Über das Buch:
Das Leben der jungen Amisch Rachel Yoder scheint zerstört. Ein tragischer Verkehrsunfall nimmt ihr das Liebste – ihren Mann und ihren kleinen Sohn. Allein mit ihrem Töchterchen verfällt sie der Trauer, zieht sich zurück und erblindet vor Kummer. Erst mit der Ankunft des Journalisten Phil Bradley in der Amisch-Gemeinde dringt Licht in ihr Schneckenhaus. Der aufregende Text einer alten Postkarte, die sie zufällig finden, bringt sie gemeinsam auf die Spur eines bewegenden Schicksals. Die Geschichte einer verlorenen Liebe und eines erbitterten Ringens um Wahrheit erschüttert sie beide. Und sie bringt der jungen Rachel einen Hoffnungsschimmer für ihr eigenes Leben ...Am Abend vor ihrem großen Tag erfährt sie die Identität des Kindes und ihr bisheriges Leben zerfällt in seine Einzelteile ...

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Herzen des Amisch-Landes in Lancaster, Pennsylvania, geboren . Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann Dave in Colorado/USA. Ihr Wissen über die Amischen hat sie von ihrer Großmutter, die in einer Mennoniten-Gemeinde alter Ordnung aufwuchs.

5

In den Tagen nach der Beerdigung war Rachel Esther für deren unschätzbare Hilfe sehr dankbar. Von ihrer Verzweiflung übermannt, schlief sie an manchen Tagen rund um die Uhr. Wenn sie wach war, war sie oft zu benommen, um sich auf den Beinen halten zu können. Also kochte Esther, putzte und flickte und machte alles, was Rachel normalerweise erledigt hätte.

Am Ende der Woche stand Rachel nur mit reiner Willenskraft aus dem Bett auf und half bei einigen Hausarbeiten. Besonders dankbar war sie dafür, dass sich Esther so liebevoll um Annie kümmerte, und dafür, dass sie leidenschaftlich für Rachel betete.

„Kann Esther bei uns bleiben, Mama?“, fragte Annie, als Rachel sie abends zu Bett brachte.

„Das wäre schön.“ Sie setzte sich auf die Bettkante und strich ihrer Kleinen zärtlich über die Stirn. „Aber Esther und Levi müssen bald nach Ohio zurückfahren und sich um ihre eigene Familie kümmern.“

Annie schwieg einen Augenblick. Ihre blauen Augen hatten die Farbe eines strahlenden Sommerhimmels. „Kümmert sich Gott um Papa und Aaron?“

„Ja, mein Schatz. Der Herr kümmert sich gut um sie.“ Sie küsste Annie auf die Wange und hielt sie noch lange, als das Kind eigentlich schon schlafen sollte, in den Armen.

„Ich vermisse Papa und Aaron“, schluchzte Annie.

Rachel seufzte schwer und hatte selbst große Mühe, ihre Tränen zu unterdrücken. „Ich vermisse sie auch, aber wir werden sie im Himmel wiedersehen.“

Nachdem sie Annie liebevoll zugedeckt hatte, blieb Rachel noch eine Weile im Türrahmen stehen. Oft hatte sie sich seit der Beerdigung gefragt, ob es klug sei, das Kind allein einschlafen zu lassen. So schwer es ihr auch fiel, einen ruhigen Schlaf zu finden, hoffte sie doch, dass Annie dieses Problem nicht hätte.

„Mach dir keine Sorgen, wenn du Annie hin und wieder zu dir ins Schlafzimmer holst“, sagte Esther, als Rachel sie unter vier Augen um ihre Meinung fragte. „Das liebe Mädchen fühlt sich furchtbar allein auf der Welt. Sie ist immer noch ein kleines Kind. Es ist wichtig für sie zu wissen, dass es ihrer Mama nichts ausmacht, dieses riesengroße Bett mit ihr zu teilen.“

„Sie ist mit vielen Verwandten gesegnet, die sie lieben“, erwiderte Rachel schnell. Sie wusste, dass es Annie nie an Gesellschaft mangeln würde. Sie würde mit der Liebe und Fürsorge einer ganzen Gemeinde aufwachsen, sowohl der Beachy-Amisch als auch der Amisch der Alten Ordnung.

„Wir brauchen Annie nicht zu bemitleiden“, bemerkte Esther. „Und dich auch nicht. Man kann einen Menschen eine Weile bemitleiden, aber dann muss er sozusagen die Hand wieder an den Pflug legen. Das Leben geht weiter.“

Für dich schon, dachte Rachel und verbannte diesen undankbaren Gedanken schnell aus ihrem Kopf und bat den Herrn, ihr zu vergeben. Sie wusste, dass ihre Kusine es gut meinte. Sie zweifelte nicht im Geringsten an Esthers Motiven.

* * *

Als Esther und Levi wieder nach Ohio zurückgefahren waren, musste sich Rachel dem ganzen Ausmaß ihres Verlustes stellen. Sie litt unter der Schuld, die wie ein schweres Gewicht auf ihrer Seele lastete. Jeden Morgen setzte sie sich in ihrem Bett auf und schaute in die Morgendämmerung, wenn die Sonne gerade über dem Horizont aufging – aber nie ohne Tränen in den Augen. Diese äußere Trauer war die Reaktion ihrer Seele auf den Schmerz in ihrem Herzen. Dieser Schmerz machte sich besonders nachts bemerkbar, während sie sich im Laufe des Tages um Annies willen absichtlich um ein Lächeln bemühte.

Mamas weisem Blick entging nicht, was ihre Tochter durchmachte. Eines Vormittags, als sie Rachel bei der Gartenarbeit half, sprach Susanna sie darauf an. „Deine Augen sind immer geschwollen und rot. Weinst du um Jakob und Aaron oder um dich selbst?“

Rachel fühlte, wie sich ihr Herz zusammenzog. Sie wusste nicht, wie sie den Schmerz in ihrem Inneren erklären sollte. Die Schuldgefühle waren immer da und gleichzeitig das starke Gefühl, wertlos zu sein. „Ich hätte sterben sollen“, erwiderte Rachel mit tränenerstickter Stimme.

Auf Mamas Gesicht spiegelte sich ihre liebevolle Fürsorge wider. „Es steht uns nicht zu, Gottes Wege in Frage zu stellen.“

„Ja“, war die einzige Antwort, zu der Rachel fähig war. Aber sie überlegte, ob sie ihrer Mutter die Wahrheit sagen sollte: Dass sie auch jetzt noch wünschte, sie könnte sterben.

