Über das Buch:
Die Villa im Weinberg hat einige Geheimnisse offenbart, doch vieles liegt noch im Dunkeln. Zum Beispiel die Zukunft: Wie geht es mit Rese und Lance weiter, die beide eine Besitzurkunde für das Haus in den Händen halten? Gemeinsam reisen sie nach New York, um darüber persönlich mit Lances Großmutter Antonia zu sprechen. Die Fahrt entpuppt sich nicht nur als Reise in eine aufregende Vergangenheit, sondern zieht Rese in den Wirbel der Michelli-Familie, dem sie nur schwer wieder entkommen kann. Doch haben Lance und sie tatsächlich eine Chance? Und kann ihr neu gefundener Glaube den unerwarteten Herausforderungen standhalten, die ihr Leben schon bald auf den Kopf stellen?

Über die Autorin:
Kristen Heitzmann lebt mit ihrem Mann und den vier Kindern am Fuße der Rocky Mountains. Bereits in der Grundschule begann sie zu schreiben, und studierte später Englische Literatur und kreatives Schreiben. Wenn sie nicht an einem ihrer Bücher arbeitet oder ihre Kinder unterrichtet, engagiert sich die überaus erfolgreiche Autorin im Musikteam ihrer Gemeinde.

Kapitel 6

Lance spürte bei jedem Atemzug, wie das Messer in der Wunde umgedreht wurde, während er auf dem Flur vor Nonnas Tür stand. Jedes Mal, wenn er dachte, er mache etwas richtig und tue Gottes Willen … Rese stand neben ihm, aber seine Gedanken kreisten nur um eines: Alles ist meine Schuld.

Er kämpfte gegen die Enge in seiner Kehle an. Er hatte vielleicht nichts damit zu tun gehabt, dass die Türme über Tony eingestürzt waren, aber für Nonna war er unmittelbar verantwortlich. Er hatte sie gedrängt, obwohl sie ihn gebeten hatte, es nicht zu tun. Er hatte ihr Dinge erzählen wollen, die sie nicht hören wollte; hatte sie gezwungen, sich an Dinge zu erinnern, über die sie nie gesprochen hatte. Vielleicht hatte sie nicht einmal gewusst, dass ihr Vater ermordet worden war. Was hatte er sich nur dabei gedacht, so damit herauszuplatzen?

Der Arzt war gekommen. Er gehörte zu denen, die dazu bereit waren, bei einer alten Schlaganfallpatientin einen Hausbesuch zu machen. Er war gerade in der Nähe gewesen, und sechs Häuserblocks waren für ihn kein großer Umweg. Besser, als einen Krankenwagen kommen zu lassen und ein Bett zu belegen. Er kannte Antonia Michelli.

Alle außer Mama hatte er aus dem Zimmer geschickt, und Lance war froh darüber. Er wollte den Schaden nicht mitansehen, denn er wusste, dass es seine Schuld war. Aber jetzt im Flur sagte Dr. Stern: „Mrs Michelli hatte etwas, das wir als Mini-Schlaganfall bezeichnen. Die Medikamente, die sie nimmt, haben offenbar das Schlimmste verhindert.“

Lance schluckte. „Ist sie bei Bewusstsein?“

„Ja. Aber sie darf auf keinen Fall gestört werden.“

Genau. Nötige deiner geschwächten Großmutter keine Informationen auf.

„Immer nur eine Person.“ Er kannte die Michellis. „Sie braucht Ruhe. Wenn sie die hier nicht bekommt, muss ich sie ins Krankenhaus einweisen.“

„Sie wird ihre Ruhe haben.“ Lance wollte ihr nur sagen, wie leid es ihm tat und dass er sie nie wieder mit alldem behelligen würde. Die Sache mit Marco und Vittorio und Arthur Jackson konnte für immer ruhen. Basta. Genug.

Nachdem der Arzt gegangen war, runzelte Rese die Stirn. „Ich weiß, was du tust.“

„Was?“

„Du gibst dir die Schuld daran.“

„Sie hat gesagt, ich solle aufhören.“

„Und das ist nicht gerade deine Stärke.“

Die Untertreibung des Jahres. Sein Handy klingelte, und er unterrichtete Monica über den Stand der Dinge und was der Arzt verordnet hatte. Sie hatte sich alle Kinder geschnappt und war mit ihnen in den Park gegangen; jetzt würden sie sich etwas einfallen lassen müssen, um sie wenigstens in den nächsten paar Tagen zu beschäftigen. Kein Gewimmel um Nonna herum. Immer nur eine Person. Und er war nicht der geeignete Kandidat dafür.

„Bete für sie“, sagte er zu Monica. Und das sollte er auch tun. Er beendete das Gespräch und sah Rese an. „Können wir in die Kirche gehen?“

„Natürlich.“ Sie sah sogar erleichtert aus. Er musste wirklich grimmig dreinblicken.

