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Ingeborg Schober

Janis Joplin

Eine Biografie

FUEGO

Über dieses Buch

Janis Joplin (1943-1970), auch Pearl genannt, war ein pummeliger und pickeliger Teenager und wurde das "Leitbild der Hippie-Generation" und die unbestrittene Königin der Rockmusik", ein erster weiblicher Mega-Star, auf der Bühne eine Urgewalt. Die grandiose Bluessängerin starb mit 27 Jahren an einer Überdosis Heroin oder vielmehr, wie Eric Burdon meinte, "an einer Überdosis Janis."

Kenntnis- und faktenreich schildert die Autorin Kindheit und Jugend, Aufstieg und Ausschweifungen der Sängerin, ohne sich dabei in waghalsige Interpretationen der Schattenseiten zu ergehen.

Sowohl für eingefleischte Fans als auch für den interessierten Leser stellt dieses Buch eine Grundlage dar. Mit akribischer Genauigkeit und spürbarer Sympathie zeichnet die Autorin ihr kurzes und bewegtes Leben nach. Dabei zitiert sie aus unterschiedlichsten Quellen, um so ein möglichst realitätsnahes und lebendiges Bild des Rockstars zu zeichnen.

Ein Mercedes-Benz ist nicht genug

Im Jahr 1995 haut die noch ganz junge Schauspielerin Franka Potente in dem deutschen Spielfilm Nach 5 Uhr im Urwald von zu Hause ab, um sich bei einem Werbe-Casting mit dem Janis-Joplin-Song »Mercedes-Benz« zu bewerben. Gleichzeitig feiern die autoritären Eltern eine nostalgische und wenig bürgerliche Sechziger-Jahre-Party ganz im Sinne von Janis Joplin – mit lauter Rockmusik, etlichen Joints und viel Alkohol.

In gewissen Fernsehserien und TV-Movies über Beziehungsdramen läuft immer dann im Hintergrund ein Janis-Joplin-Song, wenn eine trotzige bis rotzige Protagonistin den Raum betritt. Vielleicht bezeichnete deshalb eine junge Quiz-Kandidatin zum Thema Sechziger-Jahre-Helden den Gesang von Janis Joplin geradezu angewidert als »ziemlich schaurig«.

Janis Joplin ist also immer noch allgegenwärtig, wenn auch nicht unbedingt mit ihrem Namen. Aber als eine Person, die polarisiert. Sie war ein weiblicher Tramp, ruhelos, experimentierfreudig, auch sexuell zügellos, verstieß gegen alle Konventionen und steckte voller Widersprüche. Sie sang schwarz und war weiß, fluchte wie ein Bierkutscher, liebte ausgefallene Kleider und Schmuck, wollte das brave, bürgerliche Mädchen sein, konnte es nicht und pendelte bis zu ihrem Tod zwischen Bürgerlichkeit und Boheme.

Du konntest überall in Amerika auf einem Konzert oder Festival herumlaufen und sie sehen, die Töchter von Janis, die zähen und demolierten kleinen Gesichter, herausfordernd frei von Make-up und anderen kosmetischen Verschönerungen, das Haar eindeutig dreieckig in seiner Elektrizität, die Kleider lang, locker und zigeunerhaft – und, schau Mami, keine Miederhöschen und, noch besser, Brustwarzen!

Lillian Roxon, US-Rockkritikerin

Sie hatte als Mädel damals keine Chance, aber sie nutzte sie – so könnte man den Spagat von Janis in der Männerdomäne Musikgeschäft bezeichnen. Und nicht eine hat nach Janis Joplins Tod mit dieser Wucht und Vehemenz die Rockbühne betreten und erobert. Die angesagten Sängerinnen der Sechziger wie Mama Cass von den Mamas & Papas,_1 Grace Slick von Jefferson Airplane, Cher oder Joan Baez waren kein Vorbild für Janis, die tragische Blues- und Jazzgrößen wie Bessie Smith_2 und Billie Holiday_3 verehrte. Gleichzeitig tobte sie wie ein verfrühtes Punk-Girl im Nuttenlook über die Bühne, sagte lieber »Piss off!« oder »Fuck You!« statt »Wear a Flower in Your Hair!«. Mit ihren Launen und dem rüden Verhalten war sie ein menschlicher Alptraum und selbst für die Musikwelt zu laut. Und schon gleich gar für ihren Geburtsstaat Texas, wo Frauen anders laut sind, nämlich kokett. Als abgetakelte »Pearl« persiflierte sie Hollywood-Göttinnen wie Mae West bis an die Grenze des Kitsches. Sie war himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, mal das kleine, verletzliche, verlorene Mädchen, dann die laut tönende, lärmende, ruppige Blues-Mama mit Boa um den Hals und Federn in den zerzausten Haaren.

