Über das Buch

Zwei Männer. Zwei Möglichkeiten. Zwei Leben. Jackie Thomae stellt die Frage, wie wir zu den Menschen werden, die wir sind.

Mick, ein charmanter Hasardeur, lebt ein Leben auf dem Beifahrersitz, frei von Verbindlichkeiten. Und er hat Glück — bis ihn die Frau verlässt, die er jahrelang betrogen hat. Gabriel, der seine Eltern nie gekannt hat, ist frei, aus sich zu machen, was er will: einen erfolgreichen Architekten, einen eingefleischten Londoner, einen Familienvater. Doch dann verliert er in einer banalen Situation die Nerven und steht plötzlich als Aggressor da — ein prominenter Mann, der tief fällt. Brüder erzählt von zwei deutschen Männern, geboren im gleichen Jahr, Kinder desselben Vaters, der ihnen nur seine dunkle Haut hinterlassen hat. Die Fragen, die sich ihnen stellen, sind dieselben. Ihre Leben könnten nicht unterschiedlicher sein.

Jackie Thomae

Brüder

Roman

Hanser Berlin

Für euch, schwarze Schafe

Teil 1

Der Mitreisende

Ja, die Jahre flossen ineinander. Doch das hieß nicht, dass dieses Fließen nicht auch seine Schönheit hatte. Eine irrlichternde, nichtkonservierbare Schönheit der Kategorie: Muss man dabei gewesen sein.

1985—1994

Wieso, fragte Mick sich viele Jahre später, verschwammen die Neunziger in seiner Erinnerung zu einem konturlosen Nebel, obwohl es sein erstes Jahrzehnt als Erwachsener war? Wenn er sich hineinzoomte in diesen Nebel, der sich als Disconebel herausstellte, obwohl man schon lange nicht mehr Disco sagte, dann sah er, dass doch eigentlich viel Bemerkenswertes passiert war. Ich war dabei, dachte er, wenn er vor dem Beweismaterial hockte, seinen Kartons voller Fotos, Platten, Zeitschriften, CDs und VHS-Kassetten, die zusammen mit seinem Klavier den einzigen Besitz bildeten, mit dem er durch sein Erwachsenenleben zog. Der einzige offizielle Nachweis seiner Teilnahme an den Neunzigern bestand in seinem Rentenbescheid, dem er entnahm, dass er damals nicht sozialversicherungspflichtig gearbeitet hatte. Eine nichtamtliche Person also, ohne nachweisbare Abschlüsse oder Erfolge, auf der anderen Seite auch ohne Bankrotte, Vorstrafen oder Scheidungen. Mit heiler Haut davongekommen. Ohne äußere Verletzungen und Narben, sogar ohne Tattoos. Glücklicherweise hatte er es bei allen Versäumnissen auch versäumt, sich eine seiner unausgegorenen Ideen unter die Haut applizieren zu lassen.

Die Fotos aus dieser Zeit ähnelten seinen Erinnerungen. Unscharf und an unklaren Orten aufgenommen, nachts und überblitzt, rote Augen, geschlossene Augen, konzentrierte, auf den Selbstauslöser wartende Augen, schlechte Farben und Kontraste, keinerlei Atmosphäre, nur ein Durcheinander an Leuten, die scheinbar durch düstere Räume irrten, sich in Wahrheit aber auf legendären Partys befanden. Nein, anhand dieser Fotos würde niemand zum Nostalgiker werden. Und als Zeitgeistdokumente eigneten sie sich wenn überhaupt nur für Leute, die tatsächlich dabei gewesen waren. Nachtlebendesperados wie Mick. Doch es gab auch Fotobelege für seine Existenz am Tag. Mick mit Menschen, die ihm nah waren, Mick mit Tieren und Kindern, Mick beim Sport und auf Reisen. Fotos, auf denen er einen Jungen sah, der sich selbst für durchtrainiert und abgebrüht gehalten hatte und der ihm später so harmlos und pausbäckig vorkam wie eine Hummelfigur.

1990 war er zwanzig. Die darauffolgenden Jahre verbrachte er gebettet in ein Gefühl von Reife und Überblick, das sich mit Anfang dreißig als komplette Fehleinschätzung herausstellen sollte. Seinen altersgemäßen Größenwahnsinn konnte er sich verzeihen, nicht aber seinen leichtsinnigen Umgang mit der eigenen Lebenszeit, obwohl auch dieser altersbedingt war, erwuchs er doch aus der kindlichen Illusion der eigenen Unsterblichkeit. Im Grunde ein schönes Gefühl, ein Geschenk namens Jugend. Das er verprasst hatte. Wie er alles verprasst hatte, was sich ihm zu dieser Zeit anbot, sogar Freundschaften, sogar Liebe. Irgendwann war nichts mehr da.

Vorher war er der gewesen, der spät sprechen gelernt hatte und der dann, als der sprichwörtliche Damm gebrochen war, redete wie der sprichwörtliche Wasserfall, so dass die Kindergärtnerin ihm ein Pflaster auf den Mund klebte, wofür man sie heute anzeigen würde, aber nicht damals, in den Siebzigern. Er war der, der als Erster Fahrrad fahren lernte, der im Wasser blieb, bis er blaue Lippen hatte, und er war ein Ass mit jeder Art von Wurfgeschoss. Er machte viel kaputt, aber er quälte keine Tiere. Er war der, der keinen Vater hatte. Der Wunsch nach einem Vater nahm eine gleichberechtigte Stellung neben vielen anderen Wünschen in seinem Wunschuniversum ein, so dass er zu etwas weit Entferntem, Abstraktem wurde, das seine Bahnen um ihn zog und nur manchmal aufschien. Er war der, dessen Gesicht auf den Klassenfotos nicht weiß, sondern einen Ton dunkler war, also hellgrau, denn die Fotos waren schwarzweiß. Folgerichtig fiel er auf, wenn er Unsinn machte: Wer war das? Ein paar Rowdys, der kleine Schwarze war auch dabei. Aha. Man war im Bilde. Michi Engelmann, nomen non semper est omen, war immer dabei. Und gern. Manchmal war er der Anführer, manchmal ließ er sich führen, was man damals anstiften nannte. Verbotsschilder zogen ihn magisch an.

