Über das Buch:
19 Jahre ist es her, da stand Deborah Stoner am Galgen von Stoner’s Crossing. Sie sollte für den Mord an ihrem Gatten gehängt werden. Doch sie entkam dem Tod. Nun droht sich ihre Geschichte zu wiederholen. Aber diesmal scheint es, als verlöre Deborah nicht nur ihr Leben, sondern auch die Liebe ihrer Tochter Carolyn. Denn als uralte Geheimnisse erneut ans Tageslicht kommen, sieht sich Carolyn in einem Zwiespalt. Soll sie zu ihrer Mutter stehen oder muss sie sich eine neue Heimat suchen bei ihrem Großvater, den sie kaum kennt? Das Mädchen muss allen Mut zusammen-nehmen, um seine Schritte zu setzen.

Über die Autorin:
Mit großen Romanserien wie der Texas-Lady oder der Russland-Saga hat Judith Pella ihren Ruf als Meisterin des historischen Romans mit christlichem Hintergrund begründet. Sie lebt mit ihrer Familie in Oregon/USA.

6

Sam verlor keine Zeit, nach Danville zu kommen. Dennoch waren schon drei Tage seit Deborahs Verhaftung vergangen. Sky hatte die ganze erste Nacht und einen Teil des folgenden Tages gebraucht, um Sam zu finden, sodass sie vor Sonnenuntergang des nächsten Tages nicht einmal bis zur Ranch kamen. Dort hielten sie nur lange genug, um die Pferde zu wechseln, sich alles noch einmal ausführlich erzählen zu lassen und nach Griff zu sehen.

Ein Arzt kümmerte sich jetzt um McCulloch, der erst kurz vor Sam und Sky eingetroffen war. Er hatte keine gute Botschaft für sie. Der Patient hatte sehr viel Blut verloren, und alles sah nach einer zusätzlichen Entzündung aus. Das einzige gute Zeichen war, dass er einen glatten Durchschuss erhalten hatte, sodass keine Operation nötig war.

„Wir müssen abwarten“, sagte der Arzt.

Aber Sam war ungeduldig. Er kniete neben dem halb bewusstlosen Griff nieder und betete zu Gott um ein Wunder für ihn.

Dann verließen sie die Ranch – Sam, Carolyn und Sky. Ein weiterer langer, anstrengender Ritt lag vor ihnen. Sie trieben die Pferde bis an den Rand der Erschöpfung und unterbrachen den Ritt nur für wenige Stunden Schlaf, als Carolyn vor Müdigkeit fast aus dem Sattel fiel. Aber keiner von ihnen wollte Zeit verlieren, denn sie wussten nicht, wie lange Pollard Deborah im Gefängnis von Danville behalten würde.

Mit schmerzenden Knochen und tief besorgt erreichten sie an diesem Nachmittag das staubige texanische Städtchen.

Deborah war noch im Gefängnis von Danville. Sam schnürte es die Kehle zu und Tränen stiegen ihm in die Augen, als er sie so sah, aber er war stolz darauf, wie stark und ruhig sie aussah. Sie war kein hilfloses, verlorenes Wesen mehr, den Launen und der Gnade anderer ausgesetzt. Erst als Pollard Sam in die Zelle ließ und Deborah in seine Arme flog, zeigte sich etwas von ihrer Verletzlichkeit. Schließlich war sie auch nur ein Mensch, und ihre Lage war gefährlich und beängstigend. Er fuhr ihr mit einer Hand über das seidige Haar und flüsterte ihr beruhigende Worte ins Ohr. Ein paar Minuten später hatte sie sich wieder beruhigt.

„Nun, Sam“, sagte sie und ließ ihn sich neben sich auf die niedrige Liege setzen, die als Bett diente. „Mein Vater sagte immer, die Hühner kommen heim, um gebraten zu werden. Ich schätze, das hier ist so was Ähnliches.“

„Ich bin ganz sicher, Deborah, dass dir nichts geschehen wird. Ich werde es nicht zulassen.“

„Der Sheriff sagt, eine Verurteilung wegen Mordes verjährt nicht. Sie besteht heute noch genau wie damals.“

„Hör zu, Deborah, in Texas ist noch niemals eine Frau offiziell hingerichtet worden, und sie werden nicht mit dir den Anfang machen. Es ist mir gleich, was Caleb Stoner tut.“

„Er ist heute sogar noch mächtiger, als er es damals war.“

„Du auch, vergiss das nicht! Du hast Freunde, und du bist seinen Machenschaften nicht mehr schutzlos ausgeliefert. Nur so konnte er damals tun, was er getan hat. Du warst allein, er hatte alle Karten allein in der Hand. Heute ist das anders.“

Keiner von ihnen sprach davon, dass die Todesstrafe nicht die einzige Angst war, die über ihren Köpfen schwebte. Gefängnis konnte schlimmer sein als der Tod, besonders für eine Frau. Sie umklammerten sich, als ob sie die Angst auf diese Weise bannen könnten.

Einige Augenblicke später sagte Deborah: „Sam, etwas macht mir noch mehr Angst als all das. Es ist Carolyn. Ich habe nie gewollt, dass sie die Wahrheit auf diese Weise erfährt. Ich habe nie gewollt, dass sie die Wahrheit überhaupt erfährt, aber dass sie jetzt so plötzlich ... Ich hätte es ihr lange sagen sollen. Und Sky auch, aber er macht mir weniger Sorge als Carolyn.“

„Soll ich sie holen?“

„Ja, aber ich werde zuerst mit Sky reden. Ich glaube, es ist besser, wenn ich dann mit Carolyn allein bin.“

Sam nickte.

„Bevor wir weiterreden, Sam ... Wie geht es Griff?“

„Ein Arzt ist bei ihm, es sieht nicht gut aus. Aber du kennst Griff – er ist ein zäher alter Cowboy. Ich schätze, er hat noch ein paar Jährchen vor sich.“

„Ich hoffe es. Wenn du ihn wiedersiehst, sag ihm, ich bete für ihn. Vielleicht wird Gott ihm helfen.“

„Dafür bete ich auch, Deborah.“

Sie schwiegen einen Moment, um Gottes Ruhe und Frieden zu spüren, dann fuhr Sam fort. „Pollard sagt, morgen wird ein Texas Ranger kommen, um dich nach Stoner’s Crossing zu bringen. Er sagt, es sei ihm zu riskant, dich allein dorthin zu bringen.“

„Schätze, ich bin ein verflucht gefährlicher Kerl“, erwiderte sie mit schwachem Humor. Sam verzog kaum die Lippen.

