Über das Buch:
Aus dem Frieden der Amisch-Gemeinschaft kehrt Phil Bradley zurück in die Hektik seiner New Yorker High-Tech-Welt. Doch schnell wird ihm klar, wie stark die Bande sind, mit denen sein Herz bereits an diesem paradiesischen Fleckchen Erde hängt. Und an Rachel Yoder, der jungen Amisch-Witwe, deren sanftes Wesen ihn so sehr beeindruckt hat ... Mit Macht zieht es ihn zurück nach Lancaster County. Hier stellt er sich dem Ringen um die Fragen: Wird Rachel seine Gefühle erwidern, und kann er die Kosten überschlagen, die ihm eine gemeinsame Zukunft abverlangen wird?

Über die Autorin:
Beverly Lewis wurde im Herzen des Amisch-Landes in Lancaster, Pennsylvania, geboren. Sie hat 3 erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann Dave in Colorado/USA. Ihr Wissen über die Amisch hat sie von ihrer Großmutter, die in einer Mennoniten-Gemeinde alter Ordnung aufwuchs.

6

Eine so herrliche Schneelandschaft hatte Annie in ihren ganzen sechs Jahren noch nicht gesehen. Sie saß auf Mamas Schoß in dem Pferdeschlitten und machte es sich zur Aufgabe, ihrer Mutter jede Einzelheit ausführlich zu beschreiben. „Alles ist weiß. Es sieht aus, als läge auf allem ein dicker Zuckerguss!“

„Sind die Bäume auch weiß bedeckt?“, fragte Rachel. Beide waren in dicke Wolldecken eingepackt.

„Die Zweige sehen aus wie Eis am Stiel, aber ohne Schokoladenüberzug. Jeder Zweig ist rundherum mit Eis bedeckt. Ehrlich.“

„Und die Felder? Erzähle mir, wie die Felder und Wiesen aussehen.“

„Ach, wenn ich nur schwarzes Papier hätte, auf das ich jetzt zeichnen könnte. Ich würde den Schnee mit einer weißen Kreide malen. Dann könntest du, wenn du eines Tages wieder sehen kannst, dich an diesen Tag erinnern.“

Oma Susanna schnaubte verärgert, aber Annie sprach unbeirrt weiter. „Meine Zeichnung würde genauso aussehen wie das Feld und der Hof da drüben.“

„Von Rebekka Zooks Herbstastern ist nicht mehr viel übrig“, bemerkte Susanna mit einem geistesabwesenden Seufzen.

„Wie würdest du den Schnee heute beschreiben, Oma?“, fragte Annie.

„Ach, Schnee ist Schnee“, erwiderte ihre Großmutter und fuhr mit der Hand durch die Luft. „Aber ich würde sagen, es war der schlimmste Schneesturm, den wir seit mehr als einem Dutzend Jahren hatten.“

„Ein Dutzend Jahre?“, fragte Annie. „Wie lange ist das?“

„Zwölf Jahre“, antwortete ihre Mutter.

„Das ist eine wirklich lange Zeit“, sagte Annie und musste in diesem Augenblick wieder an Mister Philip denken. Der nette Mann aus New York hatte gesagt, dass er vielleicht einmal wiederkommen und sie besuchen würde.

Annie kam das wie ein Dutzend Jahre vor.

* * *

Rachel gefiel der Tonfall ihrer Mutter nicht. Er klang, als wäre Susanna immer noch über irgendetwas verärgert.

„Wozu willst du denn den Schnee zeichnen? Damit deine Mama das Bild anschauen kann, falls sie jemals wieder sehen kann?“, fragte Susanna wie aus heiterem Himmel.

Sie ist immer noch verärgert über mich, dachte Rachel. Und sie war sich auch ziemlich sicher, warum. Susanna hatte vor mehreren Wochen Blue Johnny, den Wunderheiler der Gemeinde, ohne Rachels Erlaubnis heimlich in ihr Schlafzimmer gebracht. Sie hatte ihn aufgefordert, über Rachel seine Zaubersprüche zu sprechen. Wahrscheinlich hatte er auch sein schwarzes Kästchen benutzt, das Kästchen, das angeblich sagen konnte, was bei einem Menschen nicht stimmte, und es heilen konnte.

