Der Bergpfarrer – Jubiläumsbox 7 – E-Book 411-416

Der Bergpfarrer
– Jubiläumsbox 7–

E-Book 411-416

Toni Waidacher

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74093-427-9

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Liebe meines Lebens

Den Schraubenzieher noch in der Hand, schob sich Lena unter dem alten, rostigen Traktor hervor. Sie richtete sich halb auf und strich sich mit dem Arm ein paar zerzauste blonde Strähnen aus der Stirn.

»Hallo, Papa! Da bist' ja wieder! Das ist aber schnell gegangen. Was hat Dr. Wiesinger denn gesagt?«

Statt einer Antwort schüttelte Martin Leitner missbilligend den Kopf. »Mein Gott, Madl! Wie schaust du denn aus! Dein Overall, deine Hände, dein Gesicht… alles Schwarz! Und dein Kopftuch auch. Jetzt hätt bloß noch gefehlt, dass du mit offenen Haaren unter den Traktor gekrochen wärst!« Ein weiteres Kopfschütteln folgte. »Wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, den Traktor zu reparieren?«

Lena Leitner schaute ihren Vater verständnislos an. »Du weißt doch selber, dass er andauernd schlapp macht, Papa. Und dass wir ihn für die Ernte dringend brauchen.«

»Ja, schon. Aber du hättest ihn halt zum Hanninger in die Werkstatt fahren müssen!«

»Wie denn?«, gab Lena leicht genervt zurück. »Diesmal ist mir das Vehikel gar net erst angesprungen.«

»Soso. Und da hast du dich kurzerhand selber ans Werk gemacht. Und hast dir gedacht, wenn du ein paar Schrauben locker machst, spurtet unser alter Traktor wieder los wie Schmidts Katze. Lena! Also wirklich!« Martin Leitner wandte sich ab. Schlurfenden Schrittes ging er auf das Haus zu.

»Papa, ich hab dich vorhin gefragt, was der Doktor gesagt hat!« Mit einem Satz war Lena auf den Beinen und lief ihrem Vater hinterher.

»Nix hat er gesagt«, erwiderte Martin Leitner mürrisch.

»Was heißt da nix? Jetzt lass dir doch net jedes Wort aus der Nase ziehen, Papa! Hat Dr. Wiesinger herausgefunden, was dir fehlt?«

»Die Haustür hast auch wieder sperrangelweit offen stehen lassen«, moserte der Leitner-Bauer. »Während du unter dem Traktor herum gespielt hast, hätte ein Einbrecher gut und gern das ganze Haus ausräumen können. Dann wären wir jetzt bettelarme Leute.«

»Es ist helllichter Tag, Papa. Und wir sind hier in St. Johann. Net in der Bronx oder was weiß ich, wo.«

»Ja, ja, um eine freche Antwort bist du nie verlegen. Aber dich ein bissel schön machen und ein bissel lieb und nett und freundlich sein, das bringst net fertig. Mich wundert’s sowieso, dass der Brunner-Tobias net längst genug von dir hat.« Ächzend streifte Martin Leitner im Hausflur seine groben Schuhe von den Füßen und ging auf Strumpfsocken weiter in die Küche. »Jeder andere an seiner Stelle würde keinen Blick mehr an dich verschwenden.«

Lena schluckte die Antwort hinunter, die ihr auf der Zunge lag. »Wir reden jetzt net vom Brunner-Tobias, Papa. Und auch net von mir. Sondern von dir und von dem, was der Doktor gesagt hat.«

»Nix. Dr. Wiesinger hat gesagt, dass er nix gefunden hat. Cholesterin, Blutzucker, Nierenwerte, Leberwerte… alles im grünen Bereich. EKG, Belastungs-EKG und Herzultraschall… vollkommen in Ordnung. Bandscheibenvorfall hab ich auch keinen. Und meine Knie haben zwar leichte Verschleißerscheinungen, aber Dr. Wiesinger hat gemeint, das sei, wenn jemand von Jugend an körperlich hart gearbeitet hat, mit Ende fünfzig völlig normal.«

»Aha. Und warum hast du in der Nacht immer Herzrasen und bekommst kaum Luft, wenn du angeblich so gesund bist? Und warum tut dir dauernd dein Rücken weh? Und warum kannst du manchmal fast net gehen, weil du solche Schmerzen in den Knien hast?«

Der Leitner-Bauer zuckte die Schultern. »Das musst net mich fragen, sondern den Dr. Wiesinger«, antwortete er nicht eben freundlich, während er zum Herd ging und das Bratrohr öffnete. »Ah, da brutzelt ein Schweinshaxerl«, freute er sich. Einen Augenblick lang war er aufgeräumt und guter Laune, setzte aber schon im nächsten Moment wieder seine kritische Miene auf. »Hast es auch schön mit Salz und Pfeffer, Knoblauch und Kümmel eingerieben? Und ausgiebig Dunkelbier darüber geschüttet? Oder hast bloß den ganzen Vormittag an dem vermaledeiten Traktor herum gemacht und das Haxerl allein vor sich hinschmoren lassen?«

Als Lena stumm blieb, nahm Martin Leitner sich einen Löffel aus der Tischschublade, tauchte ihn in die Soße und kostete. »Gar net schlecht«, murmelte er anerkennend, holte sich ein Messer und schnitt sich ein Stück von der Kruste ab. »Wirklich net schlecht, Madl. So ein leckeres Schweinshaxerl würd dem Tobias auch schmecken. Da bin ich mir ganz sicher.«

Lena holte Teller und Besteck aus dem Küchenbüffet und deckte den Tisch.

»Und wie soll’s jetzt mit deiner Gesundheit weitergehen, Papa?«, bohrte sie nach. »Hat dir Dr. Wiesinger wenigstens ein Medikament verschrieben?«

Martin Leitner kaute an einem neuen Stück Kruste. »Net direkt«, mümmelte er. »Er hat gemeint, ich soll mich erst einmal ganz genau durchchecken lassen. Stationär. Droben im Klinikum auf der Nonnenhöhe.«

Lena griff sich die Platte mit der Schweinshaxe, stellte sie auf eine feuerfeste Unterlage und begann mit geschickten Händen, das Fleisch vom Knochen zu lösen und zwei Portionen anzurichten. »Scheint mir ein brauchbarer Vorschlag zu sein.«

»Was? Brauchbar? Dass ich net lach!«

»Also keine stationäre Untersuchung?«, fragte Lena und schüttelte verständnislos den Kopf.