Und dabei war er das liebste Kind, das man sich vorstellen konnte. Martha hatte das gesagt, die Lieblingstante seiner Mutter, die in seinem Leben die Rolle der Großmutter übernommen hatte. Martha vertrat damit eine Einzelmeinung. Er war sechzehn, als sie das sagte, sein Hang zum Vandalismus war bereits abgeklungen und von einem Entwicklungsstadium abgelöst worden, von dem man sich besorgt hätte fragen können, ob es sich noch um die Pubertät oder schon um eine Depression handelte. Was ihn jedoch niemand fragte, er sich selbst auch nicht. Martha, die er nur noch selten sah, seit sie nach West-Berlin gezogen waren, benutzte das Wort Depression nicht, wusste aber, dass er keine gute Zeit hatte.

Minderjährige, die die DDR verlassen hatten, durften im Gegensatz zu erwachsenen Ausgereisten das Land wieder betreten. Nach seinem Besuch bei Martha fuhr er also über den Grenzübergang Friedrichstraße zurück in den Westteil der Stadt und kämpfte die gesamte S-Bahn-Fahrt mit etwas, das zu einer Tränenflut geworden wäre, hätte er es zugelassen. Marthas Freude über die Blumen, die er ihr am Bahnhof Zoo gekauft hatte, war so unerwartet groß gewesen, dass er kurz aus ihrem Krankenzimmer rausmusste, weil er schlagartig begriff, dass sie dieses Bett nicht mehr verlassen würde und dass er sie mit großer Wahrscheinlichkeit zum letzten Mal sah. Er ging aufs Klo und hängte sich über das Waschbecken, unschlüssig, was er jetzt tun sollte: Weinen? Kotzen?

Hyazinthen, hatte Martha gerufen, hach, ich freue mich so auf meinen Garten. Bleich und klein sah sie ihm dabei zu, wie er die Blumen ins Wasser stellte, und er fragte sich, ob sie ihn schonen wollte, was sehr gut möglich war, oder ob man vielleicht immer davon ausging, dass man ewig weiterlebte, ob man vielleicht dafür gemacht war, nie aufzugeben. Und weil er erst sechzehn war, fand er bei aller Liebe zu Martha, dass es die Hölle war, solche Gedanken überhaupt denken zu müssen, und boxte ein paar Mal gegen die Wand. Und dann, als er aus dem telefonzellengroßen Bad zurück an ihr Bett kam, sagte sie ihm, was für ein guter Junge er immer gewesen war, und erzählte ihm ein paar kleine Geschichten als Beleg, so als müsse sie ihn an seinen liebenswerten Kern erinnern, der im Moment leider von einem feisten, verunsicherten Teenagerfleischkloß umschlossen wurde. Noch nicht gut darin, mit Komplimenten umzugehen, in diesem Fall mit Komplimenten an eine Person, die er nicht mehr war, womöglich nie gewesen war, lächelte er verschämt, schaute auf Marthas ebenmäßige, schneeweiße Zähne und fragte sich zum ersten Mal, ob es ihre echten waren. Und so solle er auch bleiben, egal was die anderen sagten, denn die anderen mussten einem egal sein, sagte Martha, sie wiederholte es mehrmals, weil sie eine alte, mitteilsame Frau war, worauf Mick nur okay sagen konnte, weil er ein junger, maulfauler Mann war. Sie ließ sich ihr Portemonnaie aus dem Nachttisch geben und holte fünfzig DDR-Mark heraus. Dunkles Rosa mit einem rauschebärtigen Friedrich Engels drauf, ewiger Zweiter hinter dem noch rauschebärtigeren Karl Marx auf dem blauen Hunderter.

Hier mein Schatz, für deinen Zwangsumtausch.

Nein, lass mal.

Das nimmst du jetzt, was soll ich denn damit?

Aber der Zwangsumtausch geht doch in die andere Richtung: Ich muss West- in Ostmark tauschen, wenn ich rüberkomme.

Ach, dann nützt dir das ja gar nichts.

Sag ich doch.

Ich vergesse immer, dass unser Geld nichts wert ist. Traurig ist das.

Ja. Doof.

Geld, das keiner will. Wo gibt’s denn so was?

Und dann lachte sie. Vermutlich, weil es das Beste war, was man tun konnte, wenn man so vieles hatte kommen und wieder verschwinden sehen. Sie zwinkerte ihm zu und bat ihn um ein Glas Wasser.

Ist man nicht die Reflexion dessen, was die anderen in einem sehen?

Martha starb zwei Wochen später. Zur Beerdigung fuhr er wieder rüber, dieses Mal mit einem Kranz mit seinem Namen und dem seiner Mutter, die auch zu diesem Ereignis nicht einreisen durfte. Doch dieses Mal, beim offiziellen Anlass zum Weinen, fühlte er nichts mehr, nur das Unbehagen, das Beerdigungen mit sich bringen, und den dringenden Wunsch, dem Thema Tod so schnell wie möglich wieder zu entfliehen.

Die Berliner Innenstadt wird von einem Bahnring umschlossen, dem Verkehrspolitiker aufgrund seiner prägnanten Form den Namen Hundekopf gegeben haben. Als Micks Mutter verkündete: Wolfgang und ich, wir heiraten, bedeutete das, dass sie vom Treptower Park, am unteren Hinterkopf, nach Halensee an die Spitze der Hundeschnauze ziehen würden. Fünfundzwanzig Minuten würde die S-Bahn brauchen, wenn sie die Unterkieferlinie des Hunds entlangfuhr, doch die Bahn umrundete die Stadt nicht mehr, denn die Stadt war geteilt. Anderthalb Jahre lagen zwischen Antrag und Ausreise. Micks Mutter verlor ihre Arbeitsstelle in einem Wissenschaftsverlag und arbeitete in einem evangelischen Kindergarten. Ein Akt der Barmherzigkeit, für den Monika dankbar sein musste, auch weil offensichtlich war, dass sie an diesem Ort weniger verloren hatte als in einem Wanderzirkus. Unterdessen lebte Mick sein Teenie-Leben, das nach außen hin fast so aussah wie immer. Doch während er zum Rudertraining ging oder sich mit seiner Clique im Plänterwald herumtrieb, verabschiedete er sich innerlich von seinem Revier und seinen Freunden. Sein Trost bestand in den unendlichen materiellen Möglichkeiten, die ihn auf der anderen Seite der Mauer erwarteten, und der Zuversicht, dass es dort schließlich auch Leute gab.

Als sie dann umzogen oder rübermachten, wie man im Osten sagte, hatte er seinen Abschiedsschmerz fast hinter sich. Vorfreude überlagerte das Gefühl, verschleppt zu werden. Er zog nur ein paar Kilometer weiter, er blieb in seiner Stadt. Alles in allem bescheinigte er sich die absolute Kontrolle über die Situation.

