Über das Buch:
Die erfolgsverwöhnte Reporterin Jayne Tate bekommt einen Zwangsurlaub verordnet. Als sie über das Foto eines Amischmädchens stolpert, bringt sie das auf eine Idee: Warum nicht Erholung verbinden mit Recherche? Bestimmt lauert hinter der Fassade der angeblich so heilen Amischwelt eine interessante Geschichte. Mit Laptop und Blackberry bewaffnet begibt Jayne sich auf eine Reise, die ihr Leben komplett auf den Kopf stellen wird.

Über die Autorin:
Hillary Manton Lodge ist als Autorin und Fotografin tätig. Sie lebt mit ihrem Mann in Eugene/Oregon.

Kapitel 8

Sofort war Levi neben mir auf dem Boden. „Jayne? Geht es dir gut?“

Ich blinzelte von meiner Position auf dem Boden in sein Gesicht. „Wie konnte das passieren?“

„Ich glaube, es war der Mülleimer.“

Ich stemmte mich hoch. Tatsächlich, da lag er – umgeworfen und schuldig.

Sara starrte mich an. Sie war gerade rechtzeitig zurückgekommen, um mich in dieser bescheuerten Situation zu sehen. „Was ist denn hier passiert?“

„Ich bin ein Idiot, das ist alles.“ Ich stützte mich auf, um aufzustehen, aber stattdessen stieß ich einen lauten Schrei aus.

„Was ist los?“ Levis Blick fiel auf mein Handgelenk. „Hast du dir was gebrochen?“

Kam es nur mir so vor, oder war mein linkes Handgelenk doppelt so dick wie das rechte?

* * *

Die Röntgenassistentin sah mich mitleidig an. „Sieht böse aus.“

Ich musste mich zurückhalten, um nicht mit den Augen zu rollen. Mein Handgelenk war inzwischen dreimal so dick wie normal. Böse? Ach wirklich?

Die Frau positionierte meinen Arm auf dem Röntgentisch und legte mir eine Bleischürze um. „Also, Sie sind amisch?“

Ich zögerte. Levi hatte mich zur Notaufnahme gefahren, obwohl ich ihn hundertmal darum gebeten hatte, zuerst zur Farm zu fahren, wo ich mich umziehen wollte. Ich war ja nicht am Sterben. Nur schnell die Kleidung wechseln …

Aber er hatte sich nicht darauf eingelassen, und jetzt saß ich hier und fühlte mich wie ein Kind, das man beim Verkleiden erwischt hatte.

„Natürlich bin ich amisch“, sagte ich. Es war mir so schon alles peinlich genug. Ich wollte nicht auch noch erklären, dass ich eigentlich eine Undercover-Reporterin war, die sich nur amisch verkleidet hatte.

Ich meine, also wirklich.

* * *

Der Schein der Straßenlaternen schimmerte auf meiner weißen Bandage. „Es ist doch nur eine Verstauchung“, brummelte ich, als wir zum Geschäft zurückfuhren. „Ich weiß gar nicht, wozu ich dieses Ding brauche. Nicht sehr amisch.“

„Ich könnte ein schwarzes Tuch zum Drumwickeln nähen“, schlug Sara vor.

„Eher Punkrock als amisch.“ Ich seufzte. „Und ich darf nicht mal Motorrad fahren.“

Levi warf mir einen schnellen Blick zu, während er fuhr. „Was hat die Ärztin gesagt?“

„Die Schwellung sollte in zwei Wochen wieder weg sein, aber ich sollte nicht fahren, bis ich meine volle Beweglichkeit zurückhabe.“ Schon wieder seufzte ich. „Das wird wohl noch eine Weile dauern.“

„Immerhin ist die Schlinge dunkelblau“, warf Sara leise ein.

„Ja, die Schlinge ist angemessen amisch.“

„Mach dir keine Sorgen um dein Motorrad“, sagte Levi. „Ich fahre es zurück zur Farm, wenn du den Truck fährst.“

„Das ist schön und gut, aber dann? Dann bin ich auf einen Einspänner angewiesen.“

„Einspänner sind für viele Menschen eine vollkommen ausreichende Fortbewegungsmöglichkeit.“

„Hm, ja, aber ich brauche eben einen Motor unter mir.“ Ich sah ihm in die Augen. „Und der Traktor zählt nicht“, sagte ich schnell.

Levi seufzte. „Gut. Dann schlage ich den eben nicht vor.“

Ich fing an, laut zu denken. „Mein Auto ist bestimmt schon fertig repariert …“

„Soll ich es für dich aus der Werkstatt holen?“

„Nein. Kim hat das bestimmt schon gemacht.“

„Ich könnte es hierher holen.“

„Es steht im Südosten von Portland.“

„Ich muss sowieso etwas nach Portland liefern.“

„Und wie willst du dann dein Auto wieder hierher bringen, wo du doch schon mit meinem fährst?“

„Ich könnte dein Motorrad nehmen.“

Als würde das je passieren! „Niemand fährt meine Maschine.“

„Wirklich?“

Ich hätte meine Arme verschränkt, wenn mir das nicht vor Schmerzen die Tränen in die Augen getrieben hätte. „Ja. Wirklich.“

„Du wirst unleidlich. Brauchst du noch eine Schmerztablette?“

„Nein, brauche ich nicht. Und wie würdest du etwas ausliefern, wenn du nur mein Motorrad hast?“

„Es ist ein Paket. Ich könnte es ohne Probleme in deine Satteltaschen stecken.“

„Du hast ein Möbelgeschäft.“

„Ja.“

„Und du lieferst ein Paket aus? Hast du denn überhaupt eine Motorradausrüstung?“

„Klar. Ich habe meinen eigenen Helm und alles.“

„Gut, denn meinen bekommst du nicht.“

„Warum nicht?“

„Du würdest einen bleibenden Eindruck hinterlassen.“

Sara kicherte auf dem Rücksitz.

„Das reicht, junge Dame“, sagte ich gespielt ernst. „Ein bleibender Eindruck in einem Motorradhelm ist sehr ernst. Dann ist der Helm zu weit, und es wird gefährlich für mich.“

Das alberne Gekichere ging weiter, und ich konnte nicht anders, als mit einzustimmen. Ich verstummte allerdings, als ich Levis ernstes Gesicht sah.

Ja, ein bleibender Eindruck konnte gefährlich sein. Er konnte einen zum Beispiel seinen Freund zu Hause vergessen lassen.

„Also“, sagte Sara, nachdem sie sich beruhigt hatte. „Was erzählen wir meinen Eltern?“

Ich zuckte mit der rechten Schulter. „Ich weiß nicht. Was erzählst du ihnen denn?“

„Willst du mir nicht helfen?“

„Ich werde sie nicht anlügen.“

Sara öffnete ihren Mund, schloss ihn schnell wieder und verschränkte die Arme.