Zusammen gingen sie die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus, um die paar Blocks zur Kirche zu laufen. Mount Carmel war in diesem Viertel der Mittelpunkt des Lebens, seit die zweigeschossige Kirche 1907 fertiggestellt worden war. Jetzt würde der mit drei Bögen versehene Eingang zwischen den beiden rostroten Backsteintürmen ihm Zuflucht bieten. Rese und er betraten das Gebäude, als die donne anziane, die alten Frauen in ihren schwarzen Stolen und dicken Strümpfen, nach der Mittagsmesse die hellen Steinstufen herunterkamen. Viele von ihnen grüßten ihn, und er zwang sich zu einem Lächeln, während er Rese hineinführte.

Er senkte den Kopf und ließ sich auf einer Kniebank nieder. Wie oft war er schon hier gelandet, in der Hoffnung, dass Gott etwas richten würde, was er verbockt hatte? Bestimmt hielt er einen Rekord im Vermasseln. In Sonoma, als alles aufgeflogen war, hatte er versucht, Rese alles zu geben: die Urkunde, das Geld, er hatte versucht sie loszulassen, weil er glaubte, das sei Gottes Wille. Aber als sie wollte, dass er blieb, war es ihm richtig erschienen, alles zu Nonna zu bringen, deren Zustimmung ihm jetzt mit achtundzwanzig ebenso wichtig war wie damals mit acht Jahren.

Aber Nonna hatte um Hilfe gebeten und nicht um eine Schlacht. Herr. Er verdiente die Gardinenpredigt, die nur sie halten konnte. Aber konnte sie es überhaupt noch? Wie viel von den Fortschritten war verloren, und wie frustriert würde sie sein? Er faltete die Hände vor dem Gesicht. Herr, bitte heile sie. Ich werde die Vergangenheit ruhen lassen. Ich brauche keine Antworten. Bring sie nur zurück.

Er senkte die Stirn auf seine Hände und beugte sich vor, immer noch auf die Kniebank gestützt. Er erinnerte sich daran, wie Mama ihn dafür gescholten hatte, dass er sich so hängen ließ. „Halt den Rücken gerade für den, dessen Rücken für dich ausgepeitscht wurde.

Seine Haltung war kein Zeichen von Respektlosigkeit, aber trotzdem richtete er sich wieder auf. Er spürte den Weihrauch in den Mauern, nicht vom Verbrennen des grauen Pulvers, sondern von den Gebeten, die in wortloser Erwartung und Glauben gen Himmel geschickt wurden. Er konnte beinahe das Flüstern in den Dachsparren hören und fügte sein eigenes hinzu.

In deinem Herzen, deiner Hand geborgen.
Mit allem, was ich bin, mit meinen Sorgen.
Sela, oh Herr, sela. In der Stille findest du mich.
Sela, oh Herr, sela. In der Ruhe läutere mich.

Seine eigenen Worte. Das Problem war, dass er nicht zur Ruhe kam, die Stille nicht fand. Er brauchte die Straße. Er stand auf und ließ Rese vor sich hinausgehen. Gott hatte ihn gehört, dessen war er sich sicher. Aber er wusste nicht, wie die Antwort lauten würde. Und er konnte nicht so lange stillsitzen, bis er es herausfand.

* * *

Lance’ Schritte, mit denen er die Kirche verließ, verhießen nichts Gutes. Er hatte offensichtlich keinen Frieden und Trost dort gefunden, obwohl sie über die Schönheit im Innern des Gebäudes gestaunt hatte. Rese hatte weder diesen Überfluss an Bleiglasfenstern und Marmorpfeilern noch die geschnitzten und gemalten Szenen an Wand und Decke erwartet. Nie hätte sie gedacht, dass sie so etwas in einer Stadtkirche finden würde.

Aber sie hatte auch sonst nichts von dem erwartet, was bisher geschehen war. Ein kurzer Bericht ihrer Pläne, ein ernst gemeinter Versuch, alles wiedergutzumachen, eine Gelegenheit für Lance, den Auftrag, den er für seine Großmutter erledigt hatte, zum Abschluss zu bringen – das hatte sie erwartet. Und jetzt hatte sie Mühe mitzukommen, während sie die Treppenstufen vor der Kirche hinunterliefen.

„Lance?“, keuchte sie.

Er antwortete ihr nicht, während sie zwei Häuserblocks entlangeilten, auch nicht, als sie bei seiner Wohnung ankamen. Er durchsuchte die Schlüssel, die am Schlüsselbrett hingen, und hielt Rico, der mit Star zu seinen Füßen gerade ein Schlagzeugsolo übte, wortlos einen Schlüsselring hin. Rico nickte nur, ohne sein Spiel zu unterbrechen.