Ein Irrtum. Die ersten drei Jahre im Westen verbrachte Mick mit seiner ersten ernsthaften Sucht und deren Bekämpfung. Eine Sucht, von der er noch nie gehört hatte. Nicht einmal in den Aufzählungen der unzähligen Übel des Kapitalismus seitens der Ostpropaganda war sie vorgekommen, und so brauchte er eine Weile, um zu begreifen, was da mit ihm passiert war und was es ausgelöst hatte.

Was jedem klar war: Im Osten gab es weniger Autos, weniger Reklame und Kommerz, keine Penner, keine Junkies und keine Hinweise auf Sex im Stadtbild. Im Osten gab es keine nennenswerte Einwanderercommunity, die sich niederließ und Geschäfte und Restaurants eröffnete, im Osten gab es nur ausländische Vertragsarbeiter und Studenten, die kamen und wieder verschwanden, wie Micks Vater. Im Westen fuhren keine Straßenbahnen, dafür Doppeldeckerbusse, und es gab ein U-Bahn-Netz statt nur zwei mickriger Linien. Um gegen Ostberlin anzuglitzern, brauchte es keine Glitzermetropole. Es brauchte einfach ein bisschen mehr von allem, und das gab es in West-Berlin. Nichts davon traf Mick unerwartet. Bis auf dieses Zeug. Er war fünfzehn, es war die Zeit des großen, wachstumsbedingten Hungers, und weil er den Zusammenhang zwischen Zufuhr und Verbrennung noch nicht begriff, pflegte er die Essgewohnheiten des Leistungssportlers, der er als Kind gewesen war, obwohl er seine Nachmittage nun vor dem Fernseher verbrachte. Alles musste probiert werden, die intensiven Geschmäcker konnten gar nicht artifiziell genug sein. Illusionen von Barbecue, frischem Gebäck oder irgendwelchen Früchten, die die Natur so nicht zustande brachte. Fantasien aus Fett, Zucker und Chemielabor. Er fraß sich durch die Stadt. In jedem U-Bahnhof zog es ihn an den Kiosk, und am Bahnhof Zoo trieb es ihn nicht auf die verruchte Rückseite, sondern auf den Vorplatz, wo das goldene M verheißungsvoll leuchtete. Im Osten hatte alles nach viel weniger geschmeckt, die alchemistischen Suchtformeln fehlten, mit denen man Lebensmittel in Designerdrogen verwandeln konnte. Man verzichtete zwangsläufig auf Raffinesse und war damit unbeabsichtigt der Zeit voraus: Alles schmeckte wie 1946 beziehungsweise wie aus dem Naturkostladen. Ob das besser, schlechter oder gesünder war, interessierte Mick nicht. Ihn interessierte, wie er nach kurzer Zeit aussah: Würde er sich in eine Mannschaft wählen? Würde er sich in den Dschungel lassen? Was würden die Türsteher beim Anblick dieses minderjährigen Mopsgesichts sagen? Woher sollten sie wissen, dass er dorthin gehörte? Denn der wahre Mick gehörte definitiv in die Clubs — und die Betten — der coolen Leute. Was man ihm vorübergehend jedoch leider nicht ansah.

Interessanterweise waren es nicht die anderen, die ihn darauf brachten. Seine Mutter ließ zwar ab und zu ein paar Bemerkungen fallen, sein Aussehen betreffend, schließlich war er ein so schönes Kind gewesen und, ein entscheidender Punkt in diesem Zusammenhang: ihr Sohn. Seine Mitschüler dagegen verfügten über keinerlei Schwarmgrausamkeit, sie plagten sich mit Akne, Zahnspangen, Schweiß- und Talgdrüsen herum und saßen somit selbst im Glashaus. So wie der Osten niemals so grau aussah wie im DEFA-Film oder, schlimmer noch, im Kalter-Krieg-Agentenfilm, so war auch West-Berlin nicht der Inbegriff der Coolness, zumindest nicht an seinem Gymnasium.

Seine Schule im Osten war vor ihrer Ausreise von einer schwarzen Welle überspült worden, die sich durch alle oberen Klassen ausbreitete und sogar die Streber erfasste. Die Erwachsenen standen dieser Epidemie unvorbereitet gegenüber, wobei die Depeche-Mode-Fans auf sie den ordentlicheren Eindruck machten als die Cure-Anhänger mit ihren weiß gepuderten Gesichtern. Was hatte das zu bedeuten? Die jüngeren Lehrer sahen darin vermutlich die Nachfolgeprovokation ihrer früheren Langhaarigkeit. Die Hardliner fanden sicher nicht, dass schwarzer Lippenstift ins Gesicht des Sozialismus passte, trotzdem schienen selbst sie sich irgendwann an das New-Wave-Festival auf den Fluren gewöhnt zu haben. Denn in ideologischen Fragen schien alles weiterhin seinen Gang zu gehen, Kollektivveranstaltungen, Appelle und Spartakiaden wurden so routiniert abgehalten wie die Gottesdienste in einem Jesuiteninternat, und was diese Pubertierenden währenddessen wirklich umtrieb, das war, wie jeder gute Pädagoge wusste, sowieso nicht kontrollierbar. Und so trug man FDJ-Hemd zur Robert-Smith-Frisur, nur Mick, die ewige Ausnahme in puncto Haar, trug einen Mittelstreifen, eine Afro-Version des Iro, und beneidete die Glatthaarigen, die ihrerseits ihn beneideten: Denn sein Haar stand. Alle anderen umgab eine hochentzündliche Wolke aus Haarspray, bis irgendwer irgendwann den ultimativen Festiger in der Hausapotheke seiner Eltern fand: sprühbares Wundpflaster, hurra, endlich Haar wie Beton.