„Wir müssen dem Herrn vertrauen, dass sein Wille unter uns geschieht“, sprach ihre Mutter weiter. „Jeder von uns muss das zu gegebener Zeit lernen.“

Zu gegebener Zeit ...

Tränen traten in Rachels Augen. „Es ist nicht so schwer, sich dem Willen Gottes unterzuordnen.“ Sie schwieg kurz und musste tief durchatmen, bevor sie weitersprechen konnte. „Es ist das Wissen, dass es anders hätte kommen können, ja, hätte kommen sollen. So ganz anders.“ Sie konnte die unablässigen, bohrenden Gedanken in ihrem Herzen und das Gefühl, für den Unfall verantwortlich zu sein, nicht annähernd beschreiben. Den Tod ihrer Lieben zu akzeptieren würde ihr viel leichter fallen, wenn dieser entscheidende Umstand nicht wäre.

„Es ist Zeit, nach vorne zu schauen, Tochter, und die Trauer hinter dir zu lassen“, sagte Mama. Eine so oberflächliche Antwort war für Rachel nichts Neues. „Um Annies willen musst du das einfach.“

Im Grunde sagte ihre Mutter genau das Gleiche, was Esther vor ihrer Abreise auch zu Rachel gesagt hatte: Die Zeit des Mitleids ist vorbei! Es war leicht für die anderen, so etwas zu sagen. Rachel fragte sich, wie wohl die beiden Frauen mit dem unerwarteten und gewaltsamen Tod ihres Ehepartners umgingen, falls sie davon betroffen wären. Aber sie wollte nicht zu lange über solche Dinge spekulieren, verbannte diese Frage deshalb aus ihrem Kopf und betete um Gnade, dass sie den Verlust ertragen könnte und auch die Ermahnung durch die anderen Frauen.

Sie schleppte sich mühsam die Stufen hinter dem Haus hinauf und in die Küche. In der Hand trug sie eine große Plastikschüssel mit Blattsalat und eine Hand voll frischer Karotten aus dem Garten. Ihr Augenlicht versagte, und der Raum um sie herum wurde ganz unscharf. Es dauerte nicht lange, bis sie wieder richtig sehen konnte. Sie hätte sich wahrscheinlich kaum Gedanken darüber gemacht, wenn der englische Arzt nicht gesagt hätte, dass alles bald wieder vergehen würde. Höchstens eine Woche, hatte er gesagt. Aber seit dem Unfall waren zwei Wochen vergangen, und ihre Augen funktionierten immer noch nicht so, wie sie sollten.

Sie und Mama begannen, grünen Paprika und Gurken für einen Salat zu schneiden. Aber als wieder alles vor ihren Augen verschwamm, zögerte Rachel, etwas zu sagen, und hielt schweigend ihr Messer fest. Dieses Mal dauerte es viel länger als sonst. Sie führte das Messer mühsam auf das Schneidebrett und wartete. Je länger der Nebel anhielt, umso lauter klopfte ihr Herz. Trotzdem versuchte sie, eine grau aussehende grüne Paprika zu erkennen.

„Stimmt etwas nicht, Rachel?“, fragte Mama. „Was ist los?“

Sie blinzelte mehrmals und versuchte, das, was ihr die klare Sicht raubte, von sich abzuschütteln, was immer es auch war. Langsam richtete sie den Blick auf das Messer in ihrer Hand und auf die Paprika auf dem Schneidebrett. Sie strengte sich mit aller Kraft an, klar zu sehen und die Umrisse zu erkennen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, sie war in einer nebligen Welt aus Grau und Weiß versunken.

„Rachel?“ Sie fühlte Mamas Hand auf ihrem Arm. „Du bist ganz blass. Komm, setz dich ein bisschen.“

Sie ließ das Messer los und folgte ihrer Mutter zu dem Hickoryschaukelstuhl. Jakobs Lieblingsstuhl. Wenn sie täte, was Susanna vorschlug, sich setzte und entspannte und sich ein wenig Luft zufächerte, wäre bestimmt bald wieder alles in Ordnung.

Während sie in dem Hickoryschaukelstuhl saß, wurde ihr schmerzlich bewusst, wie dunkel und traurig in den letzten Wochen alles geworden war. Sie sehnte sich nach Jakobs Fröhlichkeit. Oh, wie sie sein herzliches Lachen vermisste! Und der Gedanke an sein Gesicht, wenn er gut gelaunt in sich hineinlachte, trieb ihr neue Tränen in die Augen.

„Ach, Rachel, kannst du denn nicht endlich damit aufhören?“, tadelte Mama sie. Aber sie trat trotzdem hinter den Schaukelstuhl und streichelte Rachel den Rücken.

„Ich muss dir etwas sagen, Mama“, sagte sie leise und wünschte, sie wüsste, ob Annie in der Nähe war. Sie fühlte das lange Kleid ihrer Mutter an dem Stuhl und hörte das Tapsen ihrer nackten Füße auf dem Linoleumboden.

Susanna schien zu verstehen. Sie nahm Rachels Hand und drückte sie fest. „Wenn du an deine Fehlgeburt denkst ... Glaube mir, ich weiß, wie du dich fühlst, Rachel.“ Sie begann, ihr von der Leere und Traurigkeit zu erzählen, die sie erfüllt hatte, als sie vor Jahren ein Baby verloren hatte.

Rachel hörte aufmerksam zu, auch wenn sie nicht aufhören konnte zu weinen. „Was ich dir sagen will, hat nichts mit dem Baby zu tun, das ich verloren habe“, flüsterte sie. Dann schwieg sie kurz und fragte schließlich: „Ist Annie in der Nähe?“

„Aber nein, sie spielt draußen im Hof. Sie gräbt in der Erde. Du weißt schon, so wie sie und Aaron immer ...“ Susanna brach ab. „Was soll das heißen? Warum fragst du mich, ob Annie in der Nähe ist? Hast du immer noch Probleme mit deinen Augen?“

„Ja. Im Augenblick kann ich fast überhaupt nichts sehen.“

„Ich finde, wir sollten Blue Johnny holen. Er ist dafür bekannt, dass er innerhalb von vierundzwanzig Stunden ein Geschwür in den Augen heilen kann“, erklärte Mama schnell.