„Er behandelt dich besser nicht wie irgendeinen Gesetzesbrecher.“

„Aber ich bin eine verurteilte Mörderin, Sam. Was sollen sie schon tun?“

„Ein Blick sollte ihnen genügen, um deine Unschuld zu sehen.“

Deborah seufzte. „Ich habe das Gefühl, das wird nicht genügen.“

Sam schwieg. Er wusste, dass all seine einfachen, zuversichtlichen Antworten hier schwer geprüft würden. Der Glaube würde letztlich siegen, aber sie konnten nicht einfach darauf bauen.

„Sollen sie doch gleich sämtliche Ranger von Texas anschleppen“, sagte Sam trotzig.

„Sam, ich weiß, du meinst es nicht ernst, aber ich fürchte, Pollard hat allen Grund zur Sorge. Ich zähle auf dich, Sam, sieh zu, dass Longjim und die Jungs ruhig bleiben. Ich habe es in Longjims Augen gesehen; er will mich nicht nur retten, er will auch Rache für Griff. Meine Sache muss vor Gericht geregelt werden. Ich will freigesprochen werden – für mich und für Carolyn.“

„Du hast recht, und ich werde ein Auge auf Longjim haben. Aber es ist mir gleich, was geschieht, ich werde nicht zulassen, dass man dich hängt oder einsperrt. Und wenn ich wieder zur Waffe greifen muss!“ Seine Stimme war fest, er meinte es ernst.

„O, lieber Sam!“ Weinend umarmte Deborah ihn und hielt ihn fest; sie liebte ihn so sehr. Auch sie brauchte ihn, nicht so sehr wegen seines Schutzes, sondern wegen seiner Seelenstärke und seiner tiefen Liebe für sie. Das tröstete sie mehr als jeder körperliche Mut.

Bevor Sam ging, gab er ihr eine Bibel, dieselbe einfache Ausgabe, die sie in Hardee Smiths Laden in Fort Dodge gefunden hatte. Sie war schon ziemlich abgegriffen.

Dann küsste Sam Deborah und schickte Sky in die Zelle.

7

Eine halbe Stunde später war Carolyn an der Reihe. Als das Mädchen vor der Zellentür wartete, während Pollard aufschloss, sah Deborah sie liebevoll an, als sähe sie sie zum ersten Mal. Ihr war vollkommen klar, dass Carolyn nach diesem Tag vielleicht nie mehr dieselbe sein würde, ebenso wenig wie ihre Beziehung zueinander.

Carolyn trug noch immer ihre Arbeitskleidung. Ein staubiger Hut mit breiter Krempe bedeckte ihr dunkles Haar, das streng zurückgebunden war. Ein ausgebleichtes Baumwollhemd, früher einmal rot, jetzt zu einem blassen Rosa ausgewaschen, trug sie über einem langen Hosenrock mit einem Flicken über dem linken Knie. Carolyn klagte oft, dass sie nicht die viel praktischeren Levis tragen konnte. Natürlich gab es keine so kleinen Größen, und von Frauen wurde sogar draußen auf den Ranches erwartet, dass sie diese dummen Röcke trugen. Deborah und Carolyn hatten sich darauf geeinigt, dass sie ihre Röcke in der Mitte teilten und zusammennähten, sodass eine Art weiter und bequemer Hosen daraus wurde.

Kein Zweifel, diese junge Frau war durch und durch ein Produkt des Westens, ein weibliches Wesen, das sich auf einer Ranch so gut wie irgendein Mann auskannte. Deborah fürchtete manchmal, sie könnte ihre Tochter eines Tages an einem Pokertisch vorfinden, mit einem Stumpen zwischen den Lippen. Deborah hatte Carolyn zur Unabhängigkeit erzogen, und sie war sicher in der Lage, für sich zu sorgen. Das war kein Land für die Schwachen und Hilflosen. Wenn die Männer das wollten – und Deborah zweifelte daran –, dann gab es anderswo genug schwache Frauen, aber sehr selten draußen in der Prärie. Deborah wollte, dass die Männer ihre Tochter achteten, nicht von oben herab betrachteten oder gar zu beherrschen suchten.

Aber jetzt hatte Carolyn nichts Trotziges an sich. Deborah nahm sie in die Arme. Sollte Carolyn ahnen, dass ihre sichere kleine Welt zusammenzubrechen drohte? Etwas in ihren verängstigten Augen schien über mehr erschreckt als nur darüber, ihre Mutter hinter Gittern zu sehen.

Sie setzten sich auf die Liege, und Deborah nahm Carolyns Hände in ihre, um ihre Tochter und sich selber zu beruhigen.

„Tut mir leid, dass du warten musstest“, sagte Deborah, die das erklären wollte. „Aber ich wollte dich allein sehen, und ich wollte, dass wir viel Zeit haben.“

„Schon gut, Ma ... aber was ist hier eigentlich los? Wirst du’s mir sagen?“ Carolyn konnte ein so gutes Englisch sprechen wie ihre Mutter, aber meistens zog sie das flapsige Englisch der Cowboys vor.

Deborah korrigierte sie nicht, wie sie es normalerweise tat. Es schien jetzt so unwichtig. Trotz ihrer groben Kleidung und ihrer männlichen Haltung war Carolyn ein sehr hübsches Mädchen, und Deborah war stolz auf sie. Nein, das Stonerblut in ihr war unübersehbar. Ihr Wuchs – sie überragte Deborah bereits um mehrere Zentimeter – und ihre drahtige Erscheinung, die sich im Lauf der Jahre schon etwas gerundet und an Weichheit und Fraulichkeit gewonnen hatte. Auch ihr dunkles Haar erinnerte an den Vater. Das helle Haar, das sie als kleines Kind gehabt hatte und das im Cheyennelager so oft Gefahr bedeutet hatte, weil man sie für eine Gefangene hielt, war völlig verschwunden. Ihre Augen, obgleich braun wie die ihres Vaters, hatten die Form und den Ausdruck von Deborahs Augen. Je nach ihrer Stimmung konnten sie warm wie ein Sommertag sein oder eisig wie ein Nordwind im Winter. Sie waren ein Spiegel ihres geheimnisvollen Inneren.