„Sie hat recht, Sara“, mischte sich Levi ein. „Mama kann eine Lüge aus zehn Kilometern Entfernung riechen. Lügen und Rockmusik.“

„Sie hat eine gute Nase.“

„Sie hat acht Kinder. Mittlerweile hat sie wahrscheinlich schon telepathische Fähigkeiten. Mach dir keine Sorgen. Ich komme einfach mit rein – das bringt alle so durcheinander, dass sie erst mal abgelenkt sind.“

„Wie kommst du dann wieder nach Hause?“, fragte ich. „Ich meine, wenn du Idas Auto zurückgebracht hast.“

„Ich kann entweder dein Motorrad nehmen, oder Ida bringt mich nach Hause.“

Sara schnaufte. „Mit zwei frisch gebackenen Broten und einem Korb voller Plätzchen.“

„Oh“, sagte ich mit einem traurigen Nicken. „Welch ein Opfer.“

* * *

Am Ende stand mein Handgelenk doch im Mittelpunkt. Gideon ignorierte Levi einfach, und Martha umschwirrte meinen Arm und fragte mich, ob ich die Bandage abnehmen wollte, damit sie mir einen Wickel machen könnte.

Sara verschwand still in ihrem Zimmer.

Kluges Mädchen.

Ich schickte Levi mit den Schlüsseln für mein Motorrad nach draußen und versprach ihm, ihn später anzurufen. Dann ging ich in mein Zimmer und sah nach, ob das seltsame Phänomen des Handyempfangs im Moment funktionierte.

Zum ersten Mal tat es das. Ich wählte Kims Nummer. „Weißt du, ob schon jemand mein Auto abgeholt hat?“

Kim schnaufte. „Du verschwindest ins Land der Amisch und machst dir Sorgen um dein Auto?“

„Ich hab mir mein Handgelenk verstaucht –“

„Tut mir leid. So kannst du natürlich nicht fahren. Soll ich dein Auto bringen?“

„Ein Freund holt es ab.“

„Ein Amischer? Das ist originell. Ich dachte, die fahren nicht.“

„Tun sie auch nicht. Er ist nicht amisch.“

„Wer ist er? Wie hast du ihn kennengelernt? Hast du Shane schon von ihm erzählt?“

Es hatte auch Nachteile, mit Reporterinnen befreundet zu sein.

„Er ist der Besitzer einer ansässigen amischen Tischlerei. Es ist kompliziert. Seine Familie ist amisch, und dort lebe ich auch.“

„Interessant. Weiß es Shane?“

„Nein.“

„Noch interessanter. Warum hast du Shane nichts gesagt?“

„Ich hatte nicht wirklich die Gelegenheit“, wand ich mich. Genauso überzeugend wäre gewesen: Shane hat nicht nach ihm gefragt.

Nicht, dass Shane sich Gedanken machen müsste.

„Wie auch immer, er fährt mein Motorrad nach Portland und jemand muss ihm mein Auto übergeben. Wer hat es abgeholt?“

„Joely wollte es machen, aber es kam etwas dazwischen. Jetzt steht es in meiner Hofeinfahrt.“

„Kann ich ihn dann zu dir schicken?“

„Wie heißt er?“

„Levi Burkholder.“

„Ein toller Name.“

„Wie auch immer. Du kannst mit ihm flirten, so viel du willst – gib ihm nur das Auto mit.“

„Also bist du nicht interessiert?“

„Ich bin mit Shane zusammen.“

„Richtig. Soll das Motorrad bei mir bleiben?“

„Hm.“ Einen Moment lang musste ich nachdenken. „Wäre es zu umständlich für dich, Levi mit meinem Auto bei mir zu treffen? Dann könnte er meine Maschine gleich dalassen.“

„Geht in Ordnung. Ist er süß?“

„Darauf werde ich nicht antworten.“

„Dann ist er süß.“

„Kim –“

„Ich weiß, ich weiß. Du bist mit Shane zusammen. Ich kann so viel flirten, wie ich will. Und ich freue mich darauf.“

* * *

Gleich danach rief ich Levi an, weil ich mit ihm sprechen wollte, bevor der Empfang wieder verschwand.

„Also erwartet sie mich?“, fragte er, nachdem ich ihm die Wegbeschreibung zu meiner Wohnung gegeben hatte.

„Ja.“

Dann brach plötzlich die Verbindung ab. Kein Empfang mehr.

Ein Teil von mir fragte sich, ob ich ihn hätte warnen sollen. Ich meine, wenn ich Golf spielen würde und ein Golfball fliegt direkt auf den Hinterkopf von jemandem zu, dann rufe ich doch „Achtung“ oder was auch immer man auf einem Golfplatz ruft.

Aber andererseits war Kim Single, Levi war Single, und die beiden würden bestimmt süße, braunhaarige Kinder bekommen. Schön für sie. Ich hatte Shane.

* * *

Es war etwas Besonderes, in einem amischen Haus zu schlafen. Abgesehen von den Geräuschen von Jugendlichen, die sich heimlich trafen, war es nachts still. Absolut still. Ich konnte nicht einmal den Verkehrslärm der Schnellstraße hören. Und die Sterne? Unglaublich hell. Ich hatte schon vergessen, wie hell die Sterne sein konnten.

Als ich noch ein Teenager gewesen war, war ich nachts oft zu einem nahe gelegenen Hügel gefahren, nur um von dort aus die Sterne zu beobachten. Sie hatten mich daran erinnert, wie klein ich und wie groß der Rest der Welt war. Manchmal habe ich dann auch gebetet. Damals hatte ich das nämlich noch getan. Ich hatte gedacht, ich würde Gott besser hören, wenn nichts als die Sterne mich umgaben.

Lebten die Amisch deshalb so weit von den Städten entfernt? Konnten sie Gott besser hören?

* * *

Nachdem ich meinen Arm verletzt hatte, konnte ich nur noch beobachten. Wenn die Kinder nach Hause kamen, folgte ich ihnen mit meinem Notizbuch.

Mein ganzes Leben lang hatte ich Kinder gemieden. Aber die Kinder, mit denen ich sonst zu tun gehabt hatte, meine Nichte eingeschlossen, waren nicht mit den Kindern der Burkholders zu vergleichen.

Es gab Momente, in denen sie wie normale Kinder lachten. Wenn Levi sie besuchte, benahmen sie sich immer so, als hätte man ihnen einen Ausflug in den Zirkus versprochen.

Waren Kinder heutzutage immer noch gerne im Zirkus? Oder blieben sie lieber zu Hause bei ihrer Playstation? Ich wusste es nicht.

Wie auch immer, diese Kinder verbrachten jedoch die meiste Zeit in einem derartig geregelten Alltagstrott, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass es das noch ein zweites Mal gab. Sie verrichteten ihre Arbeiten, ohne sich jemals zu beschweren oder von Martha dazu aufgefordert werden zu müssen.

