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Thomas Bruckmann wurde 1962 in München geboren. Seine Schulzeit verbrachte er im humanistisch geprägten Umfeld des Benediktinerklosters Schäftlarn. Hier wurde schon früh sein tiefes Interesse für antike Philosophie und Mythik geweckt. Nach dem Jura- und Theologiestudium widmete er sich viele Jahre der Ausbildung junger Menschen am Gymnasium. Die intensive Auseinandersetzung mit philosophischen und anthropologischen Fragestellungen bewegte ihn schließlich zu einem ersten Roman. Spürbar wird seine ambivalente, aber nie gebrochene Liebe zum Menschen. Ebenfalls bei buch&media erschienen ist sein Erzählband »Viertelgeschichten« (2017). Thomas Bruckmann lebt heute in München.

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Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.buchmedia.de

Juni 2017

© 2017 Buch&media GmbH, München

Umschlaggestaltung: Johanna Conrad, unter Verwendung

einer Fotografie von Thomas Bruckmann, München

Printed in Germany

isbn print 978-3-95780-089-3

isbn PDF 978-3-95780-090-9

isbn ePub 978-3-95780-091-6

INHALT

Kapitel 1 Cécile
Kapitel 2 Mark
Kapitel 3 Maieutik
Kapitel 4 Frank v. Wilmots
Kapitel 5 Das Hausboot
Kapitel 6 Ängste
Kapitel 7 Briefe
Kapitel 8 Freunde
Kapitel 9 Gespräche im Baumhaus
Gespräche im Baumhaus Teil I
Gespräche im Baumhaus Teil 2
Kapitel 10 Das Amsoa
Kapitel 11 Zwei Probleme
Gespräche im Baumhaus Teil 3
(Letzter Tag)
Kapitel 12 Überraschung
Kapitel 13 Zwei Briefe
Kapitel 14 Spaziergang
Kapitel 15 Wachstum
Kapitel 16 Klostergespräch
Kapitel 17 Stopera
Kapitel 18 Vorspeisen
Kapitel 19 Raserei
Kapitel 20 Diagnosen
Kapitel 21 Wartende
Kapitel 22 Wiedervereinigung
Kapitel 23 Materialismus
Kapitel 24 Alles Theater
Kapitel 25 Spiel und Fantasie
Kapitel 26 Hochzeit
Kapitel 27 Das Fest
Kapitel 28 Maria …
Kapitel 29 … und Pater Paulus

Kapitel 1

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CÉCILE

NOCH IMMER PRÄGT das Rijksmuseum das Stadtbild des südwestlichen Amsterdams. Das auffällige, neogotische Backsteingebäude trotzte in all den Jahren erfolgreich den Versuchen modernerer Architektur, ihm seinen Platz streitig zu machen.

Ein paar Straßen entfernt sieht man eine junge Frau, wie sie verträumt und abwesend auf das Museum zustrebt – oder sollte man sagen, schwebt? Ihr Äußeres und ihre ganze Ausstrahlung lassen sie wie von einem Kokon umgeben erscheinen. Niemand würde auf die Idee kommen, ihren Blick zu suchen oder gar sie anzusprechen, die Frau mit diesen Augen, die hellwach und doch weit entfernt wirken und ihr einen perfekten Schutz gegen ungewollte Annäherungen bieten.

Vor dem Eingangsbereich entschuldigt sie sich kurz bei einem Passanten, den sie in ihrer Gedankenverlorenheit übersehen hat und der nur durch sein umsichtiges Verhalten einen Zusammenstoß vermeiden konnte. Auch dieser ist, wie jeder, der Cécile das erste Mal sprechen hört, erstaunt über den klaren, tiefen Klang ihrer Stimme.

Schwungvoll zieht sie an der Tür der Eingangspforte, erinnert sich sogleich, dass diese sich nur nach innen öffnen lässt, tritt ein und steuert auf einen Ordner zu, erklärt diesem mit einem nicht zu widerstehenden Augenaufschlag das Vergessen ihrer Dauerkarte und betritt auf sein mürrisches Winken hin die Ausstellungsräume.

Würde man seine Aufmerksamkeit nur kurze Zeit weiter dem Ordner schenken, könnte man sehen, wie er der ihm längst vertrauten, vergesslichen jungen Dame mit einem Schmunzeln hinterherblickt.

Cécile steht kurz darauf, wie so oft, wenn es ihre Zeit erlaubt, vor ihrem Lieblingsbild, der »Dienstmagd mit Milchkrug «, geschaffen von Vermeer van Delft.