Anfangs hatte Rachel nicht gewusst, ob sie das alles nur geträumt oder wirklich erlebt hatte. Aber dann war sie zu ihrem Vater gegangen und hatte ihn gefragt, und er hatte es ihr bestätigt. Blue Johnny hatte ihr in jener Nacht tatsächlich kurz das Augenlicht wiedergebracht. Rachel hatte das alles also nicht geträumt. Und jetzt war ihre Mutter immer noch wütend wegen Rachels ablehnender Haltung Blue Johnny gegenüber. Aber noch wütender war sie, weil Papa Rachel alles verraten hatte.

Rachel war froh über ihre kühne Entscheidung, diese Heilung abzulehnen. Dieses dunkle und verworrene Erlebnis hatte sie veranlasst, ihre Heilung im Licht der Bibel zu betrachten. Mit Esthers Hilfe konnte sie das auch. Sie fing an, sich auf Gottes Verheißungen zu stellen, und rechnete jeden Tag damit, dass Gott ihre Augen heilen würde und sie wieder sehen könnte. Wann das sein würde, lag ganz bei Gott.

„Ich werde ein Bild von den verschneiten Feldern für Mama malen, sobald wir zu Großtante Lea kommen“, riss Annie Rachel aus ihren Gedanken.

„Das ist sehr lieb“, flüsterte Rachel ihrem kleinen Mädchen zu. „Jetzt reden wir aber lieber nicht mehr davon.“

Susanna ließ die Zügel schnalzen, um die Stute zu einer schnelleren Gangart anzutreiben. Rachel hielt es für töricht, das bei diesem Wetter von dem Tier zu verlangen. Die Straße war gewiss schneebedeckt, und für das Pferd war es ohnehin sehr schwer, vorwärtszukommen. Nur gut, dass sie keinen weiten Weg vor sich hatten.

* * *

Das Stimmengewirr bei dem Stepptag drehte sich vor allem um Rachel und darum, dass sie ihre Trauerkleider abgelegt hatte. „Sie sieht herrlich gesund aus“, sagte eine Kusine ihrer Mutter.

„Ja, und sie muss auch an ihre Kleine denken“, bemerkte eine andere. „Wir wissen jetzt also, was dieses Kleid bedeutet.“

Rachel war betroffen, dass die Frauen so offen über ihre Situation sprachen. Später stellte sie fest, dass ihre Mutter ebenfalls aufgebracht war. Jedoch war Susanna eher verärgert, was ihren seit Wochen anhaltenden Missmut nur noch verstärkte.

Während der ganzen Zeit schnitten, nähten und stickten die Frauen. Sie wollten eine große Quiltdecke nähen, das Dahlienmuster. Sie saßen zu zwölft um den Rahmen. Rachel beschäftigte sich mit den Kindern in der Küche und trug damit ihren Teil zu dem Gemeinschaftswerk bei.

„Mama wird nicht wieder heiraten“, hörte sie Annie einem der anderen Kinder zuflüstern.

„Woher willst du das wissen?“, kam die vorwitzige Gegenfrage.

„Ich weiß es eben.“

Rachel hielt den Atem an und überlegte, was sie sagen oder tun könnte, um die Kinder von diesem Thema abzulenken. Aber gerade als sie eingreifen und die Mädchen auf etwas anderes zu sprechen bringen wollte, kam Lavina in die Küche.

„Alles bereit ... für unseren Ausflug morgen?“, fragte die ältere Frau.

Rachel nickte in die Richtung, aus der Lavinas Stimme kam. „Was meinst du? Fahren wir bei diesem vielen Schnee?“

„Wenn du lieber nicht fahren möchtest ... “

„Warten wir ab, wie morgen das Wetter ist. Ich habe gestern Nachmittag in dem Pflegeheim angerufen. Die Schwester sagte, Adele könne es kaum erwarten, dich zu sehen.“

„Und dich auch ... ganz bestimmt.“

Rachel lächelte und wünschte, sie könnte den Blick in den Augen der alten Frau sehen. „Du freust dich genauso auf sie wie ich, glaube ich.“ Sie beugte sich vor und sprach leiser weiter: „Ich habe Esther gefragt, ob sie etwas über die Sache wisse, von der du neulich sprachst.“

Lavina schwieg.