Janis' Verhaltensweise stand in starkem Kontrast zum Rollenverständnis einer Frau aus der Mittelschicht und zum Bildungsbürgertum der fünfziger Jahre oder wie die Buchautorin Alice Echols schrieb: »Dies war schließlich das Nachkriegsamerika, in dem Mädchen sexy und nicht sexuell zu sein hatten.« Janis gehörte zu den »Sandwich-Frauen«, die zwischen zwei extrem unterschiedlichen Frauengenerationen ihren eigenen Weg suchten und dabei aufgerieben wurden – der ihrer Mütter und der ihrer späteren »Töchter«, für die sie den Weg bereiteten. Janis war geprägt von der muffigen, moralinsauren und frauenfeindlichen Erziehung der fünfziger Jahre und folglich stark abhängig von der bürgerlichen Fassade und Anerkennung, was natürlich mit ihrer grenzenlosen Rebellion dagegen kollidierte. Ihre künstlerische Leistung wurde von denen, deren Liebe sie gewinnen wollte – also Eltern, Autoritätsfiguren, aber auch Männer –, nicht gewürdigt. Denn sie machte in einer neuen, fremden Welt Karriere, die als suspekt und minderwertig abgelehnt wurde. Insofern war sie eine Wanderin zwischen den Welten, eine tragische Figur, die Grenzen überschritt, aber immer zurück durch den bürgerlichen Gartenzaun wollte. Dieser Spagat hat sie innerlich zerrissen, ihr schwaches Selbstbewusstsein noch mehr unterminiert, ist eine Erklärung dafür, wieso sie Komplexe und Zweifel nicht los wurde. Sie hat sich selbst erniedrigt und sich erniedrigen lassen von männlichen Hochstaplern, Versagern und Schmarotzern, die ihr nicht das Wasser reichen konnten, weit unter ihrer Würde und ihrem Niveau waren. Alice Echols schrieb in ihrem Buch »Piece of my Heart«, Janis sei wie so viele talentierte und gequälte Künstlerinnen eine der letzten berühmten Frauen, deren Tod in gewisser Weise unvereinbar damit verknüpft war, Künstlerin und Frau zugleich zu sein.

Ich bin kein Star!

Janis Joplin

Damit steht Janis nicht allein da als Opfer des Showgeschäfts. Hochbegabte, erfolgreiche Künstlerinnen wie Billie Holiday, Tina Turner oder gar Whitney Houston sind an einem ähnlich schicksalhaften Privatleben gescheitert.

Es waren nicht allein die Drogen, die Janis zerstört und getötet haben, es waren auch der Mangel an Liebe, Vertrauen, Selbstverständnis und gesellschaftlicher Anerkennung, die sie so verzweifelt suchte und die ihr versagt blieben. Trotz allem oder genau deswegen wurde sie im 20. Jahrhundert die einzige weiße Blues-Ikone und Rocksängerin von Star-Format, der bis heute keine das Wasser reichen kann. Doch die eigentliche und späte Würdigung und Wiedergutmachung kam erst in den neunziger Jahren mit der Wiederveröffentlichung ihrer Platten auf CD.

Ich verkauf mein Herz!