Die selbstvergessene Hingabe der Magd an ihre Tätigkeit, ihre still hingenommene Einsamkeit, aber auch die konzentrierte Selbstverständlichkeit ihres Tuns sprechen sie in ihrem innersten Empfinden an, spiegeln Teile ihres eigenen Ichs wider. Häufig erzählt sie der Magd stumm ihr eigenes Alleinsein.

Sie lebt seit Beginn ihres Studiums der Altphilologie in Amsterdam. Cécile liebt diese Stadt wegen ihrer Unabhängigkeit, ihrer Offenheit und der Fähigkeit, Menschen unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichsten Charakters unter einem Dach zu vereinen.

Sie dagegen sucht selten Gesellschaft, lebt weitgehend in sich selbst zurückgezogen, meist unfähig, sich auf andere Menschen einzulassen und sich ihnen zu öffnen, bleibt einsam.

Nach Verlassen des Museums sieht man Cécile meistens auf einer Brücke über einer der unzähligen Grachten Amsterdams stehen und träumen. So auch heute an diesem grauen Novembernachmittag. Die tief stehende Herbstsonne setzt sich nur noch schemenhaft gegen den dichten Nebel durch, und zeichnet dabei eine bizarre Scheinhaftigkeit auf die Backsteingebäude der Stadt.

Cécile offenbart einen recht eigenwilligen Kleidungsstil: Schottenrock zu Ringelsocken, dazu Rüschenbluse und hochhackige Stiefeletten mit Budapester Muster. Zum Schutz gegen die Kälte trägt sie einen viel zu großen Männer-Trenchcoat, der sie fast verschluckt. Nimmt man ihren leicht schwebend wirkenden Gang hinzu, könnte man vermuten, jeder noch so kleine Windstoß würde das zarte Wesen mit aufgeblähtem Mantel durch die Lüfte tragen.

Folgte man ihrem Weg, könnte man Cécile wenig später an einem anderen ihrer Lieblingsorte entdecken, der Brücke von der Leidsestraat über die Prinsengracht. Von hier aus sieht sie direkt auf ihr Zuhause. Sie wohnt auf einem der Tausend Hausboote Amsterdams, doch während in den großen Grachten der Stadt zum Teil eindrucksvolle, einladende Hausboote liegen, stellt Céciles Boot, euphemistisch betrachtet, ein gerade noch begehfähiges Exemplar dar. Es zeichnet ein durchwegs komisches Bild, wenn Bekannte mit ängstlichem Blick und vorsichtig tastenden Schritten das Boot betreten, offensichtlich von der Furcht geplagt, die Begehung nicht trocken und unbeschadet zu überstehen.

Cécile hat den alten Kahn von ihrem vor zwei Jahren verstorbenen Onkel geerbt. Zumindest besitzt es, wie die meisten Hausboote, Strom, Wasser und einen Zugang zur Kanalisation. Die Ähnlichkeit mit süditalienischen Häusern ist unverkennbar: äußerlich der Eindruck von Unbewohnbarkeit, im Inneren jedoch eine einladende Gemütlichkeit und interessante Choreografie.

So auch in diesem Fall: Wer den leicht maroden Bretterverschlag hinter sich gelassen hat, betritt eine kleine Wunderwelt von antiken Möbeln, zum Teil noch Relikte ihres Onkels, Hunderten von Büchern, unzähligen kleinen Schachteln und Döschen, deren Inhalt nicht mal Cécile wirklich zuordnen kann, wild angeordneten Tüchern und Stoffen. Mittendrin ein uraltes, leicht durchgesessenes Sofa, dessen Leder schon bessere Seiten gesehen hat, das aber, wie ein Magnet, jeden anzieht, sich darin versinken zu lassen. Céciles Prunkstück ist ein mittelalterlich anheimelndes Himmelbett mit einem blauen, ins Türkise übergehenden Seidenstoff als Umrandung und Dach.

Nur hier in dieser kleinen Traumwelt ist Cécile in der Lage, ihre Seele loszulassen, selten bereit, sich in ihrer Verletzbarkeit anderen Menschen zu stellen. Manchmal zieht sie sich tagelang in die Enklaven ihrer eigenen Welt zurück und lässt die Wirklichkeit weit hinter sich.

