Selma Lagerlöf

Das heilige Leben

Roman

 

Einzige berechtigte Übersetzung aus dem Schwedischen von
Pauline Klaiber-Gottschau

 

21. bis 25. Auflage

Albert Langen, München
1920

Alle Rechte, einschließlich des Rechtes der Übersetzung, auch für Rußland, vorbehalten

Erster Teil

Die Grimö

Auf der Grimö, einer kleinen Insel der Schären an der Westküste Schwedens, wohnten vor Jahren zwei Ehegatten, die einander sehr unähnlich waren.

Der Mann, ungefähr fünfzehn Jahre älter als seine Frau, war von jeher ein unansehnlicher, schwerfälliger und saumseliger Mensch gewesen, der auf seine alten Tage natürlich auch nicht anders geworden war. Seine Frau dagegen, deren hübsches Gesichtchen sich außerordentlich gut erhalten hatte, sah jetzt mit fast fünfzig Jahren noch ebensogut aus wie mit zwanzig.

Diese beiden Ehegatten saßen an einem schönen Sonntagabend auf der großen Steinplatte, die gerade vor ihrem Haus aus dem Erdreich herausragte, und pflegten in aller Ruhe Zwiesprache miteinander. Der Mann, der sich gerne selber reden hörte und seine Worte wohl zu setzen verstand, verbreitete sich grade über einen Artikel, den er soeben in einer Zeitung gelesen hatte. Seine Frau hörte mit nicht allzugroßer Aufmerksamkeit zu.

»Ach dieser Joel, dieser Joel!« dachte sie. »Wie er nur aus so einem Zeitungsblatt so viel Weisheit schöpfen kann! Er hat einen merkwürdigen Verstand. Nur schade, daß er nicht fähig ist, für sich selbst und auch für mich Kapital daraus zu schlagen, sondern immer nur für andere.«

Während sie also dachte, glitt ihr Blick über das Wohnhaus hin, das zwar ziemlich groß, aber überaus verfallen war; die Familie konnte nicht mehr darin wohnen, sondern mußte sich mit einem kleinen Seitenanbau begnügen, den die früheren Besitzer, die alle Schiffskapitäne gewesen waren, als Küche und Vorratskammer benutzt hatten.

»Wenn Joel wenigstens Lust zur See gehabt hätte und Schiffskapitän geworden wäre, wie sein Vater und Großvater!« fuhr die Frau in ihren Betrachtungen fort. »Dann hätte er sicher einen Sparpfennig für unsere alten Tage zusammengesammelt, und wir hätten einem ruhigen Alter entgegensehen können. Aber immer hat er eigensinnig am Ackerbau festgehalten. Nun, und jetzt haben wir's auch so, wie es nun einmal ist.«

Sie rückte nicht von ihrem Platz weg, solange ihr Mann redete, aber ihr kleiner Kopf, der sich so leicht bewegte, wie wenn er auf einem Vogelhals säße, drehte sich eifrig nach der Seite, wo sie etwas Getreideland und ein paar Kartoffeläckerchen überschauen konnte. Ach, sie sahen zwischen den gewaltigen Felsenkuppen, die den eigentlichen Boden von der Grimö bildeten, nur wie kleine bewachsene runde Inseln aus!

Alle diese kleinen bebauten Strecken waren von ihrem Mann urbar gemacht, ja man konnte beinahe sagen, sie waren von ihm dahingeschafft worden. Unzählige Bootslasten von Erde und Dung hatte er auf die Insel herübergeschafft in der festen Überzeugung, daß sie ihm einmal die darauf verwendete Mühe und Arbeit reichlich lohnen würden.

»Wie unendlich viel Mühe hat er sich doch mit diesen Äckerlein gemacht!« dachte die Frau. »Und dann braucht es nichts weiter, als daß um Pfingsten ein richtiger Nordsturm herangebraust kommt, um alles, was gesäet und gesetzt ist, wieder zu vernichten. Ach nein, wenn man so wohnt wie wir hier, dann soll man sich seine Nahrung aus dem Meere holen, das ist doch ganz klar.«

Wieder drehte sie ihr bewegliches Köpfchen. Zwischen dem Wohnhaus und dem Seitenbau war ein leerer Raum, und da konnte sie über einen weiten glänzenden Wasserspiegel hinschauen.

»Ach ja, das Meer, das ist etwas!« seufzte sie. »Da kann einer hinausfahren und Handel treiben und Geld verdienen. Das weiß ich gewiß, wenn ich ein Mann wäre, ich wäre in allererster Linie zur See gegangen. Niemals hätte ich mich mit Ackerbau abgegeben. Wie wird es uns gehen, wenn wir alt sind und nicht mehr für uns selbst sorgen können? Keines von unsern Kindern will daheim bleiben und sich mit einer solchen mühseligen Arbeit befassen, und man kann es ja auch nicht von ihnen verlangen.«

Die letzten Worte mußte sie laut gesagt haben, denn der Mann, der ihr bisher immer weiter von allen den Gefahren und Schrecken berichtet hatte, die eine erst kürzlich heimgekehrte englische Nordpolexpedition ausgestanden hatte, unterbrach seine Rede mitten in einem Satz und bemerkte:

»Du hörst wohl gar nicht, was ich sage.« Aber es war wohl nicht das erstemal, daß er sich darein fand, so vor tauben Ohren zu predigen, denn er schien weder erstaunt noch ärgerlich.

»Gewiß hör' ich zu,« versicherte seine Frau. »Eben hab' ich gedacht, wie gut du doch redest, du könntest dich wirklich für einen Prediger ausgeben.«

»Ich weiß nicht recht, was ich über dieses Lob sagen soll,« erwiderte der Mann und lachte seiner Frau gutmütig zu. »Wenn ich den Zuhörer, den ich jetzt habe, nicht dazu bringen kann, ordentlich achtzugeben, dann wird es mir wohl auch bei einer ganzen Gemeinde nicht besser glücken.«

»Aber ich habe doch achtgegeben!« rief sie, die jetzt etwas hitzig wurde. »Ich weiß es ganz genau. Schon im ersten Winter haben sie ihr Schiff verloren, und so mußten sie sich ein Schneehaus bauen. In diesem mußten sie bis ins zweite Jahr hinein da droben bleiben, dann gingen ihnen auch die Lebensmittel aus, und schließlich lagen sie drinnen und kauten an Lederfetzen.«

Sie tat gekränkt, und ein kleiner Zug um den Mund, der zeigte, daß nicht mehr viel dazu gehörte, sie in schlechte Laune zu versetzen, trat immer deutlicher hervor.

»Du, Thala, ich möchte wohl wissen, wie es wäre, wenn man jemand von seinen eigenen Angehörigen unter denen hätte, die in den Schneehäusern dort droben so schrecklich Hunger leiden mußten,« warf der Mann ein.

Seine Frau warf ihm einen raschen Blick zu. Hatte Joel dies letzte nicht mit ganz besonderer Betonung gesagt? Aber der Mann saß ruhig da und sah gerade vor sich hin, und seine alten wäßrigen Augen waren vollkommen ausdruckslos.