„Über die Probleme zwischen Seth Fischer und Gabriel.“ Sie fühlte sich nicht wohl dabei, die Namen zu nennen, während die Kinder um sie herum spielten.

„Sei lieber vorsichtig ... mit wem du sprichst“, warnte Lavina und war verschwunden.

Ihre Worte hallten lange in Rachels Ohren wider. Erst als die Stepperinnen in der Mitte des Vormittags eine Pause einlegten, wurde sie aus ihren Gedanken gerissen.

Das unablässige Gerede über verschiedene amische Witwer in Lancaster und Umgebung machte Rachel nervös. Nein, nicht nur nervös: Sie war richtig aufgebracht. Sie hatte kein Interesse daran, wieder zu heiraten. Und schon gar nicht einen älteren Mann irgendwo in einem anderen Gemeindebezirk.

* * *

Als nach dem Essen großzügige Portionen eines hellen Sahnekuchens und eines Schokoladenmokkastrudels serviert wurden, fiel Lavina die entschlossene Miene in Susanna Zooks rundem Gesicht auf. Mitten in der Küche begann Susanna, ein Geburtstagsständchen für Lea anzustimmen, und forderte alle auf mitzusingen.

Die überrumpelte Lea verschränkte die Arme vor ihrer üppigen Brust und versuchte, höflich zu bleiben. Sie schaute nicht unbedingt finster drein, so wie sie es bei manch anderen Gelegenheiten in der Vergangenheit schon getan hatte. Ihre Gesichtsfarbe nahm eher eine verlegene Röte an. Lea vermied es, ihrer älteren Schwester in die Augen zu schauen. Aber es war unübersehbar, dass das Geburtstagskind pikiert war. Auch wenn es das nicht allzu offen zeigte, um den anderen die Freude nicht zu verderben.

Schweigend beobachtete Lavina, wie sich diese Szene vor ihr abspielte. Sie rutschte hinter den langen Küchentisch und machte Rachel ausfindig. Hinter dem Sitzplatz der jungen Frau auf der Bank blieb sie schweigend stehen und lauschte dem Geplauder, mischte sich aber nicht in das Gespräch ein. Sie war in den Reihen der Alten Ordnung eine mit dem Bann belegte Frau. Bald wäre die sechswöchige vorläufige Bannzeit abgelaufen, und sie müsste sich entscheiden, ob sie vor dem betagten Ältesten Seth Fischer, den Predigern und den Gemeindemitgliedern niederknien und ihre Schuld bekennen würde oder nicht.

Als sie sich jetzt alles so durch den Kopf gehen ließ, wurde ihr bewusst, dass sie ihr „falsches Handeln“ nicht bereute. Die einzige Übertretung, die sie sich hatte zuschulden kommen lassen, war, dass sie mit Rachel und Annie die Beachy-Amisch-Gemeinde besuchte. Sie sah nicht ein, warum sie auf die Atmosphäre, die von Gebet geprägt und durchdrungen war, und auf die wöchentlichen Sonntagspredigten, die sie zutiefst ansprachen, verzichten sollte. Außerdem lernte sie viel Neues über Gottes Gnade, Liebe und Erlösung.

Wenn sie nicht Buße täte und vor den Ältesten niederkniete, müsste sie sich damit abfinden, dass sie mit dem Gemeindebann belegt würde. Wobei sie vermutete, dass die Amisch sie nicht so streng behandeln würden, wie der benachbarte Gemeindebezirk es vor einiger Zeit mit einer jungen Frau getan hatte. Die Gemeindemitglieder hier wären großzügiger und würden berücksichtigen, dass sie nicht übermäßig intelligent war. Trotzdem müsste sie mit der Schande leben, dass sie die einzige Person in ihrer gesamten Familie war, die mit dem Bann belegt worden war.

