Über das Buch:
Eleanor Braddock ist eine pragmatische Frau, die gelernt hat zu kämpfen. Nachdem ihre Familie durch den Bürgerkrieg alles verloren hat, findet sie Aufnahme auf Belmont, dem herrschaftlichen Anwesen ihrer Tante. Diese ist eine der reichsten Frauen Amerikas. Doch Eleanor will nicht von Almosen leben und nicht den Mann heiraten, den ihre Tante für sie aussucht. Sie träumt von einem eigenen Restaurant. In dem gutaussehenden Architekten und Botaniker Markus Geoffrey findet sie einen Freund und Unterstützer. Doch Markus ist nicht der, der er zu sein vorgibt …

Über die Autorin:
Tamera Alexander ist für ihre historischen Romane schon mehrfach mit dem Christy Award ausgezeichnet worden, dem bedeutendsten christlichen Buchpreis in den USA. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei erwachsenen Kindern in Nashville.

5

Als Eleanor die Stufen vor dem Haus hinaufstieg und die Tür erreichte, war sie außer Atem und schwitzte.

Eine Hausdame öffnete ihr mit steifer Miene. Eleanor trat ein und stellte sich vor. Mrs Routh, die sich betont als oberste Hausdame vorstellte, betrachtete sie von Kopf bis Fuß, und Eleanor wusste schnell, was diese Frau von Rosa hielt.

Sie war jedoch dankbar, als Mrs Routh kein Wort über ihre Kleidung verlor und sie nur mit einer knappen Handbewegung aufforderte, ihr zu folgen.

Das Innere von Belmont war noch schöner, als Eleanor es in Erinnerung hatte. Links von ihr sah sie ein lebensgroßes Porträt von Adelicia und einer ihrer Töchter, darunter befand sich auf einem Sockel eine faszinierende Marmorstatue von zwei schlafenden Kindern. Eleanor konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal gesehen zu haben.

Aber – sie verlangsamte ihre Schritte und ihre Augen wurden größer – auch ein anderes Kunstwerk war bei ihrem letzten Besuch eindeutig noch nicht hier gewesen. Daran würde sie sich unter allen Umständen erinnern.

Mitten in der Eingangshalle stand vor dem Marmorkamin eine sehr sinnliche Statue, die den Besucher begrüßte. Eleanor starrte sie unwillkürlich an, als sie daran vorbeiging. Die Skulptur zeigte eine Frau, die kniete und Weizenähren über einem Arm trug. Aber die kühne Darstellung durch den Künstler stach dem Betrachter am stärksten ins Auge.

Das Kleid war der Frau auf der einen Seite von der Schulter gerutscht und entblößte eine wohlgeformte, nackte Brust. Eleanor fand es erstaunlich, dass Tante Adelicia die Statue in der Eingangshalle stehen hatte.

Ihr Blick wanderte zur Uhr auf dem Kaminsims. Sie kniff die Augen zusammen. Dann atmete sie tief ein, um ihre plötzliche Nervosität zu beruhigen, und strich die Falten aus ihrem Rock. Sie hätte nicht ins Gewächshaus gehen sollen.

In diesem Moment hätte sie viel dafür gegeben, dem Hilfsgärtner seinen muskulösen Hals umzudrehen.

Als sie sah, dass Mrs Routh schon einige Schritte weitergegangen war, beeilte sich Eleanor.

Wohin sie auch schaute – vom üppigen Muster der Tapete und der luxuriösen Vorhänge, zum geblümten original Wilton-Wandteppich, der eine ganze Wand bedeckte, bis hin zu den faszinierenden Bronzekronleuchtern, in denen von Gas betriebene Flammen flackerten –, sah sie, dass auf Belmont Schönheit regierte. Gemälde schmückten fast jeden freien Zentimeter an den Wänden. Eleanor hätte sich mehr Zeit gewünscht, um sie zu betrachten.

Aber ihr blieb keine andere Wahl, als sich zu beeilen, um die Haushälterin wieder einzuholen.

Mrs Routh klopfte leise an die Glasscheibe der Tür zum Hauptsalon und öffnete sie dann. „Ihre Nichte ist eingetroffen, Mrs Cheatham.“

Eleanor beschloss, den strafenden Unterton in Mrs Rouths Worten zu überhören, und warf einen ersten Blick auf ihre Tante, die auf einem eleganten Sofa saß. Tante Adelicias dunkle Haare – ohne jede Spur von Grau, soweit sie sehen konnte – waren nach oben gebürstet und zu luftigen Locken frisiert. Trotz ihrer Jahre sah Adelicia Acklen Cheatham immer noch atemberaubend schön aus. Etwas anderes hatte Eleanor auch nicht erwartet.

