Cover

John Bradshaw

Das Kind in uns

Wie finde ich zu mir selbst

Aus dem Amerikanischen
von Bringfried Schröder

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Über John Bradshaw

John Bradshaw, geboren in Houston, Texas, erlebte eine schwierige Kindheit mit einem alkoholkranken Vater. Er studierte Theologie und arbeitete als Psychotherapeut und Managementberater. Heute ist John Bradshaw eine der bekanntesten Persönlichkeiten auf dem Gebiet der Familientherapie.

Über dieses Buch

Viele unserer alltäglichen Probleme haben eine Wurzel: unverarbeitete Erfahrungen aus der Kindheit. John Bradshaw zeigt, wie wir zu dem Kind in uns zurückkehren, mit der Kindheit abschließen und zu einem erfüllten Leben finden können. Ein Ratgeber, der jeden Suchenden auf dem Weg zum inneren Kind mit Hilfe von Fragebogen und Selbstauswertungen ganz praktisch begleitet.

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Homecoming« bei Bantam Books, New York.

 

eBook-Ausgabe 2013

Knaur eBook

© 1990 John Bradshaw

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 1992 Knaur Taschenbuch

Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

ISBN 978-3-426-42195-6

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Fußnoten

1

In diesem Buch beziehen sich die Wörter »er« und »sein« auf Personen beiderlei Geschlechts. Ich habe mich aus grammatikalischen Gründen für diese Lösung entschieden – nicht aus mangelnder Sensibilität. Immer wenn ich ein Beispiel schildere, das sich auf eine bestimmte Person bezieht, stammt es aus Erfahrungen, die ich mit mir selbst oder mit einem Klienten gemacht hatte. Einzelheiten dieser Fälle sind verändert worden, um die Privatsphäre der Betroffenen zu schützen und eine Identifikation unmöglich zu machen.

2

Ich habe die Idee einer »Liste der Verdachtsmomente« von dem verstorbenen Hugh Missildine aus dessen klassischem Buch Your Inner Child of the Past entnommen. Dr. Missildine war mein Freund und hat mich ermutigt, diese Arbeit weiterzuverfolgen.

Prolog

Ich weiß, was ich mir wirklich zu Weihnachten wünsche. Ich möchte meine Kindheit wiederhaben. Niemand schenkt sie mir … Ich weiß, daß es unvernünftig klingt, aber was hat Weihnachten mit Vernunft zu tun? Weihnachten hat etwas mit einem Kind von ganz früher und ganz weit weg zu tun, und es hat etwas mit einem Kind von jetzt zu tun. In dir und in mir. Es wartet hinter der Tür unseres Herzens darauf, daß etwas Wunderbares geschieht.

Robert Fulghum

 

Als ich die Teilnehmer meines Workshops betrachtete, war ich von der Intensität ihres Engagements beeindruckt. Hundert Leute in Gruppen von sechs bis acht füllten den Raum. Jede Gruppe war selbständig, die Leute saßen dicht beieinander und flüsterten miteinander. Es war der zweite Tag des Workshops, und ein großer Teil der Interaktionen und des Miteinanders hatte bereits stattgefunden. Trotzdem waren sich diese Leute zu Anfang völlig fremd gewesen.

Ich näherte mich einer bestimmten Gruppe, die einem grauhaarigen Mann aufmerksam zuhörte. Er las ihnen einen Brief vor, den das Kind in ihm an seinen Vater geschrieben hatte.

Lieber Dad,

Du sollst wissen, wie sehr du mich verletzt hast. Als wir noch zusammen waren, hast du mich oft bestraft. Die Striemen und Schrammen hätte ich ja noch ertragen können, wenn du bloß mehr Zeit für mich gehabt hättest.

Ich habe dir nie sagen können, wie sehr ich mich nach deiner Liebe gesehnt habe. Wenn du doch nur mit mir gespielt oder mich zu einem Fußballspiel mitgenommen hättest. Wenn du doch nur ein einziges Mal gesagt hättest, daß du mich lieb hast. Ich wünschte, du hättest dich um mich gekümmert …

Er bedeckte seine Augen mit den Händen. Eine Frau in mittleren Jahren, die neben ihm saß, streichelte ihm zärtlich über das Haar; ein jüngerer Mann ergriff seine Hand. Ein anderer Mann fragte ihn, ob er in den Arm genommen werden wolle; der grauhaarige Mann nickte.

Eine andere Gruppe saß auf dem Boden, und alle hatten die Arme auf die Schultern ihres Nachbarn gelegt. Eine elegante Frau in den Siebzigern las ihren Brief vor:

Mutter, du warst immer zu sehr mit deinen Wohltätigkeitsveranstaltungen beschäftigt. Du hattest nie Zeit, mir zu sagen, daß du mich lieb hast. Du hast dich nur um mich gekümmert, wenn ich krank war oder wenn ich Klavier spielte und du stolz auf mich warst. Du hast mir nur die Gefühle gestattet, die dir paßten. Ich war nur dann wichtig, wenn ich dir Freude machte. Du hast mich nie um meiner selbst willen geliebt. Ich war so allein …

Ihre Stimme brach, und sie fing an zu weinen. Und mit ihren Tränen begann die Mauer, die sie siebzig Jahre lang aufrechterhalten hatte, einzustürzen. Ein junges Mädchen umarmte sie. Ein junger Mann sagte ihr, sie solle ruhig weinen und er bewundere ihren Mut.

