberg?« »Irgendeinen«, winkte der Kunde ab, während er sich gerade noch fragte, wer zum Teufel diese Männer waren, und fügte hinzu: »Es kommen ein paar Freunde zum Essen, musst du wissen. Meine Frau hat eine sagenhafte Seezunge gekocht, mit Palmenherzen an Sauce hollandaise.« Fernando gab ihnen dann Der Exorzist, und während der Typ hochzufrieden mit seinem Wein und seinem Video davonzog, dachte Fernando grimmig: ›Möge Linda Blairs grüne Kotze auf deiner Seezunge landen, vor allem auf den Palmenherzen an Sauce hollandaise.‹

An diesem Morgen erschien Ricky Mintrone.

6. Mütterchen die Treppe hinunterstoßen

Ricky Mintrone war sechzehn Jahre alt, sollte in Kürze sein Abitur machen – eine Tortur für ihn, aber mehr noch für seine Lehrer –, rauchte Joints, trank ab und zu ein Bier und schaute Videos. Er hasste seine Familie, und wenn er irgendeine Vorstellung von seiner Zukunft hatte, dann die, das Land zu verlassen, klammheimlich zu verschwinden, für immer, mit gestrecktem Mittelfinger in Richtung seines Vaters, seiner Mutter und seiner fünf Geschwister – drei Brüder und zwei Schwestern, die alle älter waren als er, alle vorbildhaft, erfolgreich, immer adrett und mit dem scheußlichen Laster behaftet, zweimal am Tag zu duschen und ein von Regeln, guten Ratschlägen, Verboten und hohlen Phrasen erfülltes Leben zu führen.

Dank seines besonderen Faibles für das Kino hatte sich Ricky lose mit Fernando angefreundet, der sich nicht zu schade war, dem es sogar Freude machte, ihm einige cineastische Grundkenntnisse zu vermitteln. Ricky hatte auch Doña Clara kennengelernt, Fernandos schauerliche Mutter, denn als Fernando ihn einlud, sich mit ihm zusammen Casablanca oder Citizen Cane anzuschauen, kam Ricky nicht umhin, mit der Dame im Rollstuhl das eine oder andere Wort zu wechseln und das leuchtende Technicolor ihrer Lockenwickler zu bewundern.

Gleichwohl sollte es an diesem Morgen zu einigen gravierenden Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen kommen. Denn an diesem Morgen verlangte Ricky von Fernando das Video von Rocky IV.

»Ich hör wohl nicht recht«, sagte Fernando. »Das ist doch völliger Schrott.«

»Das ist kein Schrott«, sagte Ricky. »Ich will Rocky IV

»Kommt nicht in Frage. Das kannst du dir nicht antun«, sagte Fernando verwundert, betroffen. »Du musst dich bilden. Bildung, verstehst du? Und mit Rocky IV kriegst du überhaupt keine Bildung.«

»Gut, gib mir Rambo II

»Auch nicht.«

»Gut, dann Total Recall

»Total Recall genauso wenig, Ricky.«

»Komm schon, Fernando, du bist ja wie meine Geschwister. Oder schlimmer: wie mein Alter. Nicht dies, nicht das, kein gar nichts. Kapier doch, Mann. Ich kann nicht mein Leben lang immer nur auf dich hören. Ich habe schon siebzehnmal Casablanca gesehen. Schon zweiundzwanzigmal den Malteser Falken. Und nie ein Fitzelchen verstanden.«

»Vom Malteser Falken

»Ja doch, vom Malteser Falken. Von was denn sonst? Von Betty und ihre Schwestern

»Das ist ja das Gute an den Filmen, die ich dir gebe«, beharrte Fernando. »Sie zwingen dich, der Handlung zu folgen, dich auf sie einzulassen, in sie einzudringen.«

»Zweiundzwanzigmal bin ich in den Malteser Falken eingedrungen. Aber nichts. Diese Filme sind so was von uncool, Fernando. Echt krass, Mann.«