Als Eleanor ihre Tante ansah, überkamen sie unerwartet starke Gefühle, da sie sich an das letzte Mal erinnerte, als sie Belmont besucht hatte. Mit ihrer Mutter, ihrem Vater und Teddy. Jetzt waren sie alle, einschließlich Onkel Joseph, nicht mehr da.

Fast alle.

„Tante Adelicia.“ Eleanor machte einen Knicks. „Wie herrlich, dich nach so vielen Jahren wiederzusehen. Danke, dass du mir erlaubst, bei dir zu wohnen. Aber ich hoffe, dass ich deine Gastfreundschaft nicht überstrapaziere. Ich will dir nicht zur Last fallen. Ich werde alles tun, damit das nicht der Fall ist.“

Als sie merkte, dass sie zu viel redete, biss sich Eleanor im buchstäblichen Sinn auf die Zunge.

Tante Adelicia stand mit Schönheit und Würde von ihrem Sofa auf. Und mit einer Eleganz, die man normalerweise nur bei … Adeligen sah. Eleanor konnte es nicht leugnen.

Ihre Tante war so zierlich, ihre Bewegungen waren so zart und anmutig, so feminin und doch mit einer unübersehbaren Stärke. Eleanor ertappte sich dabei, dass sie wünschte, sie hätte mehr Ähnlichkeit mit ihr und weniger mit … sich selbst.

Tante Adelicia neigte leicht den Kopf und schaute sie mit einem strahlenden Lächeln an. „Willkommen auf Belmont, Eleanor. Du kommst spät.“

* * *

Eleanor hatte immer noch Mühe, sich von Tante Adelicias höflich formuliertem Tadel zu erholen, als sie den nächsten Bissen von den Süßkartoffeln nahm, die mit Sahne so leicht und schaumig geschlagen waren, wie sie noch nie zuvor welche gegessen hatte. Dabei beobachtete sie die Geschehnisse am Esstisch der Familie Cheatham.

Sechs Kinder zwischen acht und achtzehn Jahren, darunter Dr. Cheathams Tochter und Sohn im Teenageralter, plauderten fröhlich. Dr. Cheatham und Tante Adelicia brachten sich ebenfalls in das Gespräch mit ein. Es wurde viel gelacht, eine Vielzahl von Themen wurde angesprochen, und das köstliche Essen war ein Genuss. Eleanor schaute ihre vier jüngeren Cousins und Cousinen an, die von ihrer neuen Schwester und ihrem neuen Bruder sichtlich begeistert waren. Es war unübersehbar, dass die Familie von Tante Adelicia und ihrem dritten Ehemann erfolgreich zusammengewachsen war.

Aber trotz der Herzlichkeit und Fröhlichkeit, des eleganten Porzellans und der Kristallkelche, die randvoll mit Eis und frisch gepresster Zitronenlimonade gefüllt waren, inmitten all dieses Luxus, konnte Eleanor die Einsamkeit tief in ihrem Inneren nicht vertreiben.

In dieser Atmosphäre vermisste sie ihren Vater noch mehr.

Sie fragte sich, wie er sich wohl fühlte. Würde er sich bald eingewöhnen? Hatte er heute Abend etwas gegessen? Manchmal musste man ihn überreden, damit er etwas aß. Bitte, Herr – sie drückte die Augen fest zu – lass es ihm besser gehen.

Sie war dankbar für die Zeit, die sie und Tante Adelicia zuvor miteinander verbracht hatten. Obwohl sie selbst nicht allzu viele Nettigkeiten zum Gespräch hatte beitragen können, hatte sie es genossen zu hören, was es in der Familie Cheatham Neues gab.

Trotz allem, was über ihre Tante gesagt wurde, war Adelicia Cheatham auf jeden Fall eine hingebungsvolle Mutter.

Eleanor hatte gehofft, es ergäbe sich der richtige Moment, um ihrer Tante ihre Idee vorzustellen, aber dazu war es noch nicht gekommen. Als das Essen fast zu Ende war, beschloss sie, es erneut zu versuchen.

Sie begleitete ihre Tante und Dr. Cheatham in den kleinen Salon und war ziemlich überrascht, als Pauline – die beim Essen stolz verkündet hatte, dass sie bald neun werden würde – sich dicht neben sie aufs Sofa kuschelte.

Eleanor hatte Pauline nicht mehr gesehen, seit das Mädchen noch ganz klein, vielleicht ein Jahr alt, gewesen war. Das war in Alabama bei einem Acklen-Familientreffen gewesen, nach dem Tod von Eleanors Mutter, aber noch vor dem Krieg.