Als er wieder unten war und das Haus diesmal durch die Hintertür verließ, schloss er mit dem Schlüssel von Rico einen Schuppen im Hof auf. Dann schob er eine Kawasaki heraus, die schon bessere Tage gesehen hatte. Seine Harley erschien dagegen wie ein Luxusschlitten.

Rese fiel die Kinnlade herunter. „Was ist denn das?“

„Ricos Maschine.“

„Ich dachte, er hätte einen Lieferwagen – den, in dem er das ganze Equipment nach Sonoma gebracht hat.“

Lance wischte den Staub vom Sitz. „Den leiht er sich immer, wenn er einen Auftritt hat. Das hier ist sein fahrbarer Untersatz.“

Wieder musterte sie das Motorrad, auf dessen verbeultem Metall kaum lesbar das Wort Vulcan stand. Das Ding sah aus, als hätte es einen Wiedereintritt in die Erdatmosphäre hinter sich. Lance bockte es auf, verschwand kurz im Schuppen und kam mit einem Helm heraus, der nicht annähernd so schnittig war wie der schwarze Helm, den er für sie gekauft hatte.

„Rico hat einen Helm?“ Sie hätte gedacht, er würde sich nichts daraus machen, so wie Lance.

„Es ist ein alter Helm von Tony. Wir schnallen ihn bei dir fester.“

„Lance, ich werde nicht –“ Aber als er ihr den Helm auf den Kopf setzte, bemerkte sie, dass seine Hände zitterten. Sie hatte schon erlebt, dass er aufgebracht war, aber so gezittert hatte er noch nie. Er brauchte diese Fahrt. Sie zog den Helm auf und befestigte den Kinnriemen, aber als er das Motorrad anließ, zuckte sie zusammen. Der Auspuff spuckte grauen Schaum, bevor der Motor in ein asthmatisches Brummen verfiel.

Er brüllte: „Steig auf.“

„Lance …“ Sie hatte sich gerade erst an seine Harley auf den ruhigen Straßen von Sonoma gewöhnt.

„Komm schon.“ Mit dem Kinn deutete er auf den Sitz hinter ihm, während der Motor ächzte und knatterte.

Sie wusste, was er von ihr wollte, aber auf diese Maschine konnte sie sich nicht setzen. Damit war ein Unfall vorprogrammiert. Hörte er das nicht? Was fand er nur an dieser klapprigen Höllenmaschine?

Er blickte auf, und als er ihre Miene sah, ließ er die Schultern hängen. „Ist schon gut. Du musst nicht.“ Er kramte nach seinen Hausschlüsseln und hielt sie ihr hin. Mit der anderen Hand betätigte er das Gaspedal und brachte den Motor zum Aufheulen.

Er würde ohne sie fahren, und wäre ihr das nicht lieber? Nicht, wenn er so aufgebracht war, dass er zitterte. „Lance … nicht …“ Ach, was nützte es schon? Sie schloss die Augen, stieg auf das Motorrad und schlang die Arme um seine Taille. Sie hatte weniger Platz als auf der Harley, und der Sitz war so, dass sie etwas höher saß als er und sich nach vorne lehnen musste. Als er beschleunigte und die Auffahrt entlang bis zur Straße fuhr, klammerte sie sich fester an ihn. Ricos Maschine hatte nicht den satten Klang der Harley. Sie brauchte dringend einen Schalldämpfer, und hatte sicher auch andere Motorschäden, die nach einem Mechaniker riefen.

Während sie sich durch den Verkehr schlängelten, musste sie all ihren Mut zusammennehmen, um Lance nicht zuzurufen, er solle sie zurückbringen – falls er sie überhaupt hören konnte. Sein ruckartiges Anfahren und Bremsen und seine Ungeduld in den Staus und vor den roten Ampeln zeigten ihr, wie angespannt er war. Sie wusste, wohin er wollte: die Straße außerhalb der Stadt, Geschwindigkeit. Sie erinnerte sich mit erschreckender Klarheit an jene erste Fahrt, bei der er ihr mit voller Absicht eine solche Angst eingejagt hatte, dass sie sprachlos gewesen war.

Als er jetzt auf die Autobahn in nördlicher Richtung nach Connecticut fuhr, spürte sie keine Wut in ihm, aber eine ähnliche Heftigkeit. Der Wind schlug ihr ins Gesicht und raubte ihr den Atem. Sie hasste das Gefühl, seinen Reflexen und seinen Entscheidungen ausgeliefert zu sein. In dieser Stimmung bestand Lance aus purer Emotion und nackter Reaktion.