Warum reden diese Grünschnäbel so? Wer würde solche Ausdrücke in fünf oder zehn Jahren noch verstehen? Uncool. Echt krass. Wie alt, wie weltfremd angesichts einer immer strahlenden und gebieterischen historischen Gegenwart würde derjenige dastehen, der in zehn Jahren oder noch nicht einmal zehn Jahren uncool oder echt krass sagt? Fernando musste an die Geschichte denken, die ihm ein Privatdetektiv erzählt hatte, an dessen Freundschaft ihm, entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten eines einsamen Wolfs, etwas gelegen war. Erzählt hatte er: »Ich hatte einmal ein Mädchen bei mir, sehr jung. Wir lagen im Bett. Wir hatten miteinander geschlafen, und jetzt schauten wir das Spiel England gegen Argentinien. Das war 1986, klar, in Mexiko, bei der Weltmeisterschaft. Auf einmal schnappt sich Maradona das Leder, fast noch im Mittelfeld, trickst einen Haufen Engländer aus und haut das Ding ins Netz. Ich springe hoch und schreie: ›Wahnsinn! Spitzenklasse!‹ Die Kleine schaut mich an, als käme ich vom Mars, steigt aus dem Bett, zieht sich an und wirft mir, bevor sie die Wohnung verlässt, noch einen letzten Blick zu: ›Ich geh doch nicht mit einem Typen ins Bett, der Spitzenklasse sagt.‹ Nie zuvor hat mich jemand so unmissverständlich und direkt einen alten Sack genannt.« Es gibt Worte, Ausdrücke, die schneller altern als die Zeit. Welches Mädchen würde in vielleicht zehn Jahren aus Rickys Bett flüchten, weil er irgendeinen Satz mit uncool oder echt krass sagte?

Fernando schüttelte den Kopf, wie im Zeichentrickfilm, und schob diese unerquicklichen Gedanken beiseite. Er schaute Ricky an. Erwartete er vielleicht zu viel von ihm? Er war ja fast noch ein Kind, mit diesen unausrottbaren, tiefroten Pickeln auf Kinn und Wangen. Er beschloss, hart zu bleiben, und sagte:

»Mal ehrlich, geht dir das nicht unter die Haut, wenn Bogart sagt, der Malteser Falke sei ›der Stoff, aus dem die Träume sind‹? Das ist Kunst, Ricky. Poesie. Das ist wahres Kino.«

Ricky schnalzte laut mit der Zunge.

»Vergiss es, Fernando«, sagte er. »Gib mir Terminator II und hör auf zu nerven.«

Don Anselmo, der wie immer an der Kasse stand und ein Baguette mit rohem Schinken, Salat und viel Mayonnaise aß, drehte, nicht ohne einige Mühe, seine Leibesfülle in die Richtung, wo Fernando und Ricky sich unterhielten.

»Gib dem Jungen, was er haben will«, sagte er zu Fernando. »Du bist hier, um die Kunden zu bedienen, nicht um ihnen Vorlesungen in Filmgeschichte zu halten.« Er machte eine brüske Kopfbewegung, als würde er seiner alten Brigade befehlen, endlich anzugreifen, und knurrte: »Na los!«

Kein guter Tag heute, dachte Fernando. Warum musste es solche Tage geben?

»Reg dich nicht auf, Fernandito«, sagte eine befreundete Stimme. »Hör auf deinen Chef.«

Inspektor Colombres kam herein. Der Mann, der mit seinem Spitzenklasse das Mädchen aus seinem Bett verscheucht hatte, nachdem er gesehen hatte, wie Maradona die halbe englische Mannschaft austanzte. Auch er hatte einmal einen schlechten Tag gehabt. Zumindest diesen einen.