»Nein, natürlich net! Sowas kommt gar net in Frage. Das hab ich auch dem Wiesinger gesagt.«

»Aha. Und… und warum willst du dich partout net auf der ›Nonnenhöhe‹ durchchecken lassen? Ich meine, dir liegt doch daran, deine Beschwerden loszuwerden, Papa. Je eher, desto besser. Und wenn dafür ein Aufenthalt in der Klinik eben nötig ist…«

»Wochenlang in der Klinik! Und auf dem Hof geht alles drunter und drüber, während ich droben auf der ›Nonnenhöhe‹ untätig im Bett herumliege!«

Lenas Augenlider verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Ich kann mich sehr wohl um den Hof kümmern. Und das weißt du auch.«

Der Leitner-Bauer winkte ab. »Ich weiß vor allem, dass du ein Madl bist. Und ein Madl ist mit einem Hof von der Größe des Leitnerhofs überfordert.«

»Ein Madl ist net dümmer als ein Bursch. Und kann die gleiche Arbeit verrichten«, verteidigte sich Lena. »Und außerdem ist‘s ja net für die Ewigkeit. Sondern nur für die Dauer deiner Untersuchung. Also bestimmt net länger als für eine Woche.«

»Ich hab aber nein gesagt. Und nein heißt nein. Du allein auf dem Hof, Lena, das kommt überhaupt net in Frage. Net einmal für einen einzigen Tag lass ich dich hier allein die Verantwortung übernehmen«, beharrte der Leitner-Bauer störrisch. »Wenn du willst, dass ich mich auf der ›Nonnenhöhe‹ untersuchen lasse, heirate den Brunner-Tobias. Dann kann ich mich beruhigt ins Krankenhaus legen. Beim Tobias ist der Hof in den besten Händen. Einen tüchtigeren Bauern als den Tobias gibt es gar net.«

»Papa! Das ist Erpressung, weißt du das? Und was die Qualitäten vom Tobias als Bauer betrifft…«

»Nein, das ist keine Erpressung, Madl. Das ist vernünftiges Denken. Aber vernünftiges Denken ist dir leider vollkommen fremd«, fiel Martin­ Leitner seiner Tochter ins Wort.

Lena häufte zum Fleisch noch einen Schöpflöffel Sauerkraut und zwei Semmelknödel auf den Teller ihres Vaters. Dann schob sie ihm seine Mittagsmahlzeit hin. »Und wenn ich den Tobias net mag? Ich meine, wenn ich ihn bloß als Freund und Nachbarn mag und net zum Heiraten?«

Martin Leitner zerteilte die beiden Semmelknödel in mundgerechte Bissen, die er mit der Gabel in die Soße drückte, damit sie sich vollsaugen konnten. »Wo ist denn da der Unterschied?«, knurrte er. »Freundschaft ist ein fruchtbarer Boden, auf dem die Liebe wachsen und gedeihen kann.«

Lena stieß zischend die Luft aus. »War das bei dir und der Mama auch so? Ich meine, ist eure Liebe erst mit der Zeit entstanden?«

Der Leitner-Bauer runzelte die Stirn. »Was ist denn das für eine dumme Frage?«, wich er aus. »Wir waren glücklich miteinander, meine Mathilde und ich. Sehr glücklich sogar. Das ist das Einzige, was zählt. Und wenn dieser Motorradfahrer net gewesen wäre, der die Mathilde auf dem Gewissen hat, dann… dann wäre sowieso alles ganz anders gekommen. Weil ich dann dich und den Michael net allein hätte großziehen müssen.«

Lena legte ihre Hand auf den Arm ihres Vaters. »So darfst du net reden. Du hast deine Sache gut gemacht, Papa«, sagte sie. »Der Micha und ich, wir hatten auch nach Mamas Tod eine schöne Kindheit. Und wir werden dir immer dankbar sein für das, was du für uns getan hast.«

Martin Leitner schüttelte Lenas Hand ab. »Dass ich net lach«, stieß er bitter hervor. »Dankbarkeit! Das ist doch bloß ein leeres Wort. In Wirklichkeit schert ihr euch keinen Deut um mich. Du hast dem Brunner-Tobias einen Korb gegeben, obwohl mir so viel daran liegt, dass aus euch beiden ein Paar wird. Und der Michael, dein feiner Herr Bruder, ist noch schlimmer. Seit drei Jahren treibt er sich in der ganzen Welt herum. Sein letzter Brief ist aus Aus­tralien gekommen. Der nächste kommt vielleicht aus China. Oder vom Nordpol.«

»Er schreibt dir, Papa. Er will seine Eindrücke und Erlebnisse mit dir teilen. Das heißt, er ist im Grunde immer noch mit dir und mit seiner Heimat verbunden. So kann man es doch auch sehen, oder?«, versuchte Lena, ihren Bruder zu verteidigen.

Der Leitner-Bauer gab keine Antwort. Wortlos schaufelte er sein Essen in sich hinein.

»Ich hätt noch eine Nachspeise«, sagte Lena, als er seinen leeren Teller zurückschob. »Einen karamellisierten Apfelkuchen. Den magst du doch so gern.«

Martin überlegte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Jetzt nimmer. Vielleicht heute Nachmittag. Jetzt schau ich erst einmal nach unseren Ziegen drunten auf der Bachwiese. Und dann geh ich beim Hanninger vorbei. Und sag ihm, er soll sich um unseren Traktor kümmern.«

»Das ist net notwendig, Papa. Wirklich net. Wenn du ein kleines bissel später gekommen wärst… eine knappe Viertelstunde noch, dann wär ich fertig gewesen. Ich… ich mach jetzt schnell den Abwasch und dann geh ich hinaus und schau, dass der Traktor fertig wird.«

Der Leitner-Bauer bedachte seine Tochter mit einem vernichtenden Blick. Schweigend erhob er sich, schlüpfte wieder in seine Schuhe und verließ das Haus. Nicht ohne lautstark und mit Nachdruck die Tür ins Schloss zu werfen.