Janis Joplin zu Newsweek

Das Phänomen Janis Joplin ist vielschichtig – sie war ohne Platten schon ein Bühnen- und Medienstar, hatte den ersten und einzigen Hit nach ihrem Tod und vollbrachte als weibliche Pionierin in einer männerdominierten Welt einen gefährlichen Drahtseilakt. Was die Männer als Rockstars durften und was sie faszinierend machte, wurde ihr vorgeworfen. Bad boys ja, bad girls nein. Heute würde man sagen, gute Mädchen kommen in den Himmel, böse kommen überall hin. Ganz ohne Frage hat etwa nicht nur Nina Hagen viele der exaltierten Gesangsphrasierungen von Janis studiert und auch die Art und Weise, wie man einen ursprünglich melodischen Song fast bis zur Unkenntlichkeit »zerfetzen« kann, sondern auch modische Anleihen genommen. Anastacia erinnert bisweilen ebenfalls, wenn auch musikalisch in sehr gemäßigt schicker Form, an Janis, nicht zuletzt, weil sie als hippes Accessoire ausgefallene Brillen trägt. Aber welche Frau im Showgeschäft beruft sich schon freiwillig auf ein weibliches Vorbild, das zu seiner Zeit als »hässlich« galt? Die amerikanische Musikerin und Sängerin Melissa Etheridge findet, Janis hätte Frauen wie ihr den Weg geebnet, Rockstars statt Sekretärinnen zu werden. Trotzdem taugte Janis Joplin nicht als weibliches Rollenidol. Auch wenn sie ihren Prototyp erfunden hat, starb er quasi mit ihr, während ihr Gesangsstil, ihre Intensität als Einfluss auf die Rockmusik überall zu orten sind. Kurioserweise aber vor allem bei männlichen Sängern, insbesondere von Heavy-Metal-Bands, die das natürlich nie zugeben würden oder selbst gar nicht merken.

Leute machen Janis nach, selbst wenn sie nicht wissen, dass sie es tun. Meist sind es sogar langhaarige Männer in Heavy-Metal-Bands.

Debbie Harry, Sängerin der US-Band Blondie

Schon Robert Plant von Led Zeppelin kopierte Janis und die Legionen, die ihn kopierten, kopierten ahnungslos wiederum Janis. 1970 schrieb der amerikanische Journalist David Dalton, dass Janis' Rolle als die Frau, mit der man Pferde stehlen kann und die jeden Mann unter den Tisch trinkt, eigentlich nur eine Antwort auf die androgynen Posen männlicher Rockstars sei, die feminine Ausdrucksweisen in den Rock integrieren würden, in denen Frauen nichts zu sagen hätten – also quasi den Frauen die Chance nahmen, eine ähnliche Rolle aus weiblicher Sicht zu spielen.

Janis konnte es nicht einmal sich selbst recht machen: Obwohl sie bewusst provozierte, war sie über das meist schockierende Ergebnis betrübt, ihr Schicksal war es, dass sie eigentlich nirgendwo zu Hause war, nicht einmal in sich selbst, und überall eine andere Bedeutung genoss, als eine andere Janis angesehen wurde. Sie rührte bis tief ins Unterbewusstsein an weiblichen und männlichen Emotionen. Sie kam wie eine Naturgewalt und alle Unwetter zusammen über die Rockszene, wie ein Zugunglück, eine Entgleisung aller weiblichen Tabus, wie eine Dampfwalze, die mit bourbongetränkter Bluesstimme und Angst einflößenden Schreien die Rockbühne im Sturm nahm, ein Punk in Beatnik- und Hippiezeiten, eine Trash-Diva der Sechziger. »Genug ist nicht genug«, ein texanisches Sprichwort, war nun mal ihre Devise. »Oh Lord, won't you buy me a Mercedes-Benz?«

Mercedes-Benz (Songtext; Ausschnitt) 1969

 

Oh Lord won't you buy me a Mercedes-Benz

My friends all drive Porsches,

I must make amends.

Worked hard all my lifetime,

No help from my friends

So, Lord, won't you buy me a Mercedes-Benz?

 

Mein Gott, kaufst du mir nicht einen Mercedes-Benz?

Meine Freunde fahren alle Porsche,

ich brauche eine Wiedergutmachung.

Ich habe mein ganzes Leben lang hart gearbeitet,

ohne Hilfe von meinen Freunden,

also Gott, kaufst du mir nicht einen Mercedes-Benz?