Sie hatte die Kontrolle aufgegeben. Es wäre nicht ganz so schlimm, wenn sie wüsste, dass wenigstens einer von ihnen alles unter Kontrolle hatte, aber sie wusste, dass es ein Blindflug war. Sie presste ihm die Arme in die Seiten und schrie: „Langsamer!“

Stattdessen lehnte er sich nach links, kurz vor einem Fahrzeug, auf das er dicht aufgefahren war, und schwenkte in die Gegenspur und zurück, bevor ein Minivan aus entgegengesetzter Richtung an ihnen vorbeirauschte. Sie verbarg den Kopf hinter seinen Schultern. Sie konnte sterben … oder Schlimmeres.

Wie war es wohl, im Koma zu liegen? Oder gelähmt zu sein? Wie sehr würde es wehtun, wenn jeder Knochen im Körper gebrochen war? Wie würde es sich anfühlen, Lance alle Knochen zu brechen? Aber nachdem er bei seiner Großmutter einen Rückfall verursacht hatte, versuchte er wahrscheinlich, das selbst zu erledigen. Niemand konnte sich so gut Selbstvorwürfe machen wie Lance Michelli.

Während sie auf die Straße hinabblinzelte, die unter ihr dahinflog, versuchte sie, sich nicht auszumalen, wie sie mit ihm zusammen durch die Luft flog und diese schrecklichen Sekunden durchlebte, in denen sie darauf wartete, dass Schotter sich in ihre weiche Haut grub, auf gerissene Muskeln und Schreie, bevor der Hals mit einem gnädigen schnellen Knack brach. Und jetzt war sie wütend. „Halt an, Lance!“

Aber das tat er nicht. Kilometer um Kilometer Autobahn flogen an ihnen vorbei, bewaldete Regionen, urige Städte und weiß umzäunte Anwesen. Sie wusste nicht, ob Lance irgendetwas davon sah. Dies war seine Methode, mit etwas fertigzuwerden, so wie sie ihr Werkzeug nehmen und sich in einem Projekt vergraben würde, bei dem sie etwas einriss oder aufbaute, jeder Schnitt perfekt, jede Passung genau, jede Einzelheit überlegt und ausgeführt. Sich selbst verlierend. Und vielleicht ebenso auf der Flucht, wie Lance es war, nur ohne die Geschwindigkeit und die Gefahr.

Gefahr. Das Bild einer blutbespritzten Wand blitzte vor ihr auf, die Schreie ihres Vaters, der warme, kupferne Geruch von fliehendem Leben. Sie zwang sich langsam zu atmen, während sie sich darüber ärgerte, dass diese Bilder wiederkamen, ohne dass sie durch das Geräusch und den Geruch einer Säge auf Holz ausgelöst wurden. Nur Gedanken an den Tod. Einen qualvollen Tod. „Lance!“

Er nahm eine Hand vom Lenker, umfasste ihr Knie und drückte ihr Bein an seines. Sollte es sie etwa beruhigen, dass er jetzt einhändig fuhr? Sie hätte am liebsten geschrien, aber stattdessen brüllte sie: „Wir müssen anhalten!“

Er hatte sie gehört, das erkannte sie an der plötzlichen Verlangsamung, und einen Augenblick später ließ er ihr Knie los und zeigte mit dem rechten Arm an, dass er von der Autobahn abfahren wollte. Sie atmete tief ein, als der Fahrtwind nachließ. Als sie in die Kleinstadt Darien fuhren, wurde er deutlich langsamer. Eine Mischung aus viktorianischer, kolonialer und edwardianischer Architektur umgab sie mit hübschen, von Büschen gesäumten Wegen aus Kopfsteinpflaster, die einen auffälligen Kontrast zu den trostlosen Straßen der Bronx boten.

Ihre Muskeln entspannten sich, als er durch die Stadtmitte und die Bilderbuchviertel bis zu einem Strand fuhr, der ebenso hübsch war wie alle Strände, die sie an der Westküste gesehen hatte. Ausflugsboote schaukelten auf dem Wasser, das in sanften Wellen ans Ufer schlug, und weiße Möwen schwebten über ihnen. Die Luft roch frisch … Na gut, da waren immer noch die Abgase von Ricos Motorrad, und ihre Wut kehrte zurück, als Lance das Ungeheuer anhielt und abstieg.

Sie riss sich den Helm vom Kopf und funkelte ihn an.