Mick ging davon aus, dass es stylemäßig drüben viel wilder zugehen würde, schon deshalb, weil es viel einfacher war, sich auszustatten, und weil drüben eben keine piefige westdeutsche Mittelstadt war, sondern West-Berlin, die Insel der Irren. Doch nein. Er war nicht am Kottbusser Tor, er war in Wilmersdorf gelandet, wo man sich mit einem Qualitätspulli und seiner Naturhaarfarbe in den Unterricht setzte und wo die Mädchen auf eine nasale, subtextlose Art alles halt irgendwie voll witzig fanden. Dass er aus dem Osten kam, war kein Thema, er sah auch nicht aus, wie man sich einen aus dem Osten vorstellte. Man hielt ihn für ein GI-Kind. Nein, war er nicht. Ach, echt nicht? Auch egal. Lästige Fragen zum Thema drüben blieben ihm auf diese Weise erspart. Lästig deshalb, weil er im ersten Teil seines Lebens bereits so viele blöde Fragen hatte beantworten müssen, dass sie für mehrere Leben reichten. Die Ausländer- und die Ostfrage gleichzeitig, nein danke.

Stattdessen konnte er sich umgeben von liebenswerten Poppern von seinem persönlichen Systemwechsel erholen. Alle schliefen und nuschelten sich durch den Unterricht, schlurften über die Gänge und suchten nach ihrer Persönlichkeit. Mitglieder dieses apathischen Haufens waren außer Mick auch ein paar andere Eingewanderte. Einige erkannte man auf den ersten Blick, andere am Namen, wieder andere nur auf Nachfrage. Doch angenehmerweise wurde kaum nachgefragt. Beiläufig wurde erwähnt, dass man kein Schweinefleisch aß, Weihnachten erst im Januar feierte oder gar nicht und die Ferien in der Heimat der Eltern verbrachte. Sie bildeten keine Minderheitengang, sie mochten sich oder auch nicht, und Mick fühlte sich nach kurzer Zeit wie vorher schon: angeschwemmt von irgendwoher. Aber anpassungsfähig. Die Markencodes hatte er nach ein paar Tagen begriffen und an seine Mutter weitergegeben, die ihm die geforderten Klamotten kaufte, als wären sie seine Schuluniform: Diesel? Stüssy? Chevignon? Aha. Soso. Na gut. Bei den Preisen, beispielsweise für eine Chevignon-Fliegerjacke aus auf alt getrimmtem Leder, hätte Monika Einspruch erheben können, aus pädagogischen Gründen vielleicht sogar müssen. Im Westen benotete man nicht nur bis Fünf, sondern bis Sechs, was Mick neue Möglichkeiten nach unten eröffnete, die er sofort ergriff. Doch erfreulicherweise vermischte Monika diese Themenfelder nicht miteinander. Für sie als modebewusste Ostfrau war die Beschaffung der gewünschten Kleidung von jeher mit Opferbereitschaft verbunden, zumal es nicht ihr Geld war, sondern das von Wolfgang, ihrem neuen Mann, einem Siebzigerjahre-Bonvivant mit blondem Mittelscheitel, ernstgemeintem Schnurrbart und getönter Goldrandbrille.

Was brauchte es noch für einen ordentlichen Sozialstatus? Eine große Klappe, Musikgeschmack, Knete fürs Kino und ein Zimmer, in dem man ungestört herumhängen konnte. Nichts anderes als bei seinem alten Rudel. Der Druck, sein Fastfoodfett schnellstens wieder loszuwerden, wuchs also in ihm selbst, genau genommen in den Tiefen seiner Boxershorts, denn: Wie sollte das gehen mit den Mädchen? Seine Zukunft als Mann stellte er sich nicht so vor, dass er auf die Barmherzigkeit semi-attraktiver Frauen angewiesen sein würde. Ihm schwebte eher eine schwindelerregende Auswahl vor. Und zunächst mal der grundlegende Durchbruch, denn was er durch wissendes Grinsen und nebulöse Andeutungen geschickt im Unklaren ließ: Er war Jungfrau, auch wenn er es anders geplant hatte. Seine Zielperson, ein Mädchen, das aussah wie Billy Idol, hatte endlich zugesagt, mit ihm zelten zu fahren, als — ebenfalls endlich — ihr Ausreiseantrag bewilligt wurde, woraufhin Mick und seine Mutter innerhalb von einer Woche die Deutsche Demokratische Republik nicht nur verlassen durften, sondern zu verlassen hatten. Arschlöcher, dachte Mick und hinterließ dem Mädchen seine nagelneue 501 und eine fünfteilige Serie Musikkassetten, die er ursprünglich für die geile Zeit im Zelt aufgenommen hatte. Für das Zurücklassen seiner Lederjacke reichten seine romantischen Gefühle für Billy Idol aus Baumschulenweg dann doch nicht aus. Und auch nicht für eine Mädchen-aus-Ostberlin-Romanze, denn es ging eindeutig und, wie er annahm, beidseitig um Körperkontakt und nicht um einen mauerüberwindenden Seeleneinklang. Als er ihr eine Postkarte schrieb, komplett schwarz mit dem Satz Berlin bei Nacht, voll witzig, und Mühe hatte, das kleine Viereck mit etwas halbwegs Sinnvollem vollzuschreiben, das weder angeberisch klang noch Hoffnungen weckte, hatte sich das Gesicht des Mädchens in seiner Erinnerung bereits vaporisiert. Zurück blieb nur ihr hartes, silberblondes Haar. Hair without a face. Und ihr flexibler Turnerinnenkörper, den er fast unangetastet zurücklassen musste, ein Versäumnis, das ihn nicht sentimental machte, sondern überspannt und geradezu, man muss es so sagen: fickrig. Es folgten der Umzug, die Eingewöhnung, der Lebensmitteloverkill, und Mick saß vorerst fest in seiner Zwangsjungfräulichkeit.

Er ganz allein war es, der sich eines strahlenden Junitages, an dem er normalerweise ins Freibad gegangen wäre, was er aber aus gegebenem Anlass vermied, für den kalten Entzug, sprich den Hunger entschied. Und er zog es durch, obwohl er weiterhin wuchs. Die Vorstellung, langsam abzunehmen, erschien ihm so quälend wie die Wassertropfenfolter. Er trennte sich von seiner sogenannten Lerngruppe, bestehend aus drei Jungs, die nachmittags verschlafenen Schulstoff nachholen sollten und dabei entdeckten, wie intensiv sich Platten hören lassen, wenn man dazu Schwarzen Afghanen raucht. Nur einmal wöchentlich und nur so viel, dass das fehlende Haschisch dem älteren Bruder nicht auffiel, aber genug, um Erfahrungen mit verzögerter Zeitwahrnehmung, Paranoia, unbändigen Lachanfällen und einem Verlangen nach Nutella zu machen, das seine bisherigen Fressattacken in den Schatten stellte. Mick begriff, dass sich diese Nachmittage negativ auf sein Gewicht auswirkten, und strich sie.