Und doch hatten sie sehr individuelle Persönlichkeiten. Samuel hatte eine Neigung zu kleinen Streichen. Ich hatte sogar schon gehört, dass einige Familienmitglieder ihn „Schabernack Sam“ nannten. Ein dauerhafter Spitzname? Hoffentlich nicht. Aber wenn er nicht damit beschäftigt war, die Kühe zu füttern oder seine Hausaufgaben zu machen, schien er es zu lieben, wichtige Gegenstände an einen anderen Ort zu räumen. Einmal fand Martha den halben Inhalt ihres Topfschrankes auf dem Traktorsitz wieder. Elizabeths gesichtslose Puppe saß in der Speisekammer direkt neben dem Mehl.

Samuel hatte aber genug Feingefühl, um sich von Gideons Sachen fernzuhalten. Ich fragte mich, ob er in der Vergangenheit etwas versteckt hatte, aber die Konsequenzen ihn eines Besseren belehrt hatten.

Im Gegensatz dazu war Leah schüchtern und reserviert. Sie schenkte ihren Schularbeiten sehr viel Aufmerksamkeit und schien dauernd Informationen zu sammeln.

Elisabeth war eine Träumerin. Wenn ich im Wohnzimmer saß und meine Notizen überarbeitete, rollte sie sich oft neben mir auf dem Sofa zusammen und erzählte mir Geschichten darüber, was ihre Puppe Mary erlebt hatte, während sie selbst in der Schule gewesen war.

Die älteren Brüder blieben mir ein Rätsel. Ich wusste, dass Amos seinem Vater bei der schweren Arbeit auf dem Hof half. Ich fragte Sara einmal, ob er bald heiraten würde; sie antwortete mir, dass die Heiratssaison erst im November begann. Ob es allerdings im Herbst eine Hochzeit geben würde, schien niemanden wirklich zu beschäftigen.

Elam arbeitete in der Stadt und kam oft mit Betonstaub bedeckt nach Hause. Zumindest vermutete ich, dass es Betonstaub war. Er ähnelte Levi sehr in seinem Äußeren, aber nicht in seinem Verhalten. Während Levis Gesicht offen und freundlich war, war Elams eher misstrauisch und oft von Sorgenfalten durchzogen.

Und dann war da noch Sara.

Sara ermüdete meinen Widerstand innerhalb weniger Tage. „Du musst lernen, wie man einen Knopf annäht“, sagte sie energisch. „Deiner linken Hand geht es doch nicht so schlecht. Meinst du nicht, du könntest es wenigstens versuchen?“

Also versuchte ich es.

Wenn ich meinen linken Arm richtig hielt, konnte ich den Stoff darauflegen und mit meiner unverletzten Hand die Nadel führen. Sara half mir aus Gründen der Nächstenliebe. Eine Nadel in meinem Finger hätte niemandem etwas gebracht.

„Du stichst mit der Nadel hier rein“, sagte sie und zeigte auf eine bestimmte Stelle des Stoffes.

„Warum da?“

„Weil da der Knopf sitzen soll.“

„Was ist, wenn ich den Knopf woanders annähen will?“

„Willst du nicht.“

„Will ich nicht?“

„Nein.“

„Okay.“ Ich befolgte ihre Anweisungen. „So?“

„Ja.“

„Sollte ich nicht einen Fingerhut benutzen oder so?“

„Na klar, nur um einen Knopf anzunähen.“

Fünf Minuten und zwei verknotete Fäden später hielt ich stolz mein Stoffstück mit dem Knopf in die Höhe. „Da!“

Sara nickte. „Das wird reichen.“

„Bist du jemals stolz auf deine Arbeit?“, fragte ich.

„Nein. Es ist nicht amisch, stolz zu sein. Stolz und arrogant zu sein ist eine Sünde.“

„Du reibst es den anderen doch nicht unter die Nase. Ich meine, dass du stolz auf die Qualität deiner Arbeit sein könntest.“

„Es kann zu Arroganz werden.“

„Aber was, wenn nicht?“

Sara öffnete gerade ihren Mund, als Gideon durch die Tür stapfte. Er kam direkt vom Feld.

Und ich meine direkt. Ich konnte ihn aus vier Metern Entfernung riechen.

„Die Scheune der Colblentzers hat Feuer gefangen“, rief er.

Martha kam aus der Küche. „Ist jemand verletzt? Hat sich das Feuer ausgebreitet?“

„Niemand ist verletzt. Jacobs Billy hat alle Tiere gerettet. Titus vermutet, dass es an einem alten Kabel liegt.“

„Und das Haus der Colblentzers?“

„Alles in Ordnung.“

Jetzt kamen auch Samuel, Leah und Elizabeth dazu und stellten viele Fragen.

„Billys Scheune? Ist er verletzt?“, fragte Samuel.

Leah zog an Gideons Hemd. „Geht es Susie gut?”

Martha presste ihre Hand an die Brust. „Ist etwas mit der Ernte auf den Feldern passiert?“

Gideon schüttelte den Kopf. „Nein, weil es ein Kabelbrand war, hat es von innen gebrannt. In der Umgebung ist kaum etwas passiert. Am Freitag haben wir den Scheunenbau.“

Ich schnappte nach Luft. Ein echter amischer Scheunenbau? Und ich war live dabei! Was für ein Glück ich hatte!

Kapitel 9

Ich selbst hätte es nicht besser planen können, es sei denn, ich hätte die Scheune der Colblentzers selbst angezündet.

Was ich natürlich nicht getan hatte. Ich habe Angst vor Streichhölzern.

Am Tag vor dem Scheunenbau erreichte Marthas Koch- und Backgeschwindigkeit eine mir bisher unbekannte Geschwindigkeit. Mit unglaublicher Schnelligkeit machte sie Kuchen, Soßen, briet Rippchen und buk unzählige Brotlaibe.

Diese Frau war nur noch eine Maschine.

Ich arbeitete währenddessen, so gut ich es konnte, im Garten. Ohne meinen linken Arm zu benutzen, kniete ich auf dem Boden im Dreck und erntete Bohnen. Dann säuberte ich sie, damit die Familie sie einmachen konnte. Leah leistete mir Gesellschaft und redete ständig über den Zustand der Pflanzen und die Regenwahrscheinlichkeit. Und schon fing es an zu tröpfeln.

Plötzlich vibrierte es in meiner Tasche. „Ich bin gleich wieder da, Leah.“

Sie sah mir nach, als ich zum Haus ging. Es kam mir so vor, als hätte sie noch nicht viele Leute gesehen, die einen Handyanruf annahmen.