Braves Mädchen

Janis Joplins Mutter Dorothy East stammte aus Nebraska, wo ihr Vater Cecil bis zur Weltwirtschaftskrise Viehzüchter war. Danach versuchte er sich als Exportkaufmann und Grundstücksmakler, zog mit seiner Frau Laura und den vier Kindern nach Kansas City, dann nach Los Angeles und schließlich nach Amarillo, Texas. Er war ein Trinker und Schürzenjäger, Dorothys Mutter Laura eine mürrische Frau. Dorothy absolvierte ihr letztes Highschool-Jahr in Amarillo. Ihre kräftige Sopranstimme brachte ihr ein Stipendium für Gesang an der Texas Christian University ein. Aber sie brach das Studium ab, weil sie keine Opernarien singen wollte, sondern lieber Broadway-Songs, was damals als ziemlich frivol galt. Später behauptete sie jedoch, die ganze »Musikszene« hätte ihr nicht gefallen. Stattdessen nahm sie in Amarillo eine Verkäuferinnen-Stelle an und arbeitete sich rasch zur Abteilungsleiterin hoch.

Sie trug eine hochmodische Bobfrisur, rauchte sogar Zigaretten in der Öffentlichkeit, obwohl die in diversen US-Staaten verboten waren, trug auffallende, elegante Hüte und jobbte im Rundfunk als Ansagerin. Ihre unkonventionelle Haltung in jungen Jahren weist im Nachhinein viele Parallelen zu ihrer ältesten Tochter Janis auf. Sie war zwar eine lebenslustige Person, allerdings mit großem Ehrgeiz und strengen Moralvorstellungen.

1936 heiratete Seth Joplin die dreiundzwanzigjährige Dorothy East. Das Ehepaar siedelte nach Port Arthur nahe der Grenze zu Louisiana am Golf von Mexiko über. Dort begann Seth als kleiner Angestellter für die mächtige Ölfirma Texaco zu arbeiten, was ihn vor dem Armeedienst im Zweiten Weltkrieg bewahrte. Seth, der im Ruf eines Playboys stand, hatte Dorothy in Amarillo bei einem Tanzabend kennengelernt und ihr ein Jahr lang den Hof gemacht. Beide hatten in ihrer Jugend Not und Elend erlebt. Seth Joplin war 1910 als zweites Kind von Seeb und Florence Joplin in Amarillo geboren worden, wo seine Eltern einen Viehhof und eine kleine Pension betrieben. Der gut aussehende, charmante Ingenieurstudent brach sein Studium an der Texas A&M University im letzten Semester ab – wohl aus Geldmangel oder wegen schlechter Noten –, kehrte 1932 nach Amarillo zurück und arbeitete dort als Tankwart. Doch eigentlich war er ein Schöngeist, der sich für Literatur und klassische Musik begeisterte. Zum Ärger von Dorothy brannte er während der Prohibition heimlich Schnaps und rauchte Marihuana, das damals allerdings noch legal war. Auch wenn Seth bei Texaco erst einmal bescheiden in der Abteilung für Dosen und Kanister anfing, stieg er bald zum Vorarbeiter auf.

Einer der nettesten Männer, mit denen ich je gearbeitet habe. Sein Motto lautete leben und leben lassen, und danach richtete er sich auch.

Gladys Lacy, ein Kollege von Seth Joplin

Nachdem Cecil Easts Alkoholprobleme zur Scheidung von Dorothys Mutter Laura geführt hatten, zog diese mit Dorothys jüngerer Schwester Mimi zu dem jungen Ehepaar Joplin. Obwohl die Joplins anfangs in sehr bescheidenen Verhältnissen lebten, kauften sie in einem der besseren Vororte von Port Arthur, einem damals ländlichen Vorort namens Griffing Park, ein kleines Haus am Lombardy Boulevard 3130. An den Wochenenden vergnügten sie sich mit Freunden in den Bars von Vinton, Louisiana, jenseits des Sabine-Rivers und unternahmen ebensolch feuchtfröhliche Ausflüge, wie sie Dorothy später bei ihrer Tochter Janis so sehr verdammte. Für lebensfrohe Menschen mit kulturellen Interessen war Port Arthur im Südosten von Texas eine Diaspora. 1940 wuchs die bibelfeste Ölraffinerie-Metropole aus dem Nichts zur fünftgrößten Stadt Amerikas, geprägt von der wohlanständigen Saubermann-Scheinheiligkeit ihrer weißen Bewohner und strenger Rassentrennung. Mindestens 40 Prozent der Bevölkerung waren Schwarze, die völlig isoliert in den Außenbezirken lebten. Man ignorierte die 32 Bordelle für die Seeleute, das Glücksspiel und die Korruption der Mafia aus dem benachbarten New Orleans. Es herrschte ein rauer Umgangston, Gewalt, Schlägereien und Mord waren an der Tagesordnung. Auch die klimatischen Bedingungen unter der allgegenwärtigen schmierigen Dunstglocke waren mörderisch, subtropisches Wetter und eine lange Regenzeit, bei der auch im Winter die Temperaturen selten unter 4 Grad Celsius sanken. Damit gehörte Port Arthur laut der Business Week zu den zehn hässlichsten Städten Amerikas.