Und er erkannte seinen ärgsten Feind: Zucker. Mick, eine Null in Chemie, erfasste den ihn betreffenden Teil des Themenkomplexes Saccharine innerhalb eines Nachmittags, was wieder einmal bewies, dass er kein Problem mit dem Stoff hatte, sondern nur mit dessen Vermittlung, die im Westen kein bisschen spannender war als drüben. Nachdem er den Zucker in seinen vielfältigen Verkleidungen enttarnt hatte, ließ er fortan nicht nur die Süßigkeiten, sondern alle Kohlenhydrate weg, was leichter war, als seinen eingeschlafenen Bewegungsdrang zu reaktivieren.

Mannschaftssport, nein danke, nicht mehr gruppenfähig. Vereinssport, auf keinen Fall. Ein Studio? Nicht in diesem Zustand. Also blieb er für sich und rannte. Erstaunlich, wie viel Waldfläche in einer eingemauerten Stadt existieren konnte. Mit seinem Rennrad, einem ultradünnen Gebilde, auf dem er vorerst und hoffentlich nicht mehr lange aussah wie Balu der Bär, fuhr er in die Wälder, nach oder während der Schule. Und zur Abrundung: Klimmzüge.

Was wünschst du dir zu Weihnachten, mein Großer?

Eine Reckstange.

Bitte?

Eine Querstange im Türrahmen. Oder Ringe im Flur.

Querstange, aha, soso. Kannst du das mit Wolfgang besprechen?

Klar.

Machst du das bitte, Schatz? Versprichst du mir das? Das ist lieb von dir.

Es war typisch für seine Mutter, ihm seinen Wunsch in Form einer Aufforderung zurückzuspielen. Monika, mitten in ihrer Ausbildung zur Heilpraktikerin, delegierte gut. Wolfgang, Immobilienmakler und Verwalter mehrerer Mietshäuser, ebenfalls. Er schickte einen Handwerker, um dem Wunsch seines Stiefsohns nach einem Trainingszimmer in der Abstellkammer nachzukommen, denn Mick hatte seine Anfrage um eine Sprossenwand, eine Ruderbank, einen Sandsack und eine Kollektion Hanteln und Expander erweitert. Zur Motivation hängte er sich ein Rumble-in-the-Jungle-Poster an die Wand. Während er seinen Sandsack bearbeitete und auf die definierten Muskeln von Muhammad Ali und George Foreman starrte, begriff er endlich, worum es in dem Song In Za … in Zaire ging.

Man ging sich aus dem Weg. Das hieß, Mick ging Monika aus dem Weg und Wolfgang ging Mick aus dem Weg. Sein Desinteresse an Kindern, insbesondere an männlichen, pubertären, wurde nicht groß kaschiert, was Mick lieber war als gespieltes Engagement. Der Umstand, dass Wolfgang Platz und Geld hatte, vereinfachte alles. Sie lebten in einer Sechszimmerwohnung in Halensee, in der Mick am Ende des sogenannten Dienstbodentrakts einen eigenen Eingang, ein Bad und zwei der kleineren Zimmer hatte, in denen er friedliche Nachmittage mit MTV und Masturbation verbrachte. Er solle sich doch tagsüber »vorne« aufhalten, sagte Monika und meinte damit den sonnigen, herrschaftlichen Teil der Wohnung. Doch er liebte seinen Appendix, die Stille und den Blick in den Hof, der mit seinem Weinbewuchs etwas Mediterranes hatte und in dem es nie wirklich hell wurde. Ab und zu wurde die Stille unterbrochen, dann hörte er die Musik der Nachbarn, Bon Jovi und Angelo Branduardi, und entwickelte gegen beide eine Aversion, und er hörte Katzen, die es brutal miteinander trieben, was ihn wieder an den Sinn des Lebens erinnerte. Nachts schlief er abwechselnd in seinem Bett und in der Zwischenetage, einer Art Hochbett, einem Überbleibsel aus der Zeit der Dienstboten, und stellte sich die Mädchen vor, die hier früher geschlafen hatten. Rechtlos, rotbäckig und so ahnungslos, dass man ihnen alles, aber auch wirklich alles beibringen musste. Das war im Gegensatz zu seinen Tagsüberfantasien erleichternd unschuldig. Irgendwann kam ihm der störende Gedanke, dass diese Dienstmädchen jetzt mindestens neunzig Jahre alt beziehungsweise tot sein müssten, also tauschte er sie gegen zeitgemäßere Frauen aus, Einbrecherinnen in schwarzem Leder zum Beispiel, in flagranti von ihm ertappt, oder Handwerkerinnen, die in seinem Trakt etwas zu reparieren hatten.

Zweimal im Jahr flogen sie nach Spanien, wo Wolfgang und Monika entweder mit Immobilienmaklern herumfuhren oder einfach nur dasaßen und Wein bestellten, während Mick, auf Porno- und MTV-Entzug, sein Sportpensum nochmals erhöhte. Irgendwann kam dann der Lohn für die Mühen. Und Mick, aufgeputscht von seinem dauerhaften Fastenhoch und seinen regelmäßigen runners highs, erhielt einen fetten Bonus von Mutter Natur: Er wuchs weiter, streckte sich auf fast zwei Meter. Der Spiegel wurde wieder zu seinem Freund. Das vormals Runde wurde kantig, Sehnen und Muskelstränge wurden sichtbar, endlich ein Männergesicht, endlich ein ernstzunehmender Bart. Schön geworden. Operation Mann geglückt, zumindest optisch. Ein Grund zu feiern. Wie sich zeigen sollte, jahrelang.

Völlig in den Hintergrund trat dabei sein endgültiges Verlassen der Schule. Den Beginn seiner Ausbildung als Zimmermann nahm er selbst so beiläufig wahr wie eine flüchtige Discobekanntschaft. Ein stolzer Beruf, sagte Monika, deren Vater, Opa Heinrich, auch Zimmermann gewesen war. Erst mal machen und dann weitersehen, sagte Wolfgang. Eine Zwischenlösung sollte es sein, behauptete Mick, dem irgendetwas mit Design vorschwebte und dem an der ganzen Idee am besten die Zunftkleidung aus schwarzem Cord gefiel. Die Zorrokluft mit dem Schlapphut würde ihm stehen, dachte er. Euphorisiert vom ersten großen Sieg seines Lebens, zufälligerweise einem Sieg über sich selbst, galoppierte Mick durch sein neues Dasein als gutaussehender Mann. Ein Dopaminrausch jagte den nächsten. Dann fiel die Mauer, die Neunziger begannen, die Stadt wurde zum Spielplatz und entwickelte sich nach seinem Geschmack.