Die Gemeinschaft mit Rachel hatte in den letzten Wochen diesen Schmerz etwas gelindert. Rachel Yoder war ihr so lieb wie kaum jemand in der Gemeinde, abgesehen von ein paar älteren Verwandten und vielen, vielen Nichten und Neffen. Es war eigentlich auch keine große Überraschung, dass Rachel so nett war. Lavina hätte das wissen können, denn sie hatte im Laufe der Jahre schon mit manch einer Frau aus dem Hause Yoder und Zook Seite an Seite Bohnen geschält, Apfelsaft eingekocht und Getreide geerntet. Ja, sie hatte mit angesehen, wie Rachel von einem kleinen Mädchen mit einer sauberen, weißen, gestärkten Schürze und einer winzigen Kopfbedeckung zu einer strahlenden jungen Braut herangewachsen war, deren hellbraune Augen schon beim flüchtigsten Blick von Jakob Yoder leuchteten. Sie hatte nur nie eine Gelegenheit gehabt, Rachel so gut kennenzulernen, da der Altersunterschied zwischen beiden so groß war.

Jetzt, da Gabriels Geschichte sozusagen ans Licht gekommen war, konnte Lavina offen mit Rachel darüber sprechen. Morgen würden sie gemeinsam Adele Herr besuchen. Ihre erste Begegnung mit ihrer alten Freundin seit ungefähr vierzig Jahren.

Der Gedanke, nach so langer Zeit die Frau wiederzusehen, die Gabriel geliebt hatte, versetzte ihr ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Aber sie wollte Rachel nicht enttäuschen und sie auf jeden Fall nach Reading begleiten. Der Besuch würde sicher traurige Gefühle wecken, aber viel wichtiger war: Sie wusste, es wäre eine Gelegenheit, den Schmerz einer anderen Frau, die viel gelitten hatte, zu teilen.

Sie beugte sich vor und fragte Rachel: „Magst du noch ein Stück Strudel?“

Rachel nickte. „Aber warum versteckst du dich denn hinter der Bank?“

„Ich dachte, das sei kein schlechter Platz ... um aus dem Weg zu sein, weißt du.“

„Wegen des Gemeindebannes?“, fragte Rachel leise.

„Ja, wegen des Bannes.“

„Ich wünschte, so etwas gäbe es nicht“, murmelte Rachel. Sie schwieg einen Augenblick. Sie sah aus, als denke sie angestrengt über etwas nach. Dann fügte sie hinzu: „Wenn ich es mir recht überlege, hätte ich dieses Mal gern auch etwas Vanilleeis zu meinem Strudel. Aber nur, wenn es dir keine zu großen Umstände macht.“

Lavina nahm die Dessertschüssel der jüngeren Frau. „Das macht mir überhaupt nichts aus.“ Sie ging los, um Rachel diesen Gefallen zu tun. Sie hätte Benjamins und Susannas verwitweter Tochter wirklich gern noch mehr geholfen. Sie würde fast alles tun, um Rachel zu helfen, ihr Augenlicht wiederzuerlangen. Aber bis so etwas auch nur in den Bereich des Möglichen rücken würde, könnte sie wahrscheinlich nichts anderes tun, als der jungen Frau eine gute Freundin zu sein. Mit ihr nach Reading zu fahren und Adele zu besuchen, war bestimmt ein guter Anfang.

Lavina wusste, warum sie innerlich so mit sich gerungen hatte, als Rachel das erste Mal vorschlug, Adele zu besuchen. Es gab eigentlich nur einen einzigen Grund dafür. Sie hatte Adele Herr im Laufe der Jahre einige Karten und Briefe geschrieben. Es beschämte sie, dass sie keine gute Briefeschreiberin war, aber sie hätte die Frau von Herzen gern persönlich besucht. Immerhin hatte sie damals vorgeschlagen, dass sie sich regelmäßig besuchen würden. Damals, kurz nachdem sie und Adele Gabriel auf dem Friedhof, nur wenige Häuserblöcke vom Haus der Herrs entfernt, begraben hatten. Die Amisch bevorzugten persönliche Besuche, und diese Form des Kontakts war Lavina gewohnt. Aber Adele hatte in einem Brief geschrieben, dass ihr nicht wohl dabei wäre, nach Lancaster County zurückzukehren. Dafür hatte sie mehrere gute Gründe.