Janis Lyn Joplin wurde am 19. Januar 1943 um 9.45 Uhr morgens im St. Mary's Hospital geboren und wog lediglich fünfeinhalb Pfund. Das winzige Baby entwickelte sich bald zu einem Prachtkind, das viel Geschicklichkeit bewies, mit einem Jahr bereits perfekt mit Messer und Gabel umgehen und aus der Tasse trinken konnte. Als kleines Kind war sie eine Schlafwandlerin und lief nachts oft auf die Straße hinaus. Janis war ein wissbegieriges Kind, das schon vor Schuleintritt lesen konnte und schnell lernte. Vor allem aber zeichnete und malte sie unentwegt.

Gleichzeitig irritierte sie alle mit Trotzattacken, einer unglaublichen Sturheit und zeigte eine gewisse Neigung, gegen den Strom zu schwimmen.

Wenn sie bei einem Spiel im Uhrzeigersinn herummarschieren sollten, dann gingen sie in die entgegengesetzte Richtung und fanden es sehr lustig.

Janis' Mutter über ihre Tochter und einen Kinderfreund

Schon für die kleine Janis war die Welt eine Art Glitzerpalast voller Freuden, die man auf der Stelle genießen sollte. Dem wirkte ihre Mutter mit Disziplin und Strenge entgegen. Die Mutter eines Klassenkameraden von Janis erzählte dem Buchautor Ellis Amburn, dass Dorothy ihre kleine Tochter gezwungen hätte, in Reithosen zur Sonntagsschule zu gehen. »Sie meinte, sie müsse ihr Selbstbewusstsein stärken, um sich durchzusetzen.« Auch andere berichten, dass die kleine Janis in den für Mädchen allseits verpönten Hosen herumlief, obwohl sie sich darin lächerlich fühlte und viel lieber Kleider mochte. Im spießigen Port Arthur führte das unmögliche Kleidungsstück zu den ersten Hänseleien der kleinen Janis, die erstmals in eine Außenseiterrolle gedrängt wurde. Dorothy war in jedem Punkt der absolut dominierende Teil der Familie, eine fleißige, disziplinierte, aber sehr distanzierte Frau mit draufgängerischem Temperament, mit dem sie oft für Aufregung sorgte.

Sie besaß eine gewitzte Intelligenz, war aber bei gewissen Themen engstirnig und intolerant. Sie fand sich nur schwer mit dem Hausfrauendasein ab, engagierte sich im sozialen und kirchlichen Leben von Port Arthur, wobei ihr das gesellschaftliche Ansehen über alles ging. Damals unterrichtete sie schon in Janis' Sonntagsschule der First Christian Church. Viele pädagogische Ehrenämter sollten folgen.

Amerika erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg einen Wirtschaftsaufschwung, hoch spezialisierte Techniker wie Seth waren gefragt und die Joplins bald wohlsituiert. Sie zogen in ein Haus an der wesentlich ländlicheren Procter Street 4330 um, nur unweit vom alten Wohnort entfernt. Dort besuchte Janis die Tyrrell Public School, die Volksschule der bibeltreuen First Christian Church, an der Dorothy unterrichtete, die ihrer Tochter anfangs auch noch Klavierstunden gab.

Vor der Geburt von Janis' Schwester Laura 1949 erlitt Dorothy zwei Fehlgeburten. Laura wurde geboren, als Janis sechs war, und stand nun im Mittelpunkt. Doch Janis zeigte keinerlei Eifersucht und kümmerte sich rührend um ihre kleine Schwester: »Sie beaufsichtigte sie mit viel mehr Fürsorge, als ich es tat«, so Dorothy.