Deborah und ihre Tochter gerieten vielleicht öfter aneinander, als es Deborah lieb war, aber in Wahrheit fand Deborah an ihrer Tochter in allem, worauf es wirklich ankam, nur wenig auszusetzen. Wenn sie launisch und fordernd war und manchmal selbstbezogen, war sie doch ebenso auch einfühlsam, großzügig und hilfsbereit. Griff hatte oft gesagt, sie sei ein sturer Dickkopf, aber sie war ein guter Mensch. Alle Ängste Deborahs, als Carolyn geboren wurde, hatten sich als grundlos erwiesen. Das Blut allein genügte nicht, um ihr die gewaltsamen, niederträchtigen und harten Züge ihres Vaters einzuprägen. Nur der Hochmut der Stoners schien in ihr manchmal durch, aber der wurde gemildert durch ihren Glauben an Gott.

Deborah zwang sich, an die noch immer unbeantwortete Frage zu denken, die zwischen ihnen im Raum stand. Sie konnte ihr nicht länger ausweichen.

„Ja, Carolyn“, sagte sie langsam und bestimmt, „es ist Zeit, dass du erfährst, was eigentlich los ist. Ich hätte es dir schon lange sagen sollen, und jetzt tut es mir leid, dass ich es nicht getan habe. Aber du musst mir glauben, ich habe geschwiegen, um dich und mich zu schonen. Diese Dinge sind sehr schmerzhaft, und ich dachte, du würdest dich vielleicht selbst weniger achten – und mich. Jetzt scheint mir das falsch. Ich glaube, es war einfach alles zu schrecklich, um es einem Kind zu erklären –“

„Ich bin kein Kind mehr, Ma.“

Deborah seufzte schwer. „Nein, du bist kein Kind mehr. Wirst du mich bis zu Ende anhören, bevor du irgendetwas sagst? Wirst du versuchen zu verstehen, dass ich dir die Wahrheit nicht gesagt habe, weil ich dich liebe?“

„Ich werde es versuchen“, antwortete Carolyn mit der gleichen Bestimmtheit, mit der ihre Mutter jetzt sprach.

Deborah erzählte die tragische Geschichte ihrer unglücklichen Ehe und ließ nur schlimmste Einzelheiten aus. Sie erzählte von Leonhards Tod und von Calebs Entschlossenheit, Deborah für das Verbrechen bestraft zu sehen. Als sie eine Viertelstunde später fertig war, erfüllte eine schreckliche Stille die Zelle. Deborah versuchte, in den ausdrucksvollen Augen ihrer Tochter zu lesen, aber sie waren überschattet, mit Absicht verschlossen. Sie wollte etwas sagen, etwas, das alles leichter machte, aber die tröstenden Worte einer Mutter für ein kleines Mädchen, das sich die Knie aufgeschürft hatte oder sich traurig fühlte, konnten jetzt nichts mehr helfen. Mit aller Wucht hatte Carolyn erfahren müssen, dass ihr Vater ein gefühlloses Ungeheuer gewesen war und dass ihre Mutter angeklagt war, ihn getötet zu haben. Es gab keine einfachen Worte, die solche Wunden heilen konnten.

So sehr sie auch um irgendeine Antwort flehen wollte, um ein Zeichen des Verständnisses von ihrer Tochter – sie schwieg und hielt ihre Tochter nur fest im Arm, umgeben von einer undurchdringlichen Stille. Deborah fühlte die Tränen des Mädchens, und Carolyn weinte nicht oft. Ihr wurde klar, wie tief ihre Tochter getroffen sein musste. Aber dennoch schwiegen sie beide.

Fünf Minuten vergingen, bevor Carolyn sich aus der Umarmung ihrer Mutter befreite. Verlegen wischte sie sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen.

„Was nun, Ma?“, fragte sie mit einer Stimme, die fest klingen sollte.

„Ich hoffe, wir finden einen Weg“, war alles, was Deborah sagen konnte. Sie hatte eine solche unbestimmte, unpersönliche Frage nicht erwartet.

„Aber du bist im Gefängnis, und dieser Pollard wird alles tun, damit das Urteil vollstreckt wird.“

„Das macht mir jetzt keine Sorge, Carolyn. Ich bin in Gottes Händen.“ Deborah verstummte und schaute ihre Tochter an. „Du bist es, die mir Sorge bereitet.“

„Schätze, ich bin auch in Gottes Händen.“ Carolyn war gefasst – zu gefasst.

„Carolyn!“ Plötzlich enttäuscht, konnte Deborah nicht an sich halten. Sie wollte Carolyn Zeit geben, aber sie fürchtete auch, das Mädchen würde alles in sich einschließen. „Willst du mir nicht sagen, wie du dich bei alldem fühlst?“

„Fühlen ...?“ Carolyn sprach das Wort aus, als ob es ihr zum ersten Mal begegnete. „Das ist doch nicht wichtig. Wichtig ist, dass du hier herauskommst.“

Deborah schüttelte traurig den Kopf und sagte ruhig: „Nicht für mich, für mich ist das nicht das Wichtigste.“

„Na ja ... ich ...“ Carolyn zögerte, versuchte es noch einmal. „Ich rede später mit dir, Ma ... ich ... ich gehe jetzt besser und sehe ... nach Sky. Es muss auch für ihn schwer sein.“

Ohne ein weiteres Wort an ihre Mutter rief Carolyn nach Pollard, der ihr die Zellentür aufschloss. Ihre Augen glühten, und ihre Lippen zitterten.

Deborah sah ihr traurig, bedauernd nach und fragte sich, wie sie es ihrer Tochter hätte leichter machen können. Jetzt trennte sie mehr als die Gitterstäbe einer Gefängniszelle.

Teil III

Leonhards Tochter

8

Eine Stunde vor Sonnenaufgang erwachte Carolyn, und unfähig, stillzuliegen, verließ sie ihr Bett in der Pension in Danville, wo sie, Sam und Sky untergekommen waren. Sie zog sich rasch und geräuschlos an, schlich sich aus ihrem Zimmer wie ein Dieb und schlug die Richtung zum Stall ein, in dem ihre Pferde standen. Niemand war um diese Zeit schon auf den Beinen, aber Carolyn brauchte auch keine Hilfe, um ihren Schimmel Patch zu satteln, ein Fohlen des wunderbaren Grauen von Gebrochener Flügel. Sie ritt nach Nordwesten, weit weg von allen Zeichen der Zivilisation.