Noch etwas anderes beschäftigte Lavina, während sie beim Schokoladenmokkastrudel wartete, bis sie an die Reihe käme. Adele Herr war die Frau, die Gabriel, ihr Gabriel, geliebt hatte, die Frau, der er einen Heiratsantrag gemacht hatte und die er hatte heiraten wollen. Und nicht seine erste Freundin und Vertraute. Nicht das große und schlaksige amische Mädchen, das eine Klasse über ihm war. Aber trotz allem wusste Lavina, dass er sie auch geliebt hatte. Auf seine ihm eigene, wunderbar gute Art hatte er sie auch geliebt.

Als kleiner Junge hatte er ihr seine stille Zuneigung gezeigt, als sie noch miteinander in die Schule gingen. Vor sechzig Jahren. Sie hatte die Karten, die er für sie gemacht hatte, aufgehoben. Sie bewahrte sie in einer wertvollen, groben Holzkiste auf, die Gabriel Esh selbst angefertigt hatte. Als sie eines Winters an Grippe erkrankt gewesen war, und zu anderen Gelegenheiten, als sie an Windpocken und Keuchhusten litt, hatte sie sich sehr über seine kleinen Karten gefreut. Manchmal hatte er einen Reim geschrieben, andere Male hatte er sie einfach mit seiner kindlichen Handschrift unterschrieben und darüber Weizenfelder im Sommer, über die Ufer tretende Bäche im Frühling oder bunte Wälder im Herbst gezeichnet.

Gabriel war ihre einzige Hoffnung auf Liebe gewesen, und genau zu der Zeit, als sie dachte, er könnte sie tatsächlich zu einer Fahrt in seinem offenen Einspänner einladen, war das englische Mädchen aus Reading aufgetaucht und hatte die Stelle als Aushilfslehrerin in dem nahe gelegenen Schulhaus, in dem alle Kinder in einem Raum unterrichtet wurden, angetreten. Gabriel hatte plötzlich nur noch Augen für Adele gehabt. Das fand Lavina ungerecht.

In den ersten Tagen hatte Lavina versucht, um Gabriels willen „normal“ zu wirken. Was das genau war, wusste sie nicht. Sie konnte die Leute, die eine durchschnittliche oder höhere Intelligenz besaßen, beobachten und nachahmen. Sie erinnerte sich daran, dass sie daran gearbeitet hatte, ihre Aussprache zu verbessern. Sie hatte in den Teich gleich südlich von der Scheune ihres Vaters geschaut. An diesem Tag hatte nicht der leiseste Wind in den Weiden um den Teich geweht. Aus dem glänzenden Wasser hatten sie graublaue Augen angestarrt. Das schmale Gesicht war von einer weißen Haube auf weizenblonden Haaren umrahmt gewesen.

Sie hatte ihr Aussehen im Teich genau betrachtet, da ihre Mutter nichts davon hielt, dass man sich lange im Spiegel bewunderte. Während sie am Teich saß, hatte sie sich eine Frage nach der anderen gestellt und so getan, als wäre sie eine ihrer Klassenkameradinnen. Dann hatte sie versucht, sich die entsprechenden Antworten auszudenken. Nach dieser Erfahrung glaubte sie, ihre Übungen hätten sich bezahlt gemacht. Wenigstens in jenem Sommer. Denn Gabriel hatte sie gefragt, ob sie mit ihm fischen gehen wolle, und ob sie ihm helfen würde, Würmer als Köder zu suchen.

Sie hatte sich an jenem sonnigen Sommertag zwingen müssen, schnell eine Antwort über die Lippen zu bringen. „Ja, ich komme mit“, hatte sie gesagt, aus Angst, er könnte im nächsten Augenblick seine Meinung wieder ändern. „Wetten, dass ich die Würmer schneller ausgraben kann als du!“

Er hatte ihre Bemerkung als Herausforderung verstanden, wie es fast jeder Junge getan hätte. Und so hatten sie einen ganzen Nachmittag damit verbracht, nach Fischködern zu graben. Ihre Hände hatten knöcheltief im Schlamm gesteckt und einen glitschigen Wurm nach dem anderen herausgezogen. Natürlich hatte sich der ganze Schmutz gelohnt, denn immerhin hatte sie den Tag mit dem schönsten amischen Jungen auf Gottes weiter Erde verbracht!