»Ach, wenn man nur immerfort an die dächte, denen es schwer geht, dann hätte man nicht viele frohe Stunden im Leben!« erklärte sie. »Und denen da droben ist ja doch noch geholfen worden.«

»Jawohl,« gab der Mann zu. »Ein Schiff, das sie suchte, kam schließlich hin, und jetzt sind sie daheim in England.«

»Und jetzt gibt es für sie ihr ganzes Leben lang nichts als Ruhm und Ehre und Glück,« schloß die Frau.

Ihr kam es nicht so vor, als ob dies alles Grund zu Sorge und Traurigkeit sein sollte, aber ohne einen leichteren Ton anzuschlagen, fuhr der Mann unbeirrt fort:

»Heute nacht hat mir von unserm Sohn Sven geträumt. Er trat vor mein Bett und sagte, ich hätte mir ihm gegenüber eine große Schuld aufgeladen. Meine Träume pflegen sonst nicht gerade in Erfüllung zu gehen, und ich weiß auch nicht, ob dieser etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat. Aber merkwürdig ist es doch, daß ich gerade heute seinen Namen hier in der Zeitung lesen mußte.«

Dies wurde von dem Manne gesagt, als sei es ganz ohne Bedeutung, gerade wie etwas, das ihn nur allein anginge; aber von diesem Augenblick an brauchte er bei seiner Zuhörerin nicht mehr über Mangel an Aufmerksamkeit zu klagen. – Wo der Name gestanden habe? Was ihm denn eigentlich geträumt habe? Ob es möglich wäre, daß es sich um ihren Sven handelte? drängte seine Frau. Ihre Stimme wurde ganz schrill, ihre Nasenspitze rötete sich, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Sie wäre nicht in solche Aufregung geraten, wenn es sich um eines ihrer anderen Kinder gehandelt hätte, aber bei diesem Sven war es anders; diesen Sohn hatten Joel und sie in seinem neunten Lebensjahr einer englischen Familie abgetreten, die auf ihrer Jacht in den Schären herumgefahren war. Die Fremden hatten sich damals in den Jungen förmlich verliebt und fest versprochen, ihn, wenn sie ihn nur mitnehmen dürften, zu einem vornehmen Manne zu erziehen und ihn zu ihrem Erben einzusetzen.

Das waren große Aussichten, die sich damit für einen kleinen Jungen von der Grimö eröffneten. Die armen Eltern hatten gemeint, um seiner selbst willen müßten sie den Jungen ziehen lassen. Wenn er bei ihnen blieb, mußten sie auch für ihn sorgen. Und er war ein überaus begabter Junge gewesen. Sie hatten oft miteinander über ihn gesprochen und gemeint, es könnte etwas Besonderes aus ihm werden, wenn er nur die nötige Erziehung erhielte.

Jetzt waren siebzehn Jahre vergangen, seit sie ihn fortgelassen hatten, und während dieser ganzen Zeit hatten sie nichts von ihm gehört. Nichts! Kein Brief, kein Gruß! Die Eltern hätten nicht weniger von ihm wissen können, wenn er auf dem Meeresgrund gelegen hätte.

»Sieh hier!« sagte der Mann, indem er seiner Frau die Zeitung hinreichte. »Lies hier unter den Namen der Geretteten! Siehst du, da: Sven E. Springfield.«

»Jawohl, ich seh' es. Sven E. Springfield, ja, da steht's.«

»Das kann nichts anderes als Sven Elversson Springfield bedeuten,« nahm der Mann wieder das Wort. »Das ist sein Name, mein Name und der seines Pflegevaters. Es muß richtig sein.«

Die Frau drückte die Zeitung ans Herz. In diesem Augenblick war ihr, als sei dieser Sohn, den sie aus freiem Willen von sich gegeben hatte, ihr das liebste von allen ihren Kindern.

»Warum hast du nicht gleich gesagt, daß Sven dabei war?« warf sie ihrem Manne vor. »Ich habe ja nicht aufgepaßt. Jetzt mußt du alles noch einmal erzählen.«

Der Mann schien ein wenig verblüfft zu sein. Er hatte seiner Frau die ganze Geschichte erzählen wollen, ehe sie wissen sollte, daß es sich um den eigenen Sohn handelte. Dann wäre es leichter gegangen. Er hätte dann gesehen, welches Gesicht sie dazu machte, und sich danach richten können.

Immerhin erzählte er ihr alles, was sie wissen wollte. Er erklärte, was unter dem achtzigsten Grad verstanden war. Sie wurde ganz ehrgeizig für den Sohn und hätte gerne gewußt, ob er und seine Kameraden nicht doch noch weiter nördlich gekommen seien, als alle anderen Nordpolfahrer vor ihnen. Und von was sie wohl gelebt hätten, nachdem ihr Schiff mit allen Vorräten verloren gegangen war? Den Bericht, wie die Hilfsexpedition sie in diesem Sommer auf dem Strand der Insel Melville halbtot vor Hunger aufgefunden, wollte sie immer wieder hören.

»Daß er soviel Schweres hat durchmachen müssen!« rief sie. »Nein, man sollte seine Kinder nie von sich lassen!«

»Aber nun ist wohl auch sein Glück gemacht,« fuhr sie in leichterem Tone fort. »Nun bekommt er Orden und Medaillen in Hülle und Fülle.«

Gleich nachher wollte sie wissen, wie der Sohn in England empfangen worden sei.

»Millionen von Menschen waren unterwegs, diese Nordpolfahrer zu begrüßen,« sagte Joel.

Er fühlte sich aufs äußerste beunruhigt und auf die Folter gespannt. Die ganze Zukunft hing davon ab, ob er imstande war, seine Worte auf die richtige Art zu setzen und vorzubringen.

»Ach, wer doch hätte dabei sein und ihn vorbeikommen sehen können!« sagte Thala.

»O, du hättest wohl nicht an einer Straßenecke zu stehen brauchen,« erwiderte Joel. »In der Zeitung steht, daß für die Eltern und Verwandten ein besonderes Dampfboot zur Verfügung gestanden habe.«

Doch da verlor das Gesicht der Frau ganz plötzlich seinen frohen Ausdruck.

»O Joel!« rief sie. »Es hätte uns nichts genützt, wenn wir dort dabei gewesen wären. Weder du noch ich hätte auf dieses Dampfschiff kommen können. Das hätte sie uns nicht gegönnt.«

Mit »sie« meinte Mutter Elversson die englische Dame, die ihren Sohn mitgenommen hatte. Mutter Elversson hatte ihr nie verziehen, daß sie den Jungen nicht an seine Eltern hatte schreiben lassen. In ihren Gedanken hatte sie die Engländerin zu einem richtigen Ungeheuer gemacht.

»Doch, wir hätten gewiß dabei sein und ihn begrüßen dürfen, das glaube ich schon,« sagte der Mann.

Eigentlich war er froh, daß sich seine Frau bei so unwichtigen Sachen aufhielt. Er brauchte Zeit, seine Gedanken zu ordnen, um das Schwere zu sagen, das er auf angemessene Weise zu berichten hatte.