Shanes Name blinkte auf der Anzeige. „Der Regen muss den Empfang verbessern. Wie geht’s dir?“

Er atmete laut aus. „Ich komme mir dumm vor.“

„Warum?“

„Ich bin zu dir gefahren, um mich um deine Post zu kümmern. Wer war der Typ bei deiner Wohnung mit deinem Motorrad?“

Oh oh. „Ich hab mir mein Handgelenk verstaucht. Levi ist ein Bekannter und hat mir angeboten, meine Maschine nach Hause zu bringen und dafür mein Auto zu holen.“

„Hat er das?“

„Ja.“

„Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt? Ich hätte mich um alles gekümmert.“

Ich seufzte. „Shane, du steckst doch bis über beide Ohren in Arbeit und wohnst wirklich nicht in der Nähe meiner Wohnung. Du hättest den ganzen Tag durch die Gegend fahren müssen.“

„Ich wünschte, du hättest gefragt.“

„Kein Empfang. Und die Rauchzeichen sind leider nicht bis zu dir durchgedrungen. Du hast ja keine Fenster, die nach Süden zeigen.“

„Toll, dass das für dich alles nur ein Witz ist. Geht es deinem Handgelenk gut?“

„Es geht schon. Ich mache Witze, weil du überreagierst. Du musst dir keine Sorgen machen.“

„Es tut mir leid. Du bist eine wunderschöne Frau –“

„Shane –“

„Der Typ sah wie ein echter Trottel aus.“

Ich wurde ärgerlich. „Lass das.“

„Stimmt doch!“

„Er hat hart für das gearbeitet, was er erreicht hat. Und er ist der Erste in seiner Familie, der eine höhere Schulausbildung hat. Er war sogar auf dem College. Er hat einen guten Job aufgegeben, um näher bei seiner Familie zu sein. Also rede nicht so über ihn.“

Zumindest vermutete ich, dass es ein guter Job war. Ida hatte immerhin etwas von einer großen Firma gesagt. Egal, Levi hatte in seinem Leben viel erreicht – mehr als Shane und ich zusammen.

„Ich mag ihn einfach nicht“, sagte Shane, seine Stimme voller Abneigung.

„Du hast keinen Grund dazu.“

„Okay, wenn du mir sagst, dass da nichts ist, werde ich dir glauben.“

„Nichts“, sagte ich und hoffte, dass er das kleine Zittern in meiner Stimme nicht gehört hatte.

„Tut mir leid, dass ich mich aufgeregt habe. Deinem Arm geht es also gut?“

„Ja.“

„Sagst du mir Bescheid, wenn du dir auch noch ein Bein brichst?“

„Wenn ich Empfang habe, bist du der Erste, der es erfährt.“

* * *

Als Leah und ich im Garten fertig waren, nahm ich mein Notizbuch und setzte mich in die Küche, wo Martha sich abrackerte.

Sie arbeitete ununterbrochen, bis Elizabeth schreiend angelaufen kam, weil das Schwein im Garten war.

„Jayne?“, sagte sie.

Ich sah von meinen Notizen auf.

„Können Sie den Kuchen aus dem Ofen nehmen, wenn ich in fünf Minuten nicht zurück bin?“

„Natürlich“, hörte ich mich selbst sagen.

Wahrscheinlich war sie in fünf Minuten sowieso zurück und konnte den Kuchen selbst aus dem Ofen nehmen. Wie lange konnte es schon dauern, ein Schwein zu fangen?

Fünf Minuten vergingen. Keine Martha.

Ich legte meine Notizen zur Seite und ging zum Ofen. Das bekannte unangenehme Ziehen machte sich in meinem Magen breit. Ich hasste Öfen. Das hatte ich schon immer getan.

Martha hatte einen Topflappen neben dem Ofen liegen lassen. Ich benutzte ihn, um die schwere Ofentür zu öffnen. Ich warf einen Blick hinein – ein köstlicher Apfelkuchen stand darin, leicht braun, nicht zu dunkel, nicht zu hell. Ich wusste, dass ich mit der Situation fertig werden musste, denn wenn ich es nicht tat, würde aus dem perfekten Braun schnell ein unappetitliches Schwarz werden.

Zögernd griff ich in den Ofen. Beißende Hitze umfing meinen Arm. Gab es keine weiteren Topflappen? Ich zog meine Hand zurück und sah mich um. In der Spüle lagen noch welche.

Mit zwei Topflappen pro Hand bewaffnet, ging ich wieder zum Ofen. Ich griff hinein, packte den Kuchen von beiden Seiten und hob ihn hoch. Der Kuchen wackelte; ich erstarrte.

Also wirklich, es war ein Schwein im Garten, kein Außerirdischer. Warum brauchte Martha so lange? Es erschien mir sicherer, den Kuchen im Ofen zu lassen, als ihn über den Küchenfußboden zu verteilen, aber ich hörte keine Schritte, die Marthas Rückkehr angekündigt hätten.

Atme, befahl ich mir selbst. Du bist eine erwachsene Frau. Erwachsene nehmen nun mal Dinge aus einem Ofen. Sie sterben normalerweise nicht daran.

Meine Hände wurden trotz der Topflappen langsam warm. Jetzt oder nie. Mit langsamen Bewegungen hob ich den Kuchen weiter an und stellte ihn vorsichtig auf die Platte über dem Ofen. Endlich. Ich schloss die Ofenklappe und trat schnell zurück.

Geschafft. Und ich hatte überlebt. Der Kuchen sah köstlich aus. Ein Teil von mir war stolz, dass ich auch ein wenig dazu beigetragen hatte. Vielleicht sollte ich auch mal versuchen, zu backen.

Dann roch ich es plötzlich. Es roch ein bisschen verbrannt. Ich sah den Kuchen an – keine dunkelbraune Stelle. Woher konnte der Geruch sonst kommen?

Der Gestank wurde schlimmer. „Sara!“, rief ich. Keine Antwort.

Logischerweise musste der Gestank aus dem Ofen kommen. Jetzt, wo ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass ich ihn vielleicht ausmachen sollte, richtig?

Ich drehte den Knopf ganz nach links. Vielleicht kam der Gestank von etwas auf dem Boden des Ofens. Martha hatte ja schon den ganzen Tag gekocht. Vielleicht war etwas runtergetropft und verbrannte jetzt.

Ich öffnete die Tür – und sah Flammen. Ich sprang zurück. Aber zusammen mit den Flammen sah ich auch gleich ihre Ursache.

Ein Topflappen.

Vielleicht hätte ich nachzählen sollen, als ich fertig gewesen war.

Mit der neuen Sauerstoffzufuhr schlugen die Flammen noch höher. Ich schrie und sah dann die Schüssel Wasser im Waschbecken.

Martha musste doch irgendwo eine Zange haben … Als ich sie gefunden hatte (in der Speisekammer!), nahm ich den verkohlten Topflappen aus dem Ofen und schmiss ihn ins Waschbecken.

Mit einem lauten Zischen verlöschte er. Ich ließ noch mehr Wasser in die Schüssel laufen, bevor ich den jetzt feuerlosen Ofen schloss. Dabei sah ich, dass jemand in der Tür stand.

Ich hatte den Kuchen und die folgende Situation gar nicht schlecht gemeistert, aber jetzt Levi zu sehen, ließ mein Herz schneller schlagen.