Sie erinnerte sich, dass sie Pauline als Baby auf den Armen gehalten und den starken Wunsch gehabt hatte, selbst ein Kind zu bekommen. Aber sie hatte diese Hoffnung bereits vor Jahren aufgegeben; wenigstens wollte sie das glauben. In Momenten wie diesem jedoch kam das ferne Herzklopfen der Mutter, die sie hätte sein können, wieder näher und pulsierte mit neuer Wärme unter ihrer Haut.

Pauline blickte auf und hakte sich bei Eleanor unter. „Wo sind denn deine Kinder?“

„Pauline!“, schimpfte Tante Adelicia leise. „Eine solche Frage stellt man einer Dame nicht … in keinem Alter.“

Pauline verzog das Gesicht und senkte den Kopf. Eleanor musste lächeln. Pauline war Tante Adelicia wie aus dem Gesicht geschnitten und besaß auch die Kühnheit ihrer Mutter, auch wenn ihr vielleicht noch die dazu nötige Würde fehlte.

„Das macht nichts, Tante Adelicia. Ich bin deshalb nicht beleidigt.“ Eleanor schaute zu Pauline hinab und streichelte ihre dunklen Haare. „Du hast das gefragt, weil ich alt genug bin, um eine Mutter sein zu können. Ist das richtig?“

Pauline warf einen vorsichtigen Blick auf Tante Adelicia und nickte dann.

„Du hast recht“, sprach Eleanor weiter. „Ich bin alt genug, um Kinder haben zu können. Aber ich habe keine, weil ich nie verheiratet war.“

Als sie sah, dass das Mädchen bereits die nächste Frage auf der Zunge hatte, hoffte Eleanor, dass sie diese Frage in Anwesenheit ihrer Tante und deren Mann beantworten könnte.

Warum bist du nicht verheiratet?“

„Pauline Sarah Acklen!“ Dieses Mal lag Verlegenheit in Tante Adelicias strengem Tonfall.

Aber Eleanor, die diese Frage als das sah, was sie war – unschuldige Neugier –, konnte dem Kind keinen Vorwurf machen. Denn sie selbst hatte die gleiche Charaktereigenschaft. Sie dachte im Stillen darüber nach, wohin ihre eigene Neugier – auch wenn sie weitaus weniger unschuldig gewesen war – sie heute geführt hatte.

Sie warf einen Blick auf ihre Tante und Dr. Cheatham und bat stumm um die Erlaubnis, weitersprechen zu dürfen. Dr. Cheatham, der den Versuch, sein Lächeln zu verbergen, aufgab, warf einen Blick auf seine Frau, die nickte, auch wenn sie immer noch sehr streng schaute.

„Der Grund, warum ich nicht verheiratet bin, Pauline, ist, dass ich nie einen Mann kennengelernt habe, den ich hätte heiraten wollen.“ Obwohl das die Wahrheit war, gab es noch einen anderen Grund, der genauso wahr war. Und der für alle im Raum offensichtlich war. „Und auch, weil …“ Eleanor war von der Wärme, die in ihre Wangen stieg, und davon, wie schwer es ihr fiel, die nächsten Worte laut auszusprechen, überrascht, „… nie ein Mann um meine Hand angehalten hat.“

Paulines dunkle Brauen zogen sich zusammen, und Eleanor versuchte zu erahnen, welche Frage als Nächstes käme.

Das Mädchen schürzte die Lippen. „Also muss der Mann um die Hand der Frau anhalten?“

Eleanor war dankbar, dass Pauline nun eine weniger persönliche Frage gestellt hatte, und drückte ihrer kleinen Cousine zärtlich den Arm. „Das ist so Brauch, ja. Aber die meisten Paare sprechen normalerweise vorher darüber, wenigstens zu einem gewissen Maß, bevor der Mann um die Hand der Frau anhält. Wenn es also bei dir so weit ist …“ sie drückte Pauline einen Kuss auf die Stirn und zwinkerte ihrer Tante zu, „… und ein junger Mann, den du sehr liebst, um deine Hand anhält, sollte dich das nicht unvorbereitet treffen.“

Noch während sie das sagte, wusste Eleanor, dass sie ein Versprechen auf eine Zukunft gab, die nicht für jedes Mädchen eintreten würde – schon gar nicht in diesen Jahren nach dem furchtbaren Krieg, der die Auswahl an Männern sehr reduziert hatte. Aber für Pauline Acklen, das hübsche, lebhafte Mädchen aus einer sehr reichen Familie, würde dieses Versprechen wahr werden. Eines Tages hätte Pauline eine große Schar von Verehrern.

Offenbar zufrieden mit ihrer Antwort, sprang Pauline vom Sofa auf, rannte zur Tür und drehte sich dann noch einmal um. „Wenn ich groß bin“, verkündete sie und stemmte die Hände in die Hüften, „und einen Mann treffe, den ich heiraten will, und er nicht um meine Hand anhält, dann halte ich um seine an.“

Sie warf die Tür hinter sich zu, und ihre kindliche Erklärung schwebte in der Luft, während alle verblüfft schwiegen.