Carolyn liebte das einsame, spärliche Grasland, die zerzausten Büsche und die tiefen Schluchten, die die trockenen Hochebenen zerfurchten. Diese Weite konnte dem Unerfahrenen gefährlich werden, aber Carolyn betrachtete sich nicht als unerfahren. Sie konnte so gut reiten und schießen wie die Männer der Ranch – vielleicht einen oder zwei ausgenommen. Sie dachte, niemand könnte je so gut darin sein wie Griff und Longjim, und über Sam hatte sie auch viel erzählen hören, obwohl er sein Talent nie gezeigt hatte. Jedenfalls mangelte es Carolyn nicht an Vertrauen in ihre Fähigkeiten; sie war immer die Erste, die sich einer Herausforderung stellte, die das Abenteuer suchte, die ihre Kräfte messen wollte. Vielleicht fühlte sie tief in ihrem Inneren, dass sie etwas zu beweisen hatte, nicht nur, weil sie kein Mann war, sondern aus Gründen, die ihr selbst kaum bewusst waren. Konnte es sein, dass ihre trotzige Selbstsicherheit nur eine tiefere Unsicherheit verbarg, irgendwie doch unterlegen zu sein, eine düstere Herkunft zu haben, die ihre Position schwächte und sie manchmal mit nagender Angst erfüllte? All die Andeutungen, all die unverständlichen Kommentare über die Vergangenheit, hatten sie sie doch im Innersten verunsichert?

Und jetzt war der Schleier gelüftet worden. Die Gründe für die ewige Geheimniskrämerei waren zutage gefördert, und ihre schlimmsten Ängste hatten sich als begründet erwiesen.

Sie dachte an ihre Kindheit zurück, an ihre Anstrengung, eine Phantasiewelt um ihren toten Vater herum aufzubauen, den kaum je jemand erwähnte. Sie wollte, dass er so gut war wie Skys Vater. Die Geschichten über Gebrochener Flügel, den großen Cheyennekrieger, waren nie abgerissen. Einmal hatte er ganz allein ein Camp der Pawnee überfallen und fünfzehn Kriegsponies erbeutet. Ein andermal hatten er und Sam einen gefährlichen Whiskyhändler aus dem Cheyennelager vertrieben. Einmal hatte er an einem einzigen Tag zwei riesige Büffel erlegt und einen davon an eine Familie in Not verschenkt.

Carolyn liebte ihren Bruder, aber sie beneidete ihn, und ihre Erinnerung an seinen Vater war klarer als die seine. Gebrochener Flügel war Skys Vater, ganz gleich, wie oft alle sagten, er hätte sie als seine wahre Tochter angenommen. Und nie zögerte jemand, von ihm zu erzählen.

Aber das Leben ihres eigenen Vaters war immer mit ein paar wenigen Sätzen zusammengefasst worden. Wir waren nur kurz verheiratet. Ich kannte ihn kaum. Er war ein Rancher, ein guter Mann. Er kam im Krieg ums Leben. Selbst als Kind hatte sie hinter den wenigen Worten mehr erahnen können. Das Zögern, wenn ihre Mutter sagte „ein ... guter Mann“, mochte kaum merklich sein, aber es war deutlich, dass sie es ohne Überzeugung sagte. Unbewusst hatte Carolyn immer vermieden, der vagen Unruhe nachzuspüren, die sie jedes Mal empfand, wenn von ihrem Vater die Rede war. Irgendwie hatte sie immer gefürchtet, dass die Wahrheit schrecklich sein könnte. Und jetzt lag es offen zutage.

Ihr Vater war ein Ungeheuer.

Ihre Mutter war eine verurteilte Mörderin.

Ja, sowohl ihre Mutter wie Sam beteuerten, sie sei unschuldig, aber als ihre Mutter vom Tag des Verbrechens erzählt hatte, war ihre Stimme unsicher geworden. Sie sagte, alles sei ein einziger Alptraum gewesen, und sie hätte nicht immer unterscheiden können, was Traum und was schreckliche Wirklichkeit war.

„Aber ich hätte ihn niemals töten können. Ich habe ihn nicht getötet!“, hatte Deborah gesagt. „Ich sah jemanden ... jedenfalls einen Schatten oder irgendetwas ... am Fenster; ich dachte daran, ihn zu töten; wochenlang dachte ich jeden Tag daran, ihn zu töten. Ich glaubte, wahnsinnig zu werden. Und vielleicht ... war ich es eine Weile.“

Kein Wunder, dass sie verurteilt worden war, mit einer Aussage wie dieser, dachte Carolyn. Selbst sie, Deborahs eigene Tochter, wusste nicht, was sie glauben sollte.

Aber was, wenn sie ihn tatsächlich erschossen hatte? Hatte er es nicht verdient? Niemand hatte das Recht, einen Menschen so zu behandeln, wie er ihre Mutter behandelt hatte. Und Carolyn machte sich keine Illusionen; ihre Mutter hatte ihr nur eine stark gemilderte Schilderung ihrer Ehe gegeben. Er hatte sie schlimmer als ein Tier behandelt.

Aber er war Carolyns Vater!

Wie konnte sie solche Dinge über ihren eigenen Vater glauben? Sie dachte an all die kleinen Phantasien, die sie um ihn herum gesponnen hatte, der strahlende Kriegsheld. Er kam in ihrer Einbildungskraft selbst an Gebrochener Flügel heran. Sie hatte ihn sich vorgestellt als den geliebten Kommandanten, der seine Soldaten in die Schlacht führt und ums Leben kam, als er versuchte, seine Kameraden zu retten, betrauert nach seinem Tod von unzähligen Menschen und öffentlich für seine Tapferkeit gelobt. Als Carolyn dann älter wurde und ihre Persönlichkeit vielschichtiger, stellte sie sich manchmal vor, ihr Vater sei in Wahrheit gar nicht tot, sondern eines Verbrechens beschuldigt, an dem er unschuldig war – ähnlich wie Robin Hood –, und er sei um der Sicherheit seiner Familie willen geflohen. Aber eines Tages würde er zurückkehren, um seine Tochter zu holen, die er natürlich niemals vergessen und immer geliebt hatte. Kein Wunder, dass sie nie in ihre Mutter gedrungen war, ihr mehr von ihrem Vater zu erzählen. Die Wahrheit könnte es nie mit ihren Phantasien aufnehmen. Ihre Vorstellungen von einem Vater, der Robin Hood ähnelte, endeten, als ihre Mutter Sam Killion heiratete; selbst eine naive Dreizehnjährige wusste genau, dass ihre Mutter nicht wieder heiraten würde, wenn ihr früherer Mann noch lebte. Natürlich hatte Carolyn nie Gebrochener Flügel in ihre Rechnung einbezogen. Ohnehin hörte sie mit vierzehn Jahren auf zu phantasieren und wollte ihren Vater einfach nur noch vergessen.

Jetzt wünschte sie, sie könnte sich noch einmal in die Sicherheit ihrer früheren Traumwelt flüchten.

