Cover

Über dieses Buch

Eine Besserungsanstalt für weibliche Jugendliche in den Weiten der argentinischen Pampa, eine attraktive, grausame Aufseherin, ein überforderter Direktor und Anna, die kleine Anna, in ihrer Schneiderwerkstatt auf der Suche nach der perfekten Puppe. Und ein Erzähler, der, um in eine Krimi-Anthologie aufgenommen zu werden, dem Verleger verspricht, ein nie da gewesenes Fest des Schreckens zu feiern.

So kommt es auch. Doch es kommt auf leichten Füßen daher, mit stilistischer Finesse und als großartiges literarisches Verwirrspiel. Ein hochvergnüglicher Krimi – rabenschwarz, voller Witz und spannend bis zum überraschenden Schluss.

»Ein furioser Einstand auf dem deutschen Buchmarkt!« (Der Spiegel)

»Der geistreichste, witzigste, spannendste, verquerste Roman seit Flann O'Briens ›Der dritte Polizist‹(Rheinischer Merkur)

»Ein geniales Buch.« (Zitty)

Der Autor

José Pablo Feinmann wurde 1943 in Buenos Aires geboren. Der Romancier, Journalist, Drehbuchautor und Philosoph ist Leitfigur einer Generation jüngerer argentinischer Schriftsteller. Neben zwölf Romanen schrieb er zahlreiche Essays und philosophische Abhandlungen, er ist Kolumnist der Tageszeitung »Página 12« und moderiert seit 2010 die vielbeachtete Fernsehsendung »Filosofía aquí y ahora«. Er hat mit prominenten Regisseuren zusammengearbeitet, darunter Eduardo de Gregorio und Hector Oliveira; zwei seiner Romane wurden verfilmt.

Der Übersetzer

Thomas Brovot, geb. 1958, übersetzt aus dem Spanischen und Französischen, u. a. Juan Goytisolo, Federico García Lorca, Mario Vargas Llosa, Joann Sfar. Für seine Übersetzungen wurde er mehrfach ausgezeichnet.

José Pablo Feinmann
Die unmögliche Leiche

Kriminalroman

Aus dem argentinischen Spanisch von Thomas Brovot

Edition diá

Inhalt

Einziges Kapitel

Postskriptum

Bibliographie

Impressum

Für María Julia und,
ganz besonders, Nicolás

Einziges Kapitel

Brief an den Verleger

Sehr geehrter Herr Verleger,

ich bin ein Mensch, der abgeschieden lebt, weit weg. Und weit weg nicht nur von der blendenden Welt der Literatur mit ihren Fürsten und Höflingen, sondern auch weit weg, abgeschieden von der Welt im Allgemeinen. Und wenn jemand so etwas sagt, also: die Welt im Allgemeinen, dann wissen Sie, was er damit meint: Er meint die Leute, Herr Verleger, die anderen. Schön, von ihnen, ihren Nöten und ihrem Drängen lebe ich also weit entfernt. Man könnte daher sagen, dass die außergewöhnlichen Ereignisse, die ich Ihnen in diesem Brief erzählen möchte, jeden anderen Menschen hätten betreffen dürfen, nur nicht mich. Trotzdem bin aber ich betroffen. Und wenn ich einen Satz geschrieben habe, der, so vermute ich, Ihre feine literarische Nase beleidigt, wenn ich geschrieben habe, Herr Verleger, außergewöhnliche Ereignisse, dann weil die Ereignisse dies waren: außer-gewöhnlich. So wie es auch, und man möge mir die hochtönenden Worte verzeihen, der Brief ist, den Sie gerade in Händen halten.

Trotz meiner abgeschiedenen Lebensweise ist eine beflügelnde Nachricht bis zu mir gedrungen: Ihr Verlagshaus bereitet eine Anthologie argentinischer Kriminalgeschichten vor. Bravo, Herr Verleger! Desgleichen weiß ich, dass Sie für dieses Unternehmen eine Reihe von Schriftstellern eingeladen haben, die gewöhnlich mit Geist und literarischer Qualität aufwarten.