Ich ging zu einer anderen Gruppe. Ein Blinder in den Dreißigern las einen Brief, den er in Blindenschrift abgefaßt hatte:

Ich habe dich gehaßt, weil du dich meinetwegen geschämt hast. Wenn deine Freunde zu Besuch kamen, hast du mich in das Zimmer hinter der Garage gesperrt. Ich habe nie genügend zu essen bekommen. Ich hatte immer solchen Hunger. Ich wußte, daß du mich haßt, weil ich dir lästig war. Du hast mich ausgelacht, wenn ich hinfiel …

Jetzt mußte ich mich einmischen. Ich konnte spüren, wie mich der immer noch vorhandene Zorn des eigenen verletzten Kindes in mir erfaßte, und ich hätte am liebsten vor Wut und Entrüstung geschrien. Das Gefühl der Traurigkeit und Einsamkeit der Kindheit war überwältigend. Wie konnte man sich überhaupt jemals von einem solchen Kummer erholen?

Aber am Ende des Tages hatte sich die Stimmung verändert und war friedlich und fröhlich geworden. Die Leute saßen beieinander; manche hielten sich bei der Hand, und bei den abschließenden Übungen lächelten die meisten. Einer nach dem anderen dankte mir, weil ich ihm geholfen hatte, das verletzte Kind in seinem Inneren zu finden. Ein Bankdirektor, der zu Beginn des Workshops offen Widerstand geleistet hatte, sagte mir, er habe seit vierzig Jahren zum erstenmal wieder geweint. Als Kind war er von seinem Vater in grausamer Weise verprügelt worden und hatte sich geschworen, im Leben nie verletzbar zu sein oder Gefühle zu zeigen. Jetzt sagte er, er wolle lernen, sich um den einsamen Jungen in seinem Inneren zu kümmern. Sein Gesicht hatte einen weichen Ausdruck bekommen, und er sah jünger aus.

Zu Beginn des Workshops hatte ich die Teilnehmer aufgefordert, ihre Masken abzulegen und aus ihren Verstecken herauszukommen. Ich hatte ihnen erklärt, daß sie das verletzte Kind in ihrem Inneren nicht verstecken dürften, weil es sonst ihr Leben vergiften würde. Wutanfälle, unangemessene Reaktionen, Eheprobleme und Suchtkrankheiten seien die Folge. Darüber hinaus könnten sie ihren eigenen Kindern keine guten Eltern sein und würden in ihren Beziehungen Schwierigkeiten haben und bittere Erfahrungen machen müssen.

Ich muß bei ihnen einen Nerv getroffen haben, denn sie reagierten tatsächlich. Ich war begeistert und dankbar, als ich in ihre offenen, lächelnden Gesichter blickte. Dieser Workshop fand 1983 statt. Seitdem ist meine Faszination für die heilende Kraft des Kindes in uns immer größer geworden.

Drei Dinge fallen bei der Arbeit mit dem inneren Kind besonders auf: die Schnelligkeit, mit der die Leute sich verändern, wenn sie diese Arbeit tun; wie tiefgreifend diese Veränderung ist; und welche Kraft und Kreativität freigesetzt werden, wenn die Wunden der Vergangenheit geheilt sind.

Ich habe die Arbeit an dem Kind in unserem Inneren vor zwölf Jahren begonnen und bei einigen Therapiepatienten mit einer selbstausgearbeiteten Meditationstechnik gearbeitet. Aber die Meditation führte zu dramatischen Ergebnissen. Wenn die Menschen zum erstenmal Kontakt mit dem Kind in sich aufnahmen, war das Erlebnis oft überwältigend. Mitunter mußten sie schrecklich weinen. Anschließend sagten sie mir dann zum Beispiel: »Ich habe mein ganzes Leben lang darauf gewartet, daß jemand mich findet.« oder: »Es ist, als käme ich nach Hause.« oder: »Seit ich mein Kind gefunden habe, hat sich mein Leben völlig verändert.«

Diese Reaktionen veranlaßten mich dazu, einen Workshop zu entwickeln, der nur dazu dienen sollte, den Menschen dabei zu helfen, das Kind in sich zu finden und anzunehmen. Dieser Workshop hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt, was vor allem dem ständigen Dialog mit den Teilnehmern zu verdanken ist. Es ist die erfolgreichste Arbeit, die ich je geleistet habe.

Der Workshop konzentriert sich darauf, den Leuten dabei zu helfen, über negative Kindheitserlebnisse zu trauern – Erlebnisse, die mit Verlassenheit, Mißbrauch in jeder Form und mit ungestillten Bedürfnissen zusammenhängen, die auf die entwicklungsbedingte kindliche Abhängigkeit zurückzuführen sind. Außerdem spielt es eine große Rolle, daß die Kinder in familiäre Probleme verstrickt werden, die nicht ursprünglich ihre eigenen sind. (Ich werde die einzelnen Punkte später noch ausführlich behandeln.)

In einem solchen Workshop verbringen wir die meiste Zeit damit, über die Vernachlässigung unserer entwicklungsbedingten Abhängigkeitsbedürfnisse zu trauern. Das ist auch das Hauptanliegen dieses Buches. Nach meinen Erfahrungen stellt der entwicklungsorientierte Ansatz die umfassendste und wirkungsvollste Art dar, wie wir unsere seelischen Verletzungen heilen können. Ich glaube, daß die Konzentration auf die Heilung jeder einzelnen Entwicklungsstufe meine Workshops von anderen unterscheidet.

Im Verlauf eines solchen Kurses beschreibe ich die normalen Abhängigkeitsbedürfnisse des Kindes. Wenn diese Bedürfnisse nicht befriedigt werden, besteht die Gefahr, daß wir als Erwachsene ein verletztes Kind in uns tragen. Wenn die Bedürfnisse unserer Kindheit befriedigt worden wären, wären wir keine »erwachsenen Kinder« geworden.