Kapitel 2

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MARK

DAS GEMEINDEARCHIV AMSTERDAMS befindet sich in den Räumen des ehemaligen Rathauses von Nieuwer-Amstel. Nach dessen Eingemeindung Ende des 19. Jahrhunderts entstand hier ein Archiv, das insbesondere historische Dokumente zur Stadtgeschichte aufbewahrt. Im Dachgeschoss unmittelbar unterhalb des Glockenturms befindet sich das gemeinsame Arbeitszimmer von Mark und Cécile, das wie gemalt zu ihrer Beschäftigung mit altem Schriftgut passt. Rostfarbene Backsteinwände, deren Putz in weiten Teilen abgebröckelt ist und dankenswerterweise nie erneuert wurde, korrespondieren mit uraltem Holzgebälk, an dem unzählige kleine Notizen mit Reißzwecken angebracht sind, deren Botschaften sich aufgrund der Vergilbtheit des Papiers nur noch mit viel Fantasie entziffern lassen.

Die eigentlichen Prunkstücke des Zimmers sind die beiden aus dem 18. Jahrhundert stammenden Schreibtische, die einst dem Bürgermeister und seinem Stellvertreter zur Verfügung gestanden hatten. Mark und Cécile genießen das unschätzbare Privileg, diese für ihre Übersetzertätigkeit nutzen zu dürfen.

An korinthische Säulen erinnernde Marmorfüße tragen die beiden Zwillingstische, deren Seitenwände von äußerst kunstfertig hergestellten, rautenförmigen Intarsienarbeiten geprägt sind. Durch die hauchdünne, kaum wahrnehmbare eingearbeitete Glasarbeitsplatte sieht man in unterschiedliche Edelhölzer geschnittene Motive der griechischen Mythologie.

An den Rändern der Tischplatte sind in Episoden antike Mythen zu sehen: der von Sisyphos, der traurigschöne von Orpheus und Eurydike, der von Herakles' Heldentaten und der von der zehnjährigen Irrfahrt des Odysseus zurück in seine Heimat Ithaka mit dem Höhepunkt der blutigen Befreiung Penelopes.

Im Zentrum der Tische präsentiert sich dem Betrachter in einer kreisförmig eingelegten Eichenholzarbeit der heroische Kampf des Hector gegen den griechischen Helden Achill vor Troja.

Die Ilias von Homer war eine der letzten Beschäftigungen von Cécile. Mithilfe von Mark übersetzte sie die Hexameter des Epos' in die heutige Sprache, in Prosa. Natürlich gab es schon Vorgänger. Ihre Aufgabe jedoch war es, das historische Werk in eine wirklich aktuelle, moderne Sprache zu übertragen, um es wieder einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen. Für beide eine echte Herausforderung! Die blumige, metaphernreiche Poesie Homers in eine auch für junge Menschen verständliche Form zu übersetzen und gleichzeitig ihre Ursprünglichkeit zu erhalten, erforderte viel Feingefühl, Geduld und Zeit.

Mark ist einer der wenigen Menschen, die Cécile vertraut sind. In seiner Gegenwart bröckeln die Mauern der Einsamkeit und Verletzlichkeit zunehmend. Dies liegt weniger an ihrer gemeinsamen Begeisterung für alte Sprachen als an der Parallelität vieler ihrer Empfindungen und Erfahrungen, die sie bereits in sehr jungen Jahren machen mussten.

Mark verlor kurz nach seinem fünften Geburtstag seine Eltern, die während einer Schiffsreise nach England, unterwegs mit einem fatalerweise völlig überladenen Passagierschiff, umkamen. Bei einem plötzlich aufkommenden, orkanartigen Sturm war es gekentert und hatte fast alle an Bord befindlichen Personen mit in die Tiefe gezogen.

Mark, plötzlich Vollwaise, wurde zunächst bei seiner Tante Paula, einer unverheirateten und kinderlosen Schwester seines Vaters, untergebracht, die alle nur Tante Knödel nannten. Ihren unschmeichelhaften Beinamen verdankte sie ihrem Äußeren, das ohne ihre kurzen Arme und Beine oben genanntem Objekt durchaus nahekam. Tante Paula nahm Mark lediglich aus dem Gefühl familiärer Verpflichtung auf, nicht etwa aus Zuneigung zu dem unglücklichen, kleinen Jungen. Dummerweise begrüßte Mark die Tante – naiv, wie er war – mit: »Guten Tag, Tante Knödel!« Die Konsequenz war eine Kontaktsperre gleich am ersten Tag.