Dennoch habe ich, warum es länger verschweigen, eine Gewissheit: Meine Kollegen (wenn man mir erlaubt, sie so zu nennen) werden Ihre Anthologie mit geistvollen Begebenheiten spicken, sprachlichen Kunststückchen, exotischen Gefilden, chinesischen – mutmaße ich – Vierteln und der einen oder anderen Leiche. Aber niemand, Herr Verleger, keiner von ihnen wird so viel Blut, so viele Verbrechen, so viele Verstümmelungen, kurz: so viele Tote zu bieten haben wie ich. Nehmen Sie also all Ihren Mut zusammen, lesen Sie weiter und feiern Sie dieses Fest des Schreckens.

Ich bin nicht der Held dieser Geschichte, aber ich bin ihr allernächster Zeuge. Und als solcher werde ich ihr Erzähler sein. Der Erzähler dieser Geschichte, nicht mehr und nicht weniger. Sie werden sich fragen: Ja was für eine Geschichte ist denn das? Ich werde es Ihnen sagen: Es ist die Geschichte einer Verführung. Ich schreibe, um Sie zu belügen, zu blenden, zu verführen. Mein literarisches Programm ist allein dies: Ich will in Ihre angesehene Anthologie aufgenommen werden, und ich werde nicht einen Tropfen Blut sparen, um es zu erreichen. So beginne ich hier nun also die atemberaubende Schilderung der Verbrechen, die Sie mit all Ihren Sinnen in Bann schlagen werden.

Sie wird Anna heißen. Ein kurzer Name, ich weiß. Aber zwangsläufig kurz, Herr Verleger. Denn sie wird die ganze Erzählung hindurch die kleine Anna sein. Und kleine ist, würde ich sagen, fast schon ein längeres Wort. Sie wird also ganz kurz Anna heißen, damit wir die kleine Anna zu ihr sagen können, ohne über das Ziel hinauszuschießen, ohne in irgendeine Maßlosigkeit zu verfallen, zumindest in dieser Hinsicht, denn in anderer wird es in dieser Geschichte an Maßlosigkeiten nicht mangeln, Herr Verleger, jawohl, und die erste schreit schon danach, erzählt zu werden.

Am Anfang von Anna, der kleinen Anna, steht das tiefste Entsetzen, die tiefste aller seelischen Verwundungen (ich sträube mich, Traumata zu schreiben). Wir brauchen eine große erschütternde Anfangsszene. Anna muss etwas sehen, was sie für ihr Leben zeichnet. Und zwar folgendermaßen: Sie wird ihre Mutter mit einem Unbekannten huren sehen (ein starkes, biblisches und treffendes Wort, Herr Verleger). Wo? Nehmen wir einen Ort: auf dem Küchentisch. Die kleine Anna (die hier, bei dieser ersten großen erschütternden Szene, neun Jahre alt ist) steht aus ihrem Bett auf, weil sie seltsame Jammerlaute gehört hat. Es ist zwei Uhr nachts. Anna lebt allein mit ihrer Mutter in einem bescheidenen Haus in einem Vorort von Buenos Aires. Nehmen wir an, sie hat ihren Vater nie kennengelernt, einen der vielen flüchtigen Liebhaber der Frau, die jetzt wie wild in der Küche hurt. Anna geht langsam und schweigend bis hierher. Bis in die Küche, nicht? Und da bietet sich ihr dieses danteske Bild. (Ich hebe einige Adjektive hervor, die für Ihren literarischen Geschmack vielleicht allzu deutlich sind, die ich aber, das verspreche ich, in der endgültigen Fassung streichen werde, sobald Sie mich autorisieren, die Erzählung für Ihre Veröffentlichung zu schreiben.) Ich schrieb also, dass das Bild, das sich der kleinen Anna bot, genau so war, wie ich bereits sagte: dantesk. Dort, auf einem schlichten und massiven Holztisch, liegt ihre Mutter, ihre herzensgute und heißgeliebte Mutter, die Beine gespreizt, die Kleider in grässlicher Unordnung, das lange Haar offen, einem Sturzbach gleich, mit verlorenem Blick, ihr keuchender Mund zu einer unfassbaren Grimasse verzerrt. Sie stöhnt, scheint zu leiden. Zumindest für die kleine Anna ist das auf der Stelle klar: Ihre Mutter leidet. Auf ihr, auf ihrer Mutter, zappelt ein Mann. Ein halb angezogener Mann. Ein aggressives, unbarmherziges Ungeheuer, das nicht aufhört, ihrer Mutter zwischen den Beinen wehzutun. Dort, wo aller Schmerz der Welt herzukommen scheint.