Aber es war andererseits nie Carolyns Art gewesen, einer Herausforderung auszuweichen, außer in diesem einen Fall, der ihren Vater betraf, und es war höchste Zeit, dass sie sich auch dieser Herausforderung offen stellte. Sie konnte nicht länger leugnen, dass sie nicht mehr weglaufen konnte. Sie konnte nicht die Augen davor verschließen, dass ihre Mutter im Gefängnis saß, mit dem Strick drohend über ihrem Kopf.

Nur eins musste sie jetzt entscheiden: was sie selber in diesem Moment tun konnte.

Am dringendsten war, die Unschuld ihrer Mutter zu beweisen und sie aus dem Gefängnis herauszubringen ...

Plötzlich wurde Carolyn klar, dass es da doch noch etwas Wichtigeres gab als die Freilassung ihrer Mutter, etwas, um das sie sich zuallererst kümmern musste. Ihre Mutter hatte im Gefängnis darauf angespielt, aber Carolyn hatte es einfach ignoriert und ihre Mutter damit wahrscheinlich sehr verletzt. Carolyn musste sich darüber klar werden, was sie fühlte, und dann musste sie sich bei ihrer Mutter entschuldigen.

Was fühlte sie?

War sie wütend auf ihre Mutter, weil sie ihr nie etwas gesagt hatte? Sie wollte wütend sein, und im ersten Moment, als sie aus dem Gefängnis stürzte, war sie es auch ... ein wenig. Aber sie war selbst beinahe eine erwachsene Frau, und sie begann den Wunsch einer Mutter zu verstehen, ihre Kinder zu schützen. Mehr als das kannte Carolyn ihre Mutter gut genug, um zu wissen, dass sie nicht grausam oder selbstsüchtig war. Nie würde sie Carolyn mit Absicht verletzen. Und Carolyn musste ihrer Mutter sagen, dass sie das wusste, bevor sie irgendetwas anderes tat.

Und ihr Vater? Hasste sie ihn? Sie kannte ihn nicht einmal, aber er hatte ihre Mutter verletzt, die sie liebte. Sollte sie ihn dafür nicht hassen? Aber vielleicht hätte er Carolyn geliebt und sie wie ein richtiger Vater behandelt. Vielleicht ...

Vielleicht mache ich mir nur wieder etwas vor, dachte sie unwillig. Aber wie soll ich einen Mann hassen, den ich gar nicht kannte, den ich seit achtzehn Jahren zu schützen und zu lieben versuche?

Es war leichter, an das zu denken, was sie tun musste, als an das, was sie fühlen sollte. Aber was sollte sie denn tun? Was sollte sie jetzt bloß tun? Ihre Mutter freibekommen, natürlich, aber was dann?

War es so wichtig? Warum sollte sie überhaupt etwas tun? Warum sollte das Leben nicht weitergehen, wie es immer gewesen war? Sie musste zugeben, dass sie ein gutes Leben hatte, eins, das sie nicht aufgeben wollte. Die meiste Zeit war sie glücklich und zufrieden. Manchmal, besonders wenn ihre Ängste sie plagten, konnte sie launisch und reizbar sein. Dennoch liebte sie das Leben auf der Ranch. Sie liebte ihren Bruder, der ihr bester und vielleicht einziger wirklicher Freund ungefähr in ihrem Alter war. Sie genossen es, zusammen auszureiten, um die Wette zu reiten, zusammen zu arbeiten. Und sie liebte Griff, der ihr beigebracht hatte, wie man in dem harten und manchmal unberechenbaren Land überlebte, das ihre Heimat war. Die anderen Arbeiter auf der Ranch akzeptierten sie und begegneten ihr mit Respekt wie einem Gleichgestellten. Sie liebte Sam aufrichtig, ihren Stiefvater. Er hatte ihr die geistliche Seite des Lebens erschlossen und sie zu ihrem eigenen Glauben an Gott geleitet und hatte ihr damit ein Ziel im Leben gegeben, das über den dunklen, nebelverhangenen Abgrund ihrer Vergangenheit hinausreichte.

Auch ihre Mutter liebte sie, obwohl ihr klar war, dass sie es nicht immer zeigte, wie eine Tochter es tun sollte. Die Lügen über die Vergangenheit hatten ihre Beziehung beeinträchtigt, aber sie hatten sie nicht beherrscht. Mutter und Tochter hatten ihre guten Zeiten zusammen, wenn sie auch beide ihren eigenen starken Willen hatten und nicht selten aneinandergerieten. Aber das war kein Grund für Carolyn, alles zu zerstören –

Aber blieb ihr eine Wahl? War nicht schon alles zerstört? Wie konnte irgendetwas je wieder so sein wie früher? Wie konnte sie je wieder dieselbe Person sein? Wer auch immer Leonhard Stoner gewesen war, was auch immer er getan hatte, eins stand fest – er hatte einen unauslöschlichen Einfluss auf Carolyns Existenz. Und nach dem, was ihre Mutter erzählte, hatte sie auch einen Großvater irgendwo dort draußen. Aus der Sicht ihrer Mutter war er nicht gerade ein guter Mensch, aber sollte Carolyn ihn einfach aus ihrem Gedächtnis streichen? Konnte sie das überhaupt? Was bedeutete er ihr? Hasste er nicht ihre Mutter, wünschte er nicht ihren Tod? Carolyn zweifelte nicht, wem ihre Loyalität gehörte. Dennoch war er ... ihr Großvater.

Carolyn zügelte Patch. Die Sonne war aufgegangen, ihre warmen Strahlen trafen sie. Alles war still, als ob sie und ihr Pferd die einzigen lebendigen Wesen im Umkreis vieler Meilen waren. Vielleicht waren sie es ja auch. Aber der innere Aufruhr in Carolyns Gefühlen passte nicht zum äußerlichen Frieden der Landschaft.

Was würde nun geschehen?

Was sollte sie tun?

„Ich weiß es nicht ... ich weiß es einfach nicht.“

Sie beugte sich vor und strich über Patchs schwarze Mähne. Seine Nähe tröstete sie irgendwie.

„Mein Gott, was soll ich tun? Ich will meine Mutter nicht verletzen ... Ich will gar niemanden verletzen. Ich will nicht, dass sich mein Leben ändert, aber es wird sich ändern. Zeig mir den Weg, Gott, zeig mir den Weg!“

9

Als Carolyn am hellen Vormittag zurück in die Stadt ritt, war sie nicht in der Stimmung, irgendjemanden zu sehen. Sie wollte mit Sky sprechen, aber noch nicht gleich. Zuerst einmal wollte sie allein sein.