Die Sonne war herausgekommen.

Zeit für Frauen. Zeit für Partys. Zeit für neue Freunde.

Was passiert, wenn man zwei hochvirile Männchen der gleichen Spezies zusammen in einen engen Käfig sperrt? Fallen sie übereinander her oder verbrüdern sie sich? Der Käfig, ein Audi Quattro, die Männchen, Mick und Desmond, eingeklemmt zwischen anderen Männchen in hysterischer Vorfreude auf dem Weg ins Unity, eine Gay-Party, ein Muss-Termin am Sonntagabend, unabhängig davon, ob man schwul war oder nicht oder unentschlossen. Irgendwo zwischen ihnen klemmte auch noch ein Weibchen, ebenfalls aufgebrezelt, ebenfalls hysterisch. Denn auch Frauen fanden, dass Schwulenpartys die wirklich guten Partys waren, und mittlerweile auch perfekte Orte, um nichtschwule Männer kennenzulernen. Einige fanden es auch total relaxt, sich unter so vielen attraktiven Männern zu bewegen und nicht angemacht zu werden. Schlecht kokettiert, Ladys, dachte Mick, wenn ihr nicht angemacht werden wollt, zieht euch doch einen Sack über den Kopf oder bleibt zu Hause.

Mick und Desmond entdeckten sich auf dem Rücksitz über zwei andere, nun unwichtige Köpfe hinweg, erhoben sich aus der kreischenden Menge und flogen ihre eigene Formation, einen Paartanz, wenn man so wollte. Wollte man jedoch nicht, denn der eine stand auf Männer und der andere auf Frauen. Freunde also. Oder Brüder. Auf jeden Fall waren sie von diesem Abend an gemeinsam unterwegs.

Mick hatte jemanden gefunden, in dem er sich spiegeln konnte. Desmond eröffnete ihm einen Blick in die Zukunft, wenn es denn gut laufen sollte. Etwas dunkler als er, etwas kleiner als er, neun Jahre älter, Amerikaner und somit ausgestattet mit einem natürlichen Vorsprung an Coolness. Ein Bruder, ja. Ein Bruder, so sah es Mick aus dem verklärten Winkel des Einzelkindes, bildet diese unauflösbare Einheit mit einem, einen Bund gegen den Rest der Welt, der ihnen auch von den anderen gespiegelt wurde, die ständig sagten, wie ähnlich sie sich sähen. Sie nahmen es hin, auch wenn sie wussten, dass sie sich so ähnlich sahen wie zwei Blondinen in Peking oder Nairobi. Mick und Desmond sahen sich ähnlich in Berlin. Auch, weil es ihnen so gefiel. Auch, weil Mick Desmonds Kleidungsstil adaptierte, der einer der stilsichersten Typen war, die ihm je begegnet waren, was allerdings keine große Kunst war im schlechtangezogenen Berlin. Wenn er später an Desmond dachte, sah er ihn auf dem Rücksitz eines Taxis, über einen Tresen gebeugt, Stirn an Stirn mit dem Barmann, bestellend, oder im Bett, in der Hand eine Fernbedienung, auf der Stirn einen Eisbeutel. Er, Mick, musste demnach die Person direkt daneben gewesen sein.

Mick, der kurz nach seinem Auszug bei Monika und Wolfgang auch seine Zimmermannslehre abgebrochen hatte, war nun frei von jeder Kontrollinstanz, so frei, dass es an Orientierungslosigkeit grenzte. Und hier kam Desmond ins Spiel, der ihm aufzeigte, wie ein Leben mit möglichst wenig Pflichten und möglichst hohem Standard aussehen könnte.

Es war eine gute Zeit für gute Fotografen. Desmond machte gute Fotos, hasste es aber, Dienstleister zu sein, und war, höflich ausgedrückt, eher sperrig im Umgang, weswegen man ihn seltener buchte als andere und häufig nur einmal. Dumm nur, dass er sich trotzdem einen Namen als Modefotograf gemacht hatte, der ihm wiederum bei der Anerkennung als Künstler im Weg stand. Behauptete Desmond. Seine Serien waren also provokante Modestrecken oder modeinspirierte Kunstserien zu den Themen Heroin, Hedonismus, HIV, Homosexualität, Heimatlosigkeit, Heilige, Horrorclowns, Haute Couture, Hautfarben, Hermaphroditen, House- & Technoszene Berlin, Chicago, Detroit. Die scheinbare Fixierung auf den Buchstaben H war Zufall.

Mick interessierte sich eher für Desmonds Ist-Zustand als Desmonds Zukunftsvision als Ikone der Fotografie. Sein Geschmack und die daraus resultierende Geradlinigkeit, mit der er die Welt in Dinge einteilte, die er begehrte oder verachtete, waren kostspielig. Mick sah, dass Desmond oft tagelang ausging, zurückkam, den Telefonstecker aus der Wand riss und nach zwei Tagen im Bett ein Fax las, auf dem man ihm einen fünfstelligen Betrag bot. Woraufhin Desmond jammerte und fluchte und Mick sich sagte, dass es ja nicht so schwer sein könne, ein paar gutaussehende Leute vor einer teuren Kulisse zu knipsen. Desmond sagte Jobs zu und Desmond sagte Jobs ab. Er musste es sich also leisten können, schloss Mick und bewarb sich um die Krümel dieser scheinbar fetten Torte. Wie wäre es, wenn Desmond ihn zu seinem Assistenten machen würde?

Nein, sagte der.

Desmond stand vor dem Spiegel, Mick saß hinter ihm.

Warum nicht?

Desmond zupfte sich einen Papierfetzen von einem Rasierschnitt und trat ein Stück zurück.

Weil ich meinen Assistenten anschreien können muss.

Ihre Blicke trafen sich im Spiegel, Mick lachte.

Das ist mein voller Ernst.

Desmond kam sich ein Stück näher, steckte die Zunge in die Wange und strich über seine gewölbte Haut. Ein Pickel?

Von mir aus darfst du mich auch anschreien.

Desmond tupfte etwas Concealer auf seine Wange.

Ich weiß. Will ich aber nicht.

Desmond nickte sich selbst zu, fertig zum Ausgehen.

Ich finde angeschrien werden besser als kein Geld haben.