»Unsere ganze Zukunft hängt von diesem Gespräch ab,« sagte er sich einmal ums andere, um seine langsamen Gedanken zur Eile anzuspornen.

»Ja, das glaubst du wohl!« sagte Thala trotzig und warf den Kopf in den Nacken. »Wenn sie uns doch in all diesen Jahren nicht einmal eine Zeile von ihm gegönnt hat! Und er hat wohl auch gar kein Herz für uns. Er war neun Jahr alt, als er fortkam, und so viel Verstand hatte er damals schon, daß er uns ohne ihr Wissen hätte schreiben können. Aber sie hat ihm wohl in den Kopf gesetzt, wir seien zu geringe Leute, als daß so ein Herr nach uns fragen sollte.«

Ihre ganze Freude war in die Flucht geschlagen. Diese Gedanken, die sie in den vergangenen Jahren schon sooft gequält hatten, kehrten mit neuer Stärke zurück.

»Ja, ich muß allerdings zugeben,« sagte der Mann, »ich muß wirklich zugeben, es ist merkwürdig, daß Sven nicht ein einziges Mal geschrieben hat. Und die Pflegeeltern können schuld daran sein, das ist wohl möglich. Ich habe heute vor der Kirche etwas erfahren.«

Die Frau schwieg. Sie war sehr ärgerlich, und so mochte sie nichts mehr sagen.

»Ach, wie schlimm es geht!« dachte der Mann. »Wenn sie in diese Stimmung hineinkommt, ist alles verloren.«

»Der Pfarrer hat Nachricht aus England bekommen,« begann er wieder. O weh, da redete er schon wieder etwas, was er nicht hatte berühren wollen, ehe er seine Frau richtig vorbereitet und in der richtigen Gemütsverfassung hatte; aber er sah keinen anderen Ausweg mehr.

»Er hat mich mit ins Pfarrhaus genommen. Er ist es auch, der mir diese Zeitung hier gegeben hat.«

»Der Pfarrer?«

»Ja, er wollte von Sven mit mir reden.«

»Ach was, das ist ganz einerlei! So wie er jetzt ist, mache ich mir nichts mehr aus ihm.«

Darauf erwiderte der Mann kein Wort, und lange herrschte Stillschweigen zwischen den beiden; schließlich aber brach es bei der Frau los wie eine Explosion.

»Du bist doch der schrecklichste Mensch, den es gibt, um ein armes Weib neugierig zu machen!« rief sie. »Nun, was hat denn der Pfarrer eigentlich gehört?«

»Etwas über Sven. Der Herr Pfarrer kommt heute abend selbst zu uns, um es dir mitzuteilen.«

Jetzt sprang die Frau auf.

»Kommt der Herr Pfarrer selbst hierher?« sagte sie. »Aber um alles in der Welt! Und das sagst du mir jetzt erst?«

Sie machte einen Schritt auf die Wohnung zu, um hineinzugehen und nachzusehen, ob es drinnen in der Stube sauber und ordentlich sei. Aber plötzlich stockte ihr Fuß.

»Warum kommt der Pfarrer hierher?« fragte sie. »Es ist wohl irgend etwas Schlimmes geschehen?«

Sie sah ihren Mann scharf an, als wollte sie mit ihrem Blick in seinen Kopf hineindringen und die Gedanken lesen, die sich da drinnen bewegten.

»Vielleicht ist Sven weicher gesinnt geworden, seit er da droben im Eis gelegen und Lederfetzen gekaut hat? Vielleicht will er hierherkommen, um uns zu besuchen? Aber das sag' ich dir, jetzt bin ich diejenige, die nein sagt. Sind wir früher nicht gut genug gewesen, dann sind wir es jetzt auch nicht.«

»Ich hielte es für besser, du nähmest den Mund nicht so voll,« warnte der Mann. In seinem Herzen wurde er allmählich ärgerlich über sie, weil sie so widerspenstig war und alles gar nicht so aufnahm, wie er es getan hätte.

Die Frau vergaß ihre Absicht, hineinzugehen und ihre Stube aufzuräumen, vollständig. Ihres Mannes letzte Worte konnten nichts anderes bedeuten, als daß sie recht geraten hatte.

»Weißt du, was der Pfarrer für Nachrichten erhalten hat?«

»Ja, ziemlich viel davon.«

»Hat er dich gebeten, mit mir über das, was in der Zeitung stand, zu sprechen?«

»O nein, ich glaube, es war seine Absicht, dir alles miteinander selbst mitzuteilen. Aber ich dachte, es wäre besser, wenn ich dich ein wenig vorbereitete.«

»Ja, nun hab' ich Zeit vor mir, das ist gut. Sonst hätte ich ihn am Ende in der ersten Eile willkommen geheißen. Und darüber hätte ich mich nachher sehr geärgert.«

Der Mann fühlte, wie der Zorn in seinem Herzen zunahm.

»Es ist ihre Absicht, unsere ganze Zukunft zu zerstören,« dachte er. »Sie wird doch niemals klug, sondern es wird bei ihr mit jedem Jahr schlimmer und schlimmer.«

»Ich glaube, der Herr Pfarrer wird sich freuen, wenn er hört, daß du dir gar nichts aus Sven machst. Dann ist es keine Kunst für ihn, dir das zu sagen, was er dir mitteilen muß.«

»Keine Kunst!« versetzte die Frau, und sie wurde gleichsam noch härter. »Was meinst du damit?«

»Nun, es scheint ja, als sei Sven ins Unglück geraten. Dieser Einzug in London sollte am letzten Sonntag stattfinden, und er wurde auch mit allem Pomp gefeiert. Auch am Montag noch gab es Feste und Veranstaltungen, aber dann hörten sie ganz plötzlich auf. Über die Nordpolfahrer waren böse Gerüchte in Umlauf gekommen.«

Das Gesicht der Frau wurde starr.

»Soll ich nun etwa hören, daß er etwas Unrechtes getan hat?« murmelte sie zwischen ihren zusammengebissenen Zähnen.

»Alle Blumen und Flaggen wurden heruntergerissen, alles wurde eingestellt. Am Montag hatte man auf den Straßen kaum vorwärtskommen können vor all den Menschen, die die Nordpolfahrer sehen und begrüßen wollten, am Dienstag aber hätte man ihnen gern Fußtritte versetzt und sie geschlagen.«

Mutter Elversson reckte den Kopf immer höher.

»Was du nicht sagst!« rief sie. »Da wäre es doch vielleicht besser für ihn gewesen, er hätte sich zu seinen richtigen Eltern gehalten.«

»Du mußt nämlich wissen,« sagte der Mann mit lauterer Stimme als vorher, »es ist nicht das erstemal, daß so etwas da droben im Norden vorkommt. Sie hatten Hungertyphus, und sie waren verrückt und wußten nicht, was sie taten. Und dann hat sich einer von ihnen in seiner Verzweiflung den Hals abgeschnitten. Und dann...«

»Nun, dann haben die anderen ihn wohl aufgegessen?« warf die Frau ein.

Sie war vollständig kalt und ruhig. Unendlicher Zorn und Ekel erfüllte sie.