Schon gut, ich werde mich kurz fassen: Die kleine Anna öffnet eine Schublade, nimmt ein riesiges Messer heraus und rammt es siebenmal in den Rücken des flüchtigen Hurers. Dieser, der flüchtige Hurer, schafft es trotzdem, auf die Beine zu kommen – ein wenig taumelnd, klar – und seine großen Hände – seine Pranken? – in Richtung Hals der kleinen Anna auszustrecken. Er sieht tatsächlich zum Fürchten aus: Er hat weit aufgerissene Augen und blutet aus Nase und Mund. Mit einem Heulen zwischen Raserei und letztem Röcheln stürzt er sich auf Anna. Unsere Kleine schwankt nicht. Sie hasst den flüchtigen Hurer und wird kein Erbarmen mit ihm haben. So dass sie ihm also das Messer auch noch in den Bauch stößt. Und jetzt allerdings, vielleicht einleuchtend, stirbt der flüchtige Hurer.

Nicht einleuchtend dagegen ist, was die Mutter der kleinen Anna tut. Zumindest für die kleine Anna ist es das nicht, einleuchtend. Denn statt ihr dafür zu danken, dass sie sie von einem solchen Ungeheuer (dem flüchtigen Hurer eben) befreit hat, fängt sie an, sie zu beschimpfen, mit unflätigen Ausdrücken, die so unflätig sind, dass ihre Bedeutung sich dem Verständnis der unschuldigen Anna entzieht: ihre Bedeutung, nicht ihr Sinn. Anders gesagt: Die kleine Anna nimmt den bedrohlichen Sinn wahr, der in diesen Worten mitschwingt. Kurzum, Herr Verleger: Die kleine Anna begreift, dass ihre Mutter böse auf sie ist. Sagen wir sogar wütend. Und mehr noch begreift sie das – mehr noch, meine ich, begreift sie diese Wut ihrer Mutter –, als sie sieht, wie sie sich auf sie wirft und dabei einen fürchterlichen Schrei ausstößt und mit ihren scharfen und funkelnden Nägeln nach ihrer Kehle (der zarten und weißen Kehle der kleinen Anna) greift. Beide Frauen, Mutter und Tochter, stürzen jetzt ineinandergeschlungen auf den groben Fliesenboden dieser tragischen Küche.

An dieser Stelle sollte ich, glaube ich, etwas erklären: Anna, die Kleine, hat ihr riesiges Messer nicht im Bauch des flüchtigen Hurers steckenlassen. Sie hat es dort hineingestoßen, das stimmt, aber dann hat sie es rasch und sauber wieder herausgezogen. Sie umklammert es also noch mit ihrer zähen kleinen Faust. Sie umklammert es, während sie sich mit ihrer Mutter auf dem groben Fliesenboden dieser, ich bleibe dabei, tragischen Küche wälzt. Doch jetzt – plötzlich und todbringend? – umklammert sie es nicht mehr. Jetzt, Herr Verleger, steckt das Messer bis ans fettige und blutige Heft mitten in der Brust dieser wildgewordenen, rachsüchtigen, hurenden Mutter. Und die kleine Anna schlägt ihre Augen unendlich weit auf und betrachtet das grauenerregende Schauspiel, das sich ihren Augen bietet. (Ich glaube, diese Passage ist noch nicht sehr gelungen, aber ich will versprechen, sie zu bearbeiten, sobald ich die Erzählung schreibe, die Sie, darauf vertraue ich, veröffentlichen werden.)