Desmond lachte und rief ein Taxi.

Mick fragte weiter. Es rührte ihn, dass Desmond ihn vor sich selbst als Boss beschützen wollte, doch die Geldfrage wurde immer dringlicher. Und unter seiner akuten Geldnot lauerte auch die von Jahr zu Jahr drängendere Fragestellung, wer oder was er eigentlich sein wollte. Er sah eine Quereinsteigerkarriere auf sich zukommen, nur die Branche fehlte noch. Und Desmonds Branche war kreativ und bot Raum für Wahnsinn, andernfalls wäre es nicht Desmonds Branche. Während er sich in seinen aktuellen Jobs in einer Arthouse-Videothek, in einem Plattenladen und als sporadischer Helfer eines Bühnenbauers als Fehlbesetzung empfand. Er war nicht in der Position, sich als überqualifiziert zu bezeichnen, schon gar nicht laut, doch er sah sich nicht als Ladenboy oder Handlanger. Eine passende Gelegenheit musste her. Doch Desmond blieb bei seinem Nein. Ein paar Mal flogen sie gemeinsam weg, zu Partys und Freunden nach Paris, Bologna und Barcelona, wo Mick alles tat, um Desmond zu beweisen, wie gut es war, ihn um sich zu haben. Wie gut er Auto fuhr, wie gut er organisieren konnte, wie gut er darin war, irgendwelche Leute zu überreden, ihnen irgendetwas in günstiger, größer oder schneller zu überlassen.

Dann kam das Aus für Mick, den sorglosen Reisenden.

Monika und Wolfgang hatten sich getrennt. Für Mick bedeutete das, nun ausschließlich von seinen Hier-und-da-Jobs zu leben. Es war möglich, aber es war nicht lustig. Es war prekär.

Er hatte einige Trennungen seiner Mutter erlebt und sie akzeptiert, weil Kinder die Welt akzeptieren, die ihre Eltern ihnen vorsetzen. Mit jahrelanger Verspätung erfasste ihn nun eine infantile Wut auf sie. Wie kam sie zu diesem sinnlosen und materiell nachteiligen Entschluss? Was glaubte sie, wer sie war? Sein Schmerz überraschte ihn selbst. Kurz stellte er sich sogar die kindliche Frage, ob er diese Trennung nicht hätte verhindern können. Er war fast dreiundzwanzig und stand in einem eher losen Kontakt zu seiner Mutter und deren Mann, nun Ex-Mann. Etwas zu fest packte Monika ihn am Unterarm.

Wolf und ich, wir hatten da so unsere Differenzen. Er ist ein guter Kerl, aber dann doch sehr konservativ in seinen Einstellungen, weißt du? Also teilweise ja fast reaktionär. Verstehst du?

Nein, Mick verstand nicht. Das Restaurant, in dem sie saßen, ein Türke, der behauptete, ein Italiener zu sein, was an sich kein Problem wäre, wenn er kochen würde wie ein Italiener oder konsequenterweise wie ein Türke, dieser Ort und seine Küche schienen den Weg in eine trübe Zukunft zu weisen.

Ich mache jetzt mein Ding, und weißt du was? Ich freu mich drauf.

Kann nicht einmal was normal laufen?

Bitte? Monika tat konsequent so, als würde sie ihren Eisbergsalat genießen. Was war das für ein Dressing, Dönersoße?

Du weißt genau, was ich meine. Ich kann mich nicht dauernd umstellen. Alle paar Jahre musst du dein Leben ändern oder deinen Mann wechseln, und ich muss das dann super finden.

Ich zwinge dich nicht, das super zu finden. Ich fände es nur schön, wenn mein Sohn mich verstehen würde, sagte Monika. Und du musst dich auch nicht dauernd umstellen, du bist, zumindest auf dem Papier, erwachsen und könntest bereits einen Beruf haben. Wie sieht es eigentlich an dieser Front aus, hm?

Mick ging darüber hinweg. Mick war wehleidig. Er hatte zwei Nächte in einem Club namens Planet verbracht, hatte geduscht und war zunächst erstaunlich leichtfüßig zum Treffen mit seiner Mutter getänzelt. Auch den abrupten Szenenwechsel zwischen dem fluoreszierenden Techno-Fegefeuer und dem Restaurant, dessen Wände Grotten nachempfunden und mit Zypressen, Eseln, Gondolieres und einem Steinofen bemalt waren, hatte er ganz gut verkraftet. Er trug eine Sonnenbrille mit gelben Gläsern. Ich war feiern, lautete die Zusammenfassung für diese Wochenenden, nach denen man zurück in die Welt trat, als hätte man ein überfülltes Ufo verlassen.

Warst du in der Disco?, hatte ihn Monika gefragt, und sie hatten aneinander vorbeigelächelt, jeder sein eigenes Bild einer gelungenen Samstagnacht vor Augen. Das erste Bierchen hatte ihn gleichzeitig geerdet und aufgeheitert, doch Bierchen Nummer zwei und die schlechten Nachrichten ließen Mick zu einem Sinkflug ansetzen.

Ich will eine Cola. Er hörte sich an wie 1976.

Bestell dir doch eine.

Ich hatte einmal im Leben das Gefühl, ich habe ein Zuhause.

Soso. Wenn ich mich richtig erinnere, war das ein Zuhause, aus dem du gar nicht schnell genug ausziehen konntest.

Ja, aber ich hatte einen Ort, an den ich zurückkommen konnte.

Ach Schatz, sagte Monika, du kannst doch jederzeit zu mir kommen.

Nun wäre es an Mick gewesen, zuzugeben, dass ihm Monikas neue, dem Vernehmen nach winzige Wohnung in Moabit genauso wenig in den Kram passte wie das Ausbleiben von Wolfgangs monatlicher Zuwendung mit dem Verwendungszweck »Ausbildung« auf seinem Konto, was den Schluss zugelassen hätte, dass es Mick weniger um ein Zuhause im ideellen Sinne ging, sondern um den hohen Wolfgang-Standard.

Niemand verbietet dir, weiter in Kontakt mit Wolfgang zu bleiben. Wobei mir ehrlich gesagt gar nicht bewusst war, dass du so an ihm gehangen hast.

Mick nickte traurig vor sich hin.

Schmeckt dir die Pizza nicht?

Der Schinken ist von Penny und die Champignons sind aus der Dose.

Ach komm. Kein Pfennig auf dem Konto, aber La Paloma pfeifen.