Wie alt mochte Colombres sein? Fernando fragte sich das nicht mehr. Er hatte es längst aufgegeben, dieses Rätsel zu lösen. Auch dachte er längst nicht mehr daran, ihn einfach zu fragen: »Wie alt sind Sie, Inspektor?« Was hätte Colombres geantwortet? Fünfundfünfzig? Sechzig? Irgendetwas dazwischen. Oder er hätte geantwortet: »Ich habe kein Alter, Junge. Denk dir eins für mich aus und fertig.« Denn er hatte seinen Stolz. Weshalb er es sich nie verzeihen konnte, dass er die Kleine damals, nach dem Tor von Maradona, aus seinem Bett hatte flüchten lassen. Und alles wegen eines verdammten Modeworts seiner Generation. Aber egal: nach vorn schauen. Er hatte eine andere gefunden. Er mochte junge Frauen, sehr junge Frauen, und er dachte nicht daran, auf ein so vergnügliches Laster zu verzichten. Ja, er hatte seinen Stolz. Färbte er sich etwa nicht – behutsam natürlich – die Haare? Behutsam, weil er sie nicht komplett färbte, auf Teufel komm raus, und sich damit verriet. Nein, er ließ etwas von dem dichten, silbergrauen Haar an den Schläfen und um die Ohren ungefärbt, bis hinauf auf seinen wohlgeformten Kopf. Außerdem färbte er sich den Schnurrbart. Einen üppigen Schnurrbart, der, wie Fernando dachte, das Einzige war, das ihn als den Polizisten kenntlich machte, der er schließlich einmal gewesen war, einen Schnurrbart, der fast seine ganze Oberlippe bedeckte, einen Schnurrbart, den er sicher jeden Morgen vor dem Spiegel sorgfältig stutzte, während er irgendeinen Tango aus den Vierzigern trällerte.

»Erinnerst du dich an den Satz, den der Barkeeper in Casablanca zu der Französin sagte?«, fragte er jetzt Fernando.

Zwei- oder dreimal im Monat lieh sich Colombres Casablanca aus. Eine Gewohnheit, die eine andere nach sich gezogen hatte: Er trug, egal ob es regnete oder nicht, einen Trenchcoat à la Bogart-in-der-Schlussszene-am-Flughafen, wo Bogart zu Ingrid Bergman sagt, Uns bleibt immer noch Paris, dann die tödlichen Schüsse auf Major Strasser abgibt und Claude Rains den famosen Satz sagen hört, der ihn rettet: Verhaften Sie die üblichen Verdächtigen.

»Im Augenblick erinnere ich mich an gar nichts«, erwiderte Fernando, der seinen Ärger und Verdruss nicht verhehlen mochte.

Colombres beugte sich zu ihm hinüber und stützte sich mit seinen großen Händen auf den Tresen.

»Er sagte zu ihr: ›Ich liebe Sie – aber er bezahlt mich.‹ Und tat, was Bogart verlangte.«

»Wenn mein Chef Bogart wäre, würde ich auch tun, was er sagt«, antwortete Fernando mit einem wütenden Seitenblick auf Don Anselmo.

Der knurrte, den erloschenen schwarzen Stumpen wie immer zwischen den Zähnen:

»Soll das eine Beleidigung sein, Bürschchen?«

Bürschchen, wiederholte Fernando im Stillen. Wer in aller Welt gab diesem Geizkragen, diesem Fettwanst das Recht, ihn Bürschchen zu nennen? Vielleicht ein einziger, aber unanfechtbarer Umstand: Er war sein Chef und zahlte ihm seinen Lohn.

Darum sagte er:

»Ich würde niemals wagen, Sie zu beleidigen, Don Anselmo.« Er verzog das Gesicht zu einem fast verächtlichen Lächeln und fügte hinzu: »Ich habe mehr Respekt vor Ihnen als vor King Kong.« Er nahm ein Video aus dem Regal und warf es Ricky zu. »Da, du Penner«, sagte er. »Terminator II. Und pass auf, dass es dir nicht das Gehirn verkleistert.«

Ricky fing das Video geschickt auf. Und mit gespielter Synchronstimme sagte er:

»Weißt du was, Fernando? Ich glaube, das ist das Ende einer wunderbaren Freundschaft.«

Er lachte schallend und ging.

»Und ich muss mir auch noch gefallen lassen, dass er sich über mich lustig macht«, murmelte Fernando.

»Hat er bezahlt?«, fragte Don Anselmo.

»Für diesen Dreck soll er bezahlen?«, gab Fernando zurück.

»Hier wird für alles bezahlt, che!«, brüllte Don Anselmo, der seit seinen ersten Jahren als Schiffspassagen-Argentinier gelernt hatte, viele seiner Sätze mit einem landestypischen che ausklingen zu lassen.