Bei der Erwähnung des Pfeife rauchenden Zauberdoktors zuckte Rachel unwillkürlich zusammen. „Ich glaube nicht, dass ich in meinen Augen ein Geschwür habe, Mama. Es ist einfach so, dass ich mir große Sorgen mache ... ich kann sie einfach nicht von mir abschütteln.“

„Wenn ich das deinem Papa erzähle, sagt er bestimmt, dass du dir die Augen ausweinst. Ganz einfach. Genau das würde er sagen.“

Rachel blinzelte immer wieder und streckte jetzt die Hände vor sich aus, drehte sie hin und her und versuchte, sie deutlich zu sehen. Aber sie konnte immer noch nicht die Umrisse ihrer eigenen dünnen Finger erkennen. „Was steckt wirklich dahinter?“, überlegte sie laut. „Glaubst du, es stimmt, was der Krankenhausarzt sagte?“

„Du hast etwas Grauenhaftes, Furchtbares mit ansehen müssen, Rachel. Wenn du mich fragst: Ich finde, wir sollten es nicht auf die leichte Schulter nehmen. Warum lässt du mich nicht Kontakt zu Blue Johnny aufnehmen?“

„Es tut mir leid, Mama, aber nein, ich will das nicht.“ Sie richtete sich ein wenig auf und war fest entschlossen, sich trotz ihres angeschlagenen Augenlichtes von Susanna nicht deren Willen aufzwingen zu lassen.

Es stimmte, die Wunderheiler waren viel billiger. Die meisten von ihnen kamen sogar umsonst. Das war allgemein bekannt. Und oft waren sie sogar ziemlich erfolgreich. Trotzdem hatte sie nie viel davon gehalten, sie zu rufen, und sie war auch nicht erpicht darauf, jetzt damit anzufangen.

Mamas Stimme erhob sich. „Ich würde nicht so schnell über die Wunderheiler die Nase rümpfen. Und schon gar nicht, wenn du weiterhin diese Probleme hast.“

Rachel lehnte den Kopf an den Schaukelstuhl. „Ich glaube, ich würde lieber wieder zu einem englischen Arzt gehen ... wenn ich überhaupt zu irgendjemandem gehe. Außerdem würde Jakob ...“ Sie schwieg kurz. „Wenn mein Mann hier wäre, würde er mir wahrscheinlich sagen, dass ich mich von Blue Johnny fern halten soll.“

„Aber Jakob ist nicht hier. Er sieht nicht, was du durchmachst, Tochter. Er würde das wollen, was für dich am besten ist, oder nicht?“

Was für mich am besten ist ...

Sie kam zu dem Schluss, dass es besser war, Mama nichts von dem scharfen, durchdringenden Schmerz zu erzählen, der sie manchmal nachts befiel, wenn sie sich schlafen legte. Meistens war er begleitet von dem Klappern von Pferdehufen und dem Rollen von Wagenrädern auf einer Straße. Und er kam gleichzeitig mit dem ständig wiederkehrenden Geräusch eines Automotors. Sie fürchtete, dass dieser Schmerz eines Tages käme und nie wieder verginge.

Seufzend stand sie von ihrem Schaukelstuhl auf. Ihr Blick war etwas klarer geworden, wenigstens so weit, dass sie den Weg zur Hintertür fand und Annie zum Mittagessen ins Haus rufen konnte.

* * *

Vielleicht wäre sie nicht so früh an diesem Abend zu Bett gegangen. Vielleicht hätte sie sich dagegen gewehrt, in einen unruhigen Schlaf zu fallen, wenn sie gewusst hätte, dass die Schmerzen, die sie wie tausend Nadelstiche quälten, fast unerträgliche Ausmaße annehmen würden.

Sie setzte sich am nächsten Morgen auf und schaute zu, wie die Sonne aufging. Derselbe Sonnenaufgang, den sie früher immer voll Freude bewundert hatte. Einen Augenblick später kehrten die quälenden Bilder zurück. Sie schrie vor Schmerzen auf und wehrte sich mit aller Kraft dagegen. „Nein! Ich will diese Dinge nicht sehen. Ich will sie nicht sehen!“ Sie wiederholte diesen Satz immer wieder und schloss die Augen und sperrte die hartnäckigen, quälenden Bilder aus ihrem Denken aus. Dabei schaukelte sie vor Schmerzen vor und zurück.

Wie lange sie zusammengekauert in ihrem Bett gesessen hatte, konnte sie nicht sagen. Aber als sie schließlich wieder die Augen aufschlug und zu weinen aufhörte, hatten sich die ersten Sonnenstrahlen dieses Morgens in einen dunklen und düsteren pechschwarzen Schatten verwandelt.

Sie schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Sie tastete sich quer durch das Zimmer zum Fenster. Jakob und sie hatten an ihrem letzten gemeinsamen Morgen genau an dieser Stelle gestanden und hatten zum Fenster hinausgeschaut. Aber sie konnte die sauberen, gepflegten Felder, die sich vor ihrem Fenster ausbreiteten, nicht erkennen. Die Bäume, das nach vier Seiten geöffnete Vogelhaus und selbst das Silo des Nachbarn waren so verschwommen, dass sie nur raten konnte, ob sie noch dort standen.

Die Dunkelheit verschwand auch nicht, als sie versuchte, sich anzuziehen, und sich dann ihre langen Haare bürstete und scheitelte. Sie konnte den goldbraunen Schimmer ihrer Locken nicht mehr sehen. Weder die Form noch die Farbe war im Spiegel zu erkennen. Nur verschwommene, schemenhafte Bilder kamen und gingen und quälten sie.

Sie musste sich frühere Bilder ins Gedächtnis rufen, um ihren Gebetsschleier richtig aufzusetzen. Angst und Panik ergriffen sie, als ihre Finger die Haube zurechtrückten. Jakob und Aaron würden nie zurückkommen, so sehr sie es auch wünschte. Ihr Leben als Jakob Yoders Frau gehörte endgültig der Vergangenheit an. Das war jetzt ihr Leben. Sie hatte alles gehabt. Alles war richtig und gut und schön gewesen ... und alles war in einem einzigen Augenblick ausgelöscht worden. Sie hatte nicht das Gefühl, Gottes Handeln in Frage stellen zu dürfen. Aber in ruhigen Augenblicken, kurz bevor sie einschlief, hatte sie trübe Gedanken voll Wut und Angst zugelassen, so sündig diese auch waren.

Sie tastete sich an der Wand entlang und stolperte zu dem Bett zurück. Dieses Bett, das sie und Jakob als Ehemann und Ehefrau geteilt hatten. Sie wagte es nicht, sich an die Liebe, die sie einander gezeigt hatten, oder an ihre Träume, ob ausgesprochen oder unausgesprochen, zu erinnern. Sie weigerte sich einfach. Das war die einzige Möglichkeit, den Schmerz in ihrem Leben zu ertragen.

