Sophienlust ab 300 – 363 – Anke, du bist meine Mami!

Sophienlust ab 300
– 363–

Anke, du bist meine Mami!

Aber den Onkel da mag ich nicht!

Marisa Frank

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74092-274-0

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»Mami, ein Flieger«, jubelte Uli, ein dreijähriger Junge. Begeistert streckte er seine Händchen nach einem bunten Schmetterling aus.

»Mami, Mami«, rief er nochmals, aber die junge Frau sah nicht zu ihm hin. Sie saß im Gras und hatte ihren Kopf an die Schultern eines jungen Mannes gelehnt.

Ulis Gesicht verzog sich. Ein weiterer Schmetterling umgaukelte ihn, aber er beachtete ihn nicht. Rufend kam er herangesprungen.

Jürgen Hauser seufzte. »Kann der Bengel nicht einmal eine Minute Ruhe geben?«

»Er ist kein Bengel«, verteidigte Anke Boger den Kleinen. Sie richtete sich auf und streckte dem Kind ihre Arme entgegen.

»Mami!« Mit einem Jubelschrei ließ Uli sich in die Arme der jungen Frau fallen.

»Was gibt es denn?« Zärtlich strich Anke über das blonde Köpfchen.

»Viele Flieger«, berichtete Uli strahlend. »Komm, ansehen.« Er wollte Anke hochziehen.

Jürgen Hauser, ein gutaussehender junger Mann, griff ein.

»Nichts da, deine Mami bleibt jetzt bei mir. Du hast versprochen, etwas Ruhe zu geben«, sagte er nicht gerade freundlich.

»Mami zeigen«, beharrte Uli. Dabei blitzten seine Augen den jungen Mann wütend an.

»Nein, du gibst jetzt Ruhe«, erklärte Jürgen Hauser. Er erhob sich und wollte nach dem Kleinen greifen, doch dieser war schneller. Er versteckte sich hinter seiner Mami.

»Du sollst weggehen«, rief er hinter Ankes Rücken hervor.

»Da hast du es«, sagte Jürgen wütend. »Willst du noch immer nicht einsehen, daß du den Kleinen verziehst?«

Anke antwortete darauf nicht. Was sollte sie auch sagen? Wahrscheinlich hatte Jürgen recht, aber sie versuchte, dem Jungen die Mutter zu ersetzen.

Uli war ein halbes Jahr gewesen, als Ankes Schwester Nicole tödlich verunglückt war. Sie hatte keinem gesagt, wer Ulis Vater war, sondern ihr Geheimnis auch mit ins Grab genommen.

»Was willst du tun? Willst du dir von dem Kind den ganzen Tag verderben lassen? Das mache ich nicht mit!« Energisch zog Jürgen seine Freundin, die noch immer in der Wiese saß, hoch. »Wir wollten uns einen schönen Tag machen. Hast du das vergessen?«

Anke wich Jürgens Blick aus. Mit gesenktem Kopf nagte sie an ihrer Unterlippe.

Uli hingegen war nicht still. Mutig wagte er sich hinter Anke hervor und rief: »Laß meine Mami in Ruhe. Sie gehört mir!« Mit der Hand versuchte er nach Jürgens Arm zu schlagen.

»Na warte!« Blitzschnell griff Jürgen nach dem kleinen Mann und hielt ihn hoch. »So, jetzt höre mir einmal gut zu. Du läßt jetzt mich und deine Mami in Ruhe. Du kannst hier herumlaufen, soviel du willst, aber uns störst du nicht mehr. Hast du das verstanden?«

Uli sagte nichts, aber in seinen Augen stieg Angst auf.

»Hast du verstanden?« Drohend schüttelte Jürgen den Kleinen.

»Aber es ist meine Mami«, schluchzte Uli.

»Meine Mami«, äffte Jürgen etwas ärgerlich nach. »Weißt du, was ich mit dir am liebsten tun würde? Eine Tracht Prügel möchte ich dir am liebsten geben. Nie hat man Ruhe von dir.«

»Mami, Mami!« Uli begann sich in Jürgens Arm verzweifelt zu drehen und wenden.

»Laß den Kleinen los«, sagte Anke nun.

Jürgen fuhr herum. »Was?« ereiferte er sich. »Mehr hast du nicht zu sagen? Glaubst du, ich habe Lust zuzusehen, wie du dich den ganzen Tag mit diesem Bengel abgibst?«

»Uli kein Bengel«, brüllte der Kleine beleidigt auf.

»Nein, Uli ist kein Bengel«, bestätigte Anke. Sie kam heran, nahm ihrem Freund den Dreijährigen aus den Armen. »Uli wird jetzt auch lieb sein und die Mami mit dem Onkel plaudern lassen. Weißt du, sonst kommt der Onkel nicht mehr mit uns mit.«

Uli sah sie mit gerunzelter Stirn an, dann sagte er: »Onkel braucht nicht mitzukommen. Mag Onkel nicht.«

»Da hast du es!« Jürgen war nun so wütend, daß er dem Kleinen wirklich am liebsten eine geklebt hätte. Da nahm er sich den ganzen Sonntag Zeit für Anke, und dies war das Resultat.

»Jürgen, bitte.« Über das Köpfchen des Kleinen hinweg sah Anke ihren Freund bittend an. »Du mußt Geduld haben. Er ist eifersüchtig. Schließlich hat er ja auch nur noch mich.«

»Und ich?« Eigentlich wollte Jürgen hinzufügen: Und wen habe ich? Aber er ließ es lieber bleiben. Statt dessen sagte er: »Ich habe es satt, stets die zweite Geige zu spielen.«

»Du mußt Geduld haben«, wiederholte Anke nochmals. Dabei sah sie ihn so lieb an, daß ihm ganz heiß wurde.

»Dann sieh aber zu, daß du den Bengel beruhigst«, brummte Jürgen. »Ich gehe inzwischen ans Ufer des kleinen Sees. Wenn Uli friedlich ist, kannst du ja nachkommen.«

Anke nickte ernst. Sie hatte sich so auf diesen Sonntagsausflug gefreut. Und nun war Jürgen sauer, und Uli schluchzte leise vor sich hin. Sie seufzte, aber dann stellte sie ihren Neffen entschlossen auf seine eigenen Füße.

»Wo hast du den Schmetterling gesehen?« fragte sie.

»Schmett…« Uli versuchte das für ihn schwere Wort nachzusprechen. »Da, da ist Flieger.« Er streckte die Hand aus und zeigte auf einen bunten Falter, der sich gerade auf einer Glockenblume niederließ.

»Das ist ein Schmetterling«, erklärte Anke.

»Fangen«, forderte Uli und eilte, ehe Anke es sich versah, mit ausgestreckten Händchen auf den Falter zu. Dieser flog hoch. Uli machte einen raschen Satz, stolperte und lag auf der Nase. Sofort fing er aus Leibeskräften an zu brüllen.

Jürgen Hauser kam zurück. Zornig fuhr er Anke an. »Was ist jetzt schon wieder los? Ich dachte, du willst ihn beruhigen?«

»Er ist gefallen«, sagte Anke. Sie beugte sich über den am Boden liegenden Kleinen. »Uli, das tut doch nicht so weh. Du kannst aufhören zu schreien. Sieh nur, alle Schmetterlinge fliegen fort. Sie bekommen Angst, wenn du so brüllst.«

Ruckartig fuhr Ulis Köpfchen hoch. Das Schreien verstummte. Mit tränenfeuchten Augen sah der Kleine sich um, entdeckte einen Schmetterling. »Da«, sagte er leise. Als dieser aber auch weiterflog, rief er wieder lauter: »Will Flieger haben! Flieger soll dableiben!«

»Flieger…« Jürgen schüttelte den Kopf. »Kannst du dem Kind nicht beibringen, ordentlich zu sprechen?«

»Der Onkel soll fortgehen«, forderte Uli laut und krabbelte hoch.

»Was willst du dir noch alles gefallen lassen?« sagte Jürgen wütend. »Wenn du den Kleinen nicht sofort beruhigst, dann fahre ich in die Stadt zurück. Ich habe nicht die Absicht, mich den ganzen Tag zu ärgern.« Er drehte sich um, ging in Richtung Waldsee davon, blieb aber nach einigen Schritten stehen und rief zurück: »Daß du es weißt, lange warte ich nicht mehr.«

Anke seufzte. Da lehnte sich Uli an sie, hob sein Köpfchen. Treuherzig sah er ihr ins Gesicht und fragte: »Bist du traurig?«

Plötzlich fiel Anke das Lächeln wieder leicht. Sie fand, er war ein entzückender Junge, ihr Uli. Um nichts in der Welt hätte sie ihn hergegeben. Eines Tages würde Jürgen das auch noch merken. Sie mußte ihm nur Zeit lassen.

Anke fuhr Uli mit einer zärtlichen Geste über das Haar. »Nur ein bißchen«, sagte sie. »Aber wenn Uli jetzt lieb ist, dann ist Mami überhaupt nicht mehr traurig.«

»Uli lieb«, kam es prompt von den Lippen des Kindes.

»Das ist fein.« Anke überlegte, dann beugte sie sich zu dem Kleinen herab. »Wenn Uli der Mami eine Freude machen will, dann wird er jetzt Steinchen und Blätter suchen.«

»Warum?« Mit großen fragenden Augen sah Uli sie an.

Anke schluckte. Wie sollte sie dem Kind erklären, daß es ihr im Moment im Wege war? Sie sehnte sich nach Jürgens kleinen Zärtlichkeiten, aber in Ulis Gegenwart konnten sie sich kaum küssen. So sagte sie nur: »Die Mami muß mit dem Onkel etwas besprechen.«

»Lange?«

Anke nagte an ihrer Unterlippe. »Uli, du bist doch schon ein großer Junge«, versuchte sie zu erklären. »Du kannst dich doch hier auf dieser großen Wiese selbst beschäftigen. Sieh nur, was da alles wächst.« Anke nahm ihren Neffen an die Hand und zeigte ihm Vergißmeinnicht. »Du kannst auch etwas bauen. Schau, hier sind Zweige.«

»Mami zuschauen«, forderte Uli.

Anke schüttelte den Kopf. »Nein, Mami geht jetzt zu Onkel Jürgen. Wenn du lange und sehr brav gebaut hast, dann kannst du es Mami zeigen.«

»Uli will nicht bauen. Lieber Flieger ansehen.«

»Gut, dann kannst du Flieger ansehen. Du kannst hier überall herumlaufen, nur an das Ufer des Sees darfst du nicht gehen. Versprichst du mir das?«

Ernsthaft nickte der Kleine.

»So, Uli, dann gehe ich jetzt zu Onkel Jürgen. Siehst du, er sitzt dort auf der Bank beim See. Aber bitte, komme nicht gleich nach.«

»Nein.« Ulis Unterlippe schob sich nach vorn. »Uli brav.«

Anke küßte ihn, dann wollte sie gehen, aber da griff Uli nach ihrer Hand. »Will mit dir Flieger anschauen.«

Anke unterdrückte einen Seufzer, versuchte ruhig zu bleiben. Schließlich konnte Uli nichts dafür, daß sie mit Jürgen allein sein wollte.

»Gut. Suchen wir zuerst noch Schmetterlinge.«

Sie nahm wieder die kleine Bubenhand in ihre Hand, und dann stapften die beiden zusammen durch das Gras. Bei jedem Schmetterling, den Uli zu sehen bekam, stieß er einen Freudenschrei aus. Schließlich löste er sich wieder von Anke und versuchte die bunten Falter zu fangen, was natürlich nie gelang. Enttäuscht kam er schließlich zu Anke zurück.

»Flieger sind dumm. So schnell!« Dann erhellte sich sein Gesichtchen. »Uli will auch fliegen«, forderte er und streckte die Arme dabei seitlich aus.

»Dann fällt Uli wieder auf die Nase«, sagte Anke trocken und verbiß sich ein Lächeln.

Treuherzig sah der Kleine sie an. »Uli kein Flieger.« Er schüttelte den Kopf.

Anke bestätigte: »Uli kein Flieger.« Dann lachte sie. »Das ist auch gut, sonst würdest du mir davonfliegen. Nun sei aber lieb und beschäftige dich ein wenig allein.«

»Uli mag keine Flieger mehr. Uli baut etwas für Mami.«

»Gut. Und nicht bis zum Wasser gehen«, mahnte Anke nochmals.

»Ade«, sagte Uli jetzt ganz friedfertig. Er hob sogar die Hand und winkte.

»Ade!« Anke winkte zurück, dann ging sie hinunter zum See, wo die Bank stand, auf der Jürgen auf sie wartete.

»Daß du doch noch kommst«, knurrte der junge Mann.

»Ich bin sicher, daß Uli jetzt eine Weile Ruhe gibt. Im Grunde ist er ein sehr lieber Junge.«

»Das kannst auch nur du sagen. Ich verstehe dich nicht. Du läßt dich von ihm regelrecht tyrannisieren.«

Ankes Kopf sank herab. Sollte sie sich jetzt auch noch Vorwürfe anhören?

Da lenkte Jürgen ein. »Komm, setz dich. Vielleicht haben wir wirklich Glück, Und Uli läßt uns ein wenig in Ruhe. Es ist ein herrlicher Tag. Eigentlich hätten wir baden können.«

Anke setzte sich an seine Seite. Da griff Jürgen nach ihr. Zuerst küßte er nur ihre Lippen, doch dann glitt sein Mund abwärts.

Anke versteifte sich. »Nicht«, hauchte sie.

Sofort ließ Jürgen von ihr ab und setzte sich mit einer beleidigten Miene aufrecht hin.

»Jürgen…« Anke legte den Kopf an seine Schulter. »Uli kann doch jeden Moment kommen.«

»Da hast du es! Immer der Kleine. Du hättest den Ausflug mit ihm allein machen sollen. Ich habe wahrlich genug zu tun. Deinetwegen habe ich meine ganze Arbeit liegenlassen.«

»Das war lieb von dir«, sagte Anke und versuchte ein Lächeln. »Ich bin so froh, daß du hier bist. In der letzten Zeit haben wir uns wenig gesehen.«

»Die Arbeit! Du weißt es ja.« Etwas unsicher sah Jürgen an seiner Freundin vorbei.

*

Pünktchen ließ den Tennisschläger sinken. Sie hatte gewonnen aber das freute sie nicht, weil sie genau bemerkt hatte, daß Nick sie absichtlich hatte gewinnen lassen.

»Gratulation!« rief der hochaufgeschossene, gutaussehende Junge nun über den Platz.

»Das ist unfair«, rief das blondhaarige Mädchen zurück. Es hieß eigentlich Angelina Dommin, wurde aber von jedem wegen seiner unzähligen Sommersprossen nur Pünktchen genannt. »So macht es keinen Spaß.«

Dominik von Wellentin-Schoenecker, dem das Kinderheim Sophienlust gehörte, das seine Mutter für ihn bis zu seiner Großjährigkeit verwaltete, wußte, daß Pünktchen ihn durchschaut hatte.

»Da wollte ich einmal Kavalier sein, und nun läßt du es nicht gelten«, rief er lachend. »Aber wenn du willst, dann können wir unsere Kräfte auch noch auf den Pferden messen.«

Pünktchens Augen blitzten auf. Und ob sie wollte. Zwar würde es ihr sicher nicht gelingen, Nick zu schlagen, aber mit ihm zu reiten war für sie die größte Freude.

»Einverstanden! Aber dann muß ich mich umziehen.«

»Das muß ich auch, aber es ist ja noch nicht spät.« Nick, der sehr sportlich war, nahm einen Anlauf und sprang gekonnt über das Netz. Dann stand er mit blitzenden Augen vor Pünktchen.

»Du hast dich heute trotzdem ausgezeichnet geschlagen. Ich mußte mich anstrengen. Viele Bälle habe ich dir nicht geschenkt.«

Dieses Lob freute Pünktchen sehr. Sie errötete bis unter die Haarwurzeln. Mit zahlreichen anderen Kindern zusammen lebte sie im Kinderheim Sophienlust. Vor vielen Jahren hatte Nick sie gefunden. Sie war ein Zirkuskind, hatte ihre Eltern bei einem Zirkusbrand verloren und war dann von den Verwandten, die sie aufgenommen hatten, ausgerissen. Nick hatte sie nach Sophienlust mitgenommen, wo sie seitdem geblieben war. Deshalb hing Pünktchen so sehr an dem Sechzehnjährigen und träumte heimlich davon, einmal Nicks Frau zu werden.

»Ich habe mich auch sehr bemüht. Wenn wir öfters spielen, dann schaffe ich es vielleicht doch noch, dich wirklich einmal zu schlagen.«

»Ganz sicher. Der Sommer hat ja erst begonnen«, meinte Nick.

»Ich finde es toll, daß uns deine Eltern hier spielen lassen«, meinte Pünktchen.

Der Tennisplatz, auf dem die beiden eben ihr Match ausgetragen hatten, gehörte zum Gut Schoeneich, dem Stammsitz der Familie von Schoenecker. Das Gut wurde von Nicks Vater selbst verwaltet. Das Kinderheim Sophienlust lag nicht weit davon entfernt. Eine Straße, die durch den Wald führte, verband das Heim mit dem Gut. Die Pferdekoppeln des Gutes Schoeneich reichten daher auch nahe an Sophienlust heran.

»Wer sollte denn sonst hier spielen?« sagte Nick. »Viel Zeit haben Vati und Mutti nicht. Da bin ich froh, daß ich dich habe.«