Aber ihr Wunsch sollte sich nicht erfüllen. Eine kleine Menschenmenge hatte sich vor der Pension versammelt, wo sie wohnten. Rufe und Schreie waren zu hören.

„Pass auf, Kleiner!“

„Hast du ihn, Billy?“

„Nimm das, Halbblut!“

Der Sheriff – nicht Pollard, sondern der richtige, der nach einer Woche gerade in die Stadt zurückgekehrt war – vertrieb die Menge rasch mit drohenden Rufen. Als die Gaffer sich zerstreut hatten, sah Carolyn zwei Gestalten, die miteinander kämpften. Eine war ihr Bruder, die andere war Billy Yates.

Wann immer Billy in Skys Nähe kam, fand er irgendeinen Vorwand zum Streit. Billy war drei Jahre älter als Sky, und in der Vergangenheit hatte er wegen seiner Größe immer einen Vorteil gegenüber Sky gehabt. Aber mit sechzehn überragte Sky seinen Gegner schon um einige Zentimeter. Billy war noch immer schwerer als Sky, aber jahrelange Farmarbeit hatte Sky muskulös gemacht. Er war weit stärker und ausdauernder, als es seinem Alter entsprach. Das hier war das erste Mal seit ein paar Jahren, dass die beiden miteinander kämpften, und Carolyn sah mit Stolz, wie ihr Bruder dem bulligen Gegner schwer zusetzte.

Den Sheriff beeindruckte das dagegen nicht im Geringsten. Es war schwer genug, in dieser wilden Gegend Frieden zu halten, mit all den Gaunern, die hier durchkamen. Er wollte seine Zeit nicht mit streitenden Halbwüchsigen vergeuden. Es war nicht einfach, die beiden Jugendlichen zu trennen, aber schließlich bekam er Billy zu fassen, schüttelte ihn unsanft und zog ihn vom Boden hoch.

„Kannst du den armen Indianerjungen nicht einfach zufrieden lassen?“, fragte der Sheriff.

„Ich mag sein Aussehen nicht, und ich will nicht dieselbe Luft atmen wie er“, zischte Yates. Er war neunzehn, aber störrisch wie ein Kind.

Sky, der ebenfalls aufgestanden war, wollte sich wieder auf Billy stürzen. Der Sheriff stieß ihn zurück zu Boden, wo Sky angespannt sitzen blieb.

„Okay, Billy“, sagte der Sheriff, „du verziehst dich jetzt, wenn du nicht in die Stadt kommen kannst, ohne Ärger zu machen, denn sonst werde ich dir ganz verbieten, hierher zu kommen, hast du das verstanden?“

Billy zuckte die Achseln, als ob ihn das überhaupt nicht beeindruckte. Aber er gehorchte und zog sich zurück, nicht ohne Sky eine letzte Beleidigung entgegenzuschleudern.

Der Sheriff half Sky auf die Füße. „Gut, Junge“, sagte er in strengem, aber nicht unfreundlichem Ton, „du bist fast so schlimm wie dieser Yates. Du kannst wohl nicht in die Stadt kommen, ohne in Schwierigkeiten zu geraten?“

„Ich habe nicht angefangen“, protestierte Sky.

„Du bist nicht der erste Indianer, der das behauptet, aber es spielt auch keine Rolle. Ärger bleibt Ärger, und du lernst besser bald, deinen Hitzkopf im Zaum zu halten.“

Carolyn war inzwischen herangekommen und hörte zu. Sie konnte nicht still bleiben. „Mein Bruder hat keinen Hitzkopf, Sheriff!“, fuhr sie ihn wütend an. „Aber ein Mann muss sich gegen Abschaum wie den da zur Wehr setzen –“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung dem abziehenden Billy Yates nach. „Besonders, wenn das Gesetz ihn nicht schützt!“

„Nun sieh sich einer dieses Mädchen an!“, rief der Sheriff, jetzt ohne jede Freundlichkeit in der Stimme. „Ich glaube, eure Familie hat schon genug Ärger, auch ohne dass ihr neuen anfangt. Und jetzt, ihr beiden, verschwindet, bevor ich euch zu eurer Ma ins Gefängnis stecke!“

Carolyn trat einen drohenden Schritt auf den Sheriff zu, aber Sky legte ihr eine Hand auf die Schulter und hielt sie zurück. „Komm, gehen wir“, sagte er bestimmt. Er musste sie ein- oder zweimal zwicken, bevor sie sich bewegte.

„Irgendwer sollte diesen Billy Yates abknallen!“, sagte sie aufgebracht, als sie schon ein gutes Stück gegangen waren.

„Vielleicht wird’s eines Tages jemand tun“, erwiderte Sky, „aber ich werde es nicht sein.“

„Ganz egal, was Sam sagt, ein freundliches Wort ist nicht immer genug, Sky.“

„Ich glaube, was Sam uns sagt, ist richtig, aber nicht jeder ist berufen oder in der Lage, wie er zu leben. Das ist nicht der Grund, warum ich Ärger vermeiden will. Ich fürchte, wenn ich einmal anfange, mich wirklich mit Leuten wie Billy zu schlagen, kann ich nicht mehr aufhören.“ Er schwieg und schüttelte den Kopf, noch immer angespannt, die Hände noch immer zu Fäusten geballt. „Aber wenn sie schlecht von meinem Vater reden, dann könnte ich töten!“

„Na ja, wenn dich das tröstet, Sky, wenigstens ist das, was sie über deinen Vater sagen, nicht wahr.“ Die Bitterkeit, mit der sie das gesagt hatte, tat ihr sofort leid.

„Es tut mir leid“, erwiderte Sky mitfühlend, „ich habe einen Moment lang nicht daran gedacht.“

Ganz gleich, wie wütend Carolyn manchmal auf die ganze Welt war, für ihren Bruder und besten Freund hatte sie immer einen zärtlich gehüteten Platz im Herzen.

Mit sanfterer Stimme antwortete sie: „Ist schon gut, Sky, ich wünschte, wir alle könnten all das einfach vergessen.“

„Dazu ist es zu spät. Solange Ma in Gefahr ist, müssen wir alles tun, um ihr zu helfen.“

„Ich weiß, aber das könnte bedeuten, dass wir noch tiefer in der Vergangenheit graben müssen. Wer weiß, was noch alles zutage kommt.“

„Genug, um die Unschuld unserer Mutter zu beweisen!“, erklärte Sky bestimmt.