Mit der Zeit wurde es immer schlimmer. Das Kind war völlig verstört, zornig und wütend auf seine Eltern, die einfach nicht kommen wollten, um ihn endlich abzuholen. Mit der Endgültigkeit des Todes konnte er verständlicherweise nur recht wenig anfangen. Seine kleinen, harmlosen Fluchtversuche, um sich auf die Suche nach seinen Eltern zu begeben, scheiterten meist drei Straßenecken weiter. Zudem gab es bei der kleinsten Aufsässigkeit Schläge und andere Strafen, bis hin zum Essensentzug und Eingesperrtwerden in sein kleines, leeres Zimmer.

Vier Wochen später wähnte Paula sich am Ende ihrer nervlichen Belastbarkeit angesichts dieses ungezogenen, unberechenbaren und zornigen Rabauken. Mit der Begründung ihrer angeschlagenen, körperlichen Konstitution beschloss sie, nicht in der Lage zu sein, ein so kleines Kind großzuziehen und quartierte Mark kurzerhand in einem Kinderheim in Den Haag ein.

Nun begann Marks Odyssee durch insgesamt sieben Heime, jeder neue Aufenthalt nach dem gleichen Schema ablaufend: Seine häufigen, spontanen Wutausbrüche begleitet von zunehmender, körperlicher Aggressivität zwangen den jeweiligen Heimleiter regelmäßig, ihn im Sinne der Gemeinschaft in ein anderes Heim weiterzuleiten. Verbunden damit war die widersinnige Hoffnung, dass Mark vielleicht dort Ansätze sozialer Kontakte knüpfen würde. Erst in seinem letzten Heim in Arnheim sollte sich Grundlegendes ändern.

Zunächst brachte er wie immer durch sein Verhalten den – für diese Gegend ungewöhnlich – katholischen Priester und Erzieher zur Verzweiflung und Weißglut. Manche Beule am Hinterkopf Marks zeugte von seiner guten Bekanntschaft mit dem großen Pfortenschlüssel des Priesters.

Trotzdem nahm er Mark mit, als er mit seiner kleinen Kindergemeinde den Bus betrat, um ein Benediktinerkloster in der Nähe von Aachen anzusteuern. Die größtenteils protestantischen Kinder sollten, so sein Anspruch, die Einmaligkeit der Baukunst, der durchdachten Struktur und Organisation des Klosterlebens sowie die hier herrschende Gelehrsamkeit kennenlernen. Bei Mark erhoffte er sich insgeheim eine heilende Wirkung durch die Berührung mit den mönchischen Besinnungs- und Silentiumstunden. Vielleicht würde ein wenig Ruhe in dem Jungen gesät.

Ein Mönch, der sich als Pater Paulus vorstellte, empfing die Gruppe und führte sie zunächst ins Refektorium, wo eine einfache, kräftige Suppe auf die Kinder wartete.

Der anschließende Klosterrundgang interessierte noch einige Kinder, die Kirchenführung nur wenige. Bei dem abschließenden Exkurs in die griechische und lateinische Sprache kämpften fast alle mit der Schwerkraft ihrer Augenlider. Pater Paulus hielt unbeeindruckt weiter seinen Vortrag, übersah dabei aber nicht die zwar traurigen, aber hellwachen und interessierten Augen eines einzigen Schülers.

Mark fühlte sich magisch angezogen von diesen alten Sprachen, von den unbekannten Buchstaben des Griechischen, vom Lateinischen, das über Jahrhunderte die Sprache der Gelehrten war.

Als nach dem Abendessen die Kinder in die klösterlichen Schlafsäle geleitet wurden, nahm Pater Paulus den Knaben beiseite. Er führte ihn in sein karges Zimmer, das dominiert wurde von einem fast mannshohen Holzkreuz. Daneben stand nur ein einfacher Holztisch mit zwei Stühlen, darüber hing ein Marienbildnis, das schon leicht zu vergilben drohte, an der Wand gegenüber befand sich eine zerbrechlich wirkende Holzpritsche als Bett.

»Äußerlichkeiten lenken nur vom Eigentlichen ab«, war die lapidare Antwort des Paters auf Marks skeptische Blicke.

»Ein schöner Strauß Blumen täte dem Raum trotzdem gut. Sprachen Sie in Ihrem Vortrag nicht davon, dass die alten Griechen die Verbindung des Guten und des Schönen als Ideal verstanden?«, erwiderte Mark.