»War nur ein Scherz, Don Anselmo«, beruhigte ihn Fernando. »Er hat gestern eine Zehnerkarte gekauft.« Er drehte sich zum Inspektor um und zwinkerte ihm zu.

Beide lächelten.

»Mit mir hast du nicht solche Scherereien, wie?«, fragte Colombres.

»Sie zu bedienen, Inspektor, ist ein Vergnügen. Gibt es einen neuen Fall?«

»Nichts, mein Junge. Totale Flaute. Na, wenigstens habe ich meine staatliche Pension.« Colombres blickte ihn gespannt an. Dann sagte er: »An dieser Stelle musst du lachen. Das war ein Witz.«

»Das mit der Pension?«

»Richtig. Ich sage: ›Wenigstens habe ich meine staatliche Pension.‹ Und du lachst dich schief.«

»Ha! Ha! Ha!«, machte Fernando. Und fragte: »Gut so?«

»Hervorragend.« Colombres nickte und beschloss, das Thema zu wechseln. »Aber sag mal, hast du irgendwas Neues da, irgendwas Gutes?«

»Der Todeskuss, Inspektor.« Fernando strahlte. »Na? Der Film, dem dieses ehrwürdige Unternehmen seinen Namen verdankt. Heute ist eine neue Kopie gekommen.«

»Der, in dem Richard Widmark die gelähmte Alte die Treppe hinunterstößt?«

»Genau der!«, antwortete Fernando überschwänglich. »Der Todeskuss, Fox, 1947, Henry Hathaway. In dem der grandiose Richard Widmark die gelähmte Alte ermordet, indem er sie die Treppe hinunterwirft.« Plötzlich wurde er bleich. Und sprach weiter, aber wie für sich, abwesend: »Er wirft die gelähmte Alte die Treppe runter und bringt sie um … Er bringt die gelähmte Alte um.« Mit beiden Händen deutete er den entscheidenden Stoß an, während er sagte: »Er stößt sie mitsamt ihrem Rollstuhl hinunter. Er fesselt sie an den Rollstuhl … und gibt ihr einen Stoß.«

Colombres beugte sich zu ihm hinüber und suchte seinen Blick. Er sagte:

»He, Junge, ist was mit dir?«

Fernando schüttelte den Kopf. Er sagte:

»Nein, nichts. Mir kam gerade eine Idee. Eine Idee, Inspektor. Nur eine Idee.«

»Hoffentlich eine gute.«

»Ich glaube … eine sehr gute.«

Und gab Inspektor Colombres das Video von Der Todeskuss.

7. Nelly

Nelly war vierundzwanzig. Dazu besaß sie die wilde, ursprüngliche, unmittelbare, ziemlich ungenierte und ununterdrückbar sinnliche (oder richtiger: sexuelle) Schönheit der Vorstadtmädchen. Sie trug Minirock, schminkte sich stark, kaute pausenlos Kaugummi, erstaunlicherweise selbst beim Sprechen, und wenn das der Fall war, das heißt, wenn sie sprach, tat sie es mit einer rauen Stimme, die einem Busfahrer der Linie sechzig alle Ehre gemacht hätte. Im Übrigen gereichte ihr dies keineswegs zum Nachteil, es verlieh ihr vielmehr eine gewisse – vielleicht unwiderstehliche – Anmut, zumindest in den Augen von Inspektor Colombres, der sich, kaum dass er sie kennengelernt hatte, in sie verliebte und sie zu sich nahm. Was Nelly freudig akzeptierte, denn so wie Colombres an jungen – sehr jungen – Frauen Gefallen fand, fand Nelly ganz entschieden Gefallen an Colombres. Ihr gefiel dieser drahtige ältere Herr mit dem ewig gleichen, abgetragenen Trenchcoat, dieser ältere Herr, dem eine bedächtige, aus Einsamkeit und Misserfolg erwachsene Weisheit anhaftete, dieser ältere Herr, der trotz allem seine Fröhlichkeit nicht verloren hatte und der ganz bestimmt in der Lage war, sie zu beschützen, für sie zu sorgen, ihr Erfüllung zu geben – nicht nur im Bett, sondern, und das vor allen Dingen, im Leben.