„Wie lange stehst du schon da?“, wollte ich wissen.

„Lange genug“, sagte er mit einem Grinsen.

„Beobachtest du gern Leute?“

„Ich wollte dich nur nicht bei deiner Feuerwehraktion stören.“

„Danke.“

„Wo ist meine Mutter?“

„Sie verfolgt ein Schwein und braucht dafür zu lange.“

„Sie mag dich“, sagte er und ersetzte das Grinsen durch ein Lächeln.

„Woher weißt du das?“

„Sie vertraut dir einen Kuchen an.“

„Gut zu wissen. Also bist du nur hergekommen, um mir ein schlechtes Gewissen zu machen?“

„Ja. Und ich habe dein Auto mitgebracht.“

„Danke.“

„Die Schlüssel?“ Er streckte mir einen bekannt aussehenden Schlüsselbund entgegen.

Ich nahm ihn und steckte ihn in meine Schürzentasche. „Noch mal danke. Hast du Kim getroffen?“

„Ja“, sagte er, aber ich sah ihm an, dass er noch mehr sagen wollte.

„Was ist passiert?“

„Ist Shane dein Freund?“

Ich kaute auf meiner Lippe. „Ja …“

„Er kam, um deine Post zu holen. Das hat er zumindest Kim gesagt.“

„Okay.“

„Ich glaube nicht, dass er froh war, mich zu sehen.“

Nicht wirklich, nein. „Ich würde das nicht persönlich nehmen. Wie geht es Kim?“

Er zuckte mit den Schultern. „Gut, denke ich.“

Hm. „Sie ist meine beste Freundin“, sagte ich. „Sie ist brillant. Gute Instinkte.“

„Schön für sie.“

„Und sie sieht gut aus. Findest du nicht auch?“

Levi seufzte und lehnte sich gegen die Wand. „Ich bin nicht an Kim interessiert, wenn es das ist, was du wissen willst.“

„Das solltest du aber. Sie ist ein guter Fang.“

„Ich bin sicher, dass sie das ist.“

„Du könntest glücklich sein.“

„Jayne –“ Er öffnete seinen Mund, als wollte er etwas sagen, aber er musste es sich anders überlegt haben. „Vergiss es.“

„Danke, dass du dich um mein Auto gekümmert hast. Du warst eine große Hilfe.“

Er schenkte mir noch ein kleines Lächeln. „Kein Problem. Jederzeit wieder.“

* * *

Ich hatte noch nie so viel Essen auf einem Haufen gesehen wie bei dem Scheunenbau am nächsten Tag. Zwanzig Meter von der Baustelle entfernt waren Tische aufgestellt worden. Kuchen über Kuchen, Brote über Brote, alles Mögliche über allem Möglichen. Ich hätte die Speisen nicht zählen können. Der Himmel sah so aus, als würde es bald anfangen zu regnen, aber die versammelten Menschen schienen die Tropfen durch pure Willenskraft in den Wolken zu halten.

„Wie oft macht ihr das?“, fragte ich Sara, als wir noch mehr Essen auf den Tischen verteilten.

Sie zuckte mit den Schultern. „So oft wie es nötig ist. Normalerweise aber erst ab Sommer. Wir haben sonst nicht sehr viele Feuer zu dieser Jahreszeit.“

„Alles klar. Übrigens, danke für mein Kleid.“

Ihr Gesicht hellte sich auf. „Gefällt es dir?“

„Sehr. Es sitzt wie angegossen.“

„Das liegt an meinem Diagonal-Schnitt. Da in der Mitte ist eine Naht – wenn du den Fadenlauf ansiehst, siehst du eine V-Form, wo es zusammengenäht wurde.“

„Clever.“ Ich stellte die Rippchen auf den Tisch. „Gut so?“

„Ja.“

„Müssen wir sie schneiden?“

„Das machen die Männer.“

„Du liebst das Nähen sehr, stimmt’s?“

Saras Gesicht wurde weich, und sie schien ihre nächsten Worte genau zu wählen. „Ich verstehe den Stoff einfach. Und ich verstehe, wie er Menschen bedeckt. Ich verstehe ihn, wie Levi Holz versteht.“

„Könntest du dir vorstellen, außerhalb der Gemeinde mit Stoff zu arbeiten? So wie Levi es macht?“

„Ich glaube, wir haben noch einen Kuchen im Einspänner – ich hole ihn“, sagte sie mit einem Anflug von Panik in der Stimme.

Sie rannte förmlich davon.

* * *

Ich fühlte mich wie Kelly McGillis in Der einzige Zeuge, als ich mich unter den Amisch bewegte. Die Männer schwitzten, schleppten Holzbalken und klopften Nägel ein.

Nur dass es hier keinen Harrison Ford gab. Oder einen anderen gut aussehenden Typen, der meine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Und das war in Ordnung für mich, denn ich war zu dem Schluss gekommen, dass es im Moment in meinem Leben bereits zu viele Männer gab.

Nachdem ich mein Privatleben gedanklich zur Seite geschoben hatte, beobachtete ich das Entstehen des Gebäudes vor mir. Wie wäre es, in einer Gemeinschaft zu leben, in der sich jeder um jeden kümmerte? Als mein Vater gestorben war, hatte meine Mutter für viel Geld Essen bestellt. Hier wäre sie in Kuchen, Pasteten und Rippchen geschwommen.

Als ich Kind gewesen war, war einmal ein Baum bei einem Sturm in unser Küchenfenster gestürzt. Wir hatten ihn da liegen lassen müssen, bis der Mann von der Versicherung gekommen war, um sich alles anzuschauen. Zwei Wochen später war endlich die Firma gekommen, die uns ein neues Fenster einbaute. Wie wäre es gewesen, wenn die Nachbarn uns helfend zur Seite gestanden hätten?

Andererseits war der Lärm ohrenbetäubend. Neben den Rufen der Männer, die die Scheune aufbauten, ertönte das Krachen und Knacken der Männer, die die alte Scheune abrissen. Die Szene erinnerte an einen Kampf – die Erbauer gegen die Zerstörer.

Ich suchte nach Leah und Elizabeth, die mit den anderen Kindern weit entfernt von dem Radau spielten. Jeweils zwei Stöcke waren an gegenüberliegenden Enden eines kleinen Feldes in die Erde gerammt worden. Es war ein Fußballstadion für die Kinder entstanden. Leah und Samuel hätten mit ihren Aktion wahrscheinlich sogar die FIFA beeindruckt. Ich hatte noch nie Kinder gesehen, die sich so bewegten.

Nicht, dass ich Fußballprofi gewesen wäre, aber ich hatte mit Shane oft genug Fernsehen geschaut, um wenigstens ein bisschen davon zu verstehen. Wenn es andere Kinder gewesen wären, hätten sie bestimmt in einem Fußballverein in ihrer Stadt gespielt. Aber nicht diese Kinder hier. Irgendwann würden sie den Fußball aufgeben und erwachsen werden. Aber war es nicht sogar besser so? Ich hatte zu Schulzeiten viele gekannt, die gerne Rockstar oder Profisportler geworden wären. Ihre Träume waren gescheitert. Diese Kinder hier waren realistisch – oder zumindest waren ihre Eltern realistisch.