»Sie waren ebensowenig zurechnungsfähig wie solche, die in einem Krankenhaus sind,« sagte der Mann. »Hier in der Zeitung steht übrigens, sie hätten nicht mehr als einen Arm genommen. Mehr brachten sie nicht übers Herz.«

»Und Sven hat auch mitgetan?«

»Wenn solche Dinge geschehen, dann geben die Leute wohl acht, daß alle dabei beteiligt sind. Auch er wurde gezwungen, einen Bissen davon in den Mund zu nehmen, gerade wie die anderen. Aber mehr war es auch nicht.«

»Und jetzt,« erwiderte die Frau mit einem unbeschreiblich verächtlichen Ton in der Stimme, »jetzt weiß ich, was der Pfarrer mir sagen will. Jetzt ist Sven nicht mehr gut genug für sie, und da hat er den Pfarrer gebeten, uns zu überreden, ihn bei uns aufzunehmen. Nun, ist's nicht so?«

»Das wäre wohl das beste, was hätte geschehen können,« versetzte der Mann.

»Aber ich, ich sage nein!« rief Mutter Elversson. »Ich sage nein. Er soll nicht zu uns zurückkommen, weil er bei niemand anderem mehr eine Zuflucht hat. Als es ihm gut ging, da vergaß er seine Eltern. Er soll sich nicht einbilden, daß wir ihn jetzt aufnehmen. Arm sind wir zwar und alt und hilflos. Aber wir nehmen nicht einen Sohn bei uns auf, der sich so betragen hat, daß kein anderer Mensch ihn auch nur ansehen mag.«

Vater Elversson sah seine Frau mit einem Blick an, in dem Zorn und Ungeduld brannten. Er war alt und kraftlos, und es wäre für ihn der Gipfel des Glückes gewesen, wenn er einen arbeitsfähigen Sohn ins Haus bekommen hätte. Der Ekel, den seine Frau empfand, erschien ihm kindisch und unberechtigt. Sie kam ihm schlecht und eigensinnig vor. »Warte nur!« dachte er. »Du sollst von mir Worte hören, mit denen du zufrieden sein wirst.«

»Es ist, wie ich sage,« begann er mit strenger Stimme. »Es wird dem Herrn Pfarrer nicht schwer fallen, dir das mitzuteilen, was in seinem Briefe stand.«

»Ist es denn nicht so, wie ich glaube?« fragte Mutter Elversson, und ihr Ton verlor dem deutlichen Zorn und Mißfallen ihres Mannes gegenüber etwas von seiner Sicherheit.

Wieder sah sie der Mann mit wirklicher Mißbilligung an.

»Soll ich dir jetzt das sagen, was der Pfarrer dir mitzuteilen hat, oder willst du warten, bis er kommt?«

Er wartete jedoch ihre Antwort nicht ab, so kochte das Verlangen in ihm, sie für ihre Lieblosigkeit zu bestrafen.

»Svens Pflegeeltern wohnen ja in London,« sagte er, »und Sven war zu ihnen zurückgekehrt. Aber als dieses böse Gerücht über die Nordpolfahrer laut wurde schickte ihm der Vater die Zeitungen, in denen es besprochen war, auf sein Zimmer, und ein Revolver war auch dabei, ein geladener Revolver.«

»Und die Mutter? Wußte sie davon?« rief Thala Elversson.

»Ja, sie wußte davon.«

»Und dann?«

»Dann ging es natürlich so, wie sie es gewollt hatten.«

»So, daß er also jetzt tot ist?«

»Ja,« sagte der Mann, »und jetzt weißt du, was der Pfarrer dir zu sagen hat.«

»Sie also,« sagte die arme Mutter, »sie, die ihn nicht geboren hat, sondern ihn siebzehn Jahre lang bei sich hat haben dürfen, sie hat ihn sich selbst töten lassen, obgleich er nichts verbrochen hatte.«

Darauf wendete sie sich ihrem Manne zu und sagte heftig:

»Du lügst! Das ist nicht wahr.«

»Das hätte ich auch noch vor einer Stunde gesagt. Ich hätte nicht geglaubt, daß eine Frau so hart sein könnte, aber seit ich dich so reden höre, zweifle ich nicht mehr daran.«

»Aber seine Pflegeeltern waren doch nicht die einzigen, an die er sich hätte halten können. Er hatte ja uns.«

»Er meinte wohl, wir würden es auf dieselbe Art aufnehmen wie die anderen, und darin hatte er ja nicht unrecht.«

Sie ging von ihrem Manne weg und setzte sich auf die große Steinplatte. Heiße Tränen strömten ihr aus den Augen.

»Sven ist tot!« sagte sie. »Sven ist tot! Er kam zu einer Mutter, die ein steinernes Herz hatte, deshalb mußte er sterben.«

Sie weinte und stöhnte zum Herzbrechen.

»Ach Gott, warum haben wir ihn von uns fortgelassen! Ach, daß er nun wegen gar nichts in den Tod gejagt worden ist!«

»Du mußt dich etwas beruhigen,« sagte der Mann. »Der Pfarrer ist da. Das Boot legt eben an.«

»Sag' ihm, ich wisse schon alles. Er soll nur gleich wieder abfahren.«

»Aber das geht doch nicht gut, wenn er sich jetzt diese ganze Mühe gemacht hat.«

Joel verließ seine Frau, und nach ein paar Augenblicken kehrte er in Gesellschaft des Pfarrers und eines jungen Mannes zurück.

Der Pfarrer trat zu der weinenden Frau.

»Joel sagt, er habe Euch alles mitgeteilt, Mutter Elversson,« begann er. »Ihr wißt schon, daß Sven etwas sehr Tadelnswertes getan hat und daß ihn seine Pflegeeltern von sich gewiesen haben.«

Die Frau war aufgestanden, um den Pfarrer zu begrüßen. Sie hielt ihren Schürzenzipfel noch vor das Gesicht; aber trotzdem ihre Augen ganz verweint waren, fing sie doch einen Schein von dem jungen Manne auf, der den Pfarrer begleitete.

»Das ist Sven,« sagte eine innere Stimme zu ihr. »Das ist Sven.«

Tausend Gedanken drangen auf sie ein. Sie begriff, daß Joel sie in seinem Zorn über ihre harten, herzlosen Reden angelogen hatte. Auch meinte sie, sie werde wohl niemals den Ekel überwinden können, der sie ergriffen, als sie gehört hatte, daß Sven Menschenfleisch gegessen habe. Und desgleichen wurde ihr klar, daß sie diesen Sohn nun bei sich daheim behalten mußten. Niemand würde ihn in seinen Dienst nehmen wollen. Aber während diese kalten Gedanken auf sie eindrangen, sah sie auch, wie bleich und abgezehrt das Gesicht des Sohnes war, wie seine Augen sie um Mitleid anflehten, und eine Woge von Liebe und Barmherzigkeit quoll in ihrem Herzen auf.