Tag für Tag kam Colombres nun aus dem Büro nach Hause, wo sie gemeinsam in der Küche der alten und großzügigen Wohnung zu Abend aßen. Nelly bestand darauf, zu kochen. Als wollte sie Colombres irgendetwas beweisen. Vermutlich, dass sie es konnte. Mehr auch nicht.

Colombres schenkte sich ein Glas Rotwein ein.

»Dieser Junge hat einen richtigen Kinofimmel«, sagte er.

»Du nicht?« Nelly briet gerade ein Schnitzel.

»Nicht ganz so«, relativierte Colombres. Und fuhr fort: »Heute hat er mir von einem Film erzählt … Ich habe ihn mitgebracht. Ein Typ, der eine gelähmte Alte die Treppe hinunterstößt.«

»Was für ein Film? Mit Tom Cruise?«

»Nein, Kleines. Meinst du, Tom Cruise spielt in allen Filmen mit?«

Nelly kaute noch schwungvoller auf ihrem Kaugummi herum. »Schön wär’s«, seufzte sie zwischendurch.

Colombres trank den ersten Schluck von seinem Rotwein. Dann sprach er weiter, als förderte er etwas aus den Tiefen seines Gedächtnisses zutage.

»Ein alter Film. Aber richtig alt. Ich glaube, ich habe ihn in dem Kino gesehen, wo er zum ersten Mal lief. Im Grand Palace. Das existiert natürlich nicht mehr. Fernando kennt sich da aus, er hat mir gesagt, wann das war: 1947.«

Nelly kaute weiter ihr Kaugummi und briet weiter ihr Schnitzel. Vielleicht briet sie es schon etwas zu lange.

»Weißt du, wo ich 1947 war?«, sagte sie. »Da waren es noch zwanzig Jahre, bis meine Alten mich auf die Welt gebumst haben.«

»Drück dich anständig aus, Nelly«, tadelte Colombres sie väterlich. »Sagen wir, es waren noch zwanzig Jahre, bis deine Eltern dich zeugten.«

»Aber verstanden hast du mich, oder?« Nelly zuckte mit den Schultern.

»Verstanden, klar, verstanden habe ich dich«, räumte Colombres ein. »Aber es ist nicht dasselbe, ob man sagt, ›meine Eltern haben mich auf die Welt gebumst‹ oder ›meine Eltern haben mich gezeugt‹.«

»Wenn du mich verstanden hast, ist es dasselbe. Bloß verschiedene Stile«, schloss Nelly. Dann fragte sie: »Und worum ging es in diesem Film?«

Colombres erklärte:

»Der Junge, Fernando meine ich, ist ganz weiß geworden, ganz blass, als er sich an eine Szene des Films erinnerte …«

»Wo der Typ eine gelähmte Alte die Treppe runterstößt?«

»Ja.«

»Tom Cruise stößt sie. Aber nicht die Treppe runter.«

»Das ist eine alte Frau im Rollstuhl!«

»Tom Cruise bumst alle.«

Der Inspektor schenkte sich ein weiteres Glas Rotwein ein. Er dachte: das letzte. Und gleich darauf dachte er: das letzte vor dem Essen. Und danach dachte er: Ich sollte weniger trinken. Und dann sagte er, nachdenklich, die Sache mit Fernando wieder aufgreifend:

»Der Junge tut mir echt leid. Fernando meine ich. Morgens schuftet er in einem Videoladen. Und der Besitzer triezt ihn ziemlich. Und nachmittags arbeitet er in einer Produktionsfirma.«

»Hat er eine Freundin?«, fragte Nelly. Und grenzte die Frage weiter ein: »Bumst er?«

»Soviel ich weiß, nicht. Er ist sehr allein. Wenn die Filme nicht wären …«

»Dann hilf ihm. Du bist sein Freund, oder? Sag ihm einfach: ›Junge, Filme sind nicht alles im Leben. Man muss auch mal bumsen.‹«

»Und … wie soll ich ihm das sagen?«

»Wenn du willst, sag ich es ihm.«

»Und wie sagst du es ihm?«

»Vergiss es, soll er sich’s selbst besorgen.« Sie nahm das Schnitzel aus der Pfanne, triefend von Öl so dunkel wie die Abgründe eines Alptraums, und beförderte es bis zu Colombres’ Teller. Dort ließ sie es fallen. Und sagte: »Essen ist fertig, der Herr.«

»Ist das ein Schnitzel?« Colombres sinnierte.