Sie unternahm einen Versuch, das Bettlaken und die Decke glatt zu streichen und ihr einsames Kissen auszuschütteln. Aber der stechende Schmerz in ihrem Herzen quälte sie immer wieder, und in der Tiefe ihres schweren Herzens glaubte sie tatsächlich, dass das Licht aus ihrem Leben für immer verschwunden sei. Selbst als ihr die Tränen über die Wangen liefen, ergab sie sich in die Blindheit, diesem selbst auferlegten Schutzraum, in den keine schmerzlichen Bilder eindringen konnten.

„Was geschehen ist, ist geschehen“, flüsterte sie.

Teil 2

Mitten auf diesem Lebensweg, der uns bestimmt ist,
erwachte ich und befand mich in einem dunklen Wald,
in dem der richtige Weg nicht mehr zu finden war ...
Dante

Der Herr ist geduldig und von großer Barmherzigkeit
und vergibt Missetat und Übertretung,
aber er lässt niemand ungestraft,
sondern sucht heim die Missetat der Väter
an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied.

4. Mose 14,18

6

Zwei Jahre später

Philip Bradley erreichte die erste amische Frühstückspension, die er abseits der Hauptstraße finden konnte. Etwas abgeschieden und malerisch, bot die Olde Mill Road genau die Kulisse, die er sich gewünscht hatte, oder besser gesagt: die er in dem Reisebüro bestellt hatte.

Die Tourismusbranche in Lancaster hatte sich zu einem wichtigen Wirtschaftszweig entwickelt und übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf moderne Leute von heute aus, die sich danach sehnten, zu den nostalgischen, einfachen Tagen und in das schlichte Leben des letzten Jahrhunderts zurückzukehren. Die Läden verkauften die typischen amischen Steppdecken und Sticktücher, handgefertigte Möbel und Spielsachen aus Holz sowie selbst gezogene Kerzen. Fahrten in Einspännern und Rundfahrten zu amischen Bauernhöfen standen ebenfalls auf der breiten Programmpalette.

Doch er suchte die abgelegenen Straßen im Hinterland, bodenständige Bauernhöfe, in denen traditionelle, „natürliche“ Amisch lebten. Nicht die Einrichtungen, die Touristen mit falschem Namen und Märchen von gestrichenen blauen Gartentoren und Häppchen mit „sieben süßen und sieben sauren Sachen“ anlockten. Aber vor allem wollte Philip für diesen Auftrag recherchieren, ihn schreiben und ihn so bald wie möglich abliefern. Er war todmüde von den hektischen Reisen der letzten Wochen und dachte an seine vielen Aufträge und engen Termine, die im nächsten Monat vor ihm lagen.

Mit seinen siebenundzwanzig Jahren war Philip bereits ausgelaugt und erschöpft, obwohl er das nie zugegeben hätte. Schon als Jugendlicher hatte er es vermieden, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, auf die private Seite von Philip Titus Bradley. Diese sah ganz anders aus als sein Bild in der Öffentlichkeit. Obwohl er es in die oberste Riege der Journalisten für die Zeitschrift Family Life Magazine geschafft hatte, hütete er sein Privatleben mit Argusaugen und ließ niemanden zu nahe an sich herankommen.

Philip saß auf dem vierbeinigen Himmelbett und schaute aus dem Fenster auf eine Gruppe von Nadelbäumen. Die freie Fläche links neben den Fichten erregte seine Aufmerksamkeit. In der Ferne erspähte er eine weiße zweistöckige Scheune mit Silo. Unweit davon stand ein graues steinernes Bauernhaus, das von großen Bäumen umgeben war. Er fragte sich, ob dieser Hof vielleicht in amischem Besitz war. Sein Kontaktmann, Stephen Flory vom Historischen Verein der Mennoniten in Lancaster, hatte ihm erklärt, dass fast alle Höfe rund um Bird-in-Hand in amischer Hand waren. Sobald das Gerücht umging, ein englischer Hof werde verkauft, klopfte auch schon ein junger Amischmann an die Tür und bot den Höchstpreis für das Land.

Philip fuhr sich mit den Händen durch seine dichten dunklen Haare und betrachtete die Sonnenstrahlen, die durch die Öffnung der blauen Vorhänge fielen und ein strahlendes Muster auf die blaugrüne Blumentapete warfen. Unübersehbarer Blickfang des Zimmers war ein großer Schreibtisch, ein kostbares Antiquariat. Er betrachtete ihn jetzt genauer. Falls er je das Glück haben sollte, auch einmal ein solches Stück zu besitzen, würde es ebenfalls einen zentralen Platz einnehmen und seine Umgebung in den Hintergrund rücken. Obwohl solch ein riesiger Schreibtisch in seinem Appartment in Upper Manhattan völlig fehl am Platze wäre.

Der Schreibtisch, der gegenüber der Tür an der Wand stand, schien auf erstaunliche Weise genau für dieses Zimmer gemacht zu sein. Lauren hätte das natürlich nicht so gesehen. Bei diesem ungewollten Gedanken verzog er das Gesicht. Zum Glück hatten sie sich lange vor diesem Auftrag getrennt. Sie würde nicht das geringste Interesse an seinen Recherchen in Lancaster zeigen. Wahrscheinlich hätte sie vielmehr einige abfällige Bemerkungen über die Hinterwäldler fallen lassen, die er interviewen wollte.

Die Beziehung zu Lauren Hale war der größte Fehler in seinem Leben als Erwachsener gewesen. Diese Frau hatte ihn vollkommen zum Narren gehalten und erst am Ende ihr wahres Gesicht gezeigt. Offen gesagt, war sie ein Snob, deren intolerante Augen nur einen Blick für Ruhm und Geld hatten.

Auch Philip hatte Laurens Erwartungen nicht genügen können. Es musste für sie ein grausames Erwachen gewesen sein, als sie entdeckte, dass unter seiner weltmännischen, journalistischen Fassade ein Herz schlug. Ein warmes und lebendiges Herz. Und kein noch so starkes Wunschdenken und keine noch so raffinierten Manipulationsversuche ihrerseits konnten diese Seite seines Charakters ändern. Dafür war er sehr dankbar. Er hatte sich ihr an diesem letzten Abend nicht in den Weg gestellt, er hatte ihr nicht widersprochen, als sie mit ihm Schluss machte. Eigentlich hatte er geplant, selbst diesen Schritt zu ergreifen, wenn er von seiner Europareise, von der er gerade zurückgekommen war, nicht so ausgelaugt und erschöpft gewesen wäre.

* * *

Philip betrachtete das alte Bett mit dem Baldachin. Ebenfalls ein kostbares Antiquariat. In Übergröße. Handgenähter Baldachin, dachte er, als er das filigrane, gebrochene weiße Muster sah. Dank seiner lebhaften Nichte wusste er über Stickstiche bestens Bescheid.