Verloren sie etwas dadurch, dass sie weniger Möglichkeiten hatten? Oder dienten die eingeschränkten Möglichkeiten einem guten Zweck?

Ich bewegte diesen Gedanken in meinem Kopf, während ich zusah, wie der Ball hin und her gespielt wurde.

* * *

„Jayne?“

Ich sprang auf und hätte fast meinen Laptop fallen gelassen. Ich sah Sara an. „Du kannst wirklich leise schleichen.“

„Kann ich dir etwas zeigen?“

„Natürlich.“

„In meinem Zimmer?“

„Klar.“ Ich klappte meinen Laptop zu und folgte ihr.

Als wir in ihrem Zimmer waren, schloss sie die Tür und presste ihr Ohr eine Zeit lang dagegen. Endlich schien sie sicher zu sein, dass die Luft rein war. Sie durchquerte den Raum und stampfte fest mit der Ferse auf. An der Stelle hob sich plötzlich eine Bodendiele und Sara kniete sich hin. Im Boden befanden sich Unmengen von Magazinen.

„Ja“, sagte sie und legte einige davon auf ihr Bett.

Ich sah sie mir näher an. Es waren Magazine wie InStyle und die Vogue.

„Ja wozu?“

„Zu deiner Frage.“

„Welcher Frage?“

„Die, die du mir gestern beim Scheunenbau gestellt hast. Ob ich mir ein Leben wie Levis vorstellen könnte.“

Kapitel 10

Ich senkte meine Stimme, um sicherzugehen, dass uns auch wirklich niemand hören konnte. „Du würdest hier weggehen?“

Sara umschlang ihre Beine. „Ich würde darüber nachdenken.“

„Was würdest du machen wollen?“

„Zur Schule gehen. Designerin werden.“

„Wirklich?“ Ich setzte mich neben sie aufs Bett. „Wo hast du die her?“

Sie sah auf den Boden. „Manchmal kaufe ich sie, wenn ich in der Stadt bin. Manchmal bringt Levi mir welche mit.“

Ich versuchte mir Levi, den Handwerker, Levi, den Motorradfahrer, vorzustellen, wie er eine Vogue kaufte.

Nein. Das passte einfach nicht.

Aber Sara als Designerin? Das konnte ich mir fast noch weniger vorstellen. „Seit wann interessierst du dich für –“

„Wenn wir in die Stadt fahren, dann sehe ich all diese Frauen, die wundervolle Farben tragen. Nicht nur blau, grün oder schwarz, sondern rot, pink und gelb. Ich kann allein am Schnitt erkennen, warum einige Kleider enger anliegen als andere, denn das liegt nicht nur am Stoff allein. Und ...“ Sie griff wieder in das Geheimfach im Boden. „... ich habe ja die hier.“

Sie hielt eine Zeichenmappe hoch.

„Darf ich es mir anschauen?“

Sie nickte.

Die Entwürfe waren sehr gut gemacht. Sogar ich konnte das erkennen. Saras Designs zeigten eine kreative Strichführung und ein gutes Auge für Farben. Bei einem amischen Mädchen hätte ich erwartet, dass der Kragen hoch und der Saum tief saß, doch so war es nicht. „Ich kann mir Gemma hierin vorstellen.“

„Gemma?“

Ich ließ die Entwürfe sinken. „Eine Freundin von mir.“

Sara zog ihre Beine an und umfasste ihre Knie. „Wie ist es, wenn man sich jeden Tag auf hundert verschiedene Arten kleiden kann?“

„So eine große Auswahl habe ich nicht, aber Gemma hat das bestimmt. Ich weiß nicht. Manchmal ist es schwer, sich etwas auszusuchen.“

Sara sah mich skeptisch an. „Wirklich?“

„Normalerweise ziehe ich einfach das an, was im Kleiderschrank ganz oben liegt. Ich denke nicht viel darüber nach. Aber ich weiß, dass Gemma manchmal zwanzig Minuten zu spät kommt, weil sie sich nicht für ein Outfit entscheiden konnte.“

„Aber du nicht?“

„Die meisten meiner Kleidungsstücke sind dunkel. Es ist nicht schwer, sie zu kombinieren. Gemma hat Schuhe, die zu Oberteilen passen, Taschen, die zu Hosen passen, und Kleider, die zu Ohrringen passen. Sich wie Gemma anzuziehen ist kompliziert.“

„Ich will sie kennenlernen.“

Ich lächelte. „Vielleicht kann ich sie herholen.“

„Ich hasse es, Schwarz zu tragen. Blau mag ich auch nicht.“

„Was magst du?“

„Gelb. Lila. Orange. Hellgrün. Pink.“

„Hoffentlich nicht zusammen.“

Endlich lachte sie fröhlich und unbeschwert. „Nein, nicht zusammen. Außerdem mag ich Weiß. Mit Weiß sieht alles sauberer aus.“

„Wie würdest du von hier weggehen?“

Sara kaute auf ihrer Lippe herum. „Levi würde mir helfen. Ich würde eine Weile bei ihm bleiben. Meinen Schulabschluss machen. Versuchen, in einer Designschule angenommen zu werden.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Vielleicht bleibe ich hier und lasse mich taufen. Meine Eltern sind auch geblieben.“

„Deine Großeltern sind gegangen.“

„Ja, aber glaubst du, dass man in den Himmel kommen kann, wenn man nicht getauft ist?“

„Ich – ich bin wirklich nicht die richtige Ansprechpartnerin für solche Fragen“, stammelte ich. „Ich bin seit Jahren nicht mehr in der Kirche gewesen.“

„Aber du bist früher gegangen?“

„Mein Vater war Ältester.“

„Bist du aus der Kirche ausgetreten?“

„Ich habe einfach nur aufgehört hinzugehen.“

„Hast du Angst davor, in die Hölle zu kommen?“

„Hast du es?“ Ich fand es sicherer, die Frage zurückzugeben.

„Unser Bischof sagt, dass die Englischen nicht in den Himmel kommen. Aber ich glaube nicht, dass Jesus oder seine Jünger amisch waren. Ich glaube aber, dass seine Jünger ihm trotzdem in den Himmel gefolgt sind.“

„Das denke ich auch. Also … denkst du, du könntest ohne deine Familie leben? Du scheinst so eng mit ihnen verbunden zu sein.“

„Ich hätte Levi. Und Oma.“

„Ich sehe meine Mutter und meine Schwester so gut wie nie. Manchmal wünsche ich mir, die Dinge wären anders.“

„Warum änderst du sie nicht?“

„Es ist kompliziert.“

„Du solltest es aber wenigstens versuchen.“

„Manchmal stecken Leute einfach in ihren Positionen fest. Warum reden Levi und dein Vater nicht miteinander?“

Bevor sie antworten konnte, hörten wir Schritte im Flur. Bevor man auch nur „Modenschau“ hätte sagen können, packte Sara ihre Unterlagen und Magazine und versteckte sie wieder unter der Diele.