Dr. Cheatham brach mit seinem leisen Lachen das Schweigen. „Deine Tochter wird dir mit jedem Tag ähnlicher, meine Liebe.“

Eleanor lächelte, als sie den Blick sah, den Tante Adelicia ihm zuwarf.

„Sie wissen ganz genau, Dr. Cheatham, dass ich eine Frau bin, die sehr viel Wert auf Tradition legt und …“

Während sie dem Gespräch folgte, wanderte Eleanors Blick zum offenen Fenster. Obwohl die Abenddämmerung bereits ihr rötliches Licht auf die Landschaft legte, war es draußen immer noch hell, und sie entdeckte Mr Gray und einen Mann, den sie nicht kannte, in den vorderen Gärten. Erst als sie sich dabei ertappte, dass sie das restliche Gelände absuchte, wurde ihr bewusst, wen sie suchte …

Sie unterbrach ihre Suche sofort.

Ein kurzes Klopfen ertönte, und Cordina, Belmonts Chefköchin, betrat mit einem Silberservice den kleinen Salon.

Eleanor erinnerte sich an den Namen der Frau, da sie es kaum erwarten konnte, sie nach dem Rezept für das Essen zu fragen, das sie heute Abend genossen hatten – die cremigen Süßkartoffeln, die Butterbohnen, die so zart gewesen waren, ohne zu weich zu sein, und der Schweinebraten. Das Fleisch war ihr praktisch auf der Zunge zergangen.

„Ich habe Ihnen Ihren Abendkaffee gebracht, Mrs Cheatham. Und natürlich einige Teekekse.“

„Danke, Cordina.“ Tante Adelicia nahm ein Buch vom Tisch. „Ich möchte es noch einmal sagen: Das Essen heute Abend war köstlich.“

„Ja“, stimmte Eleanor ihr zu. „Das war es wirklich. Wenn Sie Zeit haben, Cordina, würde ich gerne wissen, wie Sie Ihren Schweinebraten so zart hinbekommen.“

Cordina strahlte, während sie das beladene Silbertablett auf den Tisch stellte. „Ach, das ist kein Geheimnis, Miss Braddock. Sie müssen das Fleisch nur eine Weile in Gewürze einlegen, bevor Sie es kochen. Dann kochen Sie es lange und behutsam. Wenn man es zu eilig hat, wird es nur zäh.“

Eleanor wünschte, sie hätte Papier und eine Feder zur Hand. „Welche Gewürze nehmen Sie …“

„Cordina.“ Tante Adelicia beugte sich vor. „Sie hatten einen langen Tag. Ich denke, wir kommen heute Abend ohne Sie zurecht.“

Cordina lächelte und senkte den Kopf. „Ja, Madam. Danke, Madam.“

Als die Tür zuging, hatte Eleanor die Befürchtung, dass sie Cordina vielleicht irgendwie in Schwierigkeiten gebracht haben könnte. Doch hoffentlich nicht dadurch, dass sie mit ihr ein Gespräch begonnen hatte? Obwohl der Bürgerkrieg hauptsächlich wegen der Frage der Sklaverei ausgetragen – und von der Konföderation verloren – worden war, wusste sie, dass einige Leute immer noch dem „alten Süden“ nachtrauerten.

Aber in den wenigen Stunden, seit sie wieder auf Belmont war, hatte sie gesehen, dass ihre Tante ungezwungen mit den Dienstboten sprach – sowohl mit Schwarzen als auch mit Weißen. Deshalb glaubte sie nicht, dass das der Grund war.

Tante Adelicia schenkte zuerst Dr. Cheatham ein, dann goss sie Eleanor eine Tasse Kaffee ein. „Sahne und Zucker, meine Liebe?“

„Nein, danke. Ich trinke ihn schwarz.“

Während sie an ihrem Kaffee nippte, überlegte Eleanor im Stillen, wie sie ihrer Tante ihren Plan am besten unterbreiten könnte, hätte aber lieber ohne Dr. Cheathams Beisein darüber gesprochen. Sie wusste, dass sie die Worte mit Selbstvertrauen und Entschlossenheit vorbringen müsste. Sonst wäre Tante Adelicia nie bereit, ihren Plan zu unterstützen.

Sie brauchte aber ihre Unterstützung. Ein Darlehen. Sie würde jeden Cent zurückzahlen. Und es würde sich lohnen, denn sie würde endlich etwas aus ihrem Leben machen, etwas Sinnvolles. Eine Arbeit, die ihr ermöglichen würde, unabhängig zu sein und wieder ein eigenes Zuhause zu haben. Für sich und ihren Vater.