Die kleine Kari hatte ihn angefleht, sie doch bei dieser Reise mitzunehmen. Sie hatte begeistert gekichert, als er anrief und sagte, dass er nach Lancaster County fliegen wolle. „Dort leben die Leute, die so komisch sprechen, nicht wahr?“, rief sie aufgeregt. „Gibt es in dieser Gegend nicht Pferde und schwarze Einspänner, und sind die Leute nicht alle ganz altmodisch gekleidet?“

„Sie sind amisch“, hatte er ihr erklärt.

„Bitte, nimm Mama und mich mit, Onkel Phil. Wir laufen dir auch bestimmt nicht zwischen den Beinen herum und stören dich nicht bei deiner Arbeit. Das verspreche ich dir.“

Leider hatte er ihr diese Bitte abschlagen müssen, auch wenn es ihn geschmerzt hatte. Er hatte versucht, ihr seinen Termindruck zu erklären. „Du hättest nicht den geringsten Spaß dabei, Kleines. Ich muss die ganze Zeit arbeiten.“

„Du könntest doch wenigstens darüber nachdenken und uns zurückrufen. Bitte!“ Sie konnte es nicht erwarten, etwas Neues zu erleben, obwohl sie eigentlich zu Hause bleiben und ihren Unterricht nicht versäumen sollte – den Fernkurs für die sechste Klasse, den ihre Eltern kürzlich bezahlt hatten. Die staatlichen Schulen in New York City waren nicht mehr das, was sie damals waren, als er in der Stadt aufwuchs. Er hatte versucht, seine Schwester und seinen Schwager zu überreden, von ihm finanzielle Hilfe anzunehmen, damit Kari auf eine der vornehmen Privatschulen gehen könnte, aber ohne Erfolg. Sie waren Mitglieder einer evangelikalen Gemeinde und waren ziemlich religiös. Daher rührte ihr starker Wunsch, Kari zu beschützen und sie nach dem Willen Gottes zu erziehen. Was gar nicht so schlecht war, wie er fand. Immerhin war es noch nicht so lange her, dass er selbst am Altar niedergekniet war und Jesus gebeten hatte, in sein junges Leben zu kommen. Aber zu viele ehrgeizige Bemühungen und hektische Termine hatten seitdem seinen geistlichen Weg in eine andere Richtung gelenkt.

Bevor er auflegte, hatte er seiner Nichte versprochen, dass sie ihn ein anderes Mal begleiten dürfe. „Ein anderes Mal. Vielleicht nehme ich dich und deine Mutter mit, wenn ich nach London fahre ... falls ich dann nicht so müde bin.“

„Lebensmüde und Todesangst?“ Das Mädchen nahm kein Blatt vor den Mund. „Einverstanden, Onkel Phil, ich nehme, was ich kriegen kann ... wenn das ein Versprechen war. Das mit London, meine ich.“

Er wollte auf keinen Fall so weit in die Zukunft blicken und an seine Termine in Übersee erinnert werden. Damals nicht und auch jetzt nicht.

Wenn er dem pochenden Gefühl hinter seinen Augen und der allgemeinen Müdigkeit, die ihn in diesem Moment befiel, nachgäbe, würde er wahrscheinlich nicht rechtzeitig aufwachen, um überhaupt irgendwelche Recherchen durchzuführen oder auch nur einen einzigen Satz zu schreiben. Dieser Gedanke war verlockend. Eine großartige Möglichkeit, die nächsten drei Tage zu verbringen.

Doch das Abendessen mit Kerzenbeleuchtung, das im Übernachtungspreis inbegriffen war, wollte er auf gar keinen Fall versäumen. Also stand er auf und verwarf den Gedanken an ein gemütliches Nickerchen. Mrs. Zook, die gastfreundliche Hausherrin, hatte Schweinekoteletts, die in reiner Butter gebraten wurden, zum Abendessen angekündigt. Schlecht für die Arterien, aber ein Genuss für die Zunge. Die Frau, die darauf bestanden hatte, dass er sie Susanna nennen solle, hatte ihn mit einer so überschwänglichen Begeisterung begrüßt, dass er sich anfangs gefragt hatte, ob er wohl der einzige Gast sei, der hier übernachte.

Doch er fand bald heraus, dass dieses historische Gebäude bis in den Oktober hinein fast ausgebucht war. „Die meisten der kleineren Zimmer sind ausgebucht“, hatte Susanna Zook ihm erklärt. Zooks Gästehaus am Obstgarten war also tatsächlich eine beliebte Frühstückspension.

Er konnte dringend eine Dusche vertragen und erhob sich von dem gemütlichen Bett mit der handgenähten amischen Steppdecke. Er stellte seinen Laptop auf den schönen Schreibtisch. Der Rollladen war bereits geöffnet, gleichsam als Willkommensgruß. Philip war für den vielen Stauraum, den der Schreibtisch bot, dankbar und würde jeden Quadratzentimeter davon nutzen.

Nachdem er seinen Computer aufgestellt hatte, begann er, seine Sachen auszupacken. Er wollte ungefähr drei Tage bleiben, je nachdem, wie viel seine Recherchen hergaben. Im Voraus hatte er bereits beim Historischen Verein der Mennoniten in Lancaster angerufen und mit Stephen Flory einen festen Termin vereinbart. Stephen Flory würde ihm bei seinen Recherchen helfen und hatte ihm sogar ein persönliches Interview mit einem „gesprächsbereiten amischen Bauern“ versprochen. Darüber hinaus schienen die Besitzer dieser Pension ebenfalls eine gute Informationsquelle zu sein. Sie waren anscheinend pensionierte Bauern, obwohl er das nicht mit Bestimmtheit sagen konnte. Ihre großzügige Art und ihre freundliche, hilfsbereite Mentalität waren faszinierend. Nur schwer arbeitende Bauern hatten solche Charakterzüge. Wenigstens hatte das sein Großvater immer gesagt. Großvater Bradley hatte ihm viel über Bauern erzählt, als Philip noch ein kleiner Junge war und die Eltern seines Vaters in Südvermont besuchen durfte. Sie hatten ein großes, schönes Stück Land gleich außerhalb von Arlington besessen, unweit von Norman Rockwells früherem Zuhause.

Als er das Haus seines Großvaters das erste Mal gesehen hatte, war sein sieben Jahre altes Herz vor Aufregung fast stehen geblieben. Schlagartig hatte er jeden beneidet, der unter einem so blauen und so weiten Himmel leben konnte. Und wie riesig die Bäume waren! Kein einziges hohes Gebäude sperrte das Sonnenlicht aus, es gab keine lärmenden Schluchten zwischen Wolkenkratzern, die im Wind schaukelten. Auf Großvater Bradleys Land fühlte er sich richtig frei.