Was sieht die kleine Anna? Was für ein Schauspiel ist es, das – von der Erde aus, denn noch liegt sie dort: hingestürzt auf den groben Fliesenboden dieser, und ich sage es zum letzten Mal, tragischen Küche – ihre unendlich weit geöffneten Augen sehen? Anna sieht ihre Mutter, Herr Verleger, sieht, wie sie auf die Beine kommt, sieht (und hört selbstverständlich), wie sie heult, vor Wut und vor Schmerzen, wie sie mit ihren (beiden?) Händen das Messer packt und versucht, es sich aus der Brust zu reißen, sieht, wie sie sich das Messer endlich herausreißt, sieht (auch), wie dunkles, dickes Blut aus dieser Brust quillt, der Brust ihrer Mutter, und sieht, wie sie schließlich tot, mausetot, auf dem groben Fliesenboden dieser, sagen wir: schicksalhaften Küche der Länge nach hinschlägt.

Und das habe ich gut gesagt, Herr Verleger: schicksalhaft. Denn das Schicksal hat – Sie werden es nicht leugnen – viel zu tun mit dem starken Anfang dieser Geschichte. Denn Anna hat ihre Mutter nicht töten wollen: Es ist das Schicksal gewesen. Sie, Anna, wollte sie nur beschützen vor diesem lüsternen und gewalttätigen Ungeheuer, dem flüchtigen Hurer. Sie hat sie leiden sehen und wollte ihr das Leiden ersparen. Doch das Schicksal hat alles auf den Kopf gestellt: Anna hat ihrer Mutter das schlimmste, wenngleich letzte aller Leiden zugefügt: den Tod. Jetzt hält sie sie in ihren kleinen Armen und weint. Und während sie weint, Herr Verleger, flüstert sie, unhörbar, oder fast:

»Mama … Mama …«

Hier endet unsere große erschütternde Anfangsszene. (Ihr heller Verstand wird längst bemerkt haben, dass ich nicht nur gewisse Adjektive zweifelhaften Geschmacks hervorhebe, sondern auch Satzteile, Begriffe oder einfach irgendwelche Wörter, deren Sinn ich, wie soll ich sagen, eben hervorheben möchte.) Was, werden Sie sich fragen, tut nun die kleine Anna? Beruhigen Sie sich: Ich werde auf alle Ihre Fragen antworten, nicht umsonst habe ich die Rolle des Erzählers dieser Geschichte übernommen.

Anna betrachtet lange Minuten die Leiche ihrer Mutter und die des flüchtigen Hurers. Sie sind nah beieinander hingefallen. So nah, dass man meinen könnte, sie hätten sich gesucht. Mehr noch: sie hätten die letzte Umarmung gesucht. Die Umarmung des Todes. Das macht die kleine Anna wütend. So sehr begehrten sich ihre Mutter und der flüchtige Hurer? Bis über den Tod hinaus? So groß ist die Macht des Fleisches? So mächtig das Begehren der Körper?

Fragen sind das, die die kleine Anna nicht beantworten kann. Sie stürzen sie nur in einen Nebel der Verwunderung und stacheln ihren Zorn an. Einen Zorn, der aus dem Unbegreiflichen erwächst, aus einem Dunkel der menschlichen Natur jenseits dessen, was für dieses Kind mit dem Verstand zu fassen ist, das, wir dürfen es nicht vergessen, erst neun Jahre alt ist.

Sie beschließt, das Haus in Brand zu stecken. Das Feuer wird diese unersättlichen Leiber reinigen, wird auch reinigen, was die kleine Anna mit ihnen getan hat: sie hat sie getötet.

Sie braucht diese, sagen wir: tödliche Küche nicht zu verlassen, um zu finden, was sie braucht. Sie nimmt aus der Speisekammer eine Flasche Petroleum. Zum Glück ist sie fast voll. Und ganz vorsichtig, mit sicherer, unerbittlicher? Hand schüttet sie den Inhalt dieser zum Glück, wir sagten es bereits, fast vollen Flasche: wohin, Herr Verleger? Ist doch klar: über die am Boden liegenden Körper ihrer Mutter und des flüchtigen Hurers.

Danach hält sie inne. Schwankt sie? Eine Sekunde vielleicht, aber nicht länger, denn jetzt lässt sie etwas fallen auf den Boden dieser, wir erinnern uns: tragischen, schicksalhaften und tödlichen Küche. Was lässt sie auf den Boden fallen, Herr Verleger? Richtig: die unheilvoll leere Flasche Petroleum, die am Boden dieser s. o. Küche in tausend Stücke springt. Und dann, ganz fiebrig, läuft Anna zu einem Schrank und öffnet eine Schublade und noch eine und noch eine, bis sie eine Schachtel Streichhölzer findet.

Worauf sie eins anzündet.

Die Flamme erhellt nun ihr trotziges Gesicht. Anna weicht ein paar Schritte zurück, einen, zwei, drei, und entfernt sich vorsichtig von den Körpern ihrer Mutter und des flüchtigen Hurers, während sie das flammende Streichholz mit zwei Fingern ihrer Rechten hält. Wird sie es wagen? Vielleicht denken Sie jetzt: Sie wird es nicht wagen. Und vielleicht denken Sie das, weil Sie sich mit Ihrem guten Gedächtnis daran erinnern, dass ich Ihnen gesagt habe, unsere große erschütternde Anfangsszene sei zu Ende. Nun denn, sie ist es nicht. Ich korrigiere mich: Sie ist nicht zu Ende. Wie sollte sie zu Ende sein ohne ein großes Feuer? Denn eigentlich, und Ihnen kann ich das ja sagen, ist keine Szene wirklich groß und erschütternd, wenn sie kein großes Feuer aufzuweisen hat, oder? Ansichtssache.

So dass sie also immer noch dort steht, in dieser s. o. Küche, das flammende Streichholz in ihrem Händchen. Und sie wagt es: Sie wirft das Streichholz auf die petroleumfeuchten, besser: petroleumgetränkten Körper ihrer Mutter und des flüchtigen Hurers. Und eine gewaltige, endgültige Flamme schlägt empor, und die kleine Anna weicht zurück, erschrocken vielleicht über die Ungeheuerlichkeit ihrer Tat, und das Feuer verzehrt die Körper ihrer Mutter und des flüchtigen Hurers, und die Flammen spiegeln sich in den aufgerissenen Augen unserer Kleinen, die immer weiter zurückweicht, und jetzt tritt sie aus der Küche heraus, langsam, während die Flammen schon nach dem Dach züngeln, während die Apokalypse wahr wird, und schon stürzen krachend die glühenden Balken herab, und schon ist das ganze Haus ein Flammenmeer, eine rote Agonie, die sich zum Himmel erhebt wie eine nackte Höllenhand. [1]

Was ihr eigenes Leben betrifft, so hat Anna nicht gezögert, es zu retten. Warum sollte sie, klein und unschuldig, auch auf diesem teuflischen Scheiterhaufen sterben? So dass sie also immer weiter zurückgewichen ist. Und zwar so weit, dass sie jetzt vom gegenüberliegenden Bürgersteig aus die prasselnde Zerstörung betrachtet. Von ferne ist eine Sirene zu hören. Jemand hat die Feuerwehr gerufen. Die Nachbarn umringen unsere Kleine; kein Wort kommt über ihre Lippen. Zwei langsame Tränen kullern über ihre Wangen. Eine für ihre Mutter und die andere für den flüchtigen Hurer? Nein, beide für ihre Mutter, denn es ist der Tod der Mutter, der Anna leiden lässt.

Ein Nachbar sagt zu ihr:

»Kopf hoch, Anna.«

Doch Anna lässt den Kopf hängen. Und jetzt, unhörbar, oder fast, murmelt sie:

»Mama … Mama …«

So steht sie da, ganz steif, und starrt in die Feuersbrunst, ihr Gesicht heiß und gerötet, und zwei weitere langsame Tränen kullern über ihre Wangen, und noch zwei, dann wieder zwei, wahrscheinlich viele, viele langsame Tränen, denn der Schmerz, den unsere Kleine über den Tod ihrer Mutter empfindet, ist unendlich, genauso unendlich wie der Ekel, den der abscheuliche Geruch dieser verkohlten Leichen in ihr erregt, so unendlich wie das Gefühl von Verlassenheit, das sie beim Anblick ihres lichterloh brennenden Hauses überkommt, denn ihr Haus ist ein Flammenmeer, eine rote (ich bestehe darauf) Agonie, die sich zum Himmel erhebt wie eine nackte Höllenhand.

Feuerwehr und Polizei treffen ein. Scheinwerfer, Geräusche, Flüche, Befehle, Aufregung.

Ein Polizist tritt an die kleine Anna heran. Er zeigt auf das brennende Haus und fragt:

»Hast du da gewohnt?«

Unsere Kleine nickt leicht mit ihrem Köpfchen. Und sagt:

»Ja.«

Und jetzt allerdings ist unsere große erschütternde Anfangsszene zu Ende.

Was haben wir bisher? Was habe ich Ihnen geboten, Herr Verleger? Nicht wenig, will ich meinen. Rekapitulieren wir: Ein Mädchen, das mitten in der Nacht aufwacht, ein stürmischer, wilder Geschlechtsakt, zwei erstochene Menschen, ein entsetzlicher Brand, der (abscheuliche) Geruch von zwei verkohlten Leichen und die (langsamen) Tränen eines zitternden, für den Rest ihres Lebens verlassenen Mädchens.

Ich hätte Ihnen, da bin ich mir sicher, noch mehr bieten können. Und ich will nur ein Beispiel nennen, damit Sie die unendlichen Möglichkeiten der Kunst des Erzählens ermessen. Ich hätte Ihnen, und hier nun das Beispiel, erzählen können, wie einer der brennenden Balken sich von der Decke löste und der kleinen Anna – krachend? – auf ein Bein fiel. Was hätte ich dann am Ende? Caramba, sehen Sie das nicht? Ich hätte am Ende eine hinkende kleine Anna. Hinkend für immer. Können Sie sich die Kleine so vorstellen? Die große erschütternde Anfangsszene hätte dann nicht nur die Seele unserer kleinen Anna gezeichnet, sondern auch ihren Körper.

Was meinen Sie?

Soll ich, oder soll ich nicht?

Haben wir nun eine hinkende kleine Anna oder nicht?

Nehmen wir einfach an, dass ich die Idee im Hinterkopf behalte, dass ich sie mir aufhebe, dass ich nur auf sie zurückgreifen werde, wenn die Erzählung Schwächen zeigt, wenn ich spüre, dass das Grauen noch nicht ausreicht, um Sie davon zu überzeugen, dass eine Aufnahme in Ihre Anthologie unumgänglich ist. Dort bleibt sie also. Im Hinterkopf. Die kleine Anna wird hinken, wann immer der Schrecken und die Maßlosigkeit dies erfordern. [2]

Fahren wir fort. Wie sieht das unmittelbare Los unserer Kleinen aus? Hier betreten wir eine Nebelzone der Erzählung. Es müssen Tage vergehen, Wochen, Jahre gar! Stellen wir zunächst jedoch eines klar: Die Polizeibehörden, die sich Annas angenommen haben, wissen sehr wohl, dass sie, Anna, ihre Mutter und den flüchtigen Hurer umgebracht hat. Klipp und klar stellen sie diese Tatsache an dem Blut fest, das an ihren Händen klebt. Und noch klipp und klarer stellen sie es fest, als ein Inspektor sie fragt:

»Hast du deine Mutter getötet?«

Und Anna antwortet:

»Ja.«

Und als der Inspektor sie fragt:

»Hast du den Mann getötet, der bei ihr war?«

Und Anna antwortet:

»Ja.«

So dass für sie also kein Zweifel mehr besteht: Ja, Anna hat sie getötet.

Wie vorherzusehen, rufen die Polizeibehörden einen Psychologen. Wie vorherzusehen, betrachtet der Psychologe unsere kleine Anna, stößt den Rauch seiner Pfeife aus und fragt:

»Warum hast du deine Mutter getötet?«

Anna antwortet nicht.

Und wie vorherzusehen, sperren sie sie schließlich in eine Besserungsanstalt für junge Frauen.

Ich sagte bereits, dass wir hier eine Nebelzone der Erzählung betreten. Tatsächlich muss Zeit vergehen. Wir brauchen einen zeitlichen Übergang. Anna muss von einer Anstalt in eine andere überführt werden. Unterdessen wächst sie.

Aber es ist nicht nötig, dass wir sie wachsen sehen, denn genau wie im Film (ich bin ein großer Kinofreund, Sie auch?) werden wir hier eine Tafel einblenden. Auf der Tafel wird stehen:

FÜNF JAHRE SPÄTER [3]

Wir treffen die kleine Anna in der kleinen Stadt Coronel Andrade wieder. (Beachten Sie die Symmetrie: eine kleine Stadt für die kleine Anna.) Die Stadt wurde 1829 von einem Oberst gegründet, der einen nicht vorhandenen, oder zumindest nicht auffindbaren, Feind quer durch die Wüste verfolgte. Bei dieser Suche verlor er den Verstand und fing an, seine eigenen Soldaten zu töten. So dass wir auch in den Ursprüngen dieser kleinen Stadt eine Geschichte von Wahnsinn und Verbrechen finden. Ist das nicht eine passende Umgebung für die zukünftigen Abenteuer der kleinen Anna? Einigen wir uns darauf.

Allerdings ist die Umgebung, die wahre Umgebung für diese zukünftigen Abenteuer nicht die kleine Stadt Coronel Andrade, sondern das Grandhotel Coronel Andrade. Sie werden sich fragen: Warum sollte eine kleine Stadt ein Grandhotel haben? Caramba (Sie erlauben, dass ich diesen Kraftausdruck benutze?), strengen Sie Ihre Fantasie an, so etwas ist nicht schwer zu begründen. Nehmen wir zum Beispiel an, dass die kleine Stadt Coronel Andrade irgendwann in ihrer Geschichte einmal in den Genuss eines Erdölförderungsprogramms kam. Es zeichnete sich dort (fünfzig Jahre zuvor?) eine Zukunft in unermesslichem Wohlstand ab. Und inmitten dieser Euphorie wurde das Hotel gebaut. Ein Luxushotel für die Investoren, die cleveren, ehrgeizigen Männer, die aus Buenos Aires herbeieilten. So gesehen war das Hotel die Frucht einer Hoffnung: Aus Coronel Andrade, dem etwas mehr als zweihundert Kilometer von Buenos Aires entfernt liegenden Städtchen, sollte ein Zentrum des Wohlstands und Finanzgeschehens mit einer leuchtenden Zukunft werden.

Doch alles brach zusammen. Es gab kein Öl.