„Was ist?“

„Da fragst du noch?“

„Ich habe doch gesagt, du musst nicht mitkommen.“

„Und wo wärest du dann jetzt?“

„Weiter weg.“

Sie stieg von der Maschine. „Das Ding ist ein Wrack.“

„Sieht nur so aus.“

„Und was ist mit dem grauen Rauch, den es ausstößt, und dem lauten Knattern?“

Lance tätschelte den Lenker. „Ein bisschen eingerostet. Rico fährt wohl nicht viel, wenn meine Harley nicht da ist, mit der er sich messen kann.“

Sie schüttelte den Kopf. „Was geht nur in deinem Kopf vor? Was bringt dir diese wahnsinnige Raserei denn?“

Sein Blick wanderte fort. „Es sind die Kilometer, die Bewegungen der Straße.“

„Es ist eine Flucht.“

„Vielleicht.“ Er legte die Stirn in Falten. „Eigentlich kann ich gar nicht weit genug fahren. Aber ich muss es versuchen.“

Sie seufzte. „Musst du denn so schnell fahren?“

„Auf einem Motorrad fühlt es sich schneller an.“

Möglich. Ihre Fahrerfahrung beschränkte sich auf einen Chevy mit Allradantrieb. Und viel Blech.

Sie blickte auf den von Bäumen gesäumten Strand hinaus, den goldenen Sand, das kobaltblaue Wasser. Nach dem Lärm und Gestank und den Abgasen in der Stadt war es ein unglaublicher Anblick. Beinahe konnte sie froh darüber sein, dass sie hierhergekommen waren. Eindeutig froh war sie darüber, dass sie angehalten hatten. „Ist das der Atlantik?“

Er blickte auf, als würde ihm erst jetzt bewusst, wo er war. „Long Island Sound.“

Wo wären sie gelandet, wenn es ihr nicht gelungen wäre, zu ihm durchzudringen? Kanada? Sie hatte das verrückte Bedürfnis zu lachen – wahrscheinlich ein Anfall von hysterischer Erleichterung. Dann legte sie den Kopf schief und sagte trocken: „Wo ist das Picknick?“ Jetzt, wo der Schrecken vorüber war, hatte sie einen Bärenhunger.

Er schnaubte. „Picknicks sind gefährlich.“

„Picknicks mit mir, meinst du.“ Sie erinnerte sich an den wutentbrannten Höhepunkt ihres ersten Versuchs, als Lance sie auf seine Harley gelockt hatte, die Taschen voller Erdbeeren und Käse, die sie an den Hängen in der Nähe von Sonoma gemeinsam gegessen hatten. Sie hatte ihm gesagt, dass sie nie mit Angestellten ausging, aber hatte er das gehört? Hörte er überhaupt jemals zu?

Er ging in Richtung Strand. „Wir könnten Muscheln suchen.“

„Nein, danke.“ Sie folgte ihm. „Keine schleimigen Meerestiere.“

„Schon mal probiert?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich mag, was du kochst, aber –“

„Sag das noch mal.“

Sie boxte seinen Arm. „Ich werde nicht dein Ego streicheln.“

„Du schlägst wie ein Mann.“

„Gut.“

Mit einem ruhelosen Blick, bei dem sie sich fragte, ob er jemals diesen Drang nach Geschwindigkeit und Entfernung überwinden würde, blieb er am Ufer stehen. Aber eigentlich wusste sie die Antwort schon.

* * *

Die Straße reichte nicht. Vor dem, was er Nonna angetan hatte, konnte er nicht weglaufen. Es ging nicht mehr nur darum, etwas wiedergutzumachen, sondern darum, wie viele Menschen er dabei verletzte.

Er hätte nicht darauf bestehen sollen, aber es war, wie Rese es gesagt hatte: sich zurückzunehmen war nicht seine Stärke. Er hatte Nonna dazu gezwungen, ihn anzuhören. Natürlich war er sanft gewesen, hatte es mit Schmeicheln versucht, aber er hatte nicht aufgegeben.

Italienisches Machogehabe. Und er hatte gedacht, das Gen wäre ihm nicht vererbt worden. Es wirkte sich anders aus als bei Papa und Tony. Er war sensibler, aufmerksamer, aber im Kern war er ebenso entschlossen und fordernd. Versonnen starrte er aufs Wasser hinaus.

Er fühlte sich wie das ausgelaugte Treibholz, das mit der Flut angeschwemmt wurde. Warum erkannte er die Dinge immer zu spät? Nonna vertraute ihm, und er hatte dieses Vertrauen missbraucht, um sie zu zerbrechen.

Rese hockte sich auf den Boden und berührte die Kiesel im Sand. Ihr Schweigen ließ ihn vermuten, dass sie ihn verstand, aber sie hatte nicht erlebt, wie es war, wenn Menschenleben so miteinander verwoben waren, dass jeder Schritt wie ein Tanz auf einem Spinnennetz war. Er hatte Nonna losgerüttelt, und das zerbrechliche Gewebe, das sie hielt, machte ihm Angst. Herr

Aber er konnte nicht nach Gott pfeifen und ihm befehlen, sich nach ihm zu richten. Es war stolz, das zu denken und dies von Rese und Nonna zu erwarten. Liebe zwang anderen nicht den eigenen Willen auf. „Liebe verletzt nicht den Anstand und sucht nicht den eigenen Vorteil, sie lässt sich nicht reizen und ist nicht nachtragend.“ Diese Worte hatte er von Nonna gelernt, als er mit einem blauen Auge an ihrem Tisch gesessen und ihr erzählt hatte, wie er sich an den Idioten rächen würde, die Rico angegriffen hatten.