* * *

Ich wünschte wirklich, dass die Dinge in meiner Familie besser laufen würden. Da auf der Farm der Burkholders alle so früh ins Bett gingen, hatte ich viel Zeit, um darüber nachzudenken, was ich in meinem Leben verändern wollte.

Aber wenn es um meine Mutter und meine Schwester ging … was konnte ich schon machen? Ich konnte nicht die Tochter sein, die meine Mutter sich wünschte. Sie wollte ein konservatives, braves Mädchen. Das war ich nicht. Sie hatte damals fast einen Herzinfarkt bekommen, als ich meine Sneakers mit einem Stift verschönert und aufgepeppt hatte. Meine Schuhe hatten nämlich nicht mehr so ausgesehen wie die aller anderen. Zumindest hatten meine Schuhe nicht mehr so ausgesehen wie die, die die Töchter ihrer Freundinnen trugen.

Ich kümmerte mich nicht darum, was sie dachten. Die Töchter ihrer Freundinnen lachten über mich und tuschelten hinter meinem Rücken miteinander über die lila Strähnen in meinen Haaren und die Band-T-Shirts, die ich trug, während sie in ihren Tommy Hilfiger Outfits in der Gegend rumliefen.

Ich glaubte nicht, dass meine Mutter überhaupt bemerkt hatte, dass ich mittlerweile längst aus der Haarfärbephase raus war.

Und Beth …

Ich wusste nicht, wie ich sie erreichen sollte. Ich wusste nicht, wie ich ihre Schwester sein sollte.

Wie wäre es, in einer Familie wie der der Burkholders zu leben? Eine Familie zu haben, die einem so viel bedeutete, dass man sogar seinen Beruf wechselte, um ihr nahe zu sein?

* * *

In dieser Nacht träumte ich von Kuchen.

Komisch bei meiner Angst vor Öfen und den versehentlichen pyromanischen Tendenzen. Aber der Kuchen sah wirklich gut aus. Es war ein Nektarinen-Himbeer-Kuchen. Aber ich hatte keine Ahnung, woher die Idee dazu kam. Ich hatte nämlich noch nie davon gehört, dass man Nektarinen und Himbeeren zusammen in einen Kuchen machen konnte. Egal, es hörte sich jedenfalls gut an. Es hörte sich wie das perfekte Frühstück an. Kuchen war ja so etwas Ähnliches wie Toast und Marmelade, oder? Vielleicht eher wie Toast, Marmelade und Fruchtstücke, aber es hörte sich trotzdem sehr, sehr gut an.

Wirklich gut.

Zu meiner Enttäuschung hatte Martha meinen Traum nicht mitbekommen. Es gab Kartoffeln, Würstchen und einen Berg von Rührei mit Käse – aber keinen Kuchen.

Ich konnte es ihr nicht übelnehmen. Sie hatte vor ein paar Tagen erst eine Million Kuchen gebacken. Vielleicht hatte sie einen Kuchenarm oder wie auch immer man kucheninduzierte Verletzungen nannte.

Ich half beim Abwasch, nachdem die Männer zur Arbeit gegangen waren. „Ich habe mich gefragt“, sagte ich, als ich die Pfanne trocknete, „ob Sie mir beibringen könnten, wie man einen Kuchen macht.“

Martha hielt im Abwaschen inne. „Sie wissen nicht, wie man einen Kuchen backt?“

Ich schüttelte meinen Kopf.

„Hat Ihre Mutter Ihnen das denn nicht beigebracht?“

„Ich habe mich nicht besonders fürs Backen interessiert, als ich noch zu Hause gelebt habe.“

Ich hatte damals nicht einmal Lust gehabt, mir einen Toast zu machen, um ganz ehrlich zu sein.

„Das Wichtigste am Tortenboden ist, dass man die Butterstücke nicht so klein macht.“

Und so fing es an.

Als wir das letzte Geschirr weggeräumt hatten, bestand Martha darauf, dass ich trotz meiner Verletzung selbst das Mehl abmaß. Ich tauchte den Messbecher in die Mehltüte und versuchte dann ungeschickt, das überschüssige Mehl abzustreichen.

Martha schüttelte den Kopf. „Du – ich denke, wir können du sagen, nicht wahr? – du kannst das nicht so rausschöpfen. Schütt es wieder aus.“

Verwirrt gehorchte ich.

Sie holte einen Löffel aus der Schublade. „Wenn du das Mehl auf einmal in den Becher schaufelst, kann zu viel Luft darin sein und deine Maße stimmen dann nicht mehr. Nimm einen Löffel und schöpf den Messbecher voll.“

Ich versuchte, ihre Anweisungen so gut wie möglich zu befolgen, aber den Löffel und den Messbecher mit meinem verletzten Arm zu benutzen war sehr schwer. Martha nahm mir den Löffel ab und bot sich an, die Aufgabe zu erledigen, da ich ja jetzt die richtige Technik kannte.

Nachdem das Mehl endlich sicher in der Rührschüssel gelandet war, zeigte mir Martha, wie ich die Butter in die richtigen Stücke schnitt. „In vielen Rezepten steht, dass man die Zutaten verrühren soll, bis ein feinkörniger, krümeliger Teig entstanden ist. Das stimmt nicht. Man darf nur so lange rühren, bis die Teigstücke erbsengroß sind. Dann wird der Tortenboden perfekt.“

Nachdem sie den Teig ausgerollt hatte – wieder eine Aufgabe, die ich mit meinem Arm nicht übernehmen konnte – wandte sie sich an mich. „Was für einen Kuchen willst du machen?“

Ich biss mir auf die Lippe. „Einen Fruchtkuchen?“

„Was für Früchte? Wir haben Äpfel, Aprikosen, gefrorene Beeren …“

Aprikosen waren doch so ähnlich wie Nektarinen, oder? „Aprikosen? Und Himbeeren?“

Martha hob eine Augenbraue. „Das hab ich ja noch nie gehört.“

Wir gossen die Aprikosen ab und ließen sie noch ein bisschen abtropfen. Die Himbeeren vermischten wir gefroren mit den Aprikosen, etwas Mehl, ein bisschen Zucker, einem halben Teelöffel Zimt und einer Prise Muskatnuss. Nachdem wir die Füllung in den Kuchen geschüttet hatten, zeigte mir Martha, wie man den Teigdeckel am besten anordnete und den Rand mit dem bereits vorhandenen Teig in der Form zusammendrückte.