Schon als kleines Mädchen hatte Janis die Geschichten und Märchen, die ihr erzählt wurden, weitergesponnen und ausgeschmückt. In der ersten Klasse schrieb sie kleine Theaterstücke, die sie mit Freunden aufführte. Dafür baute ihr Vater ein kleines Puppentheater im Garten. Es gab einen Sandkasten und jede Menge Tiere, vor allem Hunde, die Janis liebte.

Sie dachte sich diese Geschichten aus. Es war derart verrückt, dass man es so hinnehmen musste, wie es war. Meiner Meinung nach versuchte sie das Gleiche auch mit der Presse. Und dieser Schuss ging nach hinten los. Ich ignorierte ihre wundervolle Fähigkeit, den Menschen zu vertrauen.

Janis' Mutter Dorothy

Janis hatte keine Schulprobleme und brachte ohne große Anstrengung die besten Noten nach Hause. Sie sang zwar im Chor der lokalen Baptistengemeinde, doch keinem schien ihre musikalische Begabung aufzufallen und ihre Mutter hat das bewusst nicht thematisiert. Tatsache ist, dass Dorothy nach einer verpfuschten Schilddrüsenoperation 1949 ihre Gesangsstimme verlor und das Klavier der sechsjährigen Janis von einem Tag auf den anderen wortlos verbannte. Offenbar veränderte diese Operation ihren gesamten Charakter. Sie schien sehr konträr und extrem und pendelte zwischen zwei widersprüchlichen Lebenskonzepten, die ihrer emotional labilen Tochter keine Orientierung boten. Dorothy wurde zunehmend kühler, leidenschaftslos, streng, prüde und entwickelte sich zu einer altmodischen, sehr rigiden Frau. Damit waren die späteren Konflikte mit Janis, insbesondere in Bezug auf deren Gesangsambitionen, vorprogrammiert.

Laura meinte später, ihre Mutter hätte sie immer angetrieben, sich zu übertreffen, und alles überwacht, sogar das Spielen korrigiert und Verbesserungsvorschläge gemacht. Auch das Spielzeug musste Sinn machen, das Lernen fördern. Viele von Janis' Jugendfreunden berichteten, dass Dorothy eine starke Kontrolle ausübte, sehr sittenstreng und kritisch war. Wenig erstaunlich also, dass Janis' psychologische Entwicklung nicht mit ihrem Intellekt Schritt hielt. Noch mit acht Jahren lutschte sie am Daumen. Angeblich habe sie ihr Vater schließlich vor die Wahl gestellt, entweder damit aufzuhören oder auf eine ihrer Lieblings-Radiosendungen zu verzichten, was Janis mit einem Tobsuchtsanfall quittierte. Um ihr Zeichentalent zu fördern, schickte die Mutter sie während des dritten und vierten Schuljahrs zu einem privaten Kunstunterricht, der sich jedoch im Wesentlichen auf technisches Zeichnen beschränkte.

1953 wurde Janis' Bruder Michael geboren, den sie ebenfalls liebevoll umhegte. Allerdings forderte die bis dahin eher mustergültige und liebenswürdige Janis mehr Aufmerksamkeit als andere Kinder, war tonangebend und wollte immer im Mittelpunkt stehen. Sie entwickelte einen auffälligen Ehrgeiz, wie ihre Mutter stets in allem die Erste und Beste zu sein.

Es wurde deutlich, dass Janis sich selbst zum Erfolg trieb, ob es um Positionen, Zensuren oder Aktivitäten ging ...

Janis' Mutter Dorothy

In der sechsten Klasse wechselte sie, wie in den USA üblich, an die Mittelschule, übersprang aber wegen ihrer exzellenten Noten eine Klasse und bekam prompt mit den älteren Klassenkameraden Probleme, weil sie sehr klein war. Auch die vielen Rowdys im Bus setzten ihr zu und deshalb brachten die Eltern sie bald mit dem Auto zur Schule. Trotzdem tat sie sich immer hervor, zumindest wenn sie genügend Lob erhielt. Sie war in derselben Klasse mit ihrer langjährigen Freundin Karleen Bennett, die Janis und ihren Vater oft in die Bibliothek begleitete: »Mr. Joplin war sehr gebildet. ... Er riet uns, erst ein Buch in der Hand zu wiegen. Wenn es schwer ist, dann ist es wohl ein gutes Buch, meinte er, weil sie dann teures Papier genommen haben.« Janis erklärte später, »dass es das größte Ding in unserem Haus war, wenn du gelernt hattest, deinen Namen zu schreiben. Dann hast du dir einen Ausweis für die Bibliothek besorgen müssen.« Vater Seth diskutierte gern und unternahm mit den Kindern Ausflüge in die Natur, um »das Alltägliche spannend zu machen«. Dorothy war stolz darauf, ihre Kinder stets zum Denken und Diskutieren angehalten zu haben: »Wir schlossen die Kinder in all unsere Gespräche ein. Wir wollten, dass sie ihre Meinungen und Gedanken zu allem äußerten, was zur Sprache kam.«