Sie beschützt immer, raggazzo mio.“

Aber ich habe ihn doch beschützt.“

Sie waren überrumpelt worden, aber das würde ihm nicht noch einmal passieren.

„Die Liebe sucht keine Rache.“

„Ha!“ Er hatte die Fäuste geballt. „Auge um Auge, Nonna.“

Du bist ein Kind und du redest wie ein Kind. Irgendwann wirst du ein Mann sein.“

Er stöhnte. Rese blickte auf, aber keiner sprach. Er hatte sich auf die Lauer gelegt und auf den Gemeinsten der Kerle gewartet, und am nächsten Tag hatte er ihn allein erwischt und ihn ordentlich verprügelt. Er hatte gesagt, er hätte es für Rico getan, aber es hatte keine Rechtfertigung, keine Befriedigung darin gelegen. Versuchte er immer noch zurückzuschlagen? Aber wer war sein Gegner?

Er rieb sich das Gesicht. „Wir sollten etwas zu essen für dich organisieren.“

Rese erhob sich. „Was ist mit dir?“

„Ich habe keinen Hunger.“

„Komm schon, Lance. Du weißt, dass Essen mehr ist als nur etwas gegen den Hunger.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Zum Beispiel?“

„Verbindung, Akzeptanz, Freundschaft.“

Seine eigenen Worte. Aber im Moment fühlten sie sich an wie Gift. „Vielleicht können wir ein bisschen laufen.“

Sie bückte sich und zog ihre Sandalen aus, ließ sie in ihrer Hand baumeln und ging ans Wasser.

„Das solltest du vielleicht besser nicht tun.“

„Wieso?“

„Es ist kalt.“

Sie ließ mit den Zehen einen Fächer funkelnder Tropfen aufspritzen, dann tauchte sie die Hand ein und spritzte ihn nass.

Er prustete. Noch ein Schwall Salzwasser, und als er einen Schritt vor machte, um sie zu packen, lief Rese den Strand entlang. Das Überraschungsmoment kostete ihn Zeit, aber er rannte hinter ihr her. Ihre Beine waren muskulös und schnell. Als sie die Bäume erreichte, erfasste sie einen Silberahorn und schwang sich um seinen Stamm.

„Du glaubst doch nicht etwa, dass du so davonkommst, oder?“ Er näherte sich ihr, ein wenig außer Atem.

Sie verschränkte die Finger um den Baum. „Ich mochte Ahorn schon immer.“

Er blieb einen halben Meter vor dem Baum stehen. „Du hast Glück, dass ich dich mag.“

„Sonst was?“

„Sonst würde ich dich ins Wasser schmeißen.“

Sie hob das Kinn. „Dann hast du mich auf der Rückfahrt ganz durchnässt an dir kleben.“

Er erlaubte seinen Gedanken nicht, bei diesem Bild zu verweilen. Aber er würde ihr auch nicht das letzte Wort überlassen. Behutsam legte er die Hand an den Stamm und lehnte sich vor. „Vielleicht ist es das ja wert.“ Er machte einen Schritt um den Baum herum und blieb stehen. Was tat er hier eigentlich? Dann schloss er die Augen. Nonna lag im Bett und er spielte am Strand? Er ließ seine Stirn gegen ihre sinken. „Ich weiß, was du tust.“

Sie antwortete ihm nicht.

Er blickte auf und sah ihr in die Augen. „Es ist meine Schuld, Rese. Ich denke immer, ich mache etwas richtig und dann …“

„Was würde sie wollen?“

„Mir eine runterhauen.“

Rese betrachtete ihn eine Weile, dann zuckte sie mit den Schultern. „Das könnte ich übernehmen.“

Er trat zurück. „Klar.“

Sie zog die Augenbrauen hoch. „Du glaubst, ich kann das nicht? Frag Sam und Charlie.“

Mit vierzehn hatte sie die beiden Idioten, die sie angefasst hatten, fertiggemacht. Lance legte den Kopf schief. „Also gut, dann gib dein Bestes.“ Er wartete. „Komm schon. Ich schlage nicht zurück.“

Sie schüttelte den Kopf und wandte dann den Blick ab. „Ich kann nicht.“

„Warum nicht?“

„Weil ich nicht wütend bin. Und weil du es bist.“

„Denk einfach an all die Gelegenheiten, bei denen ich dich so richtig geärgert habe.“

Sie funkelte ihn an. „Ich werde dich nicht schlagen, Lance.“

„Was bist du – ein Mädchen?“

Jetzt schlug ihm ihre Wut entgegen. „Ja. Hast du damit ein Problem?“

Er grinste und spürte, wie sich seine Anspannung ein wenig löste. „Machst du Witze? Ich mag Mädchen.“