»Ein Schnitzel.«

»Sieht aus wie ein Toastbrot.«

»Ich hol dir Butter und Milchkaramell, und du isst es zum Kaffee, ja?«

»Ach Nelly, und du willst kochen können?«

Nelly knallte die Pfanne achtlos auf die noch brennende Flamme. Das schwarze Öl begann zu qualmen. Dann stemmte sie die Arme in die Hüften, schaute Colombres fest in die Augen und sagte:

»Was hast du denn geglaubt, Inspektor Colombres? Ein Früchtchen wie mich aufreißen, das auch noch kochen kann?«

»Nenn mich nicht alten Knacker«, wies Colombres sie listig zurecht.

»Ich habe nicht alter Knacker zu dir gesagt. Ich habe gesagt, ich bin ein junges Ding. Und das eine …«

»Bedeutet nicht zwangsläufig das andere.«

»Bedeutet nicht zwangsläufig das andere.«

»Siehst du? Jetzt sprichst du schon wie ich.« Der geschmeichelte Colombres war schon zufriedener.

Nelly setzte sich auf seine Knie. Sie legte die Arme um seinen Hals. Colombres wusste, dass an ihren Fingern bestimmt etwas von dem dunklen Öl, mit dem sie das Schnitzel verkohlt hatte, klebte und dass sie jetzt Flecken auf sein Hemd machen würde, aber es war ihm egal. Nelly sagte: »Klar doch, Inspektorchen. Du gefällst mir. Wieso bin ich sonst hier?«

Sie nahm das Kaugummi heraus, drückte es auf das Schnitzel und küsste ihn wild auf den Mund, wobei sie, nicht ohne eine gewisse Übertreibung, ihre feuchten und sehr roten Lippen öffnete. Als er wieder bei Sinnen war, fragte Colombres:

»Sag mir, Kleines, warum gefalle ich dir so?«

»Willst du das echt wissen?«

»Echt.«

»Weil, wenn Tom Cruise über fünfzig ist, sieht er genauso aus wie du.«

Colombres wurde unruhig. »Liebst du jetzt mich oder das morsche Abbild von diesem Lackaffen?«

Nelly lächelte.

»Dann muss ich wohl deutlicher werden«, sagte sie.

Worauf sie ihn noch einmal küsste. Noch feuriger als vorhin.

Colombres dachte: Mit Essen wird das heute nichts.

Bevor er ins Schlafzimmer ging, drehte er am Herd das Gas aus und warf das verkohlte Schnitzel in den Mülleimer. Er hörte Nellys Stimme: »Beeil dich, Inspektor.«

Er beeilte sich.

8. Eine Frage von Jack the Ripper

Fernandos Mittage waren kein High noon: Er verließ die Videothek, ging nach Hause, aß ein Sandwich, trank eine Coca-Cola, zog sich einen Anzug, Hemd und Krawatte an und begab sich so, mit seiner Nickelbrille, seinen langen und lässigen Haaren, dafür aber mit einem definitiv faden Yuppie-Look, zu seiner zweiten Beschäftigung.

Gerade rasierte er sich, nicht besonders sorgfältig, mit einem elektrischen Rasierapparat, dessen unaufhörliches Brummen ihn nicht daran hinderte, drei Schläge, die man schwerlich zaghaft hätte nennen können, drei, um genau zu sein, brutale Schläge an der Tür seines Zimmers zu hören. Er brauchte sich nicht zu fragen, wer das war. Es war der böse Wolf, der da vor Wut schnaubte. Ob er sein kleines Häuschen zertrümmern würde?

»Beeil dich, oder du kommst zu spät, du Versager!«, hörte er. »Kümmer dich wenigstens um das bisschen, was du hast!«

Er antwortete nicht. Dennoch schaltete er den Rasierapparat aus und spitzte die Ohren. So hörte er das Quietschen – weder besonders schrill noch allzu laut – des Rollstuhls seiner Mutter. Zum Glück entfernte es sich.

gründlichverrückte