Ich habe Gedichte gelesen und ein bisschen gemalt.

Janis Joplin

Damals hat sie gesungen. Das war ganz anders als dieses Geheul, das man später von ihr zu hören bekam.

Ein Lehrer aus der Junior Highschool über Janis Joplin

1953 hob der Oberste Gerichtshof die Rassentrennung in den Schulen auf, ein Urteil, das vor allem in den Südstaaten schlicht ignoriert wurde. Zu dieser Zeit gehörte Janis dem Schulchor der Junior Highschool an, zeichnete für die Schülerzeitung The Driftwood und schrieb dafür die Geschichte »Ein ganz ungewöhnliches Gebet«. Jack Smith lernte Janis in der siebten Klasse beim Bridgespiel in einem Club namens »Bridge für kulturellen Fortschritt« kennen. Seiner Meinung nach war sie damals durchaus beliebt. »Es gibt sehr viele Leute, die jegliche Kommunikation zwischen ihr und ihren Eltern glattweg leugnen, aber sie irren sich.« Er begleitete Janis auch in die Kirche, als sie in der neunten Klasse bei einer Weihnachtsaufführung mit ihrer hellen Sopranstimme ein Solo sang. »Sie war bereits ein kleiner Star und der Augenstern ihrer Mutter.« Damals begann Janis für das Schwarze Brett der Bücherei Plakate zu zeichnen und die Port Arthur News veröffentlichte ein Foto einer ihrer Illustrationen.

Dorothy förderte die Kunstbegeisterung ihrer Tochter mit Malutensilien und Kunstbänden. Allerdings war sie wenig davon begeistert, dass Janis ausgerechnet ein Faible für Aktzeichnungen entwickelte, im damaligen Port Arthur geradezu skandalös. Es wird berichtet, dass in Janis' späterer Zeichenklasse an der Universität in Austin die Aktmodelle noch Badeanzüge trugen. Als Janis die Innenseite ihrer Kleiderschranktür mit einem Akt zierte, war die Geduld ihrer Mutter am Ende und Janis musste das Bild übermalen. Der Vater versuchte es dagegen mit einer Ablenkungstaktik und unternahm mit seiner Ältesten Ausflüge ans Meer, um sie für die Landschaftsmalerei zu begeistern.

Dorothy und Seth wünschten sich eine ganz normale Familie, waren aber beide offenbar nicht in der Lage, Herzlichkeit und Wärme zu zeigen. Dorothy billigte es nicht, dass ihr Mann kein Christ war, sich in seine Garage zum Basteln zurückzog und dort heimlich der Flasche zusprach. Janis vergötterte ihren Vater geradezu, bezeichnete ihn als einen »heimlichen Intellektuellen«. Obwohl Seth hingebungsvoll für seine Familie sorgte, war er eher ein Eigenbrötler und Philosoph und meinte, dass er auch ein guter Mönch geworden wäre. Während die Mutter übermächtig war, wurde der Vater beinahe unsichtbar und machtlos und verkümmerte allmählich in der Enge von Port Arthur.

Sie war wie ein viktorianischer Vater, durchaus vom Wunsch nach Nähe, Innigkeit erfüllt, jedoch von der Pflicht gefordert und entschlossen, ihr Kind vorzubereiten. Sie konnte ihr dieses letzte Stück nicht entgegenkommen, aber Janis war trotzdem ihr Ein und Alles. Eher war es so, dass Janis sich wünschte, dass ihre Mutter etwas Bestimmtes darstellte, und ihre Mutter sich gleichzeitig dasselbe von Janis wünschte, und darüber gerieten sie in Konflikt.