Zuerst skizziere ich die Bedürfnisse einer bestimmten Entwicklungsstufe und teile dann die Teilnehmer in Gruppen auf. Nacheinander steht jeder von ihnen einmal im Mittelpunkt und hört den anderen zu, die ihm in verbaler Form die Bestätigung geben, die er oder sie in der frühen Kindheit, als Kleinkind, in den Vorschuljahren und so weiter gerne gehört hätte.

Je nachdem, wo der Betroffene seine persönlichen Grenzen zieht, wird er von den Teilnehmern gestreichelt und moralisch unterstützt. Die Schmerzen, die ihm in seiner Kindheit zugefügt worden sind, werden von der Gruppe ernst genommen. Wenn der Betroffene eine Bestätigung bekommt, die er[1] als Kind so dringend gebraucht hätte, aber nicht bekommen hat, fängt er in der Regel an zu weinen, manchmal leise, manchmal sehr heftig. Ein Teil des eingefrorenen Kummers beginnt aufzutauen. Am Ende des Workshops hat jeder Teilnehmer zumindest einen Teil seiner Trauerarbeit geleistet. Das Ausmaß dieser Arbeit hängt von dem Stadium des Heilungsprozesses ab, in dem sich der Betroffene befindet. Manche Leute haben schon vor dem Workshop eine Menge Trauerarbeit geleistet, manche nicht.

Am Ende des Kurses gebe ich den Teilnehmern Anweisungen für eine Meditation, bei der sie das Kind in sich annehmen können. Wenn das geschieht, erleben viele Teilnehmer einen intensiven Gefühlsausbruch. Bevor sie dann den Workshop verlassen, ermuntere ich sie noch dazu, sich jeden Tag etwas Zeit zu nehmen, um einen Dialog mit dem Kind in sich zu führen.

Wenn die Menschen erst einmal den Anspruch auf das verletzte Kind in ihrem Inneren erhoben haben und es liebevoll umsorgen, wird die schöpferische Kraft dieses wunderbaren, natürlichen Kindes erkennbar. Wenn das Kind erst einmal integriert worden ist, wird es zu einem Quell der Erneuerung und neuer Lebenskraft. C. G. Jung nannte dieses natürliche Kind das »göttliche Kind« – unser natürliches Potential, das uns in die Lage versetzt, die Welt zu erforschen, zu staunen und schöpferisch zu sein.

Der Workshop hat mich davon überzeugt, daß die Arbeit mit dem Kind in uns die schnellste und wirksamste Methode darstellt, wie man eine therapeutische Veränderung herbeiführen kann. Ich bin immer wieder erstaunt, wie unmittelbar die Wirkung einsetzt.

Normalerweise betrachte ich derartige »Blitzheilungen« mit ziemlicher Skepsis, aber diese Arbeit scheint tatsächlich einen dauerhaften Veränderungsprozeß einzuleiten. Viele Teilnehmer schrieben mir ein, zwei Jahre danach, daß der Workshop ihr Leben verändert habe. Ich habe mich darüber gefreut, war aber auch etwas verwirrt. Ich wußte tatsächlich nicht, warum die Arbeit bei manchen Leuten eine so einschneidende Veränderung bewirkt hat, während sie bei anderen nur minimale Erfolge brachte. Als ich versuchte, eine Erklärung dafür zu finden, begann sich nach und nach ein bestimmtes Bild abzuzeichnen.

Ich beschäftigte mich zuerst mit den Arbeiten von Eric Berne, dem schöpferischen Genius der Transaktionsanalyse. Die Theorien der T. A. betonen den »Zustand des kindlichen Ichs«, der sich auf das spontane, natürliche Kind bezieht, das wir alle einmal waren. Die Transaktionsanalyse beschreibt außerdem die Art und Weise, wie sich das natürliche Kind an den Druck und den Streß der ersten Jahre in der Familie angepaßt hat.

Das natürliche oder göttliche Kind kommt zum Vorschein, wenn Sie einen alten Freund treffen, wenn Sie von Herzen lachen, wenn Sie kreativ und spontan sind, oder wenn Sie staunend vor etwas Wunderbarem stehen.

Das angepaßte oder verletzte Kind zeigt sich, wenn Sie sich entweder weigern, eine rote Ampel zu beachten, obwohl sie offensichtlich kaputt ist, oder über eine rote Ampel fahren, weil niemand Sie sehen kann und Sie glauben, daß Sie damit durchkommen. Zu weiteren Verhaltensweisen des verletzten Kindes zählen Wutanfälle, übertriebene Höflichkeit und übermäßiger Gehorsam, die Verwendung von Kindersprache, das Manipulieren und Schmollen. Im ersten Kapitel werde ich darstellen, in welch mannigfacher Weise das verletzte Kind unser erwachsenes Leben belasten kann.

Obwohl ich die Transaktionsanalyse viele Jahre lang als wichtigstes therapeutisches Modell benützt habe, habe ich mich in meiner Arbeit vorher nie auf die verschiedenen Entwicklungsstufen konzentriert, die das Kind in uns durchläuft, um sich anzupassen und überleben zu können. Ich bin inzwischen der Meinung, daß das Fehlen entwicklungsspezifischer Details ein Mangel ist, der den größten Teil der Arbeit mit der Transaktionsanalyse betrifft. Die frühe Entwicklung unseres göttlichen Kindes kann auf jeder Stufe fixiert werden. Wir können als Erwachsene infantil sein, wir können auf die Stufe des Kleinkindes regredieren, wir können wundergläubig sein wie ein Vorschulkind, und wir können schmollen und uns zurückziehen wie ein Erstkläßler, der ein Spiel verloren hat. All das sind kindliche Verhaltensweisen und Zeichen für Entwicklungsstörungen auf verschiedenen Ebenen. Hauptanliegen dieses Buches ist es, Ihnen zu helfen, Ihre Ansprüche auf das verletzte Kind in sich auf jeder Entwicklungsstufe geltend zu machen.