»Ach, der Joel, der Joel!« dachte sie. »Er ist in der Tat merkwürdig. Er hat mir gezeigt, wie es wirklich in meinem Herzen aussieht. Jetzt fühle ich, daß ich diesen Jungen, obgleich er siebzehn Jahre von mir fort gewesen ist, obgleich er uns vernachlässigt hat, obgleich er mit so geringem Ruhm zurückkehrt, liebhaben muß, ja von Herzen liebhaben.«

Und ohne dem Pfarrer etwas zu erwidern, trat sie, während die Blicke der Männer ihr ängstlich folgten, zu dem Sohn und hieß ihn in der Heimat willkommen.

»Ich glaube, all dies Schwere ist über dich gekommen, weil Joel und ich dich wieder haben sollten,« fügte sie mit ihrer freundlichsten Stimme hinzu.

In der Kirche

Sven Elversson, der Mann, der von den beiden Alten auf der Grimö als Sohn aufgenommen worden war, saß in der Kirche zu Applum und dankte Gott, weil er ihn eine Freistatt hatte finden lassen, wo er nicht mit Ekel und Widerwillen betrachtet wurde.

Auf der einsamen, unfruchtbaren kleinen Felseninsel mit ihren beiden Bewohnern brauchte er nicht zu fürchten, jenem Herunterziehen der Mundwinkel zu begegnen, das Ekel bedeutet. Der Vater war alt, er fühlte keinen Widerwillen, weil er schon alle starken Gefühle für Lust oder Unlust verloren hatte. Die Mutter hatte allerdings noch ihre ganze Gefühlsfähigkeit, aber sie liebte ihn.

Die Kirche, in der Sven Elversson saß, war eine alte Holzkirche, deren Decke mit einem großen Gemälde des Jüngsten Gerichtes geschmückt war. So oft Sven aufschaute, fiel sein Blick unvermeidlich auf einen großen schwarzen, grinsenden Teufel, der große Holzscheite ins Feuer schob, in dem ein Haufen Sünder in einer gelben brodelnden Brühe kochte. Sven Elversson erkannte diesen Teufel von damals, wo er vor siebzehn Jahren zum letztenmal in dieser Kirche gesessen hatte, wohl wieder. Was ihm diesen Teufel unvergeßlich gemacht hatte, war ein langer, an seinem Ende dreifach gespaltener Schwanz, den dieser Teufel beständig zum Umrühren in seinem Suppenkessel benützte.

Als Kind hatte Svens Phantasie sich oft mit diesem Meisterkoch, der mit so großer Geschicklichkeit gleichzeitig sein Feuer und seinen Kessel versorgte, beschäftigt. Jetzt dachte er nur: »Wenn alle die, so jeden Sonntag hier sitzen und diesen lustigen, die Sünder kochenden Geist des Abgrundes betrachten, auf einmal erfahren würden, daß sich mitten unter ihnen ein Mensch befindet, der wirklich einen Bissen Menschenfleisch zwischen seinen Lippen gehabt hat, würden sie es kaum über sich gewinnen, mich hier in der Kirche zu dulden.«

»Eines ist sicher,« dachte er weiter, »ich weiß kaum, ob es außer diesem Einen noch irgend etwas gibt, was zivilisierte Menschen nicht begehen können. Sie morden, sie brechen die Ehe, sie stehlen, sie verüben Grausamkeiten, sie halten sich nicht für zu gut für Völlerei, für Vergewaltigung, Verräterei, Spionage. All dies wird täglich getan. Eine aber von den alten Sünden der Menschheit wird von zivilisierten Menschen nicht mehr begangen. Sie kann nicht mehr begangen werden, weil sie Ekel erregt. Und diese Sünde hab' ich jedenfalls begangen. Ich werde mehr verabscheut als der Teufel.«

Die einzige Person in der Kirche, die bis jetzt außer den Eltern die Veranlassung zu Sven Elverssons Rückkehr kannte, war der Pfarrer. Aber dieser hatte ihn am vorhergehenden Sonntag gut aufgenommen, er hatte sich verständnisvoll gezeigt, mit seinem Vater gesprochen, ihn selbst auf die Insel begleitet, sich darüber gefreut, als die Mutter ihn liebevoll aufnahm, und es gebilligt, daß er bei den Eltern daheimbleiben wollte. In allem hatte er sich als ein duldsamer, edelmütiger Mann gezeigt.

Jetzt, an diesem Sonntag, als der Pfarrer in die Kirche trat und Sven Elversson, den Mann von dem Hungerlager auf der Insel Melville mitten unter den anderen Leuten in der Kirche sitzen sah, stieg ihm plötzlich ein erstickendes Gefühl im Hals auf.

Er hatte Sven geholfen und beigestanden und sich gefreut, zu der Wiedervereinigung mit den Eltern beitragen zu können, einem Armen eine Freistatt zu verschaffen, der so viel hatte leiden müssen für etwas, zu dem er gezwungen worden war, einem Unglücklichen, der andernfalls vielleicht Selbstmord begangen hätte. Aber daß er ihn in der Kirche sehen würde, daran hatte er allerdings nicht gedacht.

»In meinem Haus,« dachte er, »nein, in meinem Haus hätte ich nicht gezögert, ihn bei mir aufzunehmen, aber dies hier kann ich nicht ertragen. Er hat nun einmal Menschenfleisch gegessen. Er hat etwas Heidnisches getan, etwas Verabscheuungswürdiges. Er hätte begreifen müssen, daß dies mehr ist, als ich ertragen kann.«

Im nächsten Augenblick strafte er sich selbst, klagte sich der Lieblosigkeit an, dachte daran, wie Jesus alle Sünder zu sich entboten hatte, rief sich das freundliche, anziehende Gesicht des armen Sünders ins Gedächtnis zurück und enthielt sich wirklich, wozu er zuerst geneigt gewesen war, den Mesner zu dem Mann hinzuschicken und ihn auffordern zu lassen, die Kirche zu verlassen. Er hielt die Liturgie und predigte wie gewöhnlich, konnte aber das Gefühl des Ekels nicht los werden.

Die Worte, die er aussprach, ballten sich ihm im Munde zusammen. Ein paarmal mußte er mitten in der Predigt innehalten, um zu kauen und zu schlucken, ehe er weiterreden konnte. Vor ihm zeigte sich der Auftritt, wie sich die ausgehungerten Menschen über den Leib des Selbstmörders hergemacht hatten.

Diesen ganzen Ekel würde er nicht empfunden haben, wenn der Mann nicht in die Kirche gekommen wäre, jetzt aber hatte ihn der Ekel in der Gewalt, und er fühlte sich ihm hilflos preisgegeben.

Der Pfarrer ballte die Fäuste gegen sich, drehte sich auf der Kanzel nach der Seite, wo er Sven Elversson nicht sehen konnte, predigte unentwegt weiter, zwang seine Gedanken, seinen Worten zu folgen, und dann war ihm plötzlich, als sei er seiner Verstimmung Herr geworden.

Aber nun kam in seiner heutigen Predigt eine Auseinandersetzung über die Notlüge vor.