Janis' Schulfreund Jack Smith über Dorothy Joplin

Böses Mädchen

Mit 14 wechselte Janis auf die Thomas Jefferson Senior Highschool. Sie hatte Komplexe, weil sie rund eineinhalb Jahre jünger als ihre Mitschülerinnen und noch völlig unterentwickelt war. Sie trug gerade Rocke, T-Shirts, weiße Söckchen und Loafers, sanft gelocktes Haar und schminkte sich bis ins kommende Jahr noch stark. Der Unterricht war eher praktisch orientiert, mit Druck- und Metallwerkstätten, einer Tischlerei und einem Schweißerkurs. Das »Schöngeistige« beschränkte sich auf technisches Zeichnen. Janis fühlte sich unterfordert und hatte Schulfrust.

Da die soziale Anerkennung vor allem davon abhing, in welche Schulämter man gewählt oder zu welchen Miss-Wahlen man nominiert wurde, war es für Janis ein großer Schlag, dass man sie nicht ins angesehene Musikkorps Red Hussars aufnahm. Zudem setzte sie sogenannten Babyspeck an und litt unter einer hartnäckigen Akne. Ihre Mutter ließ die Schilddrüse von Janis untersuchen, aber es lagen keine Funktionsstörungen vor, die ihre unnatürliche Gewichtszunahme erklärt hätten. Intelligenz und künstlerische Talente halfen einem pummeligen, hässlichen Entlein an der Jefferson Highschool auch nicht weiter, wo man schon an Ansehen verlor, wenn man Bücher las. Ihr Schulfreund Grant Lyons dazu: »Wenn du in Port Arthur, Texas, vierzehn geworden bist, hast du an einer Art sexuellem Wettbewerb teilgenommen, wenn du ein Mädchen warst. Und wenn du nichts vorzuweisen hattest, dann hattest du schlechte Karten. Die Mädchen, die beliebt waren, sahen gut aus. Janis aber nicht.«

Janis war unglücklich und reagierte mit Aufsässigkeit. Doch ihr ungehobeltes und provokantes Verhalten machte sie nur noch unbeliebter. Zwei unterschiedliche Ereignisse ließen ihre Konflikte mit Autoritätspersonen und ihrer Umgebung eskalieren. 1957 erschien der legendäre Beatnik-Roman On the Road von Jack Kerouac,_4 der zu ihrer Bibel wurde. Und ein Artikel im Time Magazine über die Beatniks_5 verfehlte ebenfalls nicht seine Wirkung. Ab da wurde sie bewusst zur Außenseiterin, lief nur noch in Beatnik-Kluft herum, in kurzen Röcken, dunklen Strumpfhosen, Jeans, Männerhemden und schwarzen Pullis.

1957 wurden die neuen Rassengesetze erlassen und somit schwarze Schüler den weißen gleichgestellt. Janis machte sich lebenslange Feinde, als sie die Rassenintegration an ihrer Schule befürwortete. »So etwas macht man einfach nicht in Port Arthur«, so ihre Freundin Karleen, »man macht das noch nicht einmal heute!« Danach wurde Janis überall als »Niggerfreundin« verhöhnt, mit Pennys beworfen, als »Schwein« und »Drecksau« beschimpft. Um ihre Verletzlichkeit und Sensibilität zu verstecken, spielte Janis zunehmend den Clown, reagierte voller Trotz und tat alles, um aufzufallen und beachtet zu werden. Insgeheim wollte sie dazugehören, äußerlich entfernte sie sich mehr und mehr von der Norm. Mit ihren Freundinnen Karleen und Arlene Elster schloss sie sich den harten Brillantine-Jungs in schwarzen Lederjacken an, den so genannten »Fonzies«, Vorläufer der Hell's Angels. Sie ließ sich wie deren Mädchen, die tough girls, die Haare orange färben und raste in Rooney Pauls hochfrisiertem Schrottauto durch die Gegend. Janis passte nicht mehr ins Bild von Port Arthur, fand sich selbst hässlich, wurde schlampig und obszön, kurzum »ein böses Mädchen«. Heute würde man das als normale pubertäre Rebellion bezeichnen.

Sie hat sich einfach total verändert, über Nacht. Eine vollständige Abkehr von ihrem früheren Selbst.

Janis' Mutter Dorothy