Später wurde meine Arbeit durch den Hypnotherapeuten Milton Erickson beeinflußt. Erickson geht davon aus, daß jeder Mensch eine eigene einzigartige Karte der Welt besitzt, ein System von Überzeugungen, das unbewußt ist und wie eine Art von hypnotischer Trance wirkt. Mit Hilfe der Ericksonschen Hypnose lernte ich, mich in die Trance, in der sich meine Klienten bereits befanden, einzuschalten und sie im Sinne einer Erweiterung und Veränderung auszunützen. Was ich damals, als ich meine Arbeit mit dem Kind in uns noch nicht begonnen hatte, noch nicht erkannt hatte, war, daß das verletzte Kind in uns für die Bildung des Wesenskerns dieses Überzeugungssystems verantwortlich ist. Wenn man mit Hilfe der Methode der Altersregression Zugang zu der Trance des Kindes in uns findet, ist es möglich, diese Grundüberzeugung direkt und schnell zu verändern.

Dem Psychotherapeuten Ron Kurtz verdanke ich ein tieferes Verständnis für die Dynamik der Arbeit mit dem Kind in uns. Kurtz’ System, das sich Haikomi-Therapie nennt, konzentriert sich direkt auf dieses Kernmaterial, das sich auf die Art, wie unser inneres Erleben organisiert ist, bezieht. Es setzt sich aus unseren frühesten Gefühlen zusammen und wird als Reaktion auf den Umweltstreß unserer Kindheit gebildet. Dieses Kernmaterial ist unlogisch und primitiv, aber es war die einzige Möglichkeit, wie ein magisches, verletzliches und bedürftiges Kind, das noch keine Grenzen kannte, überleben konnte.

Wenn sich dieses Kernmaterial erst einmal herausgebildet hat, wird es zu einem Filter, den alle neuen Erlebnisse passieren müssen. Das erklärt, warum manche Leute immer wieder die gleichen destruktiven Liebesbeziehungen haben, warum manche ihr Leben als eine Serie von Verletzungen erleben, die gewissermaßen immer wieder »recycled« werden, und warum so viele von uns nicht aus ihren Fehlern lernen.

Freud nannte diesen Drang, die Vergangenheit zu wiederholen, »Wiederholungszwang«. Die berühmte Therapeutin Alice Miller spricht von der »Logik des Absurden«. Es ist logisch, wenn man begreift, wie das Kernmaterial unsere Erfahrung prägt. Es ist, als würde man eine Sonnenbrille tragen: Ganz egal, wie stark die Sonne scheint, immer wird das Licht auf die gleiche Weise gefiltert. Wenn die Gläser grün getönt sind, sieht die Welt grün aus. Wenn die Gläser braun sind, kann man helle Farben nicht sehr gut unterscheiden.

Wenn wir uns also verändern wollen, müssen wir unser Kernmaterial verändern. Da das Kind in unserem Inneren unsere Erfahrungen ganz zu Anfang organisiert hat, müssen wir Kontakt mit ihm aufnehmen, um unser Kernmaterial unmittelbar verändern zu können.

Die Arbeit mit dem Kind in unserm Inneren ist ein wichtiges neues Werkzeug der Psychotherapie und unterscheidet sich völlig von den therapeutischen Ansätzen der Vergangenheit. Freud hat als erster erkannt, in welchem Maße Konflikte in der Kindheit, die wir im späteren Leben immer wieder durchleben, für Neurosen und Persönlichkeitsstörungen verantwortlich sind. Er versuchte, das verletzte Kind zu heilen, indem er in der Therapiesituation eine abgeschirmte, sichere Umwelt schuf, in der das verletzte Kind sich zeigen und seine ungestillten Bedürfnisse auf den Therapeuten übertragen konnte. Der Therapeut ersetzte dem verletzten Kind dann die Eltern, so daß es seine unerledigten Aufgaben zu Ende bringen und auf diese Weise geheilt werden konnte.

Freuds Methode erfordert ungeheuer viel Zeit und Geld und führt häufig bei den Patienten zu einer unguten Abhängigkeit vom Therapeuten. Eine meiner Klientinnen kam zu mir, nachdem sie zehn Jahre lang in psychoanalytischer Behandlung gewesen war. Und auch als sie bereits mit mir arbeitete, rief sie ihren Analytiker zwei bis dreimal pro Woche an, um sich von ihm Rat für die alltäglichsten Dinge zu holen. Der Analytiker war tatsächlich zum lieben Vater des Kindes in ihr geworden. Aber er half ihr damit kaum. Sie lebte in einer schrecklichen Abhängigkeit von ihm. Wahre Hilfe hätte dazu geführt, daß sie sich auf ihre eigene Kraft als erwachsene Frau besonnen hätte, um selbst dem Kind in ihrem Inneren zu helfen.

 

Ich möchte Ihnen in diesem Buch einen neuen Weg zeigen, wie Sie die Ansprüche auf das Kind in Ihrem Inneren geltend machen, Kontakt mit ihm aufnehmen und ihm helfen können. Sie müssen die vorgeschlagenen Übungen wirklich durchführen, wenn Sie eine Veränderung erreichen wollen. Es ist Aufgabe des erwachsenen Teils Ihrer Persönlichkeit, sich zu entscheiden, diese Arbeit zu tun. Selbst wenn Sie sich in Ihrem kindlichen Stadium befinden, weiß Ihr erwachsenes Ich immer noch genau, wo Sie sind und was Sie tun. Das Kind in Ihnen wird die Dinge so erleben, wie Sie sie in der Kindheit erlebt haben, aber diesmal ist Ihr erwachsenes Ich da, um das Kind zu beschützen, während es seine wichtigen unerledigten Angelegenheiten zu Ende bringt.

Das Buch besteht aus vier Teilen. Im ersten Teil wird beschrieben, wie Ihr göttliches Kind seine Göttlichkeit verloren hat, und wie die Verletzungen, die ihm in der Kindheit zugefügt worden sind, Ihr Leben beeinflussen.

Im zweiten Teil lernen Sie die verschiedenen kindlichen Entwicklungsstufen kennen und erfahren, was Sie gebraucht hätten, um auf eine gesunde Weise großwerden zu können. Jedes Kapitel enthält einen Fragenbogen, der Ihnen helfen soll, festzustellen, ob die Bedürfnisse des Kindes in Ihnen in einer bestimmten Phase Ihrer Entwicklung befriedigt worden sind. Anschließend werde ich Ihnen dann mit den Methoden, die ich auch in meinem Workshop anwende, dabei helfen, die Ansprüche auf das Kind in Ihnen in jeder Entwicklungsphase geltend zu machen.

Der dritte Teil bietet spezielle korrektive Übungen an, die das Kind in Ihnen blühen und gedeihen lassen. Sie lernen, wie Sie andere Erwachsene dazu bringen können, Bedürfnisse des Kindes in Ihrem Inneren zu befriedigen, und wie Sie einen Schutzwall um das Kind errichten können, während Sie das Problem der Intimität in Ihren Beziehungen bearbeiten. In diesem Teil werden Sie lernen, wie Sie selbst der hilfreiche Elternteil sein können, der Ihnen in der Kindheit so sehr gefehlt hat. Wenn Sie lernen, sich selbst »Wiederzubeeltern« (re-parent), werden Sie nicht immer wieder versuchen, andere Menschen zu Ihren Eltern zu machen, um mit Ihrer Vergangenheit fertigwerden zu können.

Im vierten Teil werden Sie sehen, wie Ihr göttliches Kind zum Vorschein kommt und das verletzte Kind geheilt wird. Sie werden lernen, einen Zugang zu Ihrem göttlichen Kind zu finden, und erkennen, daß es die schöpferische Energie verkörpert, die Ihnen für eine Umgestaltung zur Verfügung steht. Das göttliche Kind stellt den Teil von Ihnen dar, der Ihrem Schöpfer am meisten ähnelt. Es stellt eine direkte, persönliche Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem einzigartigen Ich und zu Gott, wie Sie ihn begreifen, her. Das ist die umfassendste Heilung, die es gibt, eine Heilung, wie sie in den Verheißungen der größten Lehrer aller Glaubensrichtungen enthalten ist.

Außerdem erzähle ich Ihnen auch meine eigene Geschichte. Als ich vor zwölf Jahren mit dieser Arbeit begonnen habe, hätte ich nie gedacht, daß mein Denken und Verhalten sich durch meine Entdeckung des Kindes in mir so stark verändern würde. Ich hatte die Auswirkungen meiner Kindheit vorher als minimal betrachtet und hatte die Zwangsvorstellung, meine Eltern idealisieren und beschützen zu müssen, vor allem meine Mutter. Als Kind sagte ich mir oft: »Wenn ich groß bin und hier weggehe, wird alles gut werden.« Im Lauf der Jahre wurde mir klar, daß es keineswegs besser wurde, sondern eher schlimmer. Bei den anderen Familienmitgliedern konnte ich das noch besser erkennen als bei mir selbst. Zehn Jahre, nachdem ich meinen Alkoholismus besiegt hatte, stellte ich fest, daß ich immer noch getrieben war und unter vielen Zwängen litt.

An einem verregneten Donnerstag nachmittag erlebte ich das, was Alice Miller über ihr inneres Kind geschrieben hat: »… und ich brachte es nicht fertig … das Kind … dort wieder allein zu lassen. Hier faßte ich einen Entschluß, der mein Leben grundlegend verändern sollte: mich von dem Kind führen zu lassen …« An diesem Tag entschloß ich mich, das Kind in mir zurückzufordern und es unter meine Fittiche zu nehmen. Ich fand es im Zustand panischer Angst vor. Zunächst hatte es kein Vertrauen zu mir und wollte nicht mit mir gehen. Aber ich ließ nicht locker, sondern redete ihm gut zu und versprach ihm, es nicht im Stich zu lassen. Erst dann begann ich, sein Vertrauen zu gewinnen. In diesem Buch beschreibe ich die einzelnen Phasen dieser Reise, die es mir möglich machte, Fürsprecher und Schutzengel des Kindes in meinem Inneren zu werden, eine Reise, die mein Leben verändert hat.

Eine Parabel

Die doppelte Tragödie des Rudy Revolvin

(frei nach The Strange Life of Ivan Osokin von P. D. Ouspensky)

 

Es war einmal ein Mann, der hieß Rudy Revolvin und führte ein qualvolles, tragisches Leben. Er starb unerfüllt und begab sich zum Ort der Finsternis.

Der Herr der Finsternis erkannte, daß Rudy ein erwachsenes Kind war, und meinte, daß er die Finsternis noch weiter vergrößern könne, wenn er Rudy die Möglichkeit böte, sein Leben noch einmal erleben zu können. Ihr müßt wissen, daß der Herr der Finsternis dafür zu sorgen hatte, daß die Finsternis nie aufhört – er sollte sie möglichst noch dunkler werden lassen. Er erklärte Rudy, er sei sicher, daß Rudy genau die gleichen Fehler wieder machen und die gleiche Tragödie erleben würde wie in seinem vorigen Leben.

Dann gab er Rudy eine Woche Bedenkzeit.

Rudy dachte angestrengt nach. Es wurde ihm klar, daß der Herr der Finsternis ihn hereinlegen wollte. Natürlich würde er die gleichen Fehler machen, denn er würde sich ja nicht mehr an das erinnern können, was er in seinem vorigen Leben durchgemacht hatte. Und ohne diese Erinnerungen hatte er keine Möglichkeit, die gleichen Fehler zu vermeiden.

Als er schließlich wieder vor den Herrscher trat, lehnte er das Angebot ab.

Rudys Ablehnung konnte den Herrn der Finsternis, der das »Geheimnis« des verletzten Kindes im Inneren des Menschen kannte, nicht beeindrucken. Er erklärte ihm, daß Rudy sich – im Gegensatz zu der üblichen Verfahrensweise – an alles aus seinem vorigen Leben erinnern dürfe. Der Herr der Finsternis wußte genau, daß Rudy trotz dieser Erinnerungen genau die gleichen Fehler machen und sein qualvolles Leben noch einmal durchleben würde.

Rudy lachte leise. »Endlich bekomme ich eine wirkliche Chance«, dachte er. Rudy wußte nichts von dem »Geheimnis« des verletzten Kindes in seinem Inneren.

Und so kam es dann, daß er sein qualvolles, tragisches Leben noch einmal durchlebte, obwohl er jede Einzelheit der Katastrophen voraussehen konnte, die er bereits in seinem früheren Leben angerichtet hatte. Und der Herr der Finsternis war zufrieden!

1. Teil

Das Problem des verletzten Kindes in uns

Das Wissen erleuchtete vergessene Gemächer in dem dunklen Haus der frühen Kindheit. Ich wußte jetzt, warum ich zu Hause Heimweh haben konnte.

G. K. Chesterton

 

Einleitung

Buckminster Fuller, einer der schöpferischsten Menschen unserer Zeit, zitierte gern Christopher Morleys Gedicht über die Kindheit:

Das schönste Gedicht, das je geschrieben wurde,

ist eines, dem alle Dichter entwachsen sind:

Es ist die angeborene, unausgesprochene Poesie,

wenn man erst vier Jahre alt ist.

 

Wenn man noch jung genug ist, um Teil zu sein

des großen, impulsiven Herzens der Natur,

wenn man als Gefährte der Vögel, der anderen Tiere

und der Bäume geboren ist

und noch so unbewußt lebt wie eine Biene –

 

Und trotzdem mit einem wunderbaren Verstand

jeden Tag ein neues Paradies schafft,

begeistert alle Sinne erforscht,

ohne Bestürzung und ohne sich etwas vorzumachen!

 

In deinen klaren, durchsichtigen Augen

liegt kein Gewissen, keine Überraschung:

Du nimmst die Rätsel der Natur hin,

bewahrst dir deine seltsame Göttlichkeit …

 

Und das Leben, das alle Dinge in Reime setzt,

macht auch aus dir schließlich einen Dichter –

aber es hat Tage gegeben, o du zarte Elfe,

da warst du selbst Poesie!

Was wird aus diesem wunderschönen Anfang, als wir alle noch »selbst Poesie« waren? Wie ist es möglich, daß aus all diesen zarten Elfen Mörder, Drogenabhängige, Kriminelle, Sexualverbrecher, grausame Diktatoren und moralisch degenerierte Politiker werden? Wie ist es möglich, daß aus ihnen die »wandelnden Verletzten« werden? Wir sehen sie alle um uns herum die Traurigen, Furchtsamen, Zweifelnden und Deprimierten, die von einer unsagbaren Sehnsucht erfüllt sind. Der Verlust unseres natürlichen menschlichen Potentials ist mit Sicherheit die größte aller Tragödien.

Je mehr wir darüber wissen, auf welche Weise wir unsere Spontaneität und Kreativität verloren haben, um so eher können wir eine Möglichkeit finden, sie zurückzugewinnen. Wir können möglicherweise sogar dafür sorgen, daß unseren eigenen Kindern so etwas nicht widerfährt.

1. Kapitel

Wie das verletzte Kind in uns unser Leben bestimmt

Der Mensch … der unter einem alten Kummer leidet, sagt Dinge, die keinen Bezug zur Gegenwart haben, tut Dinge, die zu nichts führen, wird mit seiner Lebenssituation nicht fertig und leidet unter schrecklichen Gefühlen, die nichts mit der Gegenwart zu tun haben.

Harvey Jackins

 

Ich wollte nicht glauben, daß ich so kindisch sein konnte. Ich war vierzig Jahre alt und hatte getobt und herumgeschrien, bis alle – meine Frau, meine Stiefkinder und mein Sohn – in panische Angst geraten waren. Dann stieg ich in mein Auto, fuhr weg und saß schließlich mitten in unserem Urlaub auf Padre Island ganz allein in einem Motel. Ich fühlte mich sehr allein und schämte mich.

Als ich den Versuch machte, die Ereignisse, die dazu geführt hatten, daß ich weggefahren war, zurückzuverfolgen, begriff ich nichts. Ich war völlig verwirrt. Es war, als wäre ich aus einem bösen Traum erwacht. Mehr als alles andere wünschte ich mir ein herzliches, liebevolles, intimes Familienleben. Aber das war jetzt das dritte Jahr, in dem ich in unserem gemeinsamen Urlaub einen solchen Wutanfall bekam. Seelisch hatte ich mich schon vorher von der Familie entfernt – aber ich war nie tatsächlich weggegangen.

Es war, als hätte ich eine Bewußtseinsveränderung durchgemacht. Mein Gott, wie ich mich selbst haßte. Was war bloß los mit mir?

Der Vorfall auf Padre Island ereignete sich 1976, ein Jahr nach dem Tod meines Vaters. Inzwischen bin ich dahintergekommen, warum ich immer wieder solche Wutanfälle bekommen hatte und mich anschließend zurückzog. Die entscheidende Spur fand ich auf Padre Island. Als ich in dem miesen Motelzimmer saß und mich schämte, tauchten plötzlich lebhaft Kindheitserinnerungen auf. Ich konnte mich an einen Weihnachtsabend erinnern, als ich etwa elf Jahre alt war. Ich lag in meinem dunklen Zimmer, hatte mir die Decke über den Kopf gezogen und weigerte mich, mit meinem Vater zu sprechen. Er war spät abends nach Hause gekommen und etwas betrunken. Ich wollte ihn dafür bestrafen, daß er uns das Weihnachtsfest verdorben hatte. Ich konnte meinen Ärger nicht in Worte fassen, weil man mir beigebracht hatte, daß das vor allem den Eltern gegenüber eine Todsünde sei. Über die Jahre hinweg trug ich diesen Zorn wie ein eiterndes Geschwür in meiner Seele. Und wie ein hungriger Hund, den man in den Keller gesperrt hat, wurde er immer heftiger und verwandelte sich schließlich in reine Wut. Die meiste Zeit bewachte ich diese Wut sorgfältig. Schließlich war ich ein netter Mensch, der netteste Vater, den Sie sich vorstellen können – bis ich es dann letzten Endes nicht mehr aushalten konnte. Dann verwandelte ich mich in Iwan den Schrecklichen.

Ich begriff langsam, daß es sich bei diesem Verhalten im Urlaub um eine spontane Altersregression handelte. Wenn ich herumtobte und meine Familie damit bestrafte, daß ich mich zurückzog, regredierte ich in meine Kindheit, in der ich meinen Ärger immer hinunterschlucken mußte und nur eine Möglichkeit hatte, wie ich ihn ausdrücken konnte: Ich bestrafte meinen Vater dadurch, daß ich mich zurückzog. Jetzt, als Erwachsener, fühlte ich mich nach einem solchen Anfall, bei dem ich mich entweder seelisch oder auch körperlich zurückgezogen hatte, wieder wie der Junge, der ich einmal gewesen war, ich war dann plötzlich wieder ein kleiner, einsamer Junge, der sich schämte.

Wenn die Entwicklung eines Kindes gehemmt wird – das habe ich inzwischen begriffen –, wenn Gefühle unterdrückt werden, vor allem Zorn oder Schmerz, trägt der Erwachsene später ein zorniges, verletztes Kind in sich. Und dieses Kind bestimmt unvorhersehbar das Verhalten des Erwachsenen.

Es erscheint zunächst grotesk, daß ein kleines Kind im Körper eines Erwachsenen weiterleben kann. Aber genau das meine ich. Ich glaube, daß dieses vernachlässigte, verletzte Kind im Inneren des Menschen, das aus der Vergangenheit stammt, die Hauptursache für das menschliche Elend ist. Solange wir nicht unseren Anspruch auf dieses Kind geltend machen und es unter unsere Fittiche nehmen, wird es sich immer wieder melden und unser Leben als Erwachsene bestimmen.

Ich habe eine Schwäche für mnemotechnische Formeln, deshalb beschreibe ich die Art und Weise, in der das Kind in unserem Inneren unser Leben bestimmt, mit den Anfangsbuchstaben des Wortes »contaminate« (vergiften). Jeder Buchstabe steht für einen wichtigen Aspekt, der sich auf die Art und Weise bezieht, wie das Kind in uns unser Leben als Erwachsener sabotiert. (Am Ende dieses Kapitels finden Sie einen Fragebogen, der Ihnen helfen soll, festzustellen, wie schwer das Kind in Ihnen verletzt worden ist.)

Co-Abhängigkeit Co-Dependence

Gewalt Offender Behaviors

Narzißtische Störungen Narcissistic Disorders

Vertrauensprobleme Trust Issues

Agieren/​Selbstbestrafung Acting Out/​Acting In Behaviors

Wunderglaube Magical Beliefs

Störungen der Intimität Intimacy Dysfunctions

Undiszipliniertes Verhalten Nondisciplined Behaviors

Sucht oder Zwänge Addictive/​Compulsive Beh.

Denkstörungen Thought Distortions

Innere Leere (Apathie, Depression) Emptiness [Apathie, Depression]

Co-Abhängigkeit

Ich definiere Co-Abhängigkeit als eine Krankheit (engl. disease = dis-ease, soviel wie »gestörtes Wohlbefinden«), deren Hauptmerkmal der Verlust der Identität ist. Wenn man co-abhängig ist, verliert man den Kontakt zu den eigenen Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen. Hier ein Beispiel: Pervilia hört ihrem Freund zu, der ihr etwas von seinen Schwierigkeiten im Beruf erzählt. Nachts kann sie dann nicht schlafen, weil sie sich mit seinem Problem herumschlägt. Sie hat seine Gefühle und nicht ihre eigenen.

Als Maximilians Freundin nach sechs Monaten mit ihm Schluß macht, will er sich das Leben nehmen. Er glaubt, daß sein Wert als Mensch davon abhängt, daß sie ihn liebt. Maximilian hat kein wirkliches Selbstwertgefühl, das von innen kommt. Sein Selbstwertgefühl hängt von anderen Menschen ab.

Jolisha wird von ihrem Mann gefragt, ob sie am Abend ausgehen möchte. Sie weiß nicht so recht, was sie will, sagt aber schließlich ja. Er fragt sie, wohin sie gehen sollen. Sie sagt, das sei ihr egal. Er geht mit ihr zu einer Imbißstube und anschließend ins Kino, in dem die Rückkehr des Mörders mit der Axt gespielt wird. Sie findet den ganzen Abend entsetzlich, schmollt und spricht die ganze Woche kein Wort mit ihm. Als er sie fragt: »Was ist denn los mit dir?« antwortet sie: »Nichts.«

Jolisha ist ein »Schatz«. Jeder läßt sich darüber aus, wie nett sie ist. In Wirklichkeit tut sie nur so, als ob sie nett wäre. Sie spielt ständig Theater. Nettsein bedeutet für Jolisha, nicht sie selbst zu sein. Sie nimmt nicht einmal wahr, was sie eigentlich braucht oder gern haben möchte. Sie ist sich ihrer eigenen Identität nicht bewußt.

Jacobi ist zweiundfünfzig Jahre alt. Er kommt in die Beratungsstelle, weil er seit zwei Monaten eine Affäre mit seiner 26jährigen Sekretärin hat. Er erklärt mir, er wisse gar nicht, wie das passieren konnte. Jacobi ist im Kirchenvorstand seiner Pfarrkirche und hat eine Aktion gegen die Pornographie in dieser Stadt organisiert. In Wirklichkeit ist die Religiosität bei Jacobi nur gespielt. Er hat den Kontakt zu seinem Sexualtrieb völlig verloren. Nach Jahren der aktiven Verdrängung hat sein Sexualtrieb dann plötzlich selbst das Regiment übernommen.

Biscayne leidet unter dem Gewichtsproblem seiner Frau. Ihr gemeinsames gesellschaftliches Leben beschränkt sich auf ein Minimum, weil es ihm peinlich ist, wenn seine Freunde seine Frau sehen. Biscayne hat das Gefühl dafür verloren, wo er aufhört und seine Frau anfängt. Er glaubt, seine Männlichkeit würde nach dem Aussehen seiner Frau beurteilt. Sein Partner Bigello hat eine Geliebte. Er stellt sie von Zeit zu Zeit auf die Waage, um sicher zu sein, daß sie ihr Gewicht hält. Bigello ist ein weiteres Beispiel für einen Menschen, der kein Selbstwertgefühl hat. Er glaubt, seine Männlichkeit sei abhängig vom Gewicht seiner Geliebten.

Ophelia Oliphant verlangt von ihrem Mann, daß er sich einen Mercedes kauft. Sie besteht außerdem darauf, daß sie weiterhin Mitglied im »River Valley Country Club« bleiben. Die Oliphants sind hoch verschuldet; sie leben von einem Zahltag zum anderen und verschwenden enorme Energie damit, ihre Gläubiger immer wieder hinzuhalten und nach außen hin den Eindruck einer wohlhabenden Familie der Oberklasse zu machen. Ophelia glaubt, ihre Selbstachtung sei von dem Eindruck abhängig, den sie auf andere Menschen macht. Jedes echte Gefühl für ihren Wert fehlt ihr.

Bei all diesen Beispielen handelt es sich um Menschen, deren Identität von Dingen abhängt, die außerhalb ihrer Person liegen. Das alles sind Beispiele für die Krankheit der Co-Abhängigkeit.

Eine derartige Co-Abhängigkeit entwickelt sich in ungesunden Familiensystemen. So wird in einer Alkoholikerfamilie mit der Zeit jeder vom Trinken des Alkoholikers co-abhängig. Weil das Trinken für jedes Familienmitglied so lebensbedrohlich ist, passen sich die anderen an, indem sie in chronischer Weise übertrieben wachsam werden (hypervigilant). Die Anpassung an Streß war von der Natur als vorübergehendes Phänomen gedacht und sollte niemals ein Dauerzustand werden. Nach einer gewissen Zeit verliert der Mensch, der mit dem chronischen Streß leben muß, den das Verhalten des Alkoholikers mit sich bringt, den Kontakt zu seinen inneren Signalen – zu seinen Gefühlen, Bedürfnissen und Wünschen.

Kinder brauchen Geborgenheit und müssen die Möglichkeit haben, ihre Gefühle in einer gesunden Weise entwickeln zu können, sonst können sie ihre inneren Signale nicht verstehen. Sie brauchen außerdem Hilfe, um zu lernen, Gedanken von Gefühlen zu unterscheiden. Wenn in der Familie Gewalt herrscht (sei sie emotionaler, körperlicher, sexueller Art oder Gewalt, die durch Alkohol- und Drogenkonsum entsteht), kann das Kind sich nur noch auf die Außenwelt konzentrieren. Nach einer gewissen Zeit verliert es dann die Fähigkeit, aus sich selbst heraus ein Selbstwertgefühl zu entwickeln. Ohne ein gesundes Innenleben bleibt einem nur noch der Versuch, Erfüllung in der Außenwelt zu finden. Das ist Co-Abhängigkeit, und sie ist ein Symptom des verletzten Kindes in uns. Co-abhängiges Verhalten weist darauf hin, daß die kindlichen Bedürfnisse eines Menschen nicht befriedigt worden sind und er deshalb gar nicht wissen kann, wer er wirklich ist.