Philips Großvater hatte sich dieses Haus in Neuengland als Sommerhaus gebaut. Es stand auf steilen Felsen und bot einen herrlichen Blick auf den Battenkill River. Das Haus mit den fünf Zimmern besaß allen Reiz der Natur, den ein Junge aus der Großstadt sich nur vorstellen konnte, obwohl Philip bis zu jenem ersten Sommer keine Ahnung von einem Leben auf dem Land gehabt hatte. Besonders nicht von einem Land, wo anstelle der fingerdünnen Gebäude mit neunzig oder noch mehr Stockwerken hohe Bäume bis zum Himmel reichten. Die Gemüsegärten waren in der satten braunen Erde angelegt. Er kannte bis dahin nur die künstlich angelegten Gärten in Kisten oben auf zugigen Penthousedächern.

Und es gab Lamas. Großvater hatte eine Schwäche für diese haarigen Geschöpfe mit den langen Hälsen. Obwohl sie zutraulich waren, konnte Philip selbst als Teenager nie ganz das Gefühl von sich abschütteln, dass er lieber einen weiten Bogen um diese Tiere machen sollte. Er hatte gelesen, dass Lamas manchmal spuckten, wenn sie aufgeregt waren oder Angst bekamen. Der kleine Philip stellte sich entsetzt vor, wie es wäre, wenn er den Speichel eines Lamas im Gesicht hätte. Eine solche Erfahrung, so hatte er schon sehr früh beschlossen, musste um jeden Preis vermieden werden.

Das geräumige Sommerhaus war eine Nachbildung der Bauernhäuser in jener Gegend. Allerdings war es weniger groß und einfacher gebaut. Es spiegelte den natürlichen Charme der roten Chisselville-Brücke wider, der überdachten Brücke, die eine knappe Meile davon entfernt war. Philip genoss besonders die vielen kilometerlangen Wanderpfade und Schilanglaufwege in der unberührten Natur um das Haus seiner Großeltern herum. Im Sommer spielte er, er wäre ein Forscher in den Wäldern. Im Winter war er genau das Gegenteil: Er startete Suchaktionen nach Leuten, die er für sein Spiel erfunden hatte.

Die Usambaraveilchen seiner Großmutter blühten immer und verliehen der südlichen Ecke der großen Frühstücksnische einen gemütlichen Flair. Nach allem, was er über amische Küchen gelesen hatte, könnte die Küche, die er in den Bergen von Vermont kennen gelernt hatte, es leicht mit jeder Küche von Amischen der Alten Ordnung aufnehmen. Sie war mit einem Holzofen und einem langen Holztisch und Holzbänken eingerichtet gewesen. Aber er musste natürlich erst noch herausfinden, ob das stimmte, denn die moderne und praktisch eingerichtete Küche, in der Susanna Zook das Essen für ihre Gäste zubereitete, war zweifellos Welten von den Küchen aus der Jahrhundertwende, die er anzutreffen hoffte, entfernt.

Nachdem er geduscht und sich angekleidet hatte, schlenderte er gemütlich die Treppe hinab, um einen Nachmittagstee oder -kaffee zu trinken. Als er gerade am Salon vorbeigehen wollte, fiel sein Blick auf eine junge Frau, die in ein langes graues Kleid mit einer schwarzen Schürze gekleidet war. Diese dunkle und bedrückende Kleidung war die düsterste Trauerkleidung, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Doch die Farbe und das Aussehen ihrer Haare faszinierten ihn: Zarte flachsblonde Strähnen mit hellbraunen Tönen waren mit einem Mittelscheitel geteilt und zu einem tief im Nacken sitzenden Knoten gebunden und teilweise von einer weißen durchsichtigen Haube bedeckt. Die Frau saß regungslos da und hatte die Hände würdevoll auf dem Schoß gefaltet. Zuerst dachte er, sie schlafe vielleicht, aber dann sah er, dass sie den Kopf hochhielt und die Augen offen hatte.

Ein kleines Mädchen in einem langen hellgrünen Kleid und mit honigbraunen Haaren, die in Zöpfen um seinen Kopf gelegt waren, lief an ihm vorbei in das Zimmer. Sie war zierlich und flink. Er war so fasziniert, dass er unwillkürlich stehen blieb und wartete, was sie wohl als nächstes tun würde.

Anmutig drehte sich die junge Frau um und berührte das Gesicht des Kindes, das aussah wie aus einem Bilderbuch. „Ach, Annie, du bist es.“

„Ja, ich bin es, Mama. Willst du etwas zu trinken?“

„Ein Glas Wasser genügt mir“, antwortete die Frau, deren Hand immer noch auf der Wange des Kindes ruhte. „Danke, Kleines.“

Eine solche Begegnung hatte Philip noch nie zuvor erlebt. Ja, er hatte als Kind die Hand seiner Mutter auf seiner Stirn gefühlt, aber hier zu stehen und eine solch zärtliche Geste aus der Ferne zu beobachten, war reine Poesie.

Augenblicke der Liebe lohnten, dass man sie beobachtete, ja genoss, selbst wenn man selbst überhaupt nichts mit den Betroffenen zu tun hatte. Ein ähnliches Gefühl hatte er gehabt, als er einmal einen Jungen und ein Mädchen sich an den Händen haltend in der sechsundachtzigsten Straße die Stufen zur U-Bahn-Station hinablaufen sah. Sie hatten versucht, sich gemeinsam durch das Drehkreuz zu quetschen. Augenblicke wie diese gehörten für ihn zum Kostbarsten der Welt.

Selbst wenn es nur seine angeborene journalistische Neugier war, fand er diese Szene faszinierend, besonders die Frau, obwohl ihm ihr Kind ebenfalls gefiel. Da er jedoch nicht neugierig dastehen und andere Leute beobachten wollte, drehte er sich schließlich um und begab sich in den Aufenthaltsraum, der mit einer hohen Kommode, zwei Sofas und mehreren gemütlichen Sesseln eingerichtet war. Ein primitives Butterfass stand zur Zierde in einer Ecke neben einem Kaminfeuer.

Susanna Zook, die stämmige amische Hausherrin und Wirtin, hatte ihn bei seiner Ankunft aufgefordert, sich wie zu Hause zu fühlen. „Haben Sie keine Hemmungen. Lesen Sie, entspannen Sie sich und unterhalten Sie sich mit den anderen Gästen“, hatte sie ihm geraten. Also betrat er das gemütliche Zimmer mit den Bücherregalen, die an einer Wand vom Boden bis zur Decke reichten. Auf dem Kaffeetisch mit Marmorplatte lag ebenfalls viel Material zum Lesen. Das alles war nur wenige Meter von einem einladenden Esszimmer entfernt. Er gratulierte sich zu der guten Wahl, die er, ohne die Pension vorher gesehen zu haben, für seinen Aufenthalt getroffen hatte.