* * *

Mit einem Stück Schokoladenstrudel und Vanilleeis auf dem Teller kehrte sie zu Rachel zurück. Lavina stellte die Nachspeise vor ihr ab. Wie dankbar konnte sie doch sein, dass sie dabei war, eine Frau besser kennenzulernen, die Gabriel nicht nur in ihrem Aussehen ähnelte, sondern auch in ihrem Temperament und in ihrem Verhalten. Es war fast zu schön, um wahr zu sein. Und bei den Gerüchten, dass Blue Johnny seine Zauberdoktorei und sein böses „schwarzes Kästchen“ auf jemand Jüngeren übertragen wolle, dachte sie ernsthaft über Familienbindungen, Sünden der Vorväter und Ähnliches nach. Über die Dinge, von denen Rachels Kusine Esther auf der Kassette an Rachel gesprochen hatte. Einige der Dinge, die Rachel Yoder inzwischen auch glaubte.

Sie berührte leicht Rachels Schulter. „Magst du einen Kaffee ... zu dieser zweiten Portion?“

Rachel lächelte sie dankbar an. „Danke, der Strudel reicht im Augenblick.“

Lavina, die immer noch vornübergebeugt war, flüsterte: „Leas Geburtstagsständchen hat mich auf eine Idee gebracht ... “

„Ja?“

„Ich erzähle es dir morgen ... auf der Fahrt zu Adele.“

„Ich werde dich daran erinnern“, lächelte Rachel und tastete nach ihrer Gabel. „Was ist mit dem Schnee? Schneit es immer noch so stark?“

Lavina drehte sich um und schaute aus dem Fenster. Der Schneefall hatte deutlich nachgelassen. „Es scheint, als lächle der Herr im Himmel auf uns herab, wenn wir morgen fahren wollen.“

„Er segnet jeden unserer Tage. Egal, ob es schneit oder nicht“, erwiderte Rachel mit einem Kopfnicken.

In diesem Augenblick kam Annie mit einem Bild zu ihnen, das sie von einem schneebedeckten Feld mit grauen Wolken am Himmel gezeichnet hatte, an dem drei Vögel flogen. „Schau“, sagte das kleine Mädchen. „Ich habe ein Winterbild gemalt. Es ist für Mama, wenn sie wieder sehen kann.“

Die Zeichnung erinnerte Lavina an Gabriels Kunstwerke aus der dritten Klasse. Neben seinen selbst gebastelten Karten hatte sie auch seine Zeichnungen aufgehoben und sie in der handgearbeiteten Kiste aufbewahrt, damit sie sie ihr Leben lang immer wieder anschauen konnte.

Rachel sagte zu ihrer Tochter: „Ja, male nur weiter schöne Bilder, Annie, mein Liebes. Denn eines Tages werde ich wieder sehen. Ich glaube ganz fest daran.“

Lavina konnte sich eines Lächelns nicht erwehren, als Annie ihrer Mama um den Hals fiel und sie umarmte. Sie spürte das bekannte traurige Ziehen in ihrer Brust wegen all der Kinder, die ihr nie geboren worden waren. „Komm jetzt, Annie“, sagte sie. „Hast du dir ein Stück von Tante Leas Schokoladenstrudel geholt?“

Annie grinste und zeigte dabei eine Zahnlücke. „Ja, ich habe mir sogar zwei Stücke geholt. Er schmeckt köstlich!“

Wie die Mutter, so die Tochter, dachte Lavina. Sie freute sich jetzt noch mehr darauf, jemandem Gabriels Zeichnungen zu zeigen. Zum Beispiel der Urgroßnichte des verstorbenen Mannes, Annie Yoder.

Und vielleicht auch Adele Herr ...

* * *

Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen. Er hatte alle Hände voll zu tun gehabt, seinen Text zu überarbeiten, Interviews vorzubereiten, durchzuführen und dann auszuarbeiten. Aber trotzdem saß Philip jetzt in seiner Wohnung und trug die vielen Informationen zusammen, die er in Pennsylvania in Erfahrung gebracht hatte. Jede Information stand in direktem Zusammenhang mit Gabriel Eshs faszinierender Geschichte, einem Mann, der von seinen eigenen Leuten abgelehnt und verraten worden war. Er hatte die Geschichte ins Rollen gebracht, als er ganz harmlos an einer widerspenstigen Schublade eines alten Schreibtisches in seinem Zimmer in dem amischen Gästehaus gerüttelt hatte.