Dies führte seine Gedanken zurück zu der Insel und zur der Notlüge, die Joel Elversson gebraucht hatte, um seiner Frau ihre eigentliche Gesinnung klarzumachen. Der Propst benutzte zur Veranschaulichung seiner Worte in seinen Predigten oft kleine Geschichten aus dem wirklichen Leben. Aber diese Geschichten wurden nie vorher niedergeschrieben wie die übrige Predigt, sondern er erzählte sie, wie sie ihm gerade in den Sinn kamen. Jetzt fiel ihm ein, daß das Erlebnis auf der Grimö vom vorigen Sonntag als erläuterndes Beispiel gebraucht werden könnte.

Er hatte vorher nicht daran gedacht, aber nun, im Eifer des Predigens, warf er sich auf diesen Stoff.

Als er schon mitten darin war, erhob sich ein warnender Gedanke in seinem Herzen.

»Ich hätte vielleicht nicht das Recht, diesen Fall vor der ganzen Gemeinde zu behandeln,« dachte er. Aber eigentlich habe ihn ja niemand gebeten, darüber zu schweigen, dachte er weiter. Immerhin wurde ihm sehr unbehaglich zumut, er versuchte die Geschichte zu ändern, konnte es aber nicht mehr, sondern alles kam heraus.

Und während er sich über sich selbst schämte, durchdrang ihn doch gleichzeitig eine unbändige Freude darüber, daß er diesen unreinen Geist, der sich in der Kirche zu zeigen gewagt hatte, niedertreten konnte.

»Du schauderhafter Wurm,« dachte er, »warum wolltest du dich in meines Gottes Haus zeigen?«

Der Ekel war's, den er hatte ersticken wollen. Nun hatte dieser auf einem Schleichweg Gewalt über ihn selbst bekommen.

Den ganzen Tag nachher war der Pfarrer unzufrieden mit sich. Er hatte sich nicht wie ein Mann aufgeführt, der Selbstbeherrschung übte, sondern wie ein Kind gehandelt, ja wie ein Wilder, der von seinem Instinkt regiert wird.

Er versuchte sich auszudenken, wie er das Geschehene ungeschehen machen könnte, fand jedoch durchaus keinen Ausweg. Nein, er mußte warten, bis sich eine besondere Veranlassung dazu bieten würde. Je mehr man die Sache jetzt aufrührte, desto schlimmer wurde sie.

Aber welche Macht, welche furchtbare Macht hat doch der Ekel, da er imstande war, auf diese Weise einen solchen Mann der Selbstbeherrschung zu berauben, während er in einer christlichen Kirche auf der Kanzel stand und mitten in einer christlichen Gemeinde eine erbauende und ermahnende Predigt hielt!

In dem Augenblick, wo der Pfarrer von der Kanzel herabgestiegen war, waren auch die Leute von der Grimö aus der Kirche verschwunden.

Als sie unbelästigt aus der Kirche herausgekommen waren, blieben sie unwillkürlich vor dem Tore stehen und sahen sich um.

Rings um die Kirche her breitete sich etwas aus, was man nur selten in der Bohusläner Gegend sieht, nämlich eine richtige flache, offene Ebene. Sie war gerade nicht übermäßig groß, aber auch nicht besonders klein. Nein, sie war nicht so groß, daß man sie nicht von einem Ende bis zum anderen hätte übersehen und mit Leichtigkeit beobachten können, was bei den Nachbarn vorging, aber doch auch wieder nicht so klein, daß nicht die Kirche nebst Pfarrhaus und ein paar Dutzend Bauernhöfen gut Raum darauf gehabt hätten.

Und rings um die Ebene her lief eine nicht gerade besonders niedere, aber doch auch nicht besonders hohe Bergwand. Sie war nicht so hoch, daß nicht der Nord- und Westwind hätten darüber hereinfegen können, aber doch auch nicht so nieder, daß sie anderwärts alle Aussicht nach den hohen Bergen und Gebirgen versperrt hätte.

Und auf der ganzen Ebene breitete sich Ackerfeld neben Ackerfeld aus. Aber sie waren weder klein noch groß, sondern gerade von passender Ausdehnung für die wohlhabenden Bauern. Und zwischen den Äckern lagen rote und blaue und weiße Gebäude. Auch diese waren von ziemlich gleicher, befriedigender Größe. Es waren keine Prunkhäuser, die die Nachbarhäuser in Schatten stellten, aber es waren auch keine armen Kätnerhütten, die die Nachbarhöfe schöner erscheinen lassen und deren Bewohner hochmütig machen.

Auch das Wachstum hätte man nicht für großartig erklären können, denn man sah keine Baummassen, weder als Wälder auf den Bergen noch als Gehölze auf der Ebene noch als Baumreihen die Wege entlang. Und doch konnte man nichts anderes sagen, als daß die Ebene fruchtbar und ergiebig war, denn sie lag jetzt eben in ihrer Herbstpracht vor den Augen der Beschauer da wie ein wogendes Meer von Getreide und Gras und Erbsen und Klee und Pferdebohnen.

Und ungefähr mitten auf der Ebene lag die Kirche, aus der die Familie Elversson vorhin, sozusagen, hinausgejagt worden war. Es war eine altmodische Holzkirche, und man konnte von ihr nicht sagen, sie sei häßlich, denn sie hatte einen kleinen aufstrebenden Turm, der die Gedanken zum Himmlischen hinauslenkte, aber man konnte auch nicht sagen, sie sei schön, denn sie hatte ein dunkles, schwerfälliges langes Schiff, das die Seele wieder ins Irdische herunterdrückte.

Und auf der Mauer, die die Kirche umgab, wanderte, während die drei davorstanden, eine graugesprenkelte Katze hin und her. Es war ein schönes Tier, gut getigert, mit einem dichten glänzenden Fell und weichen, angenehmen Bewegungen.

Aber nachdem die drei die Katze eine Weile betrachtet hatten, kam es ihnen vor, als habe die Art, wie sich die Glieder in dem weichen Fell bewegten, eigentlich etwas Garstiges. Es gefiel ihnen nicht, daß die Katze so lautlos daherkam, oder daß die grüngestreiften Augen, mit denen sie einen ansah, ganz verschleiert und ohne Ausdruck waren. Diese Katze, die sich so glatt und weich und spielerisch zeigte, während sie an nichts anderes dachte, als zu rauben und zu morden, war ihnen widerlich.

Und vor ihren Augen wuchs die Katze und streckte sich und wurde groß und richtete sich hoch auf, bis sie die Bergwand verbarg. Und immerfort, während sie so wuchs und größer wurde, spann sie und schnurrte, und machte behagliche spielerische Bewegungen, wurde aber dadurch nur immer widerwärtiger.

Und die drei vor der Kirche sahen, diese Katze war der Ekel, der jetzt hervorgerufen worden war und der wachsen und sich auf der ganzen Ebene ausbreiten würde und nirgends ein besseres Wachstum finden könnte, als hier zwischen all dem Gleichmäßigen und gleich Großen und Engen und Begrenzten.

Da drehte sich Mutter Natalie Elversson nach der Kirche um, kratzte mit ihrem Fingernagel ein paar kleine Spreißel von der rotangestrichenen Holzwand heraus und legte sie zwischen die Blätter ihres Gesangbuches.