Ein junges Paar saß aneinander geschmiegt auf einem Sofa neben dem offenen Kamin – mit Kacheln aus dem achtzehnten Jahrhundert – und wechselte schweigend zärtliche Blicke miteinander. Er grüßte und setzte sich dann in einen Sessel und blätterte in einem Touristenführer über das Gebiet um Lancaster.

„Oh, da sind Sie ja wieder, Philip.“ Er blickte auf und schaute in das runde und fröhliche Gesicht seiner freundlichen Gastgeberin. „Möchten Sie etwas zu trinken?“, fragte sie. „Ich kann Ihnen Kaffee, Tee, einen Saft oder ein Glas Milch bringen.“

„Wenn das so ist, hätte ich gerne eine Tasse schwarzen Kaffee. Danke.“

„Aber denken Sie daran, dass Sie noch Platz für das Abendessen lassen müssen. Es wird pünktlich um siebzehn Uhr serviert, zweimal in der Woche – montags und mittwochs“, erklärte Susanna und richtete diese Worte auch an das Paar auf dem Sofa. „Sie können gerne jederzeit einen kleinen Imbiss vor oder auch nach dem Abendessen haben. Wirklich jederzeit.“ Sie deutete auf einen Ecktisch, auf dem verschiedene Käse- und Obstsorten, Schokolade, Kartoffelkekse und Buttergebäck liebevoll angerichtet waren. „Selbst gebackene Brötchen sind auch da, wenn Sie wissen, wo man sie findet.“ Sie öffnete eine Schranktür unter dem Tisch und holte ein Holztablett mit weiteren Köstlichkeiten hervor. „So, jetzt bringe ich Ihnen Ihren Kaffee. Schwarz, sagten Sie?“

Er nickte und lehnte sich gerade wieder in den Sessel zurück, als das kleine Mädchen, das er im Salon gesehen hatte, mit einem großen Glas Wasser durch das Zimmer gesaust kam.

„Pass auf, dass du nichts verschüttest“, rief Susanna ihr nach und sagte dann, an Philip gewandt: „Das ist Annie, unsere sechsjährige Enkelin. Sie ist fleißig wie eine Honigbiene.“

„Das sehe ich.“ Während sie sich ungezwungen unterhielten, achtete er besonders auf die ungewohnte Sprechweise der Frau. „Wohnt Annie bei Ihnen?“, fragte er, als in dem Gespräch eine Pause einkehrte.

„Ja, sie und ihre Mutter.“

Er wartete und dachte, eine Erklärung würde folgen. War Annies Mutter geschieden, verwitwet ... was? Aber die Frau ließ ihn darüber im Unklaren, und Philip kam zu dem Schluss, dass es ihn sowieso nichts anging.

Die Amischfrau wandte sich zur Küche. Jetzt erst bemerkte er, dass ihr glattes blaues Kleid und die schwarze Schürze, die bis zu den Knien reichten, ähnlich geschnitten waren wie das Kleid der jungen Frau im Salon. Außerdem trug sie ebenfalls die obligatorische weiße Kopfbedeckung aus dünnem Netzstoff, die allen Kinogängern durch Hollywoodfilme von den Amisch in Lancaster County bestens bekannt waren. Die durchsichtige Kopfbedeckung wurde von Leuten außerhalb der Amischgemeinschaft als Gebetsschleier bezeichnet. Die Amisch selbst nannten sie „Kapp“ oder Haube. Soviel wusste er.

Er hatte den starken Wunsch, ein paar echte Amisch näher kennen zu lernen. Vielleicht wäre er sogar bereit, irgendwo beim Heuwenden zu helfen. Bestimmt keine schwere Sache für ihn. Dafür wurde er schließlich bezahlt. Es war seine Gabe, wie seine junge Nichte ihm bei seinem letzten Besuch verschmitzt zu verstehen gegeben hatte. Doch er wusste, dass er seine Neugier zügeln und jede einzelne Frage sorgfältig auswählen musste, besonders die Fragen, die er den Amisch direkt stellen wollte. Seine Schwester hatte mehrere Jahre lang eine amische Brieffreundin in der Nähe von Harrisburg gehabt und ihn gewarnt. Philip seufzte erschöpft. Er konnte nicht verstehen, warum er sich auf diesen Auftrag überhaupt eingelassen hatte. Im Moment wünschte er, er hätte Janice mehr gelöchert und genauere Einzelheiten von ihr in Erfahrung gebracht. Aber meistens war er so mit seinen eigenen Dingen beschäftigt und drehte sich zu sehr um sich selbst, als dass er sich allzu sehr für die gelegentlichen Freundschaften seiner einzigen Schwester interessierte.

„Am wichtigsten ist“, hatte Janice ihm geraten, „dass du dich als vertrauenswürdig erweist, bevor dir ein Amisch auch nur sagt, wie spät es ist. Das ist mein voller Ernst.“

Er hatte ihr nur mit einem Ohr zugehört und im Stillen gedacht, wenn er in Lancaster ankäme, wären sicher ein paar Leute da, die bereit wären, mit ihm zu sprechen. Und wenn schon aus keinem anderen Grund, dann bestimmt für Geld. Aber jetzt, wo er hier war, eine Kostprobe des konservativen Lebensstils geboten bekam, Susanna Zook kennen gelernt und Annie mit ihrer Mutter beobachtet hatte, stellte er in Frage, ob er auf diese Weise sein Ziel erreichen würde. Vielleicht wusste seine Schwester doch, wovon sie sprach. Bevor er es falsch anpackte, sollte er Susanna oder ihrem wesentlich zurückhaltenderen Mann gegenüber erwähnen, dass Janice eine gute Freundin von einer ihrer Verwandten sei. Schließlich waren doch alle Amisch direkt oder durch Heirat miteinander verwandt, oder? Ja, vielleicht würden sich ihm ein paar Türen öffnen, wenn er nach altbewährter Manier ein paar Namen fallen ließe.

Er zermarterte sich den Kopf und versuchte, sich an den Namen der Frau in Harrisburg, Janices Brieffreundin, zu erinnern. War es Stoltzfus gewesen? Jedenfalls hatte der Name ziemlich ungewöhnlich geklungen.