Lena trat ans Fenster und sah ihrem Vater nach. Sie konnte doch nicht Tobias Brunner heiraten, nur damit ihr Vater zufrieden war! Unwillkürlich wanderte Lenas Blick zum Nachbarhof hinüber, der stattlich und stolz in der Mittagssonne lag.

Tobias führte den Hof zusammen mit seinem älteren Bruder Gerhard. Die beiden waren ein erfolgreiches Team.

Gerhard, der willensstärkere der beiden, war der Kopf und traf die Entscheidungen, Tobias ordnete sich ihm unter. Er war ein netter, umgänglicher und durchaus attraktiver junger Mann, aber die Begegnungen mit ihm verursachten Lena kein Herzklopfen. Und keine Schmetterlinge im Bauch.

Über Lenas Miene legte sich ein Zug von Nachdenklichkeit. Obwohl sie mittlerweile schon achtundzwanzig war, träumte sie noch immer von der großen Liebe. Gab es sie überhaupt? Und wenn ja, würde sie ihr begegnen? Wenn ihre Mutter noch leben würde, könnte sie vielleicht mit ihr darüber sprechen.

Freundinnen, mit denen man sich über solche Dinge austauschen konnte, hatte Lena nicht. Für Mädelsnachmittage und -abende blieb ihr keine Zeit. Immerhin lastete die viele Arbeit auf dem Hof, der angeschlagenen Gesundheit ihres Vaters wegen, fast ausschließlich auf ihren Schultern.

Ab und an war Lena schon knapp davor gewesen, Pfarrer Trenker um Rat zu fragen, hatte den Gedanken aber immer wieder verworfen.

Mit einem Seufzer wandte Lena sich vom Fenster ab, ließ heißes Wasser in die Spüle und machte sich an den Abwasch. Arbeit war immer noch das beste Mittel gegen Grübeleien aller Art.

*

Als Lena nach dem Gottesdienst in den warmen Sommertag hinaustrat, stand Pfarrer Trenker schon am Kirchenportal, um, wie jeden Sonntag, seine Gemeindemitglieder persönlich zu verabschieden und mit jedem von ihnen ein paar freundliche Worte zu wechseln.

»Und wie geht’s dem Papa?«, fragte er Lena, die in letzter Zeit immer häufiger allein zur Kirche gekommen war.

»Leider net besonders gut«, antwortete Lena. »Deshalb war er auch net in der Messe. Er ist droben auf dem Hof geblieben und hat sich ein bissel hingelegt.«

Sebastian nickte verständnisvoll. »Dass dein Vater gesundheitlich net auf der Höhe ist, tut mir leid«, antwortete er. »Für ihn und für dich, Lena. Habt ihr inzwischen wenigstens einen Knecht gefunden, der bei der Ernte zur Hand geht?«

»Bis jetzt leider noch net. Aber das Arbeitsamt hat versprochen, uns eine geeignete Kraft zu schicken. Wenn es net anders geht, eben einen Erntehelfer aus Polen.«

Dann hoffen wir das Beste«, meinte Sebastian Trenker. »Du brauchst schließlich auch ein bissel Entlastung, Lena.«

Lena zuckte die Schultern. »Ja, ein paar helfende Hände ab und an könnten net schaden. Aber im Grunde mach ich die Bauernarbeit gern. Und deshalb wird sie mir auch net leicht zu viel. Wenn nur der Papa endlich aufhören würde, mich zu einer Heirat mit dem Brunner-Tobias zu drängen.«

Der Bergpfarrer hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ehrlich gesagt, ich versteh auch net, warum dein Vater dich partout unter die Haube bringen will, Lena. Anstatt dir den Hof zu übergeben. Das wäre doch die viel näherliegende Lösung. Ich hab, wenn ich mit ihm geredet hab, schon ein paar Mal in Richtung Hofübergabe vorgefühlt, aber ich fürchte, da ist nix zu machen. Auch wenn du noch so tüchtig bist, kann dein Vater sich eine Frau als Hoferbin und Bäuerin einfach net vorstellen.«

»So ist es. Trotzdem danke ich Ihnen recht herzlich dafür, Herr Pfarrer, dass Sie sich für mich verwendet haben«, sagte Lena. »Und vielleicht ist die strikte Weigerung vom Papa, mich als seine Nachfolgerin einzusetzen, ja wenigstens für den Micha gut. Manchmal denke ich mir, irgendwann zieht es meinen Bruder schneller nach Hause, als wir alle meinen. Und mit einem bissel Glück bringt er von seiner Weltreise die Erkenntnis mit, dass Bauernarbeit bei weitem net das Schlechteste ist, was einem Menschen passieren kann. Ich glaube, mit so einer Wendung der Dinge wäre dem Papa am meisten geholfen.«

»Da magst Recht haben, Lena«, meinte Pfarrer Trenker. »Aber das ändert nix daran, dass es für dich net nur die Arbeit geben darf. Ein bissel Vergnügen und Freizeit gehören schließlich zum Leben mit dazu. Gönn' dir hin und wieder etwas. Und wenn es nur einmal ein freier Nachmittag ist. Oder ein kleiner Plausch. Oder ein Augenblick, in dem du die Schönheit unserer Landschaft genießt.«

»Ich werd beherzigen, was Sie gesagt haben«, versprach Lena und machte sich, nachdem sie sich von Pfarrer Trenker verabschiedet hatte, auf den Heimweg zum Leitnerhof. Die Worte des Bergpfarrers begleiteten sie und blieben nicht ohne Wirkung.

Ob sie sich beim Italiener ein Eis kaufen sollte? Mit einem Mal kam es Lena so vor, als hätte sie schon seit ihrer Kindheit kein Eis mehr ge­gessen. Zumindest keines, das so wunderbar fruchtig und cremig schmeckte wie das Eis aus der Eisdiele ›Fontana‹.