„Miss Braddock.“ Dampf stieg von Dr. Cheathams Tasse auf. „Sind Sie bereit für die Abenteuer, die meine Frau für Sie geplant hat?“

Eleanors Blick wanderte zwischen den beiden hin und her und sie zog bei seiner Bemerkung eine Braue hoch. „Ich nehme an, das kommt darauf an, wie diese Abenteuer aussehen.“

„Ach, hör nicht auf ihn, Eleanor! Er will sich nur einmischen.“ Tante Adelicia lächelte und spreizte ihren zierlichen kleinen Finger in einem perfekten Winkel ab, während sie an ihrer Tasse nippte. „Aber ich habe wirklich einige Ideen, die ich gern mit dir besprechen würde. Wenn wir später einen Moment Zeit haben.“

Eleanor spürte, dass zwischen den beiden eine stumme Botschaft ausgetauscht wurde, und fühlte sich wie ein Käfer, der gleich mit der Nadel eines Sammlers durchbohrt und an ein Brett geheftet werden sollte.

„Nun.“ Dr. Cheatham erhob sich. „Ich glaube, das war mein Stichwort, wie man so schön sagt.“ Er zwinkerte Eleanor zu. „Seien Sie vorgewarnt, Miss Braddock. Und wie ich schon beim Essen sagte …“ Er lächelte und die Falten in seinen Augenwinkeln traten jetzt stärker hervor. „Willkommen in unserem Haus. Wir freuen uns sehr, Sie bei uns zu haben.“

„Danke, Dr. Cheatham.“ Eleanor stellte die Tasse ab. „Und danke für alles, was Sie für meinen Vater tun.“ Sie blickte zu ihrer Tante. „Ich bin Ihnen beiden sehr dankbar. Ich weiß, dass ich es Ihrem Einfluss und Ihren Beziehungen verdanke, dass mein Vater einen Platz bekommen hat.“ Sie sah im Geiste die Szene wieder vor sich, als ihr Vater aus der Kutsche gestürmt war, und ihre Kehle zog sich schmerzlich zusammen. „Und ich hoffe, dass es ihm bald wieder besser geht.“

Wieder hatte sie das Gefühl, dass eine stumme Botschaft zwischen dem Ehepaar ausgetauscht wurde.

„Miss Braddock, ich bin sicher, dass Dr. Crawford Ihnen gesagt hat, dass man alles medizinisch Mögliche tun wird, um Ihrem Vater zu helfen. Ich freue mich darauf, diese Woche hinzufahren und ihn selbst zu besuchen. Falls Dr. Crawford es noch nicht mit Ihnen besprochen hat“, fuhr er fort, „die Medikamente, die er am Anfang bekommt, haben eine beruhigende Wirkung.“

Eleanor nickte. „Das hat er erwähnt.“

„Sehr gut. Nach der ersten Woche wird die Medikation normalerweise, abhängig davon, wie der Patient reagiert, reduziert, und ihr Vater wird ermutigt, aktiver zu werden. Sie könnten sich also überlegen, welche Hobbys ihm gefallen könnten. Etwas, das ihm ein Ziel gibt und bei dem er sich ein wenig bewegt.“

Sie dachte einen Moment nach. „Er hat immer gern einen Gemüsegarten gehabt. Ich habe keine Spur von einem Garten gesehen, als ich dort war, aber vielleicht könnte ich ihm helfen, einen kleinen Kräutergarten am Fenster seines Zimmers anzulegen. Falls sein Zimmer ein Fenster hat.“

„Es hat bestimmt ein Fenster“, warf ihre Tante ein. „Und das ist eine ausgezeichnete Idee.“

„Allerdings.“ In Dr. Cheathams Lächeln lag Mitgefühl, aber auch Zurückhaltung und eine leichte Warnung. „Sie dürfen sich nicht zu sehr an die Hoffnung klammern, dass er wieder ganz gesund wird, Miss Braddock. Wenn Demenz – falls es das ist – bei einem Menschen einsetzt, ist der Verfall der geistigen Fähigkeiten nur selten aufzuhalten.“

Ihr Herz schlug kräftiger, aber Eleanor nickte und war für seine Freundlichkeit und sein Mitgefühl dankbar, auch wenn seine Worte sie sehr trafen.

Er beugte sich herüber und ergriff ihre Hand. „Immer nur ein Tag auf einmal, mein Liebe“, sagte er leise. „Mehr ist uns nicht gegeben. Und manchmal …“ seine Miene wurde trauriger, „… müssen wir auch den Tag in Stunden zerlegen. Und in Minuten.“

Er drückte ihre Hand. Sie erwiderte seinen Händedruck und war dankbar für seinen festen Griff. Wie lang war es her, seit sie jemanden so berührt hatte – seit sie bewusst jemandem die Hand gehalten oder jemanden umarmt hatte? Oder selbst gehalten oder umarmt worden war? Selbst heute hatte sie ihre Tante mit einem Knicks begrüßt. Und ihr Vater war nie ein Mensch gewesen, der seine Gefühle gezeigt hätte.