Der Pater schmunzelte. »Gut überlegt, kleiner Philosoph! Aber erst mal so weit: Wenn ich Blumen sehen will, gehe ich in den Garten oder in den Wald, dazu brauche ich sie nicht abzuschneiden und in ein Zimmer zu stellen, das ich hauptsächlich zum Schlafen benutze. Das Schöne offenbart sich, unserer Meinung nach, nicht in schönen Dingen, es kommt von innen. Nebenbei schätzen wir die alten Griechen sehr hoch und nehmen sie, besonders Aristoteles, auch sehr ernst. Das heißt noch lange nicht, dass wir alles ungefiltert übernehmen müssen. Zudem pflegen wir in der Regel nur dann Kritik zu üben, wenn wir glauben, den Gegenstand unserer Kritik auch ausreichend erfasst zu haben!«

Pater Paulus sprach noch ein paar Sätze über seinen Vortrag mit Mark, dann schickte er ihn zu den anderen Kindern in den Schlafsaal. Er war beeindruckt von der Intelligenz, der Merkfähigkeit und dem Interesse des gerade mal Zehnjährigen.

Am nächsten Morgen suchte er noch vor dem Frühstück den Heimleiter auf und teilte ihm mit, dass er Mark gerne unter seine Fittiche nehmen würde, und ob er sich vorstellen könnte, ihn zur weiteren Erziehung im Kloster zu lassen.

Da Tante Knödel nach Marks erster Heimeinweisung rasch die Vormundschaft über den Jungen abgegeben hatte, war seither der jeweilige Heimleiter der vorübergehende Vormund Marks. In der Folge war die Übernahme durch Pater Paulus ein unkomplizierter Formalakt.

Als der Bus abrollte, auf dem Beifahrersitz ein durch und durch erleichterter Heimleiter, fehlte eines der Kinder. Marks weitere Zukunft sollte sich innerhalb der Gemäuer des Klosters gestalten.

Der Pater kümmerte sich als erster Mensch seit Marks Waisenschicksal rührend um seinen neuen Schüler. Zunächst galt es, seine Verschlossenheit und die Mauern seiner Enttäuschung aufzubrechen. Dies gelang ihm zunehmend. Mark verwandelte mithilfe des Paters seine Wut und Aggression in positive Energie. Stunde um Stunde saß er an seinem Pult im Studiersaal des Klosters, las, lernte, dachte nach und versuchte mit ungebremster, fast manischer Eile die Ideen und Konzepte der antiken Philosophen zu verstehen und zu verinnerlichen. Besondere Freude bereitete ihm, fiktive Disputationen zwischen den großen Denkern im Kopf entstehen zu lassen.

Mit seinem Enthusiasmus lösten sich zunehmend die Fesseln um Marks Seele. Er öffnete sich. Zunächst seinem Mentor, Pater Paulus, dann, für Mark unerwartet auf Gegenliebe stoßend, seinen Mitschülern. Er wurde angenommen und gewann nach und nach Freunde. Konflikte lernte er recht bald mit Worten zu lösen.

Oft stand er auch, wenn Morpheus es zuließ, vor dem Wecken auf und half dem stets gut gelaunten Bäcker des Klosters, Frater Franz, bei dessen Arbeit. So manche Stunde verbrachte er zudem in der Krankenstation, wo zwei Nonnen sich umtriebig um die Wiedergenesung malader Klosterinsassen kümmerten. Für Mark standen hier, wenn ihn manchmal düstere Gedanken quälten, stets offene Ohren bereit. Zudem lockte ihn die zumeist kredenzte große Tasse heißer Schokolade, deren Duft alleine ausreichend war, unangenehme Erinnerungen zu vertreiben.

Die Beziehung zu Pater Paulus entwickelte in den folgenden Jahren durchaus für beide Seiten befruchtende Aspekte. Mark genoss das Lernen und die Teilhabe am nie versiegenden Wissensschatz des gelehrten Geistlichen. Er sog jedes Wort, jede Belehrung des Paters gierig in sich auf und überraschte diesen wiederum mit der Geschwindigkeit seiner Lernerfolge sowie der schnell voranschreitenden Fähigkeit, sogar schwierige griechische und lateinische Texte zu entschlüsseln und zu verstehen.

Der Pater erlebte die ungeahnte Genugtuung, diesen Rohdiamanten veredeln zu dürfen, und staunte über die immer interessanter werdenden Diskussionen mit Mark, genoss die Öffnung auch für ihn neuer Perspektiven und Denkansätze. Viele Stunden verbrachten sie bei Spaziergängen durch die dem Kloster anliegenden Wälder mit intensiven Gesprächen über antike Philosophie. Ihr Zusammensein war sichtlich geprägt von gegenseitiger Zuneigung und Liebe. Leider verflog die Zeit in allzu großen Schritten, und über den ungleichen Freunden schwebte die Drohung des nahenden Endes.