Zwar würde sie, um bei der Eisdiele vorbeizukommen, einen kleinen Umweg machen müssen, aber auf zehn oder fünfzehn Minuten kam es an einem Sonntagvormittag, an dem die Arbeit ohnehin ruhte, schließlich nicht an. Gedacht, getan.

Beschwingt betrat Lena wenig später die Eisdiele. Sie wollte sich ihr Eis in einer Waffel kaufen, um es unterwegs zu essen. Erdbeere vielleicht. Und Himbeere. Und Vanille. Oder lieber Waldmeister? Oder Maracuja? Gedankenverloren stand Lena vor der Eistheke, als ihr plötzlich jemand von hinten auf die Schulter tippte.

Überrascht wandte Lena sich um. »A… Anni, wo kommst du denn her?«

»Vom Gottesdienst«, erwiderte Anni. »Du doch auch, oder?«

Lena nickte. »Ich hab dich aber in der Kirche net gesehen. Und überhaupt hab ich gar net gewusst, dass du wieder in St. Johann bist.«

»In der Kirche bin ich ganz hinten gestanden, weil ich leider ein bissel spät dran war. Und in St. Johann bin ich seit knapp vier Wochen«, gab Anni Auskunft.

»Bleibst du länger?«, fragte Lena.

»Das will ich meinen«, lachte Anni. »Ich bin auf Dauer zurück. Von München hab ich mich verabschiedet. Und damit es in einem Aufwasch geht, auch gleich von meinem Verlobten, der mir vor der Ehe schon Hörner aufgesetzt hat. Soll er doch in der Großstadt bleiben und herum flirten. Ich jedenfalls bin wieder daheim. Und das fühlt sich verdammt gut an.«

»Net schlecht«, gab Lena zurück. »Und wo arbeitest du? Du wolltest doch nach der Schule eine Ausbildung zur Sekretärin machen, wenn ich mich recht entsinne.«

»Stimmt. Die hab ich auch gemacht. Und deshalb bin ich jetzt bei der St. Johanner Gemeindeverwaltung angestellt. Im Bauamt. Als Sekretärin von Herrn Wenninger, dem Bauamtsleiter.«

»Gratulation.«

»Und du, Lena? Lebst und arbeitest du immer noch auf dem Leitnerhof?«

Im Nu entwickelte sich ein Gespräch, in dessen Verlauf Lena sich zu einem »Zwillingsgipfel-Eisbecher« überreden ließ. Und anschließend noch zu einem Cappuccino.

Als Lena die Eisdiele wieder verließ, schlug die Kirchturmuhr von St. Johann bereits die volle Mittagsstunde.

Lena erschrak. Konnte es wirklich sein, dass sie fast eine ganze Stunde in der Eisdiele verbracht hatte? Ohne dass sie gemerkt hatte, wie die Zeit verging? Eigentlich müsste sie längst zu Hause sein!

Zwar hatte sie, des Gottesdienstbesuchs wegen, Rindsrouladen vorgekocht, die sie nur aufzuwärmen brauchte, aber ihr Vater wollte sein Mittagessen Punkt zwölf Uhr auf dem Tisch. Mit Sicherheit würde er ungehalten über ihre Verspätung sein. Unwillkürlich beschleunigte Lena ihre Schritte.

Dass Pfarrer Trenker ihr geraten hatte, sich auch einmal ein Vergnügen zu gönnen, war auf einmal nicht mehr wichtig. Sie musste jetzt so schnell wie möglich…

Lena begann zu laufen.

Eine knappe Viertelstunde später kam sie auf dem Leitnerhof an. Verschwitzt und völlig außer Atem. Nach Luft ringend, musste sie sich erst einmal gegen die Haustür lehnen, ehe sie aufschließen und eintreten konnte.

Alles war ruhig.

Vielleicht hatte sie sich ja ganz umsonst aufgeregt, und ihr Vater hatte sein Nickerchen, zu dem die sommerliche Wärme und sein angeschlagener Gesundheitszustand ihn genötigt hatten, noch gar nicht beendet.

Erleichtert begab Lena sich in die Küche und fing sofort mit der Zubereitung des Mittagessens an.

Dabei schweiften ihre Gedanken immer wieder ab zu dem Gespräch mit Anni.

Anni hatte ihr, nur vertraulich und hinter vorgehaltener Hand, von dem Bauplan erzählt, den Gerhard und Tobias Brunner bei der Gemeinde St. Johann eingereicht hatten.

Die Brüder wollten ziemlich nah an der Grenze zum Leitnerhof einen riesigen Hühnerstall bauen. Eine Anlage, in der die armen Hennen für die Dauer ihres kurzen Lebens dicht gedrängt auf einem Betonboden hocken mussten, nie das Tageslicht und die Sonne sehen und nie in der Erde scharren durften. Und das alles aus purer menschlicher Profitgier.

Gerhard, dem älteren der Brunner-Brüder, traute Lena eine solche Gemeinheit sofort zu. Aber es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, dass Tobias, der im Grunde keiner Fliege etwas zu leide tun konnte, plötzlich genauso kaltblütig geworden sein sollte.

Ging Tobias‘ mangelndes Durchsetzungsvermögen seinem Bruder gegenüber so weit, dass er nicht mehr zu widersprechen wagte?

Es hätte nicht viel gefehlt, und Lena hätte in ihrer Verwirrtheit Zucker statt Salz über die Kartoffeln gestreut.

Ihr Vater, so mürrisch er sein konnte, liebte Tiere über alles und hielt seine Ziegen fast wie Haustiere. Was er wohl sagen würde, wenn er von der geplanten Massentierhaltung erfuhr? Früher oder später mussten die Brunners ihm schließlich reinen Wein einschenken. Immerhin brauchten sie seine Unterschrift, weil er der unmittelbare Nachbar war. Sie konnten ihn nicht einfach übergehen und vor vollendete Tatsachen…

Ein markerschütternder Schrei riss Lena aus ihren Gedanken. Er kam eindeutig aus der Kehle ihres Vaters. Und von draußen. Papa lag also nicht mehr auf dem Wohnzimmersofa, wie sie geglaubt hatte.