„Ich glaube ...“

Skys Augenbrauen hoben sich, und er sah seine Schwester mit einem seltsam harten Blick an. „Du klingst, als ob du Ma nicht glaubst.“

„Ich glaube ihr, aber ... Sky, so wie du Angst hast zu kämpfen, weil du nicht mehr aufhören kannst, so habe ich Angst, noch mehr zu erfahren, das ist alles. Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch mehr wissen will.“

„Das über deinen Vater zu erfahren, das ist hart, Lynnie, aber wie ich dich kenne, bist du viel zu dickköpfig, um nicht alles herauszufinden.“

Sie versuchte zu lächeln und nickte zustimmend. „Wahrscheinlich hast du recht, ich werd’s ausbuddeln. Konnte noch nie etwas liegen lassen.“

Sie trennten sich am Stall, wo Carolyn ihr Pferd ließ. Sky kehrte in die Pension zurück, um etwas aufzuräumen, bevor er zu seiner Mutter ging. Als Carolyn ihn weggehen sah, spürte sie den intensiven Wunsch, er zu sein, trotz des Schmerzes, den sein Mischlingsblut ihm manchmal bereitete. Er hatte ein Erbe und eine Vergangenheit, auf die er stolz sein konnte, ganz gleich, wie sehr Leute wie Billy Yates versuchten, alles zu beschmutzen.

Aber sie konnte nichts daran ändern, wer sie war und wer ihre Eltern waren. Sie musste es annehmen und weiterleben. Niemandem, besonders ihrer Mutter nicht, wäre geholfen, wenn sie voller Selbstmitleid durch die Gegend liefe und jedem das Leben schwer machte. Vielleicht standen ihr noch einige schmerzvolle Wahrheiten aus der Vergangenheit ihrer Eltern bevor; vielleicht hatte ihre Mutter ihren Vater wirklich getötet; vielleicht würde sie auf ihren Großvater und seinen Hass treffen.

Was immer geschehen würde, sie musste die Dinge nehmen, wie sie kamen, etwas mehr Gott vertrauen und stark sein. Nur so konnte sie von Nutzen für andere sein.

10

Als ihre Mutter nach Stoner’s Crossing gebracht werden sollte, bestand Carolyn darauf, sie zu begleiten. Deborah flehte sie fast an, daheim zu bleiben, und Carolyn hörte eine Verzweiflung in ihrer Stimme, die von etwas anderem als von den Gefahren der Reise herrühren musste. Aber Carolyn blieb stur. Sam nahm sie schließlich beiseite und sagte ihr, sie sollte sich einmal überlegen, wie viel schwerer sie es ihrer Mutter nur zusätzlich machte. Schließlich gab Carolyn widerwillig nach.

Ein anderer Grund kam hinzu. Wenn Sky sich um die Arbeit auf der Ranch kümmerte, sollte außer Yolanda, die so schon überlastet war, noch jemand von der Familie da sein, um sich um Griff zu kümmern. Für Griff hätte Carolyn alles getan, und so gab sie schließlich nach und blieb. Aber sie schwor sich, wenn bis dahin nicht alles geklärt war, nach Süden zu reiten, sobald Griff wieder gesund war.

Die ersten Wochen, nachdem Sam und Deborah verschwunden waren, waren furchtbar einsam für Carolyn. Sky und Longjim und fast alle anderen Arbeiter der Ranch hatten mit den Frühjahrsviehtrieben zu tun. Yolanda war da, aber alle ihre Unterhaltungen drehten sich um Heim und Herd, und Carolyn langweilte das schrecklich. Sie wollte draußen mit den Männern arbeiten, reiten, die Landschaft in sich aufnehmen, die sie so liebte. Sie wollte zwar auch bei Griff bleiben. Sie liebte ihn, und solange er sie brauchte, würde sie ihn nicht allein lassen. Aber dennoch blickte sie sehnsüchtig aus dem Fenster und ging manchmal unruhig auf und ab.

Und Griff war nicht in der Verfassung, sie zu unterhalten und ihr die Langeweile zu vertreiben. Sein Zustand blieb kritisch. Der Doktor, der regelmäßig alle vierzehn Tage kam, war erstaunt, dass er überhaupt noch lebte, besonders nach der schlimmen Infektion, die alles noch kompliziert hatte. Griff lag die ganze Zeit entweder im Koma oder er redete irre im Fieber, und Carolyn hatte schreckliche Angst um ihn. Ein Cowboy, der einmal hereinschaute, sagte ihr, er habe noch nie von jemanden gehört, der einen Bauchschuss überlebt hätte. Carolyn sagte sich, dass Griff keinen wirklichen Bauchschuss abbekommen hatte, dass die Kugel weiter seitwärts eingedrungen war. Aber das beruhigte sie nicht.

Griff sah so elend aus, dass sie weinen wollte. Und vielleicht war das ein weiterer Grund für ihre Unruhe; sie war einfach irritiert durch ihre eigene Verletzlichkeit und durch die Gefühle, die sie nicht mehr unter Kontrolle hatte.

An einem bestimmten Tag ging es ihm besonders schlecht. Seine Haut war fahl, und er war bis auf die Knochen abgemagert. Seine Augen, die immer in boshaftem Humor geleuchtet hatten, waren tief in die Höhlen versunken und von schwarzen Rändern umgeben. Er sah aus wie der leibhaftige Tod. Plötzlich wurde Carolyn bewusst wie nie zuvor, dass Griff wirklich sterben konnte. Dann begann sie zu weinen.

So sehr sie sich auch dagegen wehrte, sie wusste, sie musste sich mit dem Gedanken vertraut machen, Griff zu verlieren.

„Herr, werde ich wirklich Auf Wiedersehen sagen müssen?“, murmelte sie. „Es scheint mir einfach nicht gerecht. Griff ist noch nicht so alt; er hat noch eine Menge vor sich.“

Sie schwieg und ließ die tiefe Stille auf sich einwirken, die nur von Griffs schweren Atemzügen unterbrochen wurde. Sie hoffte nicht auf irgendeine Antwort auf ihr Gebet. Sie wusste, das war nicht Gottes Art. Die Antworten auf ihre Gebete kamen meist in stiller, unmerklicher Weise. Manchmal erhielt sie gar keine Antwort, oder, wie Sam sagte, Gott dachte noch nach und bat sie zu warten. Oft hoffte sie einfach das Beste, wenn sie betete, und vertraute darauf, dass Gott sie hörte und zur richtigen Zeit antworten würde.