Mark, längst zum Mann gereift, schloss das Abitur mit glänzenden Zensuren in den sprachlichen Fächern und immer noch guten in den naturwissenschaftlichen ab.

Seine Hochstimmung kämpfte allerdings gegen das Damoklesschwert des bevorstehenden Verlusts seines väterlichen Mentors.

Der Pater grübelte schon lange Zeit über der Frage, ob er seinen Zögling, sowohl im eigenen Interesse als auch in dem der Mönche, nahelegen sollte, sich langfristig an das Kloster zu binden, oder ob ein freies Universitätsstudium für Mark letztlich nicht eine intensivere Förderung seiner beträchtlichen Fähigkeiten bedeutete. Nicht ohne Wehmut entschied er sich für Letzteres.

Als es so weit war, begleitete er Mark nach Aachen an die Universität, wo dieser sich an den Fakultäten für Altphilologie und Philosophie einschrieb.

Kapitel 3

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MAIEUTIK

GEBEUGT ÜBER IHRE Schreibtische im Gemeindearchiv sitzen sich Mark und Cécile gegenüber. Zwischen ihnen liegt die Kopie einer antiken, altgriechischen Handschrift. Dieselbe war Bestandteil einer kürzlich erfolgten, großzügigen Bücherschenkung an das Gemeindearchiv. Die beiden, längst bekannt als ausgewiesene Experten der Altphilologie, wurden beauftragt, das Manuskript in ihre Muttersprache zu übersetzen.

Das pergamentene Original wurde zuvor aufgrund seines fortschreitenden Verfalls mit größter Vorsicht in verschiedene, wissenschaftliche Institute verbracht. Die zahlreichen Untersuchungen, unter anderem mittels der Radiokarbonmethode und mehrerer Mikropartikelexpertisen, ließen keine Zweifel: Bei der vorliegenden Schrift handelte es sich um einen der Öffentlichkeit bisher unbekannten Dialog des Sokrates mit dem Sophisten Kolos, nach literar- und redaktionskritischer Beurteilung der Feder des Platon oder eines seiner Schüler entstammend, mit dem Titel: »Aletheia!«

In seiner unnachahmlichen, maieutischen Fragetechnik, die bezeichnenderweise dem griechischen Begriff für Hebammenkunst entlehnt ist, führt Sokrates den Sophisten aufs rhetorische Glatteis, auf dem er, kurz vor dem Entgleiten, unter schweren Wehen der versiegenden Widerrede, schließlich zugestehen muss, dass Wahrheit und Wahrhaftigkeit einen echten, dem Menschen zukommenden und ziemenden Wert darstellen im Gegensatz zur Scheinwelt sophistischer Argumentation und Überredungskunst.

Am Ende ihrer Auseinandersetzung verlässt Sokrates, wie so oft, einen rhetorisch geschlagenen, nicht minder feindseligen Gesprächspartner, der sich eingliedern wird in die lange Reihe derer, die ihn einst vor Gericht zwingen werden wegen angeblicher Volksverhetzung, ungebührlicher Reden und Verderbnis der Jugend Athens. Die Folgen sind bekannt: Obwohl von seinen Freunden die Wachen für die Flucht schon bestochen sind, besteht Sokrates auf den tödlichen Becher, freiwillig getrunken, um der Wahrheit einen letzten finalen Dienst zu erweisen.

Kapitel 4

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FRANK V. WILMOTS

FRANK VON WILMOTS war als Ziegelfabrikant zu Reichtum gelangt. Aus einer verarmten, adeligen Familie stammend, hatte er nach dem Zweiten Weltkrieg die Zeichen der Zeit erkannt, einen weitgehend heruntergekommenen Gutshof der Familie mit zunächst einfachen Mitteln zu einer Ziegelwerkstatt umfunktioniert und mit wachsendem Erfolg die zerstörten Kriegsgebiete Europas beliefert. Was als kleiner Transfer vom winzigen Städtchen Hamstelveen hauptsächlich an Baufirmen in Köln und Düsseldorf begann, entwickelte sich in kurzer Zeit zum Erfolgsmodell. »Wilmots Ziegelwaren« war bald der größte Zulieferant von Ziegelprodukten aller Art in Europa. Wilmots bewies sein kaufmännisches Geschick auch im Folgenden. Er investierte sein Geld in Schiffswerften, in den Flugzeugbau und insbesondere in das zunehmend blühende Immobiliengeschäft. Innerhalb des Zeitraums von zwei Jahrzehnten wurde aus Wilmots einer der reichsten Männer der Niederlande.