Lena schaltete den Herd aus und rannte ins Freie. »Papa! Papa! Was ist denn los!«

»Zefix sapperment! Zefix! Zefix noch einmal!«, zeterte Martin Leitner laut vor sich hin.

Lena zuckte unwillkürlich zusammen. Es dauerte einen Moment, bis sie das lautstarke Fluchen geortet hatte und die richtige Richtung einschlagen konnte.

Da kam ihr ihr Vater auch schon entgegen. Er humpelte noch stärker als sonst und hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die rechte Schulter.

»Um Gottes Willen, Papa! Was hast’ denn gemacht?« Besorgt eilte Lena auf ihren Vater zu.

»Um Gottes Willen, Papa! Was hast’ denn gemacht?«, äffte der Leitner-Bauer seine Tochter nach. »Was werd ich schon gemacht haben? Gearbeitet hab ich, während du in der Kirche warst und anschließend noch herumgelungert bist. Aber ich sag dir, ich pack das alles einfach nimmer. Ich bin für den Hof und das ganze Auf und Ab nimmer jung genug und nimmer gesund genug. Die viele Arbeit wächst mir über den Kopf.«

»Ja schon, Papa. Aber…«

»Kaum warst du aus dem Haus, hab ich allerhöchstens noch ein Viertelstünderl geschlafen. Dann bin ich aufgewacht, weil der Ziegenbock unentwegt gemeckert hat. Also bin ich zum Ziegenstall gelaufen, um nachzuschauen, ob er etwas braucht. Im Ziegenstall bin ich ausgerutscht und hab mir das linke Knie geprellt. Ausgerechnet das linke, das ich bis jetzt immer viel besser hab belasten können als das rechte. Aber das Knie hätte ich gerade noch weggesteckt. Da sehe ich auf dem Rückweg zum Haus einen dürren Ast an unserem alten Walnussbaum. Ich hol also die Teleskop-Astsäge und fahr sie voll aus, um den toten Ast abzusägen. Da ist mir das vermaledeite Werkzeug – weiß der Teufel, warum – nach hinten weggekippt. Ich wollte es noch auffangen, aber…« Der Rest des Satzes ging in einem Stöhnen unter.

»Den dürren Ast hab ich gestern Abend schon entdeckt, Papa. Ich hätt ihn auch so bald wie möglich beseitigt, ehrlich. Bloß halt net am helllichten Sonntagvormittag, weil…«

Ein neuer Schmerzenslaut Martin Leitners brachte diesmal Lena zum Schweigen.

»Ich hol jetzt den Doktor«, entschied sie.

»Nein! Den kann man jetzt net wegen einer verrenkten Schulter stören. Der ist am Sonntagmittag beim Essen. Wie alle normalen Leute«, gab Martin Leitner zurück. »Nur ich… ich weiß jetzt net einmal mehr, wie ich essen soll. Ich kann ja den rechten Arm nimmer heben. Jetzt darfst mich füttern wie einen alten Mann.«

»Papa, bitte!«

Lena versuchte, ihren Vater zu stützen und ihn ins Haus zu führen, doch Martin Leitner stieß sie widerwillig zurück.

»Das eine sag ich dir«, schimpfte er, während er sich, so gut es ging, aus eigener Kraft weiterschleppte, »jetzt ist Schluss mit lustig. Morgen rede ich mit dem Brunner-Tobias Tacheles. Dann wird er dir, verliebt wie er ist, in den kommenden Tagen garantiert noch einmal einen Heiratsantrag machen. Der wievielte es ist, will ich lieber gar net wissen. Solltest du allerdings auch diesmal wieder Nein sagen, verkauf ich den Hof. Ich warne dich: Das ist mein letztes Wort. Mein allerletztes.«

*

Lena stand, die Arme gegen die morgendliche Kühle eng um den Körper geschlungen, vor dem Leitnerhof. Ihre Blicke schweiften über das unter einem leichten Dunstschleier liegende, noch schlafende St. Johann.

Ganz allmählich spürte Lena, wie die nur von Vogelgezwitscher unterbrochene Ruhe des heraufdämmernden Morgens auf sie überging, und stellte erleichtert fest, dass das heftige Hämmern ihres Herzens nachließ. Die Bilder des schrecklichen Albtraums, der sie gequält hatte, begannen zu verblassen, wenn sie auch immer noch durch ihren Kopf geisterten wie Wolkenfetzen, die sich nur langsam verzogen.

In ihrem Traum war sie mit Tobias Brunner in der Kirche von St. Johann vor dem Traualtar gestanden. Pfarrer Trenker hatte in aller Feierlichkeit die Hochzeitszeremonie vollzogen. Schließlich hatte der Kirchenchor »So nimm denn meine Hände« angestimmt, und Tobias hatte, der musikalischen Aufforderung folgend, wirklich ihre Hand genommen, um ihr den Trauring anzustecken.

Da hatte sie es mit einem Mal nicht mehr ausgehalten. Sie entzog Tobias ihre Hand und floh, das lange weiße Kleid hoch raffend, aus der Kirche. Kaum hastete sie jedoch den von Buchsbaumhecken gesäumten Kiesweg vor dem Gotteshaus entlang, als sie hörte, dass die Hochzeitsgäste ihr folgten. Sie wandte sich um und sah eine johlende und schimpfende Meute hinter sich, die zu allem Überfluss auf einmal mit Schaufeln, Rechen und allen möglichen Werkzeugen bewaffnet war.

Lena stürmte, so schnell sie konnte, weiter, um sich daheim auf dem Leitnerhof in Sicherheit zu bringen. Dabei knickten allerdings ihre Beine in den ungewohnten Stöckelschuhen immer wieder schmerzhaft um, wieder und wieder verhedderte sich ihr Brautschleier in irgendwelchen Hindernissen auf dem Weg. Sie stürzte ein ums andere Mal, und das Aufstehen wurde immer mühsamer.

Schon waren ihre Verfolger gefährlich nahe gekommen, als zu ihrer Erleichterung endlich der Leitnerhof aufgetaucht war.

Sie hatte aufgeatmet, doch im nächsten Moment war aus dem Dach des Wohngebäudes eine Stichflamme hervorgeschossen, hatte sich im Nu zu einer Feuersbrunst ausgeweitet und den ganzen Hof in kürzester Zeit in Schutt und Asche gelegt.

Lena schüttelte den Kopf. Wie konnte man nur derart ungereimtes Zeug träumen! Oder hatte der Traum am Ende gar eine tiefere Bedeutung?

Hing er damit zusammen, dass ihr Vater weiterhin entschlossen war, den Hof zu verkaufen, sollte sie nicht bereit sein, Tobias Brunner zu heiraten?

Sie hatte anfangs nicht geglaubt, dass es ihrem Vater wirklich ernst damit war, aber inzwischen…

»Guten Morgen, Lena! So früh schon auf den Beinen?«

Lena fuhr herum. Das war doch die Stimme von Pfarrer Trenker!

»Guten… guten Morgen, Herr Pfarrer!«, freute sie sich und streckte Sebastian die Hand hin.

Der gute Hirte von St. Johann trug keine Soutane, sondern eine Bundhose, Knietrümpfe und Bergschuhe, dazu ein kariertes Hemd und eine handgestrickte Wolljacke mit Zopfmuster. Über die Schultern hatte er sich einen ziemlich vollgestopften Rucksack gehängt.

»Unterwegs in die Berge?«, fragte Lena.

Sebastian Trenker nickte. »Ja. Ich bin auf dem Weg zur Kandereralm, um dem Thurecker-Franz wieder einmal einen Besuch abzustatten.« Seine Augen ruhten bei diesen Worten auf Lena, die ihm blass und irgendwie verstört vorkam. »Magst’ mitkommen, Lena?«, setzte er spontan hinzu.

In Lenas Augen trat ein Leuchten, das allerdings so schnell wieder verschwand, wie es gekommen war.

In ihrem Kopfschütteln schien dem Bergpfarrer ein Hauch von Bedauern, ja sogar Traurigkeit zu liegen.

»Nein, danke«, gab sie mit leiser, ein wenig gepresst klingender Stimme zurück. »Es geht leider net. Erstens muss ich jetzt das Frühstück für den Papa herrichten. Es wird nämlich nimmer lange dauern, bis er aufsteht. Und zweitens hab ich mir vorgenommen, heute unsere Bachwiese zu mähen und das Heu einzubringen.«

Sebastian Trenker lächelte Lena zu. »Fleißig wie immer«, lobte er. »Aber ich denke, das Heu kann durchaus bis morgen warten. Ich hab nämlich heute Früh, ehe ich aufgebrochen bin, sicherheitshalber den Wetterbericht gehört: Das stabile Sommerhoch soll sich noch mindestens eine Woche halten, ehe es wieder schwüler wird und Gewitter zu befürchten sind. Und was das Frühstück betrifft, richt’ es halt noch schnell her, Lena. Dann warte ich so lange auf dich. Oder mache mich auch gerne nützlich, wenn du mir sagst, was ich tun kann.«

Lena hob abwehrend die Hände. »Das ist sehr lieb von Ihnen, Herr Pfarrer«, bedankte sie sich. »Aber ich lass doch net zu, dass Sie für uns arbeiten. Das kommt überhaupt net in Frage. Und… und… was das Frühstück betrifft…« Mit einem Mal wusste Lena nicht mehr weiter.

»Und? Was ist mit dem Frühstück?«, versuchte Pfarrer Trenker, ihr auf die Sprünge zu helfen.

Lena seufzte. »Wahrscheinlich ist es am besten, wenn ich net lang um den heißen Brei herumrede. Ich kann mir nämlich absolut net vorstellen, dass der Papa mich weglässt. Und dass die Bachwiese erst morgen gemäht wird, wird ihm, fürchte ich, auch net sonderlich gefallen.«

»Mm«, überlegte Sebastian. »Weißt‘ was, Lena, ich red mit dem Vater und bitte ihn, dass er dir einen Tag frei gibt. Ich wollte sowieso schon seit einiger Zeit wieder einmal bei euch auf dem Leitnerhof vorbeischauen. Warum also net gleich jetzt? ›Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen‹, heißt es in einem Sprichwort.«

Unsicher kaute Lena auf ihrer Unterlippe herum. Sie wagte keinerlei Prognose, wie ihr Vater auf Pfarrer Trenker reagieren würde.

Immerhin hatte der Bauer sich in letzter Zeit wieder einmal ziemlich negativ über die Kirche ausgelassen und lauthals verkündet, die Geistlichen würden nur schöne Worte drechseln, aber wenn einen das Unglück träfe, bliebe man allein. Man könne von Gottes Vertretern im Grunde aber auch nichts anderes erwarten, und dann war wieder die alte Geschichte mit dem Motorradfahrer gekommen, der seine liebe Mathilde auf dem Gewissen hatte, selber aber noch am Leben war. Ihr Vater setzte an dieser Stelle seines Wortschwalls zwar meistens hinzu, dass Pfarrer Trenker eine Ausnahme sei, aber…

»Keine Angst, dein Papa wird mich schon net fressen, Lena«, schmunzelte der Bergpfarrer, dem Lenas Zögern nicht entgangen war. »Du bereitest jetzt ein extra feines Frühstück zu mit gebratenem Speck und Eiern und allem was dazu gehört, und der Rest ist dann meine Sache. Wetten, dass du heute Mittag mit mir auf der Kandereralm bist?«

*

Eine Stunde später ließen Pfarrer Trenker und Lena, die nun ebenfalls Bergschuhe trug und sich einen Rucksack umgehängt hatte, bereits die letzten Häuser von St. Johann hinter sich.

Sie hatten zusammen mit dem Leitner-Bauern ein mehr als üppiges und sehr schmackhaftes Frühstück eingenommen, und Lena stand die Erleichterung darüber, dass ihr Vater Pfarrer Trenker überaus herzlich aufgenommen hatte, noch immer ins Gesicht geschrieben.

Es hatte nicht einmal vieler Worte von Seiten des Bergpfarrers bedurft, um Martin Leitner davon zu überzeugen, dass Lena ein Ausflugstag gut tun würde.

Alles war so glatt gegangen, dass Lena schon fast irgendwo einen Fallstrick vermutete, aber es gab zum Glück keinen. Alles war so strahlend wie der Tag, der inzwischen erwacht war. Voll eitel Sonnenschein.

Ein elfenhafter Tanz von Lichtflecken auf dem Waldboden begrüßte Lena und Pfarrer Trenker, als sie den Ainringer Forst betraten, einen Mischwald mit hochge­wachsenen Fichten, Buchen und Eichen, durch den die erste Etappe des Wegs auf die Kandereralm führte.

Beim Durchqueren des Höllenbruchs spürte Lena dann aber doch eine gewisse Beklemmung. Nicht dass sie sich vor den Geistern der Schmuggler und Räuber gegruselt hätte, die in diesem Abschnitt des Ainringer Forsts alten Erzählungen und Sagen zufolge einstens ihr Unwesen getrieben hatten. Es war wieder einmal der Gedanke an Tobias Brunner, der ihr ein mulmiges Gefühl verursachte.

Sie war ihm seit dem Tag, an dem ihr Vater sich die Schulter verrenkt hatte, mit einigem Glück aus dem Weg gegangen. Aus lauter Angst, er könnte ihr tatsächlich einen weiteren Heiratsantrag machen.

Vorgestern dann hatte er ihr von seinem Hof aus ein paar Mal zugewinkt, aber sie hatte getan, als ob sie es nicht bemerken würde. Daraufhin hatte er versucht, sie auf dem Handy zu kontaktieren, sie hatte ihn jedoch weggedrückt. Und dann war diese SMS gekommen mit der Bitte um ein Treffen im Höllenbruch…

Lena hatte Tobias noch nicht auf seine SMS geantwortet, würde es früher oder später aber natürlich tun müssen.

Sollte sie, wenn sie sich mit Tobias im Höllenbruch traf, den Willen ihres Vaters respektieren, um den Hof nicht zu verlieren?

Ihr graute davor, aber ohne den Hof hatte sie weder ein Dach über dem Kopf noch Arbeit.

Sollte sie sich Mühe geben, für Tobias Liebe zu empfinden? Vielleicht, indem sie sich immer wieder seine angenehmen Seiten ins Gedächtnis rief? Oder sollte sie alles auf eine Karte setzen und ehrlich zu ihren Gefühlen stehen?

»So schweigsam, Lena?«, fragte Pfarrer Trenker und riss sie damit aus ihren Gedanken. »Dir ist doch net etwa bang hier.«

»Nein, bestimmt net«, gab Lena betont forsch zurück.

Der Bergpfarrer lachte. »Dazu besteht schließlich auch kein Grund. Wer weiß, ob die alten Geschichten überhaupt wahr sind. Und die Räuber, die heutzutage hier zugange sind, stehlen sowieso bloß Herzen.«

Lena entfuhr ein Seufzer. »Herzensdieben sind wir Madln net abgeneigt«, meinte sie. »Es darf nur net der Falsche sein, der es auf unser Herz abgesehen hat.«

Der Bergpfarrer blieb stehen, bis Lena mit ihm auf gleicher Höhe war,­ und musterte sie von der Seite. »Ist die Sache mit dem Brunner-Tobias jetzt endlich vom Tisch? Gibt’s vielleicht sogar schon den Richtigen?«

»Nein, den gibt es net«, antwortete Lena wahrheitsgemäß. »Und was den Brunner-Tobias angeht…« Lena war sich nicht sicher, ob sie weiterreden sollte. Aber wenn sie Pfarrer Trenker wirklich um Rat fragen wollte, würde eine so gute Gelegenheit wie diese Bergtour wohl so schnell kein zweites Mal kommen. Was hielt sie also davon ab, mit der ganzen Wahrheit herauszurücken? »Es hat sich etwas Neues ergeben«, fasste sie sich schließlich ein Herz. »Ich meine, in der Sache mit dem Papa und seiner Schwäche für den Tobias.«

Der Bergpfarrer runzelte die Stirn. »Die Sache mit dem Tobias gefällt mir immer weniger. Ich wollte beim Frühstück net davon anfangen, aber dass dein Vater sich dermaßen in diesen Wunsch, der allmählich schon eher zur fixen Idee wird, verbeißt, darf einfach net sein.«

Lena holte noch einmal tief Luft, dann begann sie von Martin Leitners Drohung mit dem Hofverkauf zu berichten. Sie redete zuerst stockend, dann immer flüssiger.

Erst als das laute Rauschen der Kachlach eine Verständigung nicht mehr zuließ, verstummte sie wieder.

Lange blieb sie auf dem Holzsteg über der Kachlach stehen und schaute in die tiefe, felsige Klamm hinunter, durch die die Wassermassen des Gebirgsbachs tosten.

Bis Pfarrer Trenker sich gezwungen sah, Lena ein Zeichen zum Weitergehen zu geben, um nicht von der spritzenden Gischt total durchnässt zu werden. Schweigend schritten die beiden Wanderer wieder voran.

Das Rauschen der Kachlach wurde leiser und leiser.

Schon bald lichtete sich der Wald, und die Hohe Riest, ein Felsplateau, von dem die Wanderwege zu den nächstgelegenen Almen abzweigten, war erreicht. Die Sonne stand inzwischen schon hoch am Himmel.

»Hier rasten wir ein bissel, Lena«, sagte der Bergpfarrer. »Komm! Setz dich zu mir.«

Die Stelle, an der Sebastian Trenker sich niedergelassen hatte, war sein erklärter Lieblingsrastplatz, an dem er auf jeder seiner Wanderungen zur Kandereralm Halt machte. Von einem kleinen Felsvorsprung aus bot sich eine überwältigende Aussicht auf das Wachnertal und auf St. Johann, das wie das Baukastendorf eines Riesenkinds tief unten zwischen Wiesen, Feldern und Wäldern lag. Eine Weile schauten Pfarrer Trenker und Lena voller Staunen hinunter.

»Schauen‘ S, Herr Pfarrer, da drunten ist die Bachwiese, auf der immer unsere Ziegen grasen. Der Hof versteckt sich leider hinter dem kleinen Waldstück links.« Lena wandte sich mit einem dankbaren Blick dem Bergpfarrer zu. »St. Johann von oben hab ich schon eine Ewigkeit nimmer gesehen. Und wenn Sie heute net zufällig vorbeigekommen wären, säße ich jetzt auf meinem Traktor und würde die Bachwiese abmähen.«

Der Bergpfarrer lächelte zufrieden und griff nach seinem Rucksack, um den Proviant auszupacken, den seine Haushälterin ihm mitgegeben hatte. Er förderte eine Reihe sorgfältig in Butterbrotpapier eingewickelte, mit Wurst und Käse belegte Brote zutage, ein paar Äpfel und Birnen, etliche Müsliriegel und zu guter Letzt eine Thermoskanne voll Kaffee.

»Du lieber Himmel! Wer soll denn das alles essen?«, wunderte sich Lena, langte dann aber doch kräftig zu.

Der Aufstieg hatte sie und Pfarrer Trenker hungrig gemacht, sodass nach einer guten halben Stunde emsigen Schmausens nur noch ein Riesenberg von zusammengeknüllten Butterbrotpapieren übrig war.

Der Bergpfarrer öffnete die Thermosflasche, schenkte den dazu gehörigen Plastikbecher randvoll mit Kaffee und reichte ihn Lena.

»Und was ist jetzt aus dem neuerlichen Heiratsantrag vom Brunner-Tobias geworden?«, knüpfte er schließlich wieder an das während des Aufstiegs unterbrochene Gespräch an.

»Bis jetzt noch nix. Aber er will sich mit mir im Höllenbruch treffen. Und ich weiß net…«

»Und du weißt net, ob du überhaupt hingehen sollst?«

Lena zuckte die Schultern. »Ich weiß allmählich überhaupt nix mehr. Wenn der Papa den Hof verkauft… keine Ahnung, was ich dann mit mir anfangen soll. Ich bin auf dem Hof daheim, seit ich denken kann. Ich kenn gar nix anderes. Und eine Arbeit finden… Ich… ich hab net einmal eine richtige Ausbildung. Ich müsste irgendwo auf einem fremden Hof als Magd oder Haushälterin oder…«

Sebastian Trenker stützte nachdenklich den Kopf in die Hände. »Ich kann mir gut vorstellen, dass der Verlust des Leitnerhofs für dich net einfach wäre, Lena«, sagte er nach einer Weile. »Aber was das Berufliche angeht, siehst du, glaub ich, zu schwarz. Du bist noch jung, eine gute Bäuerin, kannst ausgezeichnet kochen und wirtschaften. Und du bist fleißig und arbeitest gern. Ich könnte mir unter diesen Umständen auch gut vorstellen, dass du als Dorfhelferin arbeitest. Um nur ein Beispiel zu nennen, das mir halt gerade in den Sinn gekommen ist.« Als Lena ihn fragend anschaute, setzte der Bergpfarrer hinzu: »Vielleicht fällt es dir im Moment schwer, dich überhaupt mit einer Zukunftsperspektive anzufreunden, die nix mit dem Leitnerhof zu tun hat. Aber glaub mir, Lena, alles ist besser, als ein Leben ohne Liebe zu fristen. Weil das im Grunde bedeutet, sein Leben wegzuwerfen.«

»Und die Liebe kann net erst später wachsen, wie der Papa immer meint?«, warf Lena mit einem schiefen Lächeln ein.

Der Bergpfarrer überlegte.

»Doch. Ich glaube, dass es diese Art von Liebe durchaus gibt und net nur die Liebe auf den ersten Blick. Aber ob bei dir und beim Brunner-Tobias die Voraussetzungen gegeben sind, bezweifle ich.«

»Und warum? Oder, besser gesagt, warum net?«

Sebastian Trenker öffnete den Mund, um etwas zu sagen, entschied sich dann aber zu schweigen. Er nahm stattdessen einen Schluck Kaffee und fing an, die Abfälle der Brotzeit säuberlich in seinem Rucksack zu verstauen.

»Ich wäre mir an deiner Stelle überhaupt net so sicher, dass dein Vater den Hofverkauf wirklich durchzieht, Lena«, meinte er schließlich.

»Genau das Gleiche hab ich am Anfang auch gedacht«, pflichtete Lena dem Bergpfarrer bei. »Inzwischen schaut es aber aus, als hätte ich damit Unrecht gehabt. Jedenfalls hat der Papa den polnischen Erntehelfer, den das Arbeitsamt uns geschickt hat, abgewiesen mit der Begründung, der Hof würde in nächster Zeit sowieso den Besitzer wechseln. Und aus dem Branchenfernsprechbuch hat der Papa sich sämtliche Makler im ganzen Wachnertal herausgeschrieben.«

Pfarrer Trenker schaute Lena mit einem skeptischen Blick an. »Vielleicht war der Erntehelfer Ihrem Vater einfach nur unsympathisch und der Rest eine Ausrede, die ein bissel auch als Drohung an dich gerichtet war. So könnte es doch auch gewesen sein, oder?«

Lena nickte, sichtlich erleichtert.

»Und was die Telefonnummern der Maklerbüros betrifft, wird es erst ernst, wenn dein Vater wirklich zum Hörer greift. Solange er es beim Kugelschreiber bewenden lässt, macht er höchstens sich selber und auch dir etwas vor.«

»So hab ich die Sache noch gar nie betrachtet«, gestand Lena. »Aber was Sie da sagen, Herr Pfarrer, klingt durchaus plausibel. Auch wenn ich selber nie und nimmer drauf gekommen wäre.«

»Wenn ich in deiner Haut stecken würde, hätte ich mit Sicherheit genauso gedacht wie du«, gab Sebastian Trenker zurück. »Ein Außenstehender sieht die Dinge immer in einem anderen Licht und aus einer anderen Perspektive. Deshalb ist es so wichtig, net alles mit sich allein abzumachen, sondern hin und wieder mit einer Person, der man vertraut, über Probleme zu sprechen.«

»Da haben Sie Recht«, meinte Lena voller Dankbarkeit und Anerkennung.