„Jetzt musst du Löcher in den Deckel machen“, sagte sie und reichte mir ein Messer. „Du kannst auch einfach nur Schlitze machen oder dir ein Muster überlegen.“

Ich schnitt ein Herz in den Teigdeckel. „Wie ist das?“

„Gut. Und jetzt stell es in den Ofen.“

Oh oh. „Ist der Ofen an?“

Martha sah mich seltsam an. „Ja. Der Ofen muss schon heiß sein, wenn der Kuchen reinkommt.“

Heißer Ofen, heißer Ofen. Hilfe! „Äh …“

„Ja?“

„Ich … ich glaube, ich kann das nicht.“

„Was?“

„Ähm … heben. Ich kann den Kuchen wegen meiner Hand nicht heben“, redete ich mich heraus und lächelte gequält. „Zu schwer. Wegen den Früchten.“

Nicht, dass ich vor Kurzem nicht auch einen Kuchen aus dem Ofen geholt hätte. Aber da war doch bestimmt ein bisschen der Flüssigkeit verdampft gewesen, sodass er leichter gewesen war, oder?

„Ach so.“ Martha nahm den Kuchen ohne Schwierigkeiten mit einer Hand und öffnete die Ofenklappe mit der anderen. Eine Welle heißer Luft traf mein Gesicht. Energisch stellte Martha den Kuchen in den Ofen, schloss die Klappe und sah mich von Kopf bis Fuß an. „Du solltest mehr essen. Dann wärst du auch ein bisschen kräftiger.“

* * *

Leah zog ihre Nase kraus. „Was ist das für ein Kuchen?“

Ich tätschelte ihre Kapp. „Aprikose-Himbeere. Hört sich das nicht lecker an?“

„So was hab ich noch nie gegessen.“

„Für alles gibt es ein erstes Mal.“

„Er riecht gut“, sagte Elizabeth.

„Er riecht wie ein Kuchen“, relativierte Samuel die ganze Sache.

„Wer will ein Stück?“, fragte ich.

Der Kuchen hatte hier gewartet, unangetastet, ungegessen, bis die Kinder aus der Schule nach Haus gekommen waren. Sie hatten ihn begrüßt, wie andere Kinder sich über ausgefallene Süßigkeiten wie Marzipan oder Konfekt freuten.

Ich schnitt den Kuchen mit einem Messer an, er war immer noch ein bisschen warm. Nachdem ich das erste Stück geschnitten hatte, versuchte ich es, mit der Messerklinge auf einen Teller zu heben.

Das Ergebnis sah eher so aus, als sei ein Fruchttransporter mit einem Bäckereiauto zusammengestoßen.

Leah beäugte den Teller. „Ich glaube, du brauchst eine Tortenschaufel.“

„Oh. Richtig.“ Ich fing an, die Küchenschubladen zu durchsuchen, aber Leah holte die Tortenschaufel mit einem Griff hervor.

„Hier, bitte.“

„Danke.“ Die nächsten Stücke sahen viel schöner aus. Ich verteilte vier Gabeln, und wir setzten uns alle an den Küchentisch.

Der erste Bissen schmolz in meinem Mund mit einer Geschmacksexplosion. Die Säure der Himbeeren schmeckte wunderbar zusammen mit der Süße der Aprikosen.

Wurde jeder erste Kuchen so perfekt? Ich hatte seit der Mittelstufe nicht mehr gebacken, und damals waren meine Muffins zusammengefallen wie die Träume meiner Mutter für mein Leben.

Aber der Kuchen? Der Kuchen war genial. Als ich den letzten Rest des Kuchens aß und den Teller mit der Gabel sauberkratzte, fragte ich mich, was ich noch alles lernen könnte, während ich hier war.

* * *

Nach dem Abendessen nahm Gideon mich zur Seite.

Ihre Tochter will die Familie verlassen und Modedesignerin werden, dachte ich.

„Übermorgen fahren wir zu den Lapps zum Gottesdienst“, sagte er.

Offensichtlich konnte er keine Gedanken lesen. Ich musste mich einen Moment sammeln und meine Gedanken sortieren. War es schon Freitag? Ich hatte seit meiner Ankunft völlig das Zeitgefühl verloren.

„Sonntag. Gottesdienst. Okay“, sagte ich, nachdem ich mich wieder orientiert hatte.

„Wir dulden keine Fremden in unseren Gottesdiensten.“

„Nie? Ich meine, wenn ich den Gottesdienst beobachten würde, könnte ich viel über Ihre Kultur erfahren. Ich würde nicht reden. Nur hinten sitzen und –“

Gideon unterbrach mich. „Keine Fremden. Ich will keinen Ärger in mein Haus bringen.“

Ärger?

„Wir befolgen die Ordnung“, sagte Gideon.

Ich nickte. „Ich habe den Begriff schon gehört.“

„Wir müssen der Ordnung alle Zeit folgen. Und wir dürfen niemandem jemals Grund geben, zu denken, dass wir sie nicht befolgen.“

„Okay …“

„Viele Leute finden es nicht gut, dass Sie hier sind. Wir sehen nichts Falsches darin, aber wir wollen nicht, dass unser Bischof für etwas anderes als ein Abendessen unter Freunden zu uns kommt.“

„Ich verstehe. Es ist gut“, sagte ich.

Aber in meinem Inneren war ich enttäuscht.

* * *

Der Sonntag dämmerte kalt und regnerisch. Obwohl der Ofen im Wohnzimmer genug Wärme spendete, waren meine Füße eiskalt. Ich dachte ernsthaft darüber nach, den Ofen in der Küche anzumachen, mir einen Stuhl zu nehmen und ein gutes Buch zu lesen.

Vielleicht war das nicht die beste Idee, aber der Verstand funktionierte einfach nicht optimal, wenn die Füße blaufroren.

Während ich den Grad meiner morgigen Erkältung ausrechnete, bereiteten sich die Burkholders auf den Gottesdienstbesuch vor. Es war völlig anders, als ich es von meiner Familie kannte.

In meiner Familie war es vor der Kirche hektisch gewesen, wir hatten uns um das Badezimmer gestritten und mussten schnell unser Frühstück runterschlingen.

Die Burkholders arbeiteten wie ein Uhrwerk. Jedes Kind zog sich selbst an und machte sich fertig. Die Jungen, auch Amos und Elam, trugen saubere Hosen und gebügelte Hemden. Die Mädchen trugen hellere Kleider aus feinerem Stoff. Während bei den Tates immer alles drunter und drüber gegangen war, herrschte bei den Burkholders eine eingespielte Routine.

Schließlich verließen sie ruhig das Haus.

Von drinnen konnte ich hören, wie die Schritte auf der Veranda innehielten und die Spannung sich erhöhte.

„Papa“, fragte Elizabeth, „wo ist der Wagen?“

Ich erhob mich aus dem Schaukelstuhl und warf einen Blick durch die Tür, über die Schultern der Kinder. Das Scheunentor stand offen, und der Einspänner war nicht zu sehen.