Deshalb war sie nicht wirklich vorbereitet auf das plötzliche Gefühl der Sicherheit, das sie durchströmte. Sie fühlte mit einem Mal überrascht eine tiefe innere Ruhe, als sie Griffs hinfälligen Körper betrachtete. Fast fühlte sie sich dafür schuldig. Aber eine Stimme in ihr – in ihrem Herzen, in ihrem Verstand, tief in ihrer Seele, sie wusste es nicht – sagte ihr deutlich:

Griff wird leben.

Das war alles. Eine Ruhe, die nicht aus ihrer eigenen unruhigen, ängstlichen Seele kommen konnte. Gott selbst hatte für gut befunden, sie mit einer Geste zu segnen.

Ihre Tränen machten der Aufregung Platz, nicht nur Griffs wegen, sondern auch weil sie einmal mehr erfahren hatte, dass Gott sie liebte. Am schwierigsten Punkt ihres ganzen bisherigen Lebens gab er ihr diese Zuversicht wie ein Wunder, diesen himmlischen Frieden. Sie fühlte von neuem, dass Gott für sie da war, wenn sie ihn brauchte. Und er war auch für Griff da.

Danach sah sie die Zeit, die sie bei Griff verbrachte, mit ganz anderen Augen. Sie fühlte sich nicht mehr einsam und verlassen, und ihr wurde klar, dass sie vorher schon begonnen hatte, sich von Griff zu trennen, dass sie sich hatte schützen wollen, indem sie ihre Gefühle für Griff lockerte. Jetzt redete sie die ganze Zeit zu ihm, obwohl er nicht antwortete. Sie plapperte immer weiter, über all die Neuigkeiten aus der Umgebung, über die neuen Pferde, oder sie erzählte ihm komische Geschichten, die sie von den Cowboys gehört hatte.

Yolanda war zuerst besorgt darüber, vielleicht, dass das arme Mädchen der übermäßigen Anspannung erlegen war. Es war einfach nicht normal, wie das Kind dort zu der ohnmächtigen Gestalt redete. Aber als ihr klar wurde, dass Carolyn nun in viel besserer Stimmung war als seit langem, hörte Yolanda auf, sich zu sorgen.

Eines Tages zwei Wochen später versuchte Carolyn, Griff etwas Kraftbrühe einzuflößen. Der Arzt sagte, sobald er schlucken könnte, ohne zu husten, müssten sie versuchen, ihm etwas Nahrhaftes zu geben. Eine große Portion von Yolandas ausgezeichneter Hühnerbrühe lief Griffs Kinn hinunter, aber Carolyn dachte, er hätte genug zu sich genommen, um am Leben zu bleiben.

Wie sie es sich angewöhnt hatte, führte sie ihre einseitigen Gespräche ohne Unterbrechung weiter. „Meine Güte, Griff! Wenn du dich bloß sehen könntest. Schlimmer als ein Baby! Ups! Und noch mehr. Ich werde dir einen Latz besorgen müssen.“

„Pass bloß auf, Mädchen!“, kam eine unerwartete und kaum hörbare Antwort. „Deine Ma will nicht, dass du in dem Ton mit den Cowboys redest.“

„Ah, sie will –“

Plötzlich hielt Carolyn inne. Die Stimme kam von ihrem Patienten, der seit zwei Wochen kein deutliches Wort gesprochen hatte!

„Griff? Hast du was gesagt oder höre ich Gespenster?“

„Mich natürlich. Wer soll denn hier sonst was sagen?“

„O, Griff, du bist aufgewacht!“ Sie stellte die Schüssel hin, legte den Löffel auf den Tisch und sprang auf.

„Wo gehst du hin?“

„Yolanda holen. Sie wird das auch sehen wollen.“

„Und was ist mit dem Rest der Suppe da? Hat mächtig gut geschmeckt.“

Carolyn lachte, beugte sich nieder und küsste zärtlich Griffs Wange.

Das nächste Mal, als der Doktor kam, war er mehr als nur ein wenig erstaunt, welche Fortschritte der Patient gemacht hatte. Er war fest überzeugt gewesen, dass er diesmal nur auf die Ranch kam, um ein frisches Grab zu sehen. Aber Griff war nicht nur nicht tot, er nahm auch wieder etwas Farbe an, und, obwohl er noch keine feste Nahrung zu sich nehmen konnte, aß er Yolandas Hühner- und Rinderbrühe mit großem Appetit.

„Lasst ihn essen, was er will“, wies der Arzt sie an. „Wechselt den Verband zwei bis dreimal am Tag, und immer schön die Reinigungslösung benutzen, die ich dagelassen habe. Und vor allem muss er mindestens noch zwei Wochen fest liegen – und ich meine fest! Danach kann er ein- oder zweimal am Tag aufstehen, aber nicht öfter! Bringt ihn nach und nach wieder auf die Beine.“ Unter Griffs Protest fügte der Doktor hinzu: „Sie brauchen danach für mindestens einen Monat ein Pferd nicht einmal anzusehen! Dann, und nicht früher, werden wir sehen, wie es Ihnen geht.“

„Ein Monat! Sie machen wohl Witze! Da hätte ich lieber gleich den Löffel abgeben sollen, statt mich vier Wochen nicht rühren zu dürfen!“

Der Arzt wandte sich an Carolyn. „Sie müssen dafür sorgen, junge Frau, dass er den Anweisungen folgt. Wenn er zu früh aufsteht und die Wunde wieder aufbricht, dann wird er wieder da sein, wo er angefangen hat.“

„Keine Sorge, Doc“, sagte Carolyn mit strengem Blick zu Griff. „Ich sorge dafür, dass er im Bett bleibt, und wenn ich ihn dort festbinden muss.“

Griff erwies sich als störrischer Patient. Er hasste es, im Bett zu liegen, und das sagte er auch jedem, der in Hörweite kam. Das Schlimmste war, er konnte absolut nichts daran ändern. Alles, was er tun konnte, war, sich mühsam aufzurichten, zu essen und langsam seine Kraft zurückzugewinnen. Einmal, als er sich besonders stark fühlte, setzte er die Beine auf den Boden, als niemand ihn sah. Aber er wurde ohnmächtig.

„Ohnmächtig!“, beklagte er sich, als er wieder wach war. „Wie eine Frau! Was wird nur aus mir werden, Lynnie? Mit mir ist’s vorbei. Ich bin fertig, ich gehöre zum alten Eisen.“

Carolyn versuchte, ihn aufzumuntern, und es gelang ihr schließlich, als sie mehrere Spiele Poker gegen ihn verloren hatte.