Teddy hingegen …

Ein Messer bohrte sich in Eleanors Herz, als sie an ihren jüngeren Bruder dachte. Teddy hatte sie öfter umarmt. Was würde sie dafür geben, wenn sie sich wieder in seine Arme drücken könnte.

Es kostete sie ihre ganze Kraft, diese Gefühle zu verdrängen, als sie Dr. Cheatham erneut mit einem Lächeln dankte, da sie ihrer Stimme nicht traute.

Kaum hatte er die Tür aufgemacht, als Richard und William erschienen. Die zwei dreizehnjährigen Jungen – Brüder seit der Hochzeit ihrer Eltern und nun die besten Freunde – packten ihn links und rechts am Arm und baten ihn aufgeregt, mit ihnen ins Billardzimmer zu kommen. Mit einem letzten Blick sah Dr. Cheatham ins Arbeitszimmer zurück und tat, als habe er Angst, entführt zu werden.

Tante Adelicia lächelte nur und winkte ihm zu.

Eleanor atmete tief aus. Zum Teil war es ein Seufzen, aber auch ein fasziniertes Staunen. Sie hätte nie erwartet, dass in diesem Haus so viel Leben und jugendlicher Elan herrschen würde. „In diesem Haus wird es bestimmt nie langweilig.“

„Nein, gewiss nicht“, lachte Tante Adelicia. „Besonders, seit wir das neue Billardzimmer neben dem Salon eingerichtet haben. Die Jungen lieben es. Wir haben das Schulzimmer für Claude und Pauline nach oben verlegt. Natürlich gehen die älteren Kinder bald zur Schule weg. Aber im Moment geht es im Haus recht lebhaft zu, da sie alle noch zu Hause sind. Und ich möchte es auch nicht anders haben.“ Ihre Gesichtszüge wurden weicher, und Dankbarkeit strahlte aus ihren Augen. „Es gibt nichts Schöneres als Familie, Harmonie und Zuneigung.“

Da sie vor wenigen Sekunden genau das Gleiche gedacht hatte, nur aus einer anderen Perspektive, wurde Eleanor noch einmal bewusst, wie einsam sie im Grunde war. Sie stand auf, um sich noch eine Tasse Kaffee einzuschenken und ihre wehmütigen Gefühle zu überspielen. Sie bot an, die Tasse ihrer Tante zuerst zu füllen, aber Tante Adelicia lehnte ab.

Da sie es für besser hielt, ihre Tante bei diesem Gespräch direkt anzuschauen, nahm Eleanor ihr gegenüber Platz. Erst jetzt fiel ihr die Vase mit dem frisch geschnittenen Strauß Rosen auf einem Tisch in der Ecke auf. Die Blüten waren schneeweiß bis auf die Ränder, die aussahen, als wären sie in einem zarten Rosa bemalt worden. Wie ein Sonnenaufgang.

Sie hatte so etwas noch nie gesehen und musste nicht lange überlegen, um zu wissen, woher sie kamen – und von wem sie kamen. Sie erinnerte sich daran, wie Mr Geoffrey sich vor ihr verbeugt hatte. So würdevoll. Diese Geste hatte an ihm völlig natürlich ausgesehen. Seltsam bei einem Mann seines Standes.

Diese Erinnerung weckte Gefühle in ihr, von denen sie nicht genau wusste, wie sie sie einordnen sollte. Sie wusste nur, dass sie am besten die Finger davon lassen sollte.

Sie sammelte sich und sah ihre Tante an. Sie wusste, dass jetzt der Moment gekommen war, auf den sie gewartet hatte.

„Tante Adelicia, ich …“

„Eleanor, meine Liebe, ich …“

Sie hatten gleichzeitig zu sprechen begonnen und mussten deswegen lachten.

Eleanor ließ ihr mit einer Handbewegung den Vortritt. „Bitte …“ Aber eigentlich hätte sie gern ihren Vorschlag zuerst vorgebracht.

Tante Adelicia nickte freundlich. „Eleanor, meine Liebe, wie mein Mann schon gesagt hat, sind wir sehr dankbar, dass du bei uns wohnen wirst, und wir wollen, dass du dich hier wohlfühlst. Belmont ist dein Zuhause, solange du möchtest.“

Eleanor war dankbar und hoffte, ihre Miene zeigte das auch.

„Immerhin war dein Vater der liebste Cousin meines verstorbenen …“ Tante Adelicias Stimme brach, und sie presste für einen Moment die Lippen fest zusammen. „Dein Vater war der liebste Cousin meines verstorbenen Mannes“, beendete sie ihren Satz leise. „Joseph hat immer sehr viel von ihm gehalten.“ Sie lachte leise, und die Melancholie in ihrem Gesicht wurde wieder schwächer. „Er hat mir unzählige Male erzählt, wie oft dein Vater ihn mit seinen Streichen in die Bredouille brachte, als sie Kinder und Spielkameraden waren.“

Eleanor lächelte und nippte an ihrem Kaffee. „Ich habe diese Geschichten auch sehr oft gehört. Und jedes Mal wurden die Risiken größer.“

„Und die Strafen härter.“ Tante Adelicia seufzte und versank in Erinnerungen. „Du hast gute Arbeit geleistet, Eleanor. Bei deinem Vater, meine ich. Du hast den Haushalt übernommen, die ganze Verantwortung lag auf deinen Schultern. Die letzten Jahre waren schwer für dich. Das weiß ich.“

Eleanor berührte den zarten Henkel der Tasse. „Es war manchmal eine Herausforderung.“ Sie wusste, dass auch ihre Tante trotz des Reichtums, in dem sie lebte, und des Glücks, das jetzt in diesem Haus herrschte, im Laufe ihres Leben viel Trauer erlebt und große Verantwortung getragen hatte.

Tante Adelicia schaute sie an. „Ich kenne dich, seit du elf warst. Du warst immer reifer als andere in deinem Alter. Das weißt du, nicht wahr? Du kamst schon mit einer alten Seele zur Welt, Eleanor. Das habe ich von Anfang an gesehen. Denn ich bin genauso.“

Eleanor senkte den Kopf. „Ich habe das schon sehr früh erkannt. Vielleicht schon als Kind.“ Sie hob eine Schulter und ließ sie dann fallen. „Mir war nur nie bewusst, dass es auch jemand anderes sah.“

„Ich schimpfte jedes Mal mit Joseph, wenn er dich kleine Ellie nannte. Besonders, als er es immer noch sagte, als du schon ein Teenager warst.“

Eleanor lachte. „Damals war ich schon genauso groß wie er.“

„Er hat es immer liebevoll gemeint. Ich hoffe, das weißt du.“

„Ja. Genauso wie mein Vater, der das auch immer sagte. Aber …mein Vater hat mich schon seit Jahren nicht mehr so genannt. Das ist auch richtig so, wenn man es genau bedenkt.“ Eleanor lächelte, aber eher aus Pflichtgefühl.

Sie trank einen Schluck Kaffee, aber er war nur noch lauwarm.

Tante Adelicia setzte sich aufrechter hin. „Genug der Erinnerungen. Ein paar Erinnerungen machen einen dankbar. Zu viele schmerzliche Erinnerungen säen Bitterkeit.“ Sie nahm etwas von einem Tisch, der hinter ihr stand. „Jetzt zu etwas anderem. Ich freue mich besonders, dass du heute angekommen bist, weil ich dir eine ganz liebe Gruppe von Frauen vorstellen möchte. Wir treffen uns einmal in der Woche zum Kaffee und um zu plaudern und um etwas Besonderes miteinander zu unternehmen. Morgen treffen wir uns hier! Ich habe ihnen schon von dir erzählt. Du wirst sie mögen, und ich weiß, dass sie dich mögen werden.“

Eleanor versuchte, sich darüber zu freuen, aber als sie sah, was Tante Adelicia in der Hand hatte, fiel es ihr schwer. Außerdem hatte es ihr nie Spaß gemacht, Small Talk zu machen. Und schon gar nicht mit Leuten, die sie nicht kannte.

„Morgen kommt eine Frau, die uns zeigt, wie man solche Blumensäckchen macht.“ Tante Adelicia schnupperte an dem Duftsäckchen in ihrer Hand und hielt es dann Eleanor hin, damit auch sie daran riechen konnte. Der durchdringende Geruch trieb Eleanor Tränen in die Augen.

„Ist es nicht schön?“ Tante Adelicia strahlte. „Man füllt das Säckchen mit zerstoßenen Blütenblättern. In zwei Wochen wird eine Frau aus England hierherkommen und uns zeigen, wie man Papierblumen macht. Sie hat mir vor einer Weile ein Muster mit der Post zugeschickt.“

Ihre Tante reichte ihr das Säckchen, dann holte sie eine lange, dünne Schachtel aus ihrer Schreibtischschublade und nahm eine Blume heraus – eine Chrysantheme, vermutete Eleanor – und reichte sie ihr mit einem stolzen Blick.

Eleanor hielt das Täschchen in einer Hand und die Blume in der anderen und drehte den Stiel zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie verstand nicht, warum jemand sich so große Mühe machte, etwas aus Papier zu basteln, wenn man draußen im Garten die echten Blumen pflücken konnte.