»Ja, in dieser Kirche,« sagte sie, »hat man mich als ein siebentägiges Kind getauft, hier wurde ich als fünfzehnjähriges Mägdlein konfirmiert, hier bin ich auch getraut worden, und hier wird man mich wohl auch begraben, aber bis dahin will ich hier nichts wieder zu schaffen haben, bevor die Schmach, die mir heute angetan worden ist, ausgelöscht ist.«

Sohn und Eltern

Je besser die beiden alten Leute auf der Grimö allmählich ihren Sohn Sven kennen lernten, desto mehr verwunderten sie sich über ihn.

»Ich will dir etwas sagen, Joel,« sagte die Frau zu ihrem Manne, »wenn ich wie er zu einem Herrn erzogen und dann gezwungen worden wäre, alle meine vornehmen Gewohnheiten ganz plötzlich abzulegen, und wenn ich solches Essen verzehren müßte, wie das, was ihm hier bei uns geboten wird, nachdem ich doch an Besseres gewöhnt war, wenn ich jeden Tag mit dir hinaus müßte, um dir auf dem Acker zu helfen, und niemals ein Buch lesen und mich nie mit besseren Leuten aussprechen könnte, sondern nur mit so ein paar dummen alten Brummbären wie du und ich, dann wäre ich sauertöpfisch und bösartig vom Morgen bis zum Abend, und ich glaube, dir würde es geradeso gehen.«

Joel gab das willig zu. Jawohl, auch für ihn würde das eine schwere Prüfung sein.

»Aber da sieh nun Sven!« fuhr Thala fort. »Es ist, als berühre ihn das alles ganz und gar nicht. Auch grämt er sich nicht um das Geld oder die Freunde und dergleichen, die er verloren hat. Hier kann er mit mir scherzen und lachen und sich mit dir unterhalten, ohne nach anderer Gesellschaft zu verlangen, in der er sich zerstreuen könnte. Einen Tag wie den anderen ist er freundlich und demütig und zufrieden wie ein Gotteslamm. Eigentlich gibt es nur ein Einziges, was ihn in schlechte Laune versetzt.«

»Was mich anbelangt, so kann ich ihn deshalb nicht weniger hoch stellen, wenn er in diesem Punkt empfindlich ist. Die Ehre verlieren, das ist das Schwerste, was einem widerfahren kann.«

»Ja natürlich,« versetzte die Frau, »und es ist auch schändlich, daß die Leute sich nicht an ihn gewöhnen können. Er kann nicht auf die Post oder in einen Laden gehen, ohne jemand zu treffen, der die Nase über ihn rümpft oder ihm ein Schimpfwort an den Kopf wirft. Ich aber, das weiß ich, ich bin nur dankbar dafür, daß er den Bissen damals gegessen hat. Sven übertrifft unsere anderen Kinder so weit wie die Sonne den Mond, und ohne jenen Bissen hätte ich ihn nie wieder zu sehen bekommen.«

In dieser Weise sprach sich Mutter Elversson jeden Tag aus. So oft sie mit ihrem Manne allein war, sofort begann sie sich in Lobeserhebungen über den Sohn zu ergehen.

»Du hast wohl gar keinen Begriff davon, Joel, wie merkwürdig Sven ist,« pflegte sie zu sagen. »Aber eigentlich müßtest du es schon an mir merken. Siehst du nicht, wie gut ich mich wasche und kämme und wie ich fege und bürste und schrubbe? Ja, du meinst vielleicht gar, das geschehe deinetwegen?«

»O, du bist immer darauf ausgewesen, alles um dich her sauber zu haben,« sagte Joel, der gerne den Leuten Artigkeiten sagte, sobald sich die Gelegenheit dazu bot.

»Es ist nicht nur das,« fuhr seine Frau fort. »Aber ich bin jetzt nie mehr zornig. Nein, sanft wie ein Flaumflöckchen bin ich. Hast du je so ein Lächeln gesehen, wie Sven eines hat? Wenn mich andere Leute freundlich ansehen, werde ich vergnügt, wenn mich aber Sven anlächelt, ist mir, als könnte ich mich nackt ins Meer stürzen, sobald er es verlangte.«

Ihr Mann lachte sie aus.

»Ich weiß wirklich nicht, warum er so etwas von dir verlangen sollte,« versetzte er. »Aber es ist etwas an dem, was du sagst. Am liebsten würde ich sagen, ich glaube, unser Sohn ist wie einer von den Steinen, die am Strande liegen, und von jeder Woge hin und her gerollt werden. Er wird von all den Stößen, die er bekommt, so schön und so abgeschliffen, daß er bald gar keine Ecken und Kanten mehr haben wird.«

Tatsächlich machte sich der Mann ebensoviel aus seinem Sohne wie die Frau. Aber er war nicht nur glücklich über ihn, sondern seinetwegen auch beunruhigt. Es schien ihm, als ob der Sohn dazu neigte, sich dem Zwang, der gegen ihn ausgeübt wurde, zu beugen und sich von den Menschen zurückzuziehen. Sven wollte die Grimö kaum noch verlassen. Aber auch hier auf der Insel hätte es ihm nicht an Gelegenheit gefehlt, mit Menschen zusammenzutreffen, falls er es gewünscht hätte. Joel war dreißig Jahre lang Schöffe gewesen, und während der vielen Gerichtsverhandlungen in allen diesen Jahren hatte er sich eine Menge Gesetze und Verordnungen eingeprägt. Unaufhörlich kamen die Leute zu ihm auf die Insel herüber und baten ihn um Hilfe beim Aussetzen eines Kaufvertrages oder eines Testamentes, bei Vermögensaufnahmen und Erbteilungen.

»Was soll er tun?« fragte die Frau, als ihr der Mann seine Besorgnisse mitteilte. »Erstens kann er noch nicht ordentlich Schwedisch, und zweitens meiden ihn die Leute, wie wenn er ein menschenfressender Haifisch wäre.«

Joel warf den Kopf zurück, zog die Luft hörbar ein und sprach Worte, deren ganze Tiefe zu fassen der Frau schwer wurde.

»Wenn nun jemand von mir verlangte, ich sollte Spielmann werden, dann müßte er mir wohl etwas verschaffen, worauf ich spielen könnte.«

»Ja natürlich,« erwiderte Mutter Thala, »aber was willst du damit sagen?«

»Wenn Sven, wie ich glaube, zu einem Augenspiegel und Vorbild und Beispiel für die Menschen bestimmt ist, so darf er nicht hier auf der Schäre bleiben und ein Eigenbrödler werden.«

Die Frau sah ihren Mann an, und aus ihren Augen leuchtete ein zärtlicher Glanz.

»Du selbst hast dein ganzes Leben lang auf der Grimö gewohnt, und es ist den Leuten doch nicht schwer gefallen, dich ausfindig zu machen und dir mit allem möglichen zur Last zu fallen.«

Der Mann machte eine abwehrende Handbewegung.