Rese fuhr sich mit der Hand über die Haare. „Hör mal, ich kann das nicht gut.“

„Was denn?“

„Ich weiß nicht, trösten. Einen anderen Blickwinkel aufzeigen.“

Er wollte keinen Trost, und sein Blickwinkel war so klar wie Glas. Er seufzte. „Ich will es nur zurücknehmen, etwas so Idiotisches ungeschehen machen … Ich würde alles geben, wenn ich noch eine Chance hätte.“

„Du wirst deine Chance bekommen.“

Er verbarg das Gesicht in seinen Händen. „Und was ist, wenn nicht? Was ist, wenn ich ihr nicht sagen kann, wie leid es mir tut?

Rese zog seine Hände herunter. „Sie weiß es.“

„Woher denn?“

„Sie kennt dich.“

Interessiert betrachtete er sie und spürte, wie er ein wenig Trost in sich aufnahm. Nonna würde ihm eher vergeben als er sich selbst. Dann musste er lächeln. „Du machst das besser, als du glaubst.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Du übertreibst halt gerne, wenn du so voller Feuer und Gefühl bist.“

Er lehnte sich mit einem Arm gegen den Ahornbaum. „Ja?“

Sie nickte. „Aber bei dem restlichen einen Prozent stellst du dich gar nicht so dumm an.“ Sie stieß sich von dem Baumstamm ab und lief wieder den Strand entlang.

Kapitel 7

Wie doppelt belichtete Fotografien überschneiden die Bilder sich;
Bettpfosten und weiße Wände.
Vom Sonnenschein des Weinlandes vergoldet,
das Treiben einer Menschenmenge, der Duft von Staub …

Ein völlig zerlumpter Junge versucht Nonno zu beklauen, aber Nonno packt ihn am Kragen, bevor er in der Menge verschwinden kann. Ich kann die Freundlichkeit in Nonnos Augen, als er den Jungen ansieht und seine Hand ausstreckt, kaum fassen. Obwohl er dünn und mager ist, ist der Junge älter als ich mit meinen vierzehn Jahren, vermute ich. Er würde abhauen, wenn nicht Nonnos Blick wäre und das Menschengewirr auf der Plaza.

Sein Kehlkopf hüpft auf und ab, als er die Brieftasche in Nonnos Hand knallt, die nicht den Stock hält, um einen alten Mann zu stützen. Dieser Jugendliche muss Nonno für eine leichte Beute gehalten haben, aber wenn er das denkt, kennt er Quillan Shepard nicht. Er windet sich ein bisschen unter Nonnos Blick, scheint aber zu spüren, dass dieser Mann keinen rachsüchtigen Geist hat.

„Wie heißt du?“

Er will seinen Namen nicht sagen, aber irgendwie kann er nicht anders. „Joseph Martino.“

„Suchst du Arbeit?“ Nonnos Worte überraschen selbst mich. Es sind schwere Zeiten und man findet nicht leicht Arbeit. Und er bietet jemandem, der ihn gerade ausrauben wollte, einen Job an?

„Was hast du denn, alter Mann?“ Das Gesicht des Jungen ist nicht so raubeinig wie seine Worte.

„Dein Leben“, sagt Nonno, „in meiner Hand.“

Wieder schluckt der Junge. Ein abgebrühter Verbrecher hätte gespottet. Aber nur wenige Männer spotten, wenn sie mit Nonnos Güte konfrontiert werden. Was wird Papa dazu sagen, wenn er sieht, dass Nonno wieder mal einen Streuner mit nach Hause gebracht hat? Andere sind weitergezogen, aber zwischen diesen beiden geschieht etwas, das mich stutzig macht. Nonno hätte ihn der Polizei übergeben können. Stattdessen erlöst er ihn.

Vielleicht sieht Nonno in ihm sich selbst – einen verbitterten, ungeliebten Jungen, der in Schwierigkeiten geraten ist. Was auch immer es ist, er sagt: „Kannst du Trauben schneiden?“

Der Junge zuckt mit den Schultern. „Ich kann es versuchen.“

Die Bilder laufen ineinander wie bei einem Film, Saison nach Saison, Hacken, Beschneiden, Ernten. Joseph, der Nonno wie einen Vater verehrt.

Und dann verzerrt der Schmerz sein Gesicht, als ich ihm sage, dass Nonno tot ist. Quillan Shepard ist gestürzt und kann nicht mehr aufstehen. Joseph Martino steht da mit einer Schaufel in der Hand und verspricht, unserem gefallenen Helden ein Grab, eine Ruhestatt zu geben. Dann ist er fort.

Der Studebaker bricht aus und schlittert die Auffahrt hinunter in stille Straßen. Die Leute schlafen und ahnen nichts von der Gewalt, dem Kummer, der in meiner Brust hämmert.

Papa! Nonno! Signore, warum?, frage ich, aber was nützen mir Antworten, die nichts ändern können? Ich will, dass alles anders ist. Vielleicht wurde Papa doch nicht erschossen. Habe ich ihn gesehen? Ich habe nur das Geräusch gehört und meine Vermutung und Marcos Worte. Und die schreckliche Leere. Papa. Oh, Papa.

Und Nonno. Seine letzen Worte, seine letzten Atemzüge, als sein großes Herz aufgegeben hat. Zu viel Kummer; zu viel Verlust. Vielleicht hört meins auch bald auf zu schlagen.

Ich richte den Blick auf die Straße. Obwohl ich weiß, dass Nonno dort seinen Platz findet, kann ich nicht zum Himmel hinaufblicken, kann nicht durch die Sterne zu dem Thron sehen, wo Engel Loblieder singen. Diese Nacht ist zum Weinen da und dazu, mir auf die Brust zu schlagen und mich gegen das Schicksal aufzulehnen. Ich presse die Hände auf meine Augen und schluchze.

* * *

Rese hatte gehofft, sie könnte mit Lance, Star, Rico und mit Chaz, falls der nicht arbeitete, in Ruhe zu Abend essen. Aber sobald Lance auf Ricos lebensgefährlicher Maschine vorfuhr, winkte ihm schon seine Mutter vom Fenster aus zu und rief: „Kommt rauf, ihr beiden. Ich koche Spaghetti.“

Lance stellte den Motor aus. „Brauchst du Hilfe?“

Doria stützte sich auf ihre Hände. „Ich kann Spaghetti kochen.“

„Ich habe auch nicht behauptet, dass du es nicht kannst.“ Er klang erschöpft. Der Tag hatte seinen Tribut gefordert.

Seine Mutter wedelte mit der Hand vor ihrer Nase herum. „Dieses Motorrad riecht nach verbranntem Öl.“

„Vielleicht guckst du besser mal nach dem Herd.“

Sie wollte ihm widersprechen, doch dann drehte sie sich um und verschwand.

Rese stieg ab, und Lance schob das Motorrad auf die Plane im Schuppen. Es stank wirklich, obwohl es offenbar mit einigen seiner Probleme während der Fahrt fertiggeworden war. So wie Lance? Auf dem Rückweg war er vorsichtig gefahren, aber Rese war trotzdem froh, als sie den Helm über den Griff hängte und er den Schuppen wieder abschloss. Lance hatte sich abreagiert und sie waren immer noch am Leben.

Er zog die Augenbrauen hoch. „Spaghetti?“

Mit Familie. „Ich wünschte, sie würde sich nicht so viel Mühe machen.“ Wirklich.

Er fuhr sich mit den Fingern durch sein vom Wind zerzaustes Haar und blickte zu dem leeren Fenster hinauf. „Sie wird beleidigt sein, wenn wir nicht mit ihr essen.“

Das verstand sich von selbst. Offensichtlich war sie empfindlich. Es erinnerte sie an Lance während ihrer ersten gemeinsamen Tage, als er sich ständig wegen irgendwelcher Kleinigkeiten aufgeregt hatte. Ihre Mundwinkel zuckten, als sie an die Situationen dachte, in denen sie ihn wütend gemacht hatte, ohne es auch nur zu merken. Sein Temperament war offenbar vererbt.

„Natürlich essen wir mit ihr. Mmm, Spaghetti.“

Er lächelte. „Du hast Hunger.“

„Ich bin völlig ausgehungert.“

Als sie hinaufgingen, um sich frisch zu machen, war die Wohnung leer, also wäre ein Essen mit Star, Rico und Chaz sowieso keine Alternative gewesen. Mit Lance allein zu essen, hätte schön oder schwierig werden können. Das hing ganz von seiner Stimmung ab. Die Tatsache, dass er vergessen hatte, auf dem Weg etwas zu essen einzukaufen, war ein Beweis für eine ernsthafte Unausgeglichenheit. Also wappnete sie sich für das Chaos, um nicht zu verhungern.

Aber nur Lance’ Mutter und seine Schwester Sofie waren da, als sie ankamen. Ein starker Tomatenduft, der nicht unangenehm war, lag in der Luft, und aus der Stereoanlage war Geigenmusik zu hören. Rese hatte das Gefühl, als hätte sie sich auf einen Angriff vorbereitet, der nicht kam – aber sie rechnete immer noch damit.

Lance wandte sich mit hoch gezogenen Augenbrauen an seine Mutter. „Wie geht es ihr?“ Nonna Antonia war das Erste und Einzige, was ihn interessierte.

Doria zuