Epub cover

Barbara Kalender und Jörg Schröder

KRIEMHILDS LACHE

Neue Erzählungen aus dem Leben
   

Illustriert von F. W. Bernstein

Editorische Notiz

Fast alle Stücke dieser Sammlung stammen aus unserem Opus magnum »Schröder erzählt« (1990 bis 2013 ff.). Wir haben sie für »Kriemhilds Lache« ausgewählt und redigiert. Das wechselnde literarische Ich ist unserer Erzähl- und Schreibgemeinschaft geschuldet. Denn nahezu sämtliche Erzählungen entstehen aus Gesprächen, die wir aufnehmen. Diese Tonbandaufnahmen werden anschließend transkribiert und von beiden Autoren redigiert.

In der Kommasetzung haben wir deutlich gemacht, ob wir Adjektive als gleichrangig verstanden wissen wollen oder nicht. Damit wurde versucht, den Duktus des Redeflusses zu erhalten, aus dem die Erzählungen entstanden sind.

B.K. / J.S.


Impressum und Copyright

Erste Auflage

Verbrecher Verlag Berlin 2013

www.verbrecherverlag.de

© Verbrecher Verlag 2013


Lektorat: Kristina Wengorz

Satz und Ebook-Erstellung: Christian Walter


ISBN Print: 978-3-943167-39-9

eISBN Epub: 9783943167603

eISBN Mobipocket: 9783943167610


Der Verlag dankt Adelheid Diewald und Fabian Scholz.

Erst mal ins Unreine

Eigentlich hätte dieses Buch gar nicht erscheinen können, allenfalls als Blindband mit Trauerrand. Der Reihe nach: Sonntagnachmittag waren wir mit Matthias Mergl und Wolfgang Müller zum Essen im Biergarten des neuen Lokals Drei Schwestern im Bethanien verabredet. Barbara bügelte nur noch schnell ihre lila Bluse, denn wir waren etwas spät dran und beeilten uns, die S-Bahn zu erwischen.

Fast pünktlich kamen wir im Kreuzberger Biergarten an, aßen eine hafergemästete Poularde mit einem Gratin Dauphinois à la Curnonsky und glacierten Möhren. Selten so einen saftigen Vogel in einem einfachen Gasthaus gegessen! Wir lästerten über trittbrettfahrende Künstler, vergoldeten unsere eigenen Projekte und machten uns nach einigen tschechischen Bieren beschwipst auf zur Bar Marianne.

Halt! Vorher trafen wir noch in der Halle des Bethanien den Wirt der Drei Schwestern und fragten ihn, was der seltsame Name des Lokals bedeute. Er erklärte uns, dass sich sein Gasthaus im Speisesaal des ehemaligen Krankenhauses befinde und natürlich die Küche sowie das Casino von Diakonissinnen geleitet wurden, daher der Name. Klar, hätten wir eigentlich auch selbst drauf kommen können. Im Bethanien befindet sich auch immer noch die denkmalgeschützte Apotheke Theodor Fontanes. »Außerdem«, sagte der Gastronom, »mein Partner liebt das Drama ›Drei Schwestern‹ von Anton Tschechow.« Also ein doppelt konnotierter Lokalname.

Im Hinterhof der Bar Marianne – ein stilles Plätzchen im brodelnden Kreuzberg – saßen wir vier allein in der lauen Sommernacht und redeten bei Fassbrause und Tannenzäpfle über alte Zeiten. Dann nahmen wir die U-Bahn zur Hermannstraße und die Ringbahn zum Bundesplatz. Um halb elf saßen wir auf dem Sofa und tranken als Absacker einen Sherry, neben uns ein bisschen Unordnung, das Plättbrett stand noch rum von unserem raschen Aufbruch am Nachmittag.


Wir schliefen friedlich, frühstückten ausgiebig auf der Terrasse, lasen FAZ und taz. Als wir mit der Arbeit beginnen und ich das Plättbrett wegbringen wollte, verbrannte ich mir die Finger am Bügeleisen. Es war glühend heiß, heizte also seit siebzehn Stunden vor sich hin. Barbara hatte in der Eile den falschen Netzstecker aus der Leiste gezogen. Aber nichts war passiert! Die nichtentflammbare Plastikkonsole des Bügelbretts war nicht entflammt. Das heiße Bügeleisen war nicht auf den Holzboden gerutscht, obwohl wegen der Vibrationen, welche die LKW auf der Wexstraße verursachen, ständig unsere Bilder an den Wänden schief geruckelt werden.

Horrorszenarien von nicht ausgeschalteten Bügeleisen, von Toten in ausgebrannten Dachstühlen, Wohnzimmerbränden und Häusern in Flammen, gar nicht zu reden von so genannten Sach-⁠, Rauch- und Rußschäden, beschäftigten uns. Und wir fragten uns auch: »Ob wir jetzt nicht noch einmal von Neuem anfangen müssen?« Wie der Oberstleutnant Werschinin, der Liebhaber einer der »Drei Schwestern« in Tschechows Drama, es sich laut nachdenkend überlegt: »Aber dann mit Bewusstsein! Wenn das bereits durchlebte Leben nur der Entwurf, also die Skizze wäre, wie man so sagt: ›Erst mal ins Unreine.‹ Und wenn das neue Leben dann das ›reine‹ wäre! Dann würde sich doch jeder bemühen, vor allem sich nicht zu wiederholen. Und würde sich vermutlich eine andere Umgebung schaffen.« Na ja, vielleicht. Aber weiter über das neu geschenkte Leben nachzudenken blieb uns keine Zeit, erst einmal mussten wir ja dieses kleine Stück schreiben.

Languages spoken

Unser kretischer Freund Christos führte seinen Nachnamen Ermis – also Hermes – zu Recht, denn ihm gehörte das Pantopoleion, eine Mischung aus kleinem Supermarkt und Tante-Emma-Laden. Er hatte alles! Hauptsächlich aber den Traum, seine Klitsche zu einem großen Supermarkt auszubauen. Er wohnte mit seinen Eltern im ersten Stock über dem Geschäft. Gleich links daneben war eine Taverne und rechts vom Laden, nur durch einen schmalen Weg zum Strand getrennt, gab es ein Kafenion. Christos saß abwechselnd bei seinen Nachbarn, mal auf der einen, mal auf der anderen Terrasse, im Schatten der Markise und trank Kaffee, während seine Mutter die einheimischen Frauen bediente. Doch wenn ein Fremder – vor allem aber eine Fremde – sein Pantopoleion betrat, sprang er auf und übernahm die Beratung. Er war ein Sprachgenie, wie es dies vermutlich nur bei den Mittelmeeranrainern gibt.

Eines Tages saßen wir wieder einmal mit Christos im Kafenion, und ich guckte an der Giebelfassade seines Kaufmanns­ladens hoch, da sah ich, umrankt von Weinlaub und gelben Trauben, ein Schild mit der Aufschrift: »Hermes Market – Food, Sunneries, Wine, Spirits« und darüber in zwanzig Zentimeter großen Lettern die zwei Worte: »Languages spoken«. Mehr braucht man zu Babylon wohl nicht zu sagen!

Unser junger Kaufmann beherrschte sie wirklich, die Sprachen. Mit Finninnen redete er Finnisch, nicht nur drei, vier Brocken, sondern anscheinend fließend, als unterhalte er sich mit denen auf Finnisch wie mit uns auf Deutsch. Christos machte seine Witzchen auf Finnisch, denn die Mädchen lachten. Wir hörten ihn im Laden mit Menschen aller Herren Länder in deren Landessprache parlieren – ja, er beherrschte sogar einen schottischen Dialekt. Die beiden Schottinnen, mit denen er anfing zu schäkern, waren zuerst erstaunt, dann begeistert. Obwohl er eine Wampe hatte und mit seinem Doppelkinn nicht gerade aussah wie ein Herzensbrecher, störte das nicht sein Glück bei den Frauen.

Ganz anders der dürre Chef des Kafenion, er sprach notorisch nur Griechisch, absurderweise frequentierten sein Café meistens englische Touristen. Er hatte sich eben auf Briten spezialisiert und auch eine englische Freundin, ein Mädchen mit dichtem blonden Diana-Haarschopf. Sie sah der Prinzessin auch sonst ähnlich, war doof und bewegte sich mit dieser angewölften englischen Kolonialarroganz, die mit dieser Sprache transportiert wird.

Als wir einmal mit Christos hier saßen, fragte sie uns nach unseren Wünschen, auf Englisch natürlich, denn sie konnte kein Wort Griechisch, befolgte eben das Idiom: »That’s Greek to me.« Man fragte sich: Wie verständigt sich der Wirt mit seiner Freundin? Egal. Wir bestellten unseren Kaffee auf Englisch und fügten »barigliko« hinzu, das heißt: »mit viel Zucker«. Dasselbe mussten wir tatsächlich noch mal auf Englisch wiederholen. Als die Frau gegangen war, saß ich versonnen da, schüttelte den Kopf und sagte: »Probaton!« Was Schaf heißt. Dieses Wort kam in unserer ersten Lektion vor: »Sigá, sigá, probata!« Das bedeutet: »Langsam, langsam, Schafe!« Eine schöne, typisch griechische Lektion! Es brennt mir auf der Zunge, diese wunderbare Übungsstunde wiederzugeben, ich tu’s aber nicht, ich darf ja hier keinen griechischen Sprachkurs veranstalten. Als sie den Kaffee brachte, sah ich mir die englische Kellnerin noch mal genauer an, sie ähnelte wirklich einem menschlichen Schaf: Schafsnase und Schafswolle auf dem Kopf. Christos konnte sich nicht beruhigen, stieß immer wieder »probaton« hervor, und dass er sich so amüsierte, machte mich stolz. Man freut sich ja, wenn man in einer fremden Sprache einen Witz gerissen hat.


Nach meinem Stoßseufzer war Christos endgültig davon überzeugt, dass wir Schriftsteller seien, eben besonders sprachbegabt – fast so wie er. Zwar konnte er uns vorher schon gut leiden, weil wir stets korrekt gekleidet waren, Barbara niemals im Bikini durch den Ort spazierte und ich nie in Shorts. Denn die kretische Frau soll die Sonne nicht sehen, und ein Mann in kurzer Hose ist kein richtiger Mann. Doch nach diesem »probaton« begann Christos unser Griechisch zu korrigieren, er hatte uns in den Kreis der ernst zu nehmenden Menschen aufgenommen und kümmerte sich jetzt um unseren Einkaufskorb: »Jorgo, dieser Senf ist alt, warte, du kriegst einen anderen.« Und Hermes stellte das Glas wieder ins Regal zurück – für die Touristen. Denen verkaufte er ungerührt den abgelaufenen Mostrich, während die Einheimischen, und nun auch wir, die Waren von hinten aus dem Lager bekamen.

Verwischte Verhältnisse

In der Ringbahn, auf dem Weg zum Zahnarzt, das alte Lied: Drei Tage hatte der Backenzahn gemuckert, jetzt spürte ich nichts mehr und überlegte, was ich dem Arzt sagen sollte. Dann las ich in der jungen Welt die Geschichte über Hitlers Leibwächter Rochus Misch, der mit Hilfe von rechten Verlagsvertrieben und Versandhändlern einen Bestseller gelandet hat. Dass solche Literatur in der Nationalzeitung und in anderen rechten Postillen propagiert und verbreitet wird, ist seit sechzig Jahren ein alter Hut. Neu ist, dass so ein Nazidreck in einem Imprint des ehemals seriösen Piper Verlags erscheint, der zur angesehenen schwedischen Bonnier-Verlagsgruppe gehört.

Während ich über den Verfall der guten Sitten nachdachte, runzelte mein Banknachbar indigniert die Stirn. So wie der Mann aussah – vierzig, grauer Anzug, Krawatte, ordentliche Schuhe, aber nicht rahmengenäht, Laptop-Tasche – gehörte er zur mittleren Gehaltsklasse, die eben einen Menschen verachtet, der solch ein Kommunistenblatt liest.

Die Lage änderte sich schlagartig, als ein Fahrscheinkontrolleur auftauchte und den verwischten Stempel meines Nachbarn bemängelte. Der Mann mit der Krawatte war sich aber seiner Sache sicher: »Es ist doch das Problem der Bahn, wenn Sie den Stempel nicht lesen können, weil der Stempelautomat keine ordentlichen Ziffern produziert. Wenn ich die Fahrkarte noch einmal abgestempelt hätte, wäre sie ungültig.« Der Kontrolleur widersprach und wollte den Fahrschein einziehen. »Das kommt nicht in Frage! Ich gebe Ihnen den nur, wenn Sie mir einen Ersatzfahrschein ausstellen …⁠« Ich mischte mich ein: »Ist mir auch schon passiert, dass der Stempel unleserlich war.« Jetzt zeigte sich der Krawattenmann dankbar für meine Solidarität, die Kommunistin war vergessen. Die Debatte ging weiter, und ich war gar nicht mehr so sicher, ob der verwischte Stempel zufällig passierte. Vielleicht ein neuer Schwarzfahrertrick? Das Ticket schnell aus dem Stempelautomaten ziehen, damit sich die Daten verwischen, dann könnte man ja ewig mit dem Schein fahren. Der Kontrolleur forderte nun den Krawattenmann auf, mit ihm bei der nächsten Station auszusteigen, um seine Personalien zu ermitteln. Er widersprach, sie stritten noch, als ich aussteigen musste.

Der Zahnarzt lachte über die verschwundenen Schmerzen: »Das kennen wir. Nun machen Sie mal den Mund auf …⁠« Auf der Heimfahrt schlenderte ein Obdachloser durch den Wagen. Er sah nicht aus wie die anderen U-Bahn-Bettler, eher wie Brad Pitt, nur jünger und mit schwarzem Haar. Mit seinen schwarzen Jeans-Klamotten hätte er perfekt auf eine Anzeige von G-Star Raw Denim gepasst. Aber der Mann war eben kein Modell, sondern durchsuchte die Ringbahn nach Leergut. Er entdeckte einen kleinen Zwölfer-Karton mit Schnapsflaschen, stellte sich damit an die Tür, schraubte ein Fläschchen nach dem anderen auf und schüttelte sich die Tropfen in den Rachen. Kurz vor dem nächsten Halt wandte er sich an mich und meinte gut gelaunt: »Man dreht die Dinger instinktiv imma wieda zu, obwohl se doch leer sind. Weeste, man dreht imma den Deckel wieder druff. Dit is’ doch komisch, wa? Und imma is’ noch wat drin!«

Privatmoral

Während einer Netzrecherche zum acte gratuit des Rodion Raskolnikow suchte ich nach »Privatmoral«. Prompt fragte Google: »Meinten Sie: Privatmodell?« Liegt ja nahe oder?

Finger einer Hand voll Angst

Weil ich ein mitfühlender Mensch bin, tut mir sogar Armut auf hohem Niveau leid. Meine erste Erfahrung mit solchen bedauernswerten Menschen machte ich als unreifer Verleger mit 29 Jahren. Damals schickte H. B. Corell dem Melzer Verlag sein Manuskript »Five Fingers and a Bit of Fright«. Ein Thriller, ich war interessiert, und es meldete sich telefonisch eine weltläufige Stimme im schnarrenden Preußenton: »Ich möchte Sie ins Sommerhaus meiner Familie nach Garmisch einladen.« Dort könne man alles weitere besprechen, im Übrigen stehe H. B. für Hubert von Blücher, Corell sei ein Pseudonym.

Versteht sich von selbst, dass ich vor dem Treffen Leben und Taten des Marschall Vorwärts nachgeschlagen hatte, sein Porträt war im Lexikon abgebildet. Hubert war dem Vorfahr wie aus dem Gesicht geschnitten – die gleiche lange, schiefe Haken­nase – bis auf den martialischen Schnurrbart, denn er war glatt rasiert. Der Urenkel des Fürsten von Wahlstatt empfing mich vor seinem prächtigen oberbayerischen Holzhaus inmitten eines riesigen Grundstücks mit Blick auf die Zugspitze. So etwas beeindruckte mich damals, wenn ich mich auch bemühte, es mir nicht anmerken zu lassen.

Im Arbeitszimmer erzählte er aus seinem Leben: Sein Vater war Botschafter gewesen, deshalb wurde er in Stockholm geboren. Schade, dass es damals noch kein Google gab, dann hätte ich herausgefunden, dass der Typ ein adliger Hochstapler war – contradictio in adjecto. Angeblich hatte er Martin Bormann das Nazigold in Argentinien apportiert, und später behauptete er, der beste Freund von Howard Hughes zu sein. Wenn ich diese Aufschneidereien damals schon gekannt hätte, gäbe es diese Geschichte nicht. Ich erfuhr nur allerlei Klatsch über Hollywoodstars, den deutschen Geldadel wie Gabriele Henkel, und dass er oft mit Walter Scheel gesoffen habe. Besonders liebte er die Zote, offenbar rittmeisterliches Kasinoerbe.

Neben seinem Anwesen in einem ebenfalls großen Landhaus lebte eine Erbin aus der Stinnes-Dynastie. Dieser Konzern hatte einst zu den großen deutschen Vermögen gehört: Kohle und Stahl, See- und Binnenschifffahrt, Papier, Chemie, Hotels, Druck. Als Stinnes in den Nachkriegsjahren zusammenbrach, schnitt sich Friedrich Flick die Filetstücke wie die Feldmühle heraus. Frau Stinnes war Mitte vierzig und Malerin. Ja, was malte sie? Strandgut aus bayerischen Seen, surrealistischer Kitsch, ohne Rausch und Ekstase gemalt – na, mit etwas Wahnsinn schon. Meine Frage nach Ausstellungen parierte sie mit der Bemerkung: »Ich verkaufe jedes Jahr nur eine Arbeit.« Mal erstand Krupp eine für die Villa Hügel, mal musste Oetker mit fünfzigtausend Mark für eine Wurzel ran. Jedes Jahr erbarmte sich ein anderer Industrieller, um Frau Stinnes mit nobler Geste über Wasser zu halten. Kein Wunder, denn sie jammerte perfekt, dreimal stieß sie den herzerweichenden Seufzer aus: »Ach Gott, ich bin wirklich arm!«

Nach der Besichtigung der Bilder tranken wir Tee. Ihr Freund, der Colonel, war gerade zu Besuch, Chef des britischen Geheimdienstes in Germany. Kein Spion, der aus der Kälte kam, sondern ein untersetzter Fünfziger mit Dunhill-Pfeife und einem Bart – danach musst du lange suchen: Auf seinen roten, glattrasierten Wangen saßen zwei blonde Haarbällchen! Er berichtete, dass er soeben vom Pariser Aero-Salon in Le Bourget komme, wo die Flugzeugindustrie, inklusive die der UdSSR, ihre neuen Modelle vorgeführt habe. Da waren natürlich alle Oberspione zur Stelle, um ganz offen zu begutachten, was sie später mühevoll ausspähen ließen.

»Schon eine schlimme Sache, wenn man sein Vermögen verliert«, sagte ich später zu meinem Gastgeber. »Tja, sie ist wirklich arm dran. Früher hatte Hugo Stinnes tausend Millionen, jetzt hat sie nur noch drei.« Und sofort schob Blücher zwei Geschichten nach über diese sonderbare Familie: Der Stinnes-Bruder nahm als Bobfahrer für Argentinien an Olympiaden teil und belegte regelmäßig den letzten Platz. Außerdem versuchte er, die Sahara zu bewässern. Seine obskuren Untersuchungen nahm Stinnes jun. bevorzugt in Antibes vor, bis zu den Hüften im Mittelmeer stehend, auf dem Rücken ein selbstkonstruiertes Messgerät, im Mund einen Ansaugschnorchel. Diese Sippe verlor demnach ihr Vermögen nicht ohne Grund, vielmehr muss eine ziemliche Gehirnmauke die Nachfahren des gerissenen Konzerngründers Hugo Stinnes befallen haben.

Nichtrauchen ist ungesund

Die Zigarre an Silvester war unsere letzte Zigarette, denn wir hatten uns vorgenommen, während des Urlaubs in der Provence das Rauchen aufzugeben. Das war am ersten Tag kein Problem, wir hatten sowieso einen dicken Kopf, schliefen bis Mittag, aber dann begann der Entzug. Wir unterhielten uns ständig über die Raucherei, waren gereizt, schlecht gelaunt. Im Reitstall von Monsieur Guy trafen wir zwei deutsche Architekten; die beiden inhalierten genussvoll – also ganz normal – ihre Marlboros, während wir uns unterhielten. »Diese Raucher haben mich verrückt gemacht«, sagte Barbara später, »ich hatte eine Halluzination, plötzlich wurde das Gesicht des einen zu einer riesigen Zigarette, die aus seinem Oberkörper herauswuchs.« So weit ging das mit den Entzugsphantasien.

Der Urlaub war also nicht angenehm, dazu kam eine sibirische Kälte mit Glatteis und Schnee. Die Franzosen fuhren wie die Idioten auf ihren Sommerreifen herum, schleuderten und dotzten sich Beulen in ihre Karren. In Ländern, in denen es selten friert, fahren die Leute eben so, als ob es das Glatteis nicht gäbe. Schon am nächsten Tag hatte unser Hotelier einen Gipsfuß und sogar sein Beifahrer, der Hund mit der Ockerschnauze, trug einen Vorderlauf in Gips. Einen anderen Hund hätten wir wegen der Glätte fast überfahren: Ein junger braungeschimmelter Pointer schnürte ungerührt mit der Nase auf der Fährte über die vereiste Fahrbahn. Ich bremste und hielt an, da nahte die dazugehörige Jagdgesellschaft, zwei Frauen, elegant gekleidet, auch ihre Männer in teuren Jagdklamotten. »Der Hund ist denen sicher weggelaufen«, meinte Barbara. Es war nicht unsere letzte Begegnung mit dem Tier.

Aber erst mal erwischte mich eine schwere Erkältung, mit vierzig Grad Fieber lag ich im Bett. Barbara machte mir kalte Wadenwickel und brachte mir Kraftbrühe. Nach zwei Tagen ging es mir besser, ich fühlte mich aber noch schwach. Wir wollten uns Avignon ansehen, ich saß matt auf dem Beifahrersitz, Barbara ging auf das Hotel zu, um den Zimmerschlüssel abzugeben, da öffnete sich die Tür einen Spalt weit, und mit einem Tritt – man sah nur den Fuß, wie im Comic – wurde ein Pointer herausbefördert. Unverkennbar der braungeschimmelte Kamerad, der uns vor ein paar Tagen fast ins Auto gelaufen wäre. Er hatte sich wohl ins warme Hotel geschlichen, wandte kurz den Kopf, sah Barbara und sprang ihr aus zwei Metern Entfernung in die Arme. Sie konnte gar nicht anders als ihn auffangen und halten, dann setzte sie ihn ab. Bevor sie ins Auto einstieg, tätschelte sie noch mal seinen Kopf. Der Hund trottete traurig mit eingeklemmtem, kupiertem Schwanz und hängenden Ohren davon.

Während der Fahrt sprachen wir über den formidablen Sprung. Barbara machte sich Vorwürfe, ein Tier, das sie so eindeutig als Gefährtin erwählte, weggestoßen zu haben. Unter solchen Reden erreichten wir Avignon und gerieten in ein Touristenrestaurant, Typ zwei bis zwölf Gänge, bestellten drei, jeder einzelne ein Graus: die Suppe Spülwasser, und so ging’s weiter. Wenn die Franzosen schlecht kochen, dann machen sie es konsequent, und der Fraß ist schlimmer als sonst wo. Als Amuse-Gueule fungierte eine böse Kellnerin mit verschobener Perücke und schwarzem Lederminirock, darunter knotige Knie an dürren Beinen. Das war zuviel für mich, mein Kreislauf brach zusammen. Barbara erzählt mir noch heute, ich hätte wie ein Albinoleopard ausgesehen: käseweißes Gesicht mit roten Flecken. Eben ein veritabler Kollaps, kein Wunder nach dem hohen Fieber. Mit letzter Kraft sagte ich zu Barbara: »Nur raus hier! Bring mich schnell zurück ins Hotel! Ich bin doch noch krank, und morgen fahren wir nach Hause.«

Auf halber Strecke nach Roussillon stabilisierte sich mein Kreislauf, vielleicht auch, weil uns klargeworden war: Nichtrauchen ist nicht gesund für uns. Deshalb wollten wir in der Bar de la Mairie Zigaretten holen. Kurz vor dem Ziel musste Barbara scharf bremsen, abermals huschte dieser braune Hund über die Straße und verschwand hinter der Böschung. Sie hielt an, kraxelte ihm den Hang hinunter nach, unter der Steinbrücke hatte er sich zusammengekauert, zitterte, lief aber nicht weg. Sie hob ihn hoch – das Biest wog immerhin sechzehn Kilo – und trug ihn zum Auto. »Was willst du mit dem? Wir können keinen Hund gebrauchen! Wir fahren morgen nach Frankfurt«, sagte ich. »Der findet doch seinen Besitzer nicht mehr. Seit drei Tagen läuft er verloren hier rum!« »Aber morgen bringen wir ihn in ein Tierheim.« »Ja sicher, doch jetzt können wir ihn nicht rum­irren lassen. Einer muss sich um ihn kümmern!« Sie hielt ihn fest in den Armen. Während dieses Disputs zitterte das Aas noch heftiger, er war halt ein guter Schauspieler. Ich gab es auf, startete den Wagen, Barbara saß mit dem Tier auf dem Schoß neben mir. Da zitterte der Hund nicht mehr, sondern schnaufte nur noch – seine Laute der Zufriedenheit nach längerer Unbill, wie wir später noch lernen sollten.

Manchmal ein großes Verlangen

Magnús Pálsson, der Doyen der isländischen Avantgarde, stellte in einer Berliner Galerie aus. Die Ausstellung hieß »Dreams«. Pálsson hatte die Träume zahlreicher Personen gesammelt, diese Texte in unterschiedlicher Typografie gesetzt und in verschiedenen Farben auf weiße DIN-A4-Blättern ausgedruckt. Hunderte dieser Träume bedeckten wie eine Tapete die Wände der Galerie vom Fußboden bis zur Decke. Der schwenkende Ventilator ließ die Blätter sacht wehen.

Wir waren etwas früher dran, Jörg unterhielt sich mit jemandem, während ich die Träume an der Wand entlang las. Neben mir taten das auch zwei junge Männer. Der eine war ein großer Adonis mit feuerrotem Haarschopf, der andere klein, ein Idolino mit niedlicher Kappe auf dem hübschen Kopf. Ich sprach den Adonis an: »Der Raum gefällt mir, schöne Idee mit den Träumen, besonders, weil sie im Luftzug wehen.« Er zeigte auf einen Traum und lächelte: »Der ist inte­ressant, da träumt jemand, seine Großmutter sei gestorben. Man verrät doch viel zu viel von sich selbst. Ich würde nie jemandem meine Träume erzählen.« »Warum denn nicht? Ich rede gern darüber, habe sogar mal ein Blog darüber geschrieben, dass ich von einem Wolf geträumt habe, der mich immer begleitete, wir waren sehr vertraut miteinander …⁠« Er unterbrach mich: »Dann musst du ja ein ausgeprägtes Sexualleben haben.« »Danke für die Blumen«, sagte ich. Adonis redete weiter: »Sieh dir meinen Freund an, ist er nicht wunderschön? Aber er will nicht mit mir schlafen. Er will es einfach nicht.« Während dieses Gesprächs stand Idolino stumm dabei und lächelte reizend.

»Mein Vater ist Psychotherapeut«, erfuhr ich nun, »ich würde nie meine Träume erzählen.« »Aber diese Traumdeutungen der Therapeuten sind doch oft an den Haaren herbeigezogen. Ich kann dir erklären, warum ich vom Wolf träumte. Ich hatte am Abend zuvor die singenden Hunde gehört, weißt du, den Gesang der Schlittenhunde in Alaska, den Oswald Wiener aufgenommen hat.« »Ja, kenne ich. Aber ich habe Angst vor Hunden. Warum nimmt nicht mal einer Katzen auf? Die schreien doch viel interessanter. Im Hinterhof mauzt manchmal eine wie ein weinender Mensch.« Ich nickte und lenkte das Gespräch wieder auf die Träume: »Weißt du, ich träume viel vom Wasser und glaube, ich weiß, woran das liegt. Als kleines Kind bin ich fast mal ertrunken, saß auf dem Boden des Badetümpels und sah oben, wie die Sonne sich in den Wellen spiegelte und hatte eine Euphorie …⁠« »Ich habe das auch oft gemacht als kleiner Junge in Israel. Ich bin immer wieder in den Pool gesprungen und versunken, mein älterer Bruder hat mich jedes Mal hochgeholt. Noch heute habe ich ein großes Verlangen zu ertrinken und gleichzeitig, dass mein großer Bruder mich rettet.«

»Interessant«, sagte ich, »bei mir war es umgekehrt. Meine große Schwester hatte mir die Luft aus dem Schwimmreif gelassen, als ich fünf Jahre alt war. Sie ärgerte sich darüber, dass ich immer dabei war, wenn sie mit den großen Jungs poussierte. Jemand hat mich dann aus dem Wasser gezogen, und seitdem träume ich immer vom Wasser.« »Du analysierst dich selbst, das ist gefährlich. Ich weiß das, mein Vater, der Psychotherapeut …⁠« Plötzlich brach Idolino sein Schweigen, er lächelte ihn an: »Lass uns jetzt gehen.« Idolino hatte es sich wohl anders überlegt, und noch bevor der isländische Botschafter seine Eloge auf den Künstler Magnús Pálsson begonnen hatte, verschwanden die beiden eilig und einträchtig aus der Galerie.

Bertolt Brechts Kahnfahrt

Als wir noch in Augsburg wohnten, war die Zukunft der Haindl’schen Fabrik Stadtgespräch. Dieses letzte große deutsche Papierwerk wurde dann aus Familienbesitz vom finnischen Papierkonzern UPM-Kymmene übernommen – dem drittgrößten der Welt. UPM zahlte vier Milliarden Euro in bar und in Aktien an die diversen Mitglieder der Haindl-Familie.

Wenn von den Haindl-Papier-Tycoons die Rede ist, darf der Name Bertolt Brecht nicht fehlen, denn der große Dichter des Kommunismus wuchs in einem der Stiftungshäuser auf, welche Elisabeth Haindl zu Ehren ihres verstorbenen Mannes »für unbescholtene und ohne Schuld unbemittelte Augsburger, in erster Linie verdiente Arbeiter und Angestellte der eigenen Fabrik« gebaut hatte. Die Brecht-Familie wohnte in einem der Häuser, weil der Vater als Haindl-Prokurist in der Nebenfunktion Verwalter dieser Stiftung war.

Natürlich hatten die Brechts ein ganzes Stockwerk für sich, sechs Zimmer mit Küche, Bad und zwei Aborten, dazu eine Kammer unterm Dach für das Dienstmädchen. Und ebenso natürlich hielt sich der Vater des Dichters eine Mätresse, von der die Familie wusste – aber darüber sprach man nicht. Gleich gegenüber den Stiftungshäusern liegen der Stadtgraben und die alte Wehranlage mit der Kahnfahrt. Auf diesem Gewässer ruderte Bertolt als Pennäler mit seinen Freundinnen, dann schlich er mit ihnen in seine Mansarde. Später ruderte er dort auch mit seiner Freundin, der Schriftstellerin Marieluise Fleißer.

Mal abgesehen von seiner ausgeprägten Libido war das Umfeld der bitteren Armut, mit der Bertolt jahrelang Tür an Tür wohnte, prägend für das Gemüt des jungen Mannes – anders als sein Vater es sich wünschte. Der hätte ihn gern als erfolgreichen Arzt oder Notar gesehen. In seinem Gedicht »Verjagt mit gutem Grund« schreibt Brecht über seine Herkunft: »Als ich erwachsen war und um mich sah / Gefielen mir die Leute meiner Klasse nicht / Nicht das Befehlen und nicht das Bedientwerden / Und ich verließ meine Klasse und gesellte mich / Zu den geringeren Leuten.«

Auch für uns war der Biergarten mit der romantischen Kahnfahrt am Stadtgraben ein beliebter Ort, wir saßen öfter hier mit Freunden. Über das Essen kündet die Website: »Vom saftigen Steak vom Grill bis zur hausgemachten Sulz gibt es viele Kombinationen, die zum frischen Bier passen.« Wir haben da andere Informationen!

Einst saßen wir in fröhlicher Runde, der Wirt stand am Grill und arbeitete fleißig. Ein betörender Duft zog zu uns rüber. Wir diskutierten über unsere Bestellung, irgendjemand sagte: »Ich nehme natürlich eine Grillwurst.« »Vorsicht!«, meinte Erwin, »Würste würde ich hier nicht essen.« »Wieso?!«, riefen alle wie aus einem Munde. Erwin ist Sozialpädagoge, der mit straffälligen Jugendlichen arbeitet und auch die Tage des unabhängigen Films veranstaltet. Er stammt aus Franken, hat einen trockenen Humor und nennt die Jugendlichen, die er betreut, »meine Klienten«.

»Wisst ihr«, begann Erwin seine Geschichte, »einer meiner Klienten hatte zusammen mit seinem Freund immer wieder mal in Gaststätten eingebrochen, um die Tageskasse mitzunehmen. Bei der Kahnfahrt war aber die Kasse leer. Also packten die beiden ein paar Flaschen Schnaps und eine große Packung Würste aus der Tiefkühltruhe ein. Sie wurden erwischt, und ich musste mit meinem Klienten vor Gericht erscheinen. Der Richter wollte den Jungen zu einer saftigen Strafe verurteilen, er war ja ein Mehrfachtäter. Da verteidigte sich mein Klient mit den Worten: ›Sehr geehrter Herr Richter, ich bitte Sie, mir keine so hohe Strafe aufzubrummen, denn die Würste waren ja schon fünf Monate abgelaufen.‹« Diese Rede hätte dem jungen Ruderer auf der Kahnfahrt sicher auch gefallen. Brecht hin oder her, wir alle aßen in dieser lauen Sommernacht nur Pommes mit Ketchup.


Good bye America!

Ein Jahr nach dem »Umbruch«, wie die Berliner das Kriegsende euphemistisch nannten, nahm mein Stiefvater, »Onkel Siegfried«, Kontakt zu seiner Schwester Sieglinde auf, denn sie wohnte im Paradies, in Miami Beach, Florida, und wir in Niederschönhausen. Bereits im ersten Brief kündigte Sieglinde ein Paket an, und von nun an waren wir Privilegierte. Niemals habe ich so innig etwas herbeigesehnt wie diese monatliche Paketsendung, sie kam regelmäßig, aber wir wussten nicht, an welchem Tag genau. Wenn unser Paket endlich dabei war, erkannten wir es schon von oben, wo wir am Fenster lauerten, es hatte immer die gleiche, gelbbraune Pappkartonfarbe und die braunroten Aufkleber der US Mail.

Sieglinde schickte Hershey’s Kakao, Blockschokolade, Zigaretten und Kaugummi. Der wurde nur als Tauschgut verwendet, einem Jungen aus meiner Klasse, dem Sohn eines Schusters, machte ich damit die Nase lang, kaute lustvoll und angeberisch, hauchte ihm meinen Spearmint-Atem »hhhhhö, hhhhhö« ins Gesicht. Er reagierte darauf, wie wenn du einem Kokainsüchtigen eine Linie auf den Spiegel legst. Für einen einzigen silbrigen Streifen klaute er Holznägel bei seinem Vater, die gab ich Onkel Siegfried. Er brauchte sie für seine New-Look-Schuhe, denn er zerschnitt die Lederpuffs aus dem Wohnzimmer und machte daraus Sandalen mit Keilabsätzen. Alle lebten vom Organisieren, die Kinder mittenmang, eine Gesellschaft von Sammlern und ­Jägern.

Was war noch in den Paketen? Corned Beef und Butterschmalz, mein Gott, das Wichtigste nach den Zigaretten hätte ich fast vergessen: Bohnenkaffee für die Erwachsenen und für mich das Höchste: die wunderbare sämige Erdnussbutter, die die Zähne mit einem stumpfen Belag besetzte, die aß ich noch lange nach. Manchmal war auch eine große grüngoldene Dose Süßkartoffeln dabei, darüber wurde wütend gemeckert: »Der schöne Platz in dem Paket! Kartoffeln eindosen, die Amerikaner haben sie doch nicht alle, das schmeckt ja eklig!«

Von den grellen, gelben Sweatshirts mit der dämlichen Mickey Mouse war ich ebenfalls nicht begeistert, weil die anderen Kinder mich auslachten. Am schlimmsten waren aber die Unterwäschekombinationen, innen angeraute Underalls aus weißer Baumwolle. Sie hatten angeknöpfte Scheißklappen hinten, was jedes Mal bei den Schuluntersuchungen einen Spießrutenlauf für mich bedeutete.

Nach dem zweiten Brief und Paket war klar, dass die USA unsere neue Heimat werden würde, denn Sieglinde schrieb: »Mein liebes Brüderlein! Ich muss dich wiedersehen, dich und deine liebe Familie. Ihr müsst zu uns kommen aus dem schrecklichen Deutschland. Ich habe schon vieles veranlasst. Leider ist alles auch sehr kompliziert.«

Das konnte man laut sagen, die Einwanderungsquote war winzig. Du musstest einen Amerikaner vorweisen, der mit fünftausend Dollar für dich bürgte – sehr, sehr viel Geld. Sieglinde schrieb: »Wir leben in Miami Beach. Ich habe mich selbstständig gemacht als Tanz- und Gymnastiklehrerin. Serge arbeitet immer noch an seinen Erfindungen, auch in Amerika ist nicht alles Gold, was glänzt, wir sind keine Millionäre, aber es geht uns gut.« Von diesem Satz merkte sich Onkel Siegfried nur das Wort »Millionäre«.

Sieglinde hatte früher auf dem Berliner Patentamt gearbeitet, Serge meldete dort einen Papierstapelschneider an. Über diesen Apparat hatten die beiden sich lieben gelernt, geheiratet, waren ausgewandert, um ihr Glück zu machen. Das war wirklich ein Traum! Sehnsüchtig beglotzte ich hundertmal Sieglindes Söhne auf den zwei Fotos, die sie mitgeschickt hatte. Die Knaben saßen braungebrannt und gutgenährt vor einem Swimmingpool. Eigentlich waren sie zu fett, aber ich fand sie bildschön. Die Sehnsucht nach diesem Glück zog mir alle Poren zusammen, jeder Brief aus Miami wurde fünfzigmal vorgelesen, exegiert und interpretiert, bis wir ihn alle auswendig konnten.

Das Ende unseres amerikanischen Traums ist schnell erzählt. Wir waren über die grüne Grenze gegangen und warteten in Rinteln an der Weser auf die Schiffstickets in die USA. Endlich kam der ersehnte Brief, feierlich wurde er aufgeschlitzt: »Mein liebes Brüderlein! Wie du ja an dem Stempel siehst, habe ich so lange nichts von mir hören lassen, weil wir nicht mehr in Florida sind. Wir mussten den Kontinent durchqueren und sind jetzt in San Francisco, Kalifornien. Dort verkaufen wir Weihnachtsbäume, denn es geht uns wirtschaftlich sehr schlecht. Es gab Schwierigkeiten mit meiner Tanzschule, außerdem ereignete sich ein Unfall …⁠« Was immer sie noch schrieb, es war ein sehr langer Brief, später brachte meine Mutter den Grund für diese Verarmung und unsere gescheiterte Auswanderung immer so auf den Punkt: »Sieglinde hat jemanden überfahren.« Tatsächlich war es wohl eher so, dass es ihr schlecht ging, der Erfinder keinen Job fand, und die Knaben nicht am eigenen Swimmingpool gesessen hatten.