»Was bin ich, verglichen mit Sven? Ich habe nichts gelernt in meiner Jugend. Sven aber hat beizeiten mit dem Lernen angefangen. Ihm steht nichts im Wege.«

»Außer dem einen.«

»Ja, natürlich.«

»Und das ist überall, auch wo man es am wenigsten erwartet. Das ist eine Katze, die da, wo er geht und steht, auf der Lauer liegt, und ehe er sich's versieht, springt sie ihm an die Kehle.«

»Jawohl, gerade das ist das größte Unglück,« stimmte Joel bei. »Und geschehen ist geschehen. Und kein noch so großes Wunder könnte diese Katze hindern, ihn anzuspringen.«

»Aber eins darfst du nicht vergessen, Joel: wenn dieses Unglück nicht auf ihm läge, wäre er nie mehr zu uns zurückgekommen.«

Immer wieder kam sie auf diese Tatsache zurück. Es machte sie überaus glücklich, den Sohn zu Hause zu haben, und sie konnte kaum begreifen, warum er und Joel dem Widerwillen der Menschen so großes Gewicht beimaßen. – »Kümmere dich doch nicht darum!« sagte sie zu ihrem Sohne. »Du bist viel besser als sie. Der Kerl, der dir heute auf der Post ins Gesicht gegrinst hat, ist ein Wechselfälscher. Der hat keine Ehre, mit der er sich brüsten könnte.«

Aber wie die Zeit verging, konnte sie doch nicht umhin zu merken, daß Joel recht hatte und der Sohn nahe daran war, menschenscheu zu werden. Und damit nicht genug. Er gewöhnte sich ein übermäßig, fast lächerlich unterwürfiges Betragen an. Am liebsten hätte er sich selbst von der Erde vertilgt, so zerknirscht war er.

»Nein, das geht nicht so weiter,« dachte sie. »Es muß anders werden. Der liebe Gott kann uns doch nicht vollständig verlassen.«

Das Kirchspiel Applum, zu dem die Grimö gehörte, umfaßte nicht nur das auf dem Festlande liegende Kirchdorf, sowie einige Dutzend rundum im Meere verstreute Holme und Schären, sondern auch das Fischerdorf Knapefjord, das sich mit seinen Speichern und Bootshäusern, seinen langen Landungsstegen, seinen Hafenbauten, seinem großen Badehaus und den Schwimmbehältern nebst Booten und Bojen, ebensosehr im Wasser wie auf dem Lande auszubreiten schien.

Mutter Elversson pflegte mit Eiern und Butter hier herüber zu rudern, und sie machte allerlei Versuche bei den Hausfrauen, die ihre langjährigen Kunden waren und alle ihre Verhältnisse genau kannten, den heimgekehrten Sohn zu rühmen.

Aber sie fand bald, daß das vergebliche Liebesmühe war. Man sagte ihr zwar kein unhöfliches Wort, sondern tat nur, als ob man nichts höre, etwa so, wie wenn ein sonst vernünftiger Mensch plötzlich mit irgendeinem ungereimten Einfall daherkommt.

»Ach, diese gottseligen Weiber!« legte Mutter Thala los, als sie nach Hause kam. »Ihre Herzen sind so erfüllt von Glauben und Gerechtigkeit, daß für Barmherzigkeit kein Platz mehr darin ist.«

Und auch Joel hatte nicht mehr Glück.

Er pflegte nunmehr, wenn die Leute zu ihm kamen und Hilfe suchten, hinzuwerfen, er werde für Derartiges zu alt und sein Sohn Sven könne jetzt bald an seine Stelle treten. Aber er traf nur auf völlige Verständnislosigkeit. Die Fischer und die Bauern, mit denen er sprach, zeigten sich ebenso taub, wie die gestrengen Frauen der Schiffskapitäne in Knapefjord.

Am Weihnachtsabend saßen Joel und Thala mit ihrem Sohne in der niederen Stube auf der Grimö und sprachen von der Zukunft.

»Hör', Mutter,« sagte Sven Elversson, der an diesem Abend außergewöhnlich froh und leichten Herzens zu sein schien, »findest du es nicht auch kalt und finster hier in der alten Küche? Wie wär's, wenn wir in das große Haus übersiedelten?«

»Bewahr' uns Gott!« rief sie. »Es hat ja weder Fußböden noch ein Dach.«

»Das kann alles gemacht werden,« sagte der Sohn. »Ich habe mir die Wände angesehen, die sind völlig unbeschädigt. Dort sind helle und freundliche Zimmer mit der Aussicht aufs Meer. Es ist doch schade, wenn wir das alte Kapitänshaus völlig verfallen lassen.«

Natürlich waren Vater und Mutter mit ihm ganz gleicher Meinung, aber es fehlte an Geld.

Nun erklärte ihnen der Sohn, daß er Geld habe. Es sei kein Geld, das er von seinen Pflegeeltern erhalten habe, sondern es sei von ihm selbst redlich verdient. Als er auf seine Nordpolreise ausreiste, waren ihm bei der Heimkunft tausend Pfund versprochen gewesen, und die waren ihm jetzt ausbezahlt worden.

Da sah der Vater, der alte Joel, der selbst keinen Augenblick Ekel empfunden hatte, wie sich die alten verabschiedeten Seekapitäne, die früher diese Insel bewohnt hatten, mit Abscheu im Grabe umdrehten.

»Nicht mit dem Geld!« stieß er hervor. »Ich möchte gerne das alte Haus wieder hergerichtet haben, aber nicht für dieses Geld.«

Erstaunt sahen Mutter und Sohn den Alten an. Aber beide begriffen rasch, was ihn anfocht, und es wurde von etwas anderem gesprochen.

Der Vater dachte an die alten Seekapitäne mit ihren wettergebräunten Gesichtern, ihren teerigen Fäusten und ihren durstigen Gurgeln, an die gutmütigen, lustigen Männer, die in der Wahl ihrer Worte durchaus nicht wählerisch und auch in der Wahl ihres Umganges keineswegs engherzig gewesen waren. Seine Vorfahren waren wohl von derselben Art gewesen, und nun hatte er seinem Sohne gesagt, er sei nicht gut genug, in ihre Wohnung zu ziehen. Er hatte ihm gesagt, sein Geld, das er mit Einsatz seines Lebens auf demselben Meer verdient hatte, auf dem die alten Seebären umhergefahren waren, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, sei nicht gut genug, ihr verfallenes Haus wieder damit aufzurichten.

An diesem Abend legte sich ein mildes, geduldiges und verzeihendes Lächeln auf Sven Elverssons Gesicht und blieb auch dauernd darauf haften. Dasselbe Lächeln war schon früher darüber hingeflogen, wenn er durch den Ekel, den er anderen einflößte, gequält wurde, es war gekommen und war wieder verflogen. Jetzt, wo der Vater gezeigt hatte, daß er ihm gegenüber ebenso zu empfinden imstande war, wie die anderen, fing es an, seinen dauernden Wohnsitz da aufzuschlagen.

Als der Vater dieses Lächeln sah, das auf des Sohnes Antlitz ruhte und nicht mehr weichen wollte, stand er auf und sprach einige Worte, die das wieder gutmachen sollten, was er gesagt hatte. Der Sohn gab freundliche Worte zur Antwort, aber das Lächeln blieb.