Sein Blick wanderte durch den Raum. Er betrachtete den braunen Velourssessel und das Sofa. Nicht gerade die vorteilhafteste Farbwahl für ein so großes Zimmer, dachte er mit einem Blick auf den geknüpften hellbraunen Teppich unter seinen Füßen. Andererseits passten vor dem Hintergrund einer weiteren Tapete mit Blumenmuster die erdigen Brauntöne tatsächlich irgendwie.

Er fragte sich allmählich, ob die Amisch absichtlich ihre Häuser ein bisschen bunter schmückten, als sie sich selbst kleideten, obwohl die hellblauen und lila Kleider, die er an einigen Amischfrauen auf dem Bauernmarkt in Bird-in-Hand gesehen hatte, gar nicht so unattraktiv waren. Aber nirgends hatte er eine Frau gesehen, die ein so düsteres Grau trug wie Annies Mutter, die allein und vollkommen regungslos im Salon gesessen hatte.

Sein Blick fiel auf die rosa- und cremefarbene Sturmlampe. Zweifellos eine Antiquität. Fast alles in diesem Haus stammte aus der viktorianischen Epoche. Oder es war neuenglischer Landhausstil. Susanna hatte unübersehbar eine Schwäche für alte Sachen, genauso wie seine Schwester. Er fragte sich, wie die beiden wohl miteinander auskämen, falls sie sich je begegnen sollten.

Kulturschock, dachte er und verkniff sich nur mit Mühe ein lautes Lachen. Andererseits sprach vieles dafür, dass sie großartig miteinander klarkämen. Immerhin war es Janice gewesen, die ihm ohne Umschweife geraten hatte, etwas langsamer zu treten und sich Zeit zum Leben zu nehmen. Die Amisch schienen es zu verstehen, ein Leben mit weniger Hektik zu genießen. „Du rast wie ein Besessener durch dein Leben, Philip. Das hat einfach keinen Sinn ... Besonders wenn ich sehe, dass du dich dabei so vollkommen elend fühlst“, hatte Janice gesagt.

„Aber ich brauche diesen Druck“, hatte er ein wenig gereizt geantwortet. „So funktioniere ich am besten.“ Er hatte gelacht, aber er kannte die Wahrheit. Wenn er aufhören würde, so viel zu arbeiten, wenn er aufhören würde, jede Sekunde seines Lebens mit Terminen, Interviews und gesellschaftlichen Verpflichtungen voll zu stopfen, müsste er nachdenken. Über sein eigenes Leben zum Beispiel.

„Lieber sterbe ich, als dass ich herumsitze und Däumchen drehe“, hatte er ihre Bedenken zurückgewiesen und gehofft, damit das unangenehme Frage- und Antwortspiel zu beenden.

„Du bist arbeitssüchtig. Habe ich recht?“ Janice ließ nicht locker. Sie bohrte immer weiter, bis sie ihn in die Enge getrieben hatte. „Weißt du, was ich denke? Ich denke, du läufst vor dir selbst davon, und du hast Angst, wenn du langsamer treten würdest, müsstest du dir ernsthaft anschauen, wer Philip Bradley in Wirklichkeit ist.“

Volltreffer.

Die Wahrheit war, dass er sich natürlich nach einem einfacheren, langsameren Leben sehnte. Aber es war weitaus leichter, in dieser verrückten, aber sicheren Tretmühle namens Leben, die sich immer schneller und schneller drehte und ihm nie eine Ruhepause gönnte, widerstandslos weiterzulaufen.

Susanna kam mit einer großzügig gefüllten Tasse mit dampfend heißem Kaffee auf einem Unterteller und riss ihn aus seinen Gedanken. „Hier ist Ihr Kaffee. Sie können ihn gern auch mit in Ihr Zimmer nehmen, wenn Sie möchten.“ Sie schaute sich um. „Aber Sie können natürlich auch hier bleiben ... so lange Sie wollen. Es gibt hier ein paar schöne Wege zum Spazierengehen. Zum Obstgarten und weiter zum Mühlbach. Es ist ein herrlicher Nachmittag für einen Spaziergang.“

„Danke. Das werde ich mir merken. Ein anderes Mal vielleicht ... und ich freue mich auch schon auf das Abendessen.“ Er lächelte die freundliche Wirtin und auch das Liebespaar an, das jedoch keinen Blick für ihn hatte.

„Ich bin sicher, die Schweinekoteletts werden Ihnen schmecken.“ Susanna bedachte ihn mit einem freundlichen Lächeln.

„Ja, davon bin ich überzeugt“, nickte er und begab sich zur Treppe und zu seinem Zimmer, das genau über dem Salon lag. Dem Raum, in dem er etwas gesehen hatte, worum ihn die meisten Schriftsteller beneiden würden. Ein herzliches, natürliches Portrait von zwei Menschen, die einander in Liebe begegneten. Die kleine Annie und ihre Mutter.

Er dachte an seinen Freund, den Fotografen bei der Zeitschrift. Henning würde meilenweit fahren, wenn er ein Motiv von solcher Zärtlichkeit garantiert bekäme. Das Bild von Mutter und Kind ging Philip nicht mehr aus dem Kopf. Er beschloss, es als Teil seiner Recherchen zu verwenden und zu beschreiben, und auch zu schildern, welche Wirkung es auf ihn ausgeübt hatte. Als er sich die rührende Szene noch einmal vor Augen malte, stellte er mit plötzlicher Begeisterung fest, dass er es nicht erwarten konnte, mit seiner Arbeit anzufangen.

Wirklich mächtig glücklich, dachte er und wiederholte im Geiste die ungewohnte amische Formulierung. Die Ausdrucksweise der Amisch war gewöhnungsbedürftig, aber er wollte sich die Mahnungen seiner Schwester zu Herzen nehmen und sich als vertrauenswürdig erweisen. Sobald er diesen Auftrag erledigt hätte, wollte er über einen lange verdienten Urlaub nachdenken. Janice würde sich freuen, das zu hören. Und auch Kari, die vielleicht sogar mit ihm nach Vermont fahren und in Großvaters altem Sommerhaus wohnen dürfte. Ein angenehmer Gedanke, obwohl er bezweifelte, dass er sich je überwinden könnte, solche Träume in die Tat umzusetzen.

Aber vorher kam dieser Auftrag: Die Amisch und ihre Familientraditionen. Heute Abend würde er seine Recherchen ins Laufen bringen und genau die richtigen Worte sagen. Hoffentlich könnte er Susanna Zook zum Reden bringen. Vielleicht sogar ihren Mann.

Dann fiel ihm Susannas wunderbare Enkelin ein. „Eifrig wie eine Honigbiene“, hatte die Frau von dem Kind gesagt.

Annie ist genau das, was ich brauche, dachte er.