Mit diesem Brief war Sieglinde für Siegfried gestorben, er legte eine seiner üblichen Verzweiflungsszenen hin: »Sie war schon immer eine unzuverlässige, verlogene Schwester, diese Sieglinde!« Ein Schock für uns alle, wir saßen im Westen im Hotel Rintelner Hof, hatten alle Klamotten verkauft, kein Geld und nun auch noch: »Good bye America!«

Jrine Beeme

Gründonnerstag machten wir, was Atheisten an Feiertagen immer machen sollten: arbeiten. Allerdings schliefen wir aus, drehten unsere Runde im Park, aßen von der Sonne beschienen auf dem Balkon und redigierten dann eine neue Folge von »Schröder erzählt«. Abends saßen wir bei einem Glas Wein auf dem Sofa und lasen, Barbara: Michail Bulgakows »Der Meister und Margarita«, weil es Spaß macht, wie Besdomny und Berlioz dem Teufel erklären, dass es keinen Gott gibt, und dann die Antworten des Teufels zu lesen. Jörg las »Und grüß mich nicht Unter den Linden«. Heine wohnte 1829 in Berlin bei Friedländer in der Friedrichstraße, er schreibt: »Als ich einst an einem schönen Frühlingstage unter den Berliner Linden spazieren ging, wandelten vor mir zwei Frauenzimmer, die schwiegen, bis endlich die eine schmachtend aufseufzte: ›Ach, die jrine Beeme!‹ Worauf die andre, ein junges Ding, mit naiver Verwunderung fragte: ›Mutter, was gehn Ihnen die jrine Beeme an?‹ Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass beide Personen zwar nicht in Seide gekleidet gingen, jedoch keineswegs zum Pöbel gehörten, wie es denn überhaupt in Berlin keinen Pöbel gibt, außer etwa in den höchsten Ständen. Was aber jene naive Frage selbst betrifft, so kommt sie mir nie aus dem Gedächtnisse. Überall, wo ich unwahre Naturempfindung und dergleichen grüne Lügen ertappe, lacht sie mir ergötzlich durch den Sinn.«

Glückspilze

Was die Chymie in Wald und Flur angeht, kenne ich mich einigermaßen aus, denn als Waldbauernbub im Weserbergland sammelte ich häufig Hallimasche, Maronen, Steinpilze, Morcheln und Lorcheln. Nachdem wir das Bauernhaus im Vogelsberg bezogen hatten, drehten Barbara, der Hund und ich oft eine kleine Runde ums Hörstchen, und eines Tages fanden wir dort ein großes Nest Pfifferlinge. Die bringen ja immer etwas Goldrauschartiges mit sich, sind aber leider in den Vogelsbergwäldern selten anzutreffen. Angestochen durch die Pfifferlinge sagte ich: »Jetzt fahren wir mal zur Siebertsmühle!« Die Gegend kannten wir gut, hier gab es die besten Pilzstellen, hinten im Forst lag die Atomrampe Europa, von der aus sich die Friedensbewegung in Gang setzte. Also wir hin, den Range Rover auf dem Gieseler-Forst-Parkplatz abgestellt, da fanden wir: Maronen, ein paar Pfifferlinge und plötzlich zwei Kolonien wunderschöner, kleiner, knubbeliger Steinpilze.

Mit vollem Korb fuhren wir nach Hause, bald waren die Pilze geputzt, der Speck brutzelte in der Pfanne, ein betörender Duft breitete sich in der Küche aus, da sagte ich: »Mensch, zu diesem Essen köpfen wir jetzt aber den ollen Portwein.« Wir tranken das erste Glas, dann waren die Pilze fertig, jeder bekam einen großen Haufen auf den Teller. Ich saß noch nicht ganz, da fuhr meine Mutter schon mit der Gabel in die schleimig-speckige Portion und meinte: »Ist aber ein bisschen bitter.« Ich rief: »Nein! Das kann nicht sein, sind alles gute Pilze.« Barbara probierte: »Tatsächlich! Bitter!« Jedoch, unsere Pilzlust, der Appetit und der Portwein hatten sich zu einem solchen Heißhunger verdichtet, dass wir weiter aßen. Es war nicht viel bitterer als ein Chicorée, bei dem man den Strunk nicht entfernt hat. Normalerweise lässt man aber doch den Teller stehen, wenn ein Pilzgericht komisch schmeckt.

Wir hielten erst ein, als schon ein Drittel vertilgt war. »Moment«, sagte ich, »giftig können sie nicht sein. Es gibt nur einen giftigen Röhrenpilz, den Satanspilz!« Aber meine Mutter posaunte, sie hätte gerade in der Frankfurter Rundschau von einer Familie gelesen, die nun pilztot sei, Knollenblätterpilze in Bayern, die übliche Geschichte. Ich wiederholte: »Unmöglich! Es waren keine Blätterpilze dabei, nur Maronen, Steinpilze und Pfifferlinge. Wieso ist es dann bitter? Ach, scheiß was drauf, es schmeckt doch eigentlich wunderbar!«

Wir lachten Tränen über die Möglichkeit, dass dies vielleicht unsere letzte Mahlzeit sei, wir ein Schierlingsgericht essen, und konnten doch nicht aufhören. Noch heute frage ich mich: Wie war das möglich? Na gut, Portwein. Als die Teller leer waren, hastete ich lachend nach oben, holte die Pilz-Enzyklopädie, die mit den Stichen. Natürlich fand ich den Pilz und las: »Gallenröhrling, auch Bitterschwamm genannt, kann als junger Pilz leicht mit dem Steinpilz verwechselt werden. Später zeigt er eine deutliche Rosa-Färbung der Röhren. Wegen seines bitteren Geschmacks ist der Pilz ungenießbar, aber nicht giftig.« Wir gingen zu Bett, noch immer Tränen lachend, und erwachten am nächsten Morgen, so wie man nach dem Rauchen von Gras aufwacht, erfrischt und ohne Dröhnung, wunderbar.

Nach diesem sonderbaren Essen wussten wir, dass wir wegen der Gallenröhrlinge aufpassen müssen. Aber immer wieder fällt man darauf rein, wenn fünf oder sechs Knubbel rauslugen, dann denkt man: »Das sind Steinpilze!« Also nimmt man das Messer, ritzt einen durch, leckt ihn an, bitter, schmeißt ihn weg. Und deshalb immer: lecken, lecken, lecken. Ich kann nur jedem raten, der depressiv ist, geh in den Wald, zwanzigmal an einem Gallenröhrling geleckt, und schon ist jede Bitterkeit verflogen.