Ihre Tante trat neben sie. „Ist sie nicht bis ins kleinste Detail ein Kunstwerk?“

„Ja. Sie ist … wirklich etwas Besonderes.“

Tante Adelicia fuhr mit dem Finger die rote Kordel nach, die das Säckchen oben zusammenband. „Die Kordel ist aus handgesponnener französischer Seide.“

Als sie sich ein Leben vorstellte, in dem man Stunde für Stunde damit verbrachte, Duftsäckchen, Papierblumen und Small Talk zu machen, wünschte Eleanor, sie hätte genug Seidenkordel, um sie sich mehrmals um den Hals zu legen und dann fest zuzuziehen.

„Natürlich nimmt unsere Frauengruppe auch an anderen Unternehmungen teil. Wir besuchen Konzerte und Opern. Ah, und gelegentlich gehen wir ins Ballett. Herrlich. Wir haben auch die Nashviller Frauenliga, die sich in der Stadt trifft. Ein paar Frauen in der Liga sind in deinem Alter. Vielleicht gefällt es dir dort auch gut. Sie unternehmen …“

Während Eleanor sich die endlosen Aktivitäten anhörte, denen Tante Adelicia und ihre Freundinnen nachgingen, hatte sie das Gefühl, dass mit rasender Geschwindigkeit eine Mauer um sie herum hochgezogen würde. Die Freundinnen ihrer Tante waren alle verheiratet und wohlhabend, wie sie aus der vielen Freizeit schloss, die sie anscheinend hatten, und daraus, wie sie diese Zeit verbrachten. Sie befand sich jedoch in einer völlig anderen Situation.

Das Wort amerikanischer Adel ging ihr wieder durch den Kopf, und sie musste zugeben, dass der Journalist, der diesen Artikel geschrieben hatte, nicht ganz im Unrecht war. Ihre Tante und die Freundinnen ihrer Tante führten ein beneidenswertes Leben, und ihre Tante lud sie ein, dieses Leben zu teilen. Aber das konnte Eleanor nicht.

Das Duftsäckchen, das einen sehr starken Geruch verbreitete, und die Erfahrung, wie unnachgiebig ihre Tante sein konnte, wenn sie sich erst einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, raubten ihr fast die Luft zum Atmen. Sie fühlte sich, als hätte jemand ihr Korsett zu eng geschnürt.

„… und letztes Jahr habe ich alle Frauen nach New Orleans eingeladen, wo wir an den Festlichkeiten in der Stadt teilnahmen, bevor wir weiterfuhren zu meiner …“

Eleanor stand abrupt auf, da sie kaum noch klar denken konnte. Sie legte die Sachen auf den Tisch. „Vergib mir, dass ich dich unterbreche, Tante Adelicia. Ich weiß, dass du es nur gut meinst, aber …“ Sie atmete tief ein. Wie sollte sie sagen, was sie dachte, ohne die Gefühle ihrer Tante zu verletzen? „Aber das …“ Sie deutete auf das Duftsäckchen und die Blume. „Es tut mir leid, aber … das kann ich nicht.“

Die Überraschung in Tante Adelicias Gesicht wich langsam einer mitfühlenden Miene. „Ach, meine Liebe, das verstehe ich.“ Sie drückte liebevoll Eleanors Arm. „Bei allem, was du durchmachen musstest, hattest du einfach nicht die gleichen Möglichkeiten in deinem Leben. Aber du brauchst keine Angst zu haben …“

„Nein.“ Eleanor schüttelte den Kopf. „Das ist es nicht. Ich …“

Sie hatte auf den richtigen Moment gewartet, sich ihre Worte genau vorgesagt, aber jetzt, da der Moment gekommen war, lief es ganz anders, als sie es sich erhofft hatte. Vergessen war ihre eingeübte Rede. Als sie die Fragen in den Augen ihrer Tante sah, betete sie um die richtigen Worte.

„Ich bin dir sehr dankbar für alles, was du für mich tun willst, Tante Adelicia. Aber wenn ich ehrlich bin … reizt mich keine dieser Aktivitäten.“ Ach, wie sollte sie ihrer Tante nur verständlich machen, was sie fühlte? „Ich möchte mit meinem Leben etwas Sinnvolles machen, Tante. Etwas, womit ich anderen Menschen etwas Gutes tue. Und wenn du mir erlaubst, würde ich dir gern von dem Plan erzählen, den ich …“

Eleanor begriff zu spät, wie ihre Worte auf ihre Tante gewirkt haben mussten. Tante Adelicia zog ihre Brauen in die Höhe, dann verdunkelte sich ihre Miene, und Eleanor stellte sich auf ein Gewitter ein.