Die Vermehrung seines Reichtums war nicht das einzige Interesse des Fabrikanten. Seine Großzügigkeit, gepaart mit seiner großen Begeisterung für schöngeistige Dinge, machte ihn zu einem begehrten Mäzen für Kunst, Musik und Literatur. Er unterstützte Kunstsammlungen und Museen mit selbst erworbenen, wertvollen Gemälden, versorgte ein kleines Heer aufstrebender Dichter und Literaten mit den notwendigen pekuniären Mitteln, erwarb und verlieh wertvolle antike Folianten, alte Partituren von zum Teil unbekannten Komponisten, stipendierte talentierte junge Musiker, versorgte zu ihrer Ausbildung das Musikkonservatorium in Amsterdam mit Geldmitteln und lud zu selbst organisierten Konzerten und Opernaufführungen, nicht selten in den weiten Gärten seiner neu erbauten Villa in Hamstelveen. Seine Geschäfte hatte er längst an fähige Mitarbeiter delegiert und konzentrierte seine Aktivitäten auf seine eigentliche große Leidenschaft: die Kunst.

Das große Prunkstück seiner Villa war die Bibliothek. Durchlief man die von prächtigen Originalbildern aus der Hand einiger von Wilmots unterstützten Künstlern geschmückte, sogenannte Galerie der unbekannten Maler, traf man auf ein Türportal, das von geschnitzten Porträts einiger der großen Denker der Philosophiegeschichte geprägt war: Platon, Aristoteles, Plotin, Augustinus, Erasmus, Descartes, Kant, Hegel, Nietzsche. Durch kleine Wunder der Scharniertechnik ließen sich die beiden mächtigen Türflügel mittels zweier Bronzeskulpturen überraschend leicht öffnen. Im Inneren erwartete einen zunächst eine unfassbare Anzahl von Büchern, eingelagert in deckenhohe, massive Holzregale. Kleine Wendeltreppen führten auf verschiedene Ebenen und Galerien, die bestimmte Themengruppen vereinten.

Das Licht der riesigen Glaskuppel, welche die Bibliotheksarchitektur nach oben abschloss, tauchte den Raum, abhängig vom Tageslicht und – bei gutem Wetter – vom Stand der Sonne, in ein ständig wechselndes, skurriles Farbenspiel. Unterstützend zum natürlichen Licht war eine raffinierte Kombination aus bewegungssensitiver und akustisch aktivierbarer, indirekter Beleuchtung installiert, die dem Besucher der Räumlichkeiten ständigen Einfluss auf die Lichtintensität am Aufenthaltsort offerierten.

Auf einer der obersten Galerien, knapp unterhalb der Glaskuppel, befand sich der vermutlich wertvollste Teil der Bibliothek: eine Sammlung aus aller Welt zusammengetragener antiker Schriften, unter anderem mehrere Kopien der Werke des Origenes und Augustinus, sowie sehr frühe, aus dem 7. und 8. Jahrhundert stammende Abschriften des griechischen Neuen Testaments, damit wenig jünger datiert als der berühmte Codex Sinaiticus. Folglich waren es häufig entliehene Exemplare an theologische Wissenschaftler für deren literarkritische Bibelforschung.

Wie in allen Abteilungen der Bibliothek standen auch hier bequeme, viktorianische Ledersessel, um dem Leser ein angemessenes, die Sinne bewegendes Ambiente zu verschaffen. Es war Wilmots Lieblingsort, er genoss allein den alle Fantasie beschleunigenden Geruch der alten Folianten, ergab sich dem taktilen Genuss, in den kunstvoll geschmückten und bebilderten Seiten zu blättern, obwohl er, mangels humanistischer Bildung, des Altgriechischen nicht mächtig war.

Nur Raimond, sein jüngstes Kind und zweiter Sohn, teilte das bibliophile Interesse des Vaters und verbrachte unzählige Stunden und Tage meist gemeinsam mit ihm in den Geschichte atmenden Räumen der Bibliothek. Zum späteren Leidwesen des Vaters hatte er Raimond eher praktisch-künstlerisch denn humanistisch ausbilden lassen. Nach dem musischen Gymnasium besuchte er die Universität und studierte Innenarchitektur.