Er lächelte bei der Unzahl von Notizen, die er niedergekritzelt hatte. Sogar auf eine Papierserviette aus dem Familienrestaurant in Bird-in-Hand hatte er Notizen gemacht. Er war in das Gebiet von Lancaster County gefahren, um für seine Zeitschrift Recherchen anzustellen, und war mit zahlreichen Ideen und Beobachtungen über den amischen Lebensstil nach New York zurückgekehrt. Diese unkomplizierte Amischgemeinschaft, in der Respekt für die Meinung und die Person des anderen an der Tagesordnung standen, in der von einem Menschen erwartet wurde, dass er gewissenhaft, höflich, großzügig und verantwortungsbewusst war. In der das ländliche Leben in seiner ganzen Fülle hautnah erlebt werden konnte. In der die Zeit stillzustehen schien.

Als er die Visitenkarte von Emmas Antiquitätenladen entdeckte, betrachtete er die Adresse und die Telefonnummer. Dabei fiel ihm auf, dass keine Faxnummer oder E-Mail-Adresse darauf zu finden war. Emma, eine junge Mennonitin, hatte ihm die Karte gegeben, als er sich in ihrem Geschäft umsah, weil er einen alten Schreibtisch mit Rolladen ähnlich dem Schreibtisch in der amischen Frühstückspension gesucht hatte. Emma hatte ihm erklärt, dass der Schreibtisch vermutlich ein Einzelstück war. Trotzdem hatte er gehofft, etwas Vergleichbares zu finden. Er hatte in mehreren New Yorker Antiquitätenläden und den entsprechenden Geschäften in der Columbus Avenue in der Nähe des Lincoln Center und in den angrenzenden Straßen gesucht. Später hatte er seine Suche in Vermont fortgesetzt, wohin er und seine Schwester und Nichte gefahren waren, um die Farbenpracht des Herbstes zu genießen. Aber er hatte nichts gefunden, das sich mit dem großartigen Möbelstück in seinem Gästezimmer in Benjamin und Susanna Zooks Frühstückspension vergleichen ließe.

Er spürte den Wunsch, zum Telefon zu greifen und den Antiquitätenladen in Bird-in-Hand anzurufen und sich zu erkundigen, ob Emma vielleicht in letzter Zeit andere Schreibtische geliefert bekommen habe.

Zu spät für dieses Jahr, befand er und entschied sich gegen einen solchen Anruf. Er erinnerte sich, dass Läden im Gebiet um Lancaster, besonders die Läden, die vor allem für Touristen gedacht waren, während der Wintermonate oft geschlossen waren.

Philip lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und faltete die Hände hinter dem Kopf. Seufzend schaute er sich in seinem Apartment um. Große, in Sonderanfertigung gebaute Schränke aus gekalkter Eiche zierten eine ganze Seite des Raumes. Regale mit handgemachten modernen Töpferarbeiten und schmiedeeisernen Kunstwerken, die er von anerkannten Künstlern erworben hatte, erinnerten ihn an seine vielen Reisen. Hinter ihm stach eine seidene Silhouette aus ovalen Blättern in hellgelben und grünen Tönen von der weißen Wand ab. Rechts neben ihm ließ eine Fensterfront das Tageslicht in den Raum strömen. Nachts spiegelten sich die Lichter von Tausenden von Fenstern darin. Normalerweise ließ er die Designerjalousien rund um die Uhr offen. Heute jedoch stand er nach einer Weile auf und zog an der Schnur, um die vielen Menschen, den Lärm und das Dröhnen der Stadt, das ihn umgab und das ihn zu ersticken drohte, auszusperren.

Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch und dachte an Lancaster County, wo die Bauern mit ihren Kühen sprachen und mit den Hühnern zu Bett gingen. Eine ganz andere Welt. Und, was eigentlich gar nicht so sehr überraschte, eine Welt, die er mehr vermisste, als er sich einzugestehen wagte.

Er starrte das Telefon an und überlegte, ob es zu spät wäre, um in Reading in Pennsylvania anzurufen. Er wollte wieder mit seiner guten Freundin Adele Herr sprechen.