Du hast mich doch gefragt.

Ja, aber weißt du was, wenn du findest, dass du eher in einen Edelitaliener gehörst, dann such dir doch einen Job, mit dem du dir einen Edelitaliener leisten kannst.

Mir würde es schon reichen, wenn es ein Italiener wäre.

Mick hörte halb zu, wie Monika sich ihren Abstieg schönredete, und warf sich vor, seine Beziehung zu Wolfgang nie gepflegt zu haben. Er hätte ihn beispielsweise um eine Wohnung in einem seiner Häuser bitten können. Dort wäre er unkündbarer Mieter mit Sonderrechten gewesen. Leider nicht in einem Bezirk seiner Wahl, aber egal. Und ein generöser Typ wie Wolfgang hätte ihn auch nach der Trennung von seiner Mutter nicht rausgeworfen, niemals. Wieso kam er erst jetzt darauf? Plötzlich vermisste er Wolfgang. Mit Verspätung und mit ungeahnter Wucht.

Wie geht’s Wolfgang denn?, fragte er — und fragte sich zum ersten Mal wirklich, wie es Wolfgang ging.

Ach, du kennst ihn doch. Der macht so seine Sachen. Tritt etwas kürzer in der Firma und hat sich ein Boot gekauft. Da wäre ich sowieso nicht die Richtige gewesen, ich werde doch sofort seekrank, erinnerst du dich? Na ja. Wir haben uns jedenfalls im Guten getrennt, weißt du? Also ohne Ansprüche oder Forderungen, das ist ja nun überhaupt nicht mein Stil.

Aha. Was ist denn dein Stil?

Sag mal, was soll denn dieser Ton bitte? Mein Stil ist es, nicht nur zu behaupten, ich wäre emanzipiert, sondern das auch zu leben. Und wenn ich was aus diesem Scheißland mitgenommen habe, dann die Einstellung, dass eine Verbindung zwischen zwei Menschen nicht bedeutet, dass der eine dem anderen seine Anwesenheit hinterher in Form von Unterhalt zu vergüten hat.

Das fand Wolfgang sicher total toll. Dass er jetzt so viel Geld spart, damit du von dir behaupten kannst, du wärst emanzipiert. Das könntest du übrigens auch so. Würde gar niemandem auffallen. Ist ja nicht so, dass Wolfgang seine Kontoauszüge veröffentlicht.

Ach Schätzchen, Monika winkte dem Kellner. Es geht doch darum, dass ich mich im Spiegel anschauen kann und eine unabhängige Frau sehe. Von uns Ostfrauen können sich da viele eine Scheibe abschneiden. Was gibt’s denn da zu grinsen, bitte?

Hast du mal gesehen, was die Russinnen auf dem Ku’damm veranstalten?

Nein, was denn?

Die kaufen Designerklamotten wie Kartoffeln.

Ja und?

So viel zum Thema Ostfrauen.

Also erstens verstehe ich jede Frau, die sich gut kleidet. Und auch jede Art von Nachholbedarf. Und zweitens ist das ja vielleicht ihr selbstverdientes Geld, das wissen wir doch nicht.

Ganz sicher. Das haben die sich zusammengespart von ihrem Lohn als Kranführerin in der Sowjetunion.

Monika lachte und winkte dem Kellner noch einmal. Seine Freunde hatten seine Mutter immer gemocht, fanden sie cool, modern und attraktiv. Bestätigten somit exakt das, was Monika von sich selbst dachte. Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Mick sah, dass sie ihren Ehering noch trug, einen äußerst stattlichen Klunker.

Du, deine komische Rhetorik, dieses Abschweifen vom Thema und am Ende recht haben, da steckt ein Talent drin, das du irgendwie nutzen solltest. Beruflich, meine ich.

Mick nickte. Was man ihr lassen musste: Sie sah ihn als halb volles Glas.

Das konntest du schon als Kind. Ich find das ja klasse.

Monika lachte weiter, Mick lächelte. Gut sah sie aus, seine Mutter, bis auf die Unsitte, Birkenstocks zu ansonsten eleganter Kleidung zu tragen, die sie wohl aus der Heilpraktikerszene übernommen hatte.

Signora?, fragte der Kellner.

Un otro Pinot Grigio y una Coca Cola, por favor, sagte Monika.

Eine Deutsche spricht Spanisch mit einem Türken, der nicht mal zu checken scheint, dass es kein Italienisch ist, so ein Quatsch, dachte Mick und rief dem Kellner ein schwaches Light hinterher.

Ich glaube, er denkt, du bist mein Lover, sagte Monika zufrieden. Was machst du eigentlich am Ku’damm?

Ich war mit Desmond unterwegs.

Desmond. Wie geht’s ihm denn?

Super.

Sag mal, was du da anhast, ist das eine neue Lederhose?

Was er da anhatte, war eine vormals exorbitant teure Lederhose, die Desmond zu lang war, der sie trotzdem eine Weile getragen und ausgebeult hatte, was die Hose nicht appetitlicher machte und ihr einen derart lächerlichen Ankaufspreis in einem Secondhandladen bescherte, dass Mick sie jetzt etwas widerwillig doch trug.

Ja. Wieso?

Nur so. Weißt du, eins wollte ich dir schon lange mal sagen und dann kam die Sache mit Wolfgang dazwischen und der Umzug und so weiter. Ah! Mein Wein! Jedenfalls: Es ist völlig in Ordnung für mich, ich freue mich sogar darüber, es geht ja nur um eins, dass du dich wohlfühlst …

Mick fühlte sich nicht wohl und betrachtete die Weinzeremonie. Ein dem Niveau des Ladens und dem Wein nicht angemessenes Brimborium. Monika nahm den Probierschluck und nickte zustimmend.

Muchas gracias.

Prego.

Jedenfalls hätte ich immer gedacht, aber da habe ich mich wohl überschätzt, dass ich eine Mutter bin, der man, ohne mit der Wimper zu zucken, erzählen kann, dass man mit einem Mann zusammen ist. Wolfgang: andere Baustelle. Aber der ist ja nun weg.

Ich bin nicht mit Desmond zusammen.

Nein? Du machst aber alles mit Desmond. Klasse Typ übrigens. Schöner Mann noch dazu.

Hör zu: Wenn ich mit einem Mann zusammen wäre, würde ich es dir sagen, okay?

Da bin ich mir nicht so sicher, ich kann nur noch mal betonen, dass ich hundertprozentig d’accord damit bin.