Als der alte Wilmots starb, genauer gesagt: sich in seine Bibliotheksräume zurückzog, die Aufnahme von Wasser und Nahrungsmitteln einstellte und, mit sich und seinem Leben weitgehend zufrieden, aber weiterer Aktivitäten überdrüssig, beschloss, auf seinen Tod zu warten, welcher sich seiner – nach gebührender Wartezeit – auch annahm, galt es ein beträchtliches Vermögen zu verwalten.

Frank von Wilmots hatte testamentarisch festgelegt, mit seiner Entscheidung nur bedingt zufrieden, seinen Nachlass paritätisch zwischen seiner Frau und seinen Kindern zu verteilen, lediglich Haus und Bibliothek wurden ausdrücklich Raimond übertragen.

Während sich die entstehenden Erbstreitigkeiten über Monate hinzogen und ein kleines Vermögen für Anwälte und Gutachter verschlissen, machte sich Raimond, davon weitgehend unberührt, daran, eine Vereinbarung – einen lange gehegten, aber nie zur Umsetzung gereiften Plan zwischen ihm und seinem Vater – zu realisieren: eine sehr wertvolle Schenkung an das Gemeindearchiv Amsterdams, namentlich den Teil der Bibliothek, den der Tote besonders liebte: die Sammlung antiker Schriften, darin bisher verborgen und unbeachtet Platons »Aletheia«.

Bei den Schenkungsfeierlichkeiten begegneten sich Mark, Cécile und Raimond zum ersten Mal. Raimond verliebte sich auf der Stelle in Cécile, ein Zustand, der ein Leben lang anhalten sollte.

Kapitel 5

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DAS HAUSBOOT

AUF MEHRARMIGEN LEUCHTERN unterschiedlichster Form und Herkunft verteilte Kerzen verleihen dem Innenraum des alten Hausboots eine flackernde, fantasieschwangere Atmosphäre. Die spiegelnden Fenster, zahlreiche Bilderrahmen, die herumstehenden Gläser, nicht zuletzt die reflektierenden Kerzenständer selbst, verstärken die Illusion unzähliger Lichtquellen. Dem Raum mit seinen offenbar keiner Ordnung folgenden Bücherbergen vermitteln sie das Bild eines verwunschenen Antiquariats.

Auf ihrem Himmelbett liegt Cécile in typischer Haltung: bäuchlings, die Beine im Knie gebeugt, nach oben baumelnd, auf die Ellenbogen gestützt, mit der einen Hand den Kopf haltend, mit der anderen einen Rotweinschwenker. Dessen Inhalt lässt sie mit kleinen Drehbewegungen kreisen, träumend versunken in das kerzenbeleuchtete Farbspiel des schwerfällig rotierenden Weins.

Auf Sitzkissen haben Mark und Raimond Platz gefunden. Ihre Sitzhaltung spiegelt unübersehbar ihre unterschiedliche Gemütslage wider: Mark eher lümmelnd, nach zahlreichen Besuchen im Hausboot bereits heimisch geworden, eine selbst gedrehte Zigarette rauchend. Raimond hingegen die Arme um die angezogenen Knie geschlungen, die Hände wie zum Gebet gefaltet, offenbar noch unsicher ob seiner ersten Einladung bei den beiden, richtet seinen Blick immer wieder scheu auf Cécile, getragen von der Hoffnung, dabei unentdeckt zu bleiben. Neben ihm liegt eine offensichtlich häufig getragene, schon leicht verblichene Ledertasche, die Raimond, von wenigen Ausnahmen abgesehen, stets bei sich trägt. In der Tasche befinden sich neben wechselnden Gegenständen unverzichtbar zwei Bücher: Eine sehr alte, ledergebundene, griechischdeutsche Ausgabe der Ilias, das Lieblingsbuch seines Vaters, und seit Kurzem eine erste, handgeschriebene Übersetzung der »Aletheia« aus dem Archiv, die Cécile ebenfalls in Leder kleiden ließ und ihm als persönlichen Dank für die großzügige Bücherschenkung überreichte.

Im Augenblick herrscht nachdenkliches Schweigen. Lange und intensiv, von reichlich Rotwein begleitet, hat man sich über Platon und dessen Wahrheits- und Wirklichkeitsverständnis unterhalten, dessen Höhlengleichnis verglichen mit Textpassagen aus dem neu gefundenen »Kolos-Dialog« und letztendlich ergebnislos diskutiert, ob der Begriff der Wahrheit im metaphysischen Sinn überhaupt gedanklich und damit auch sprachlich erfassbar ist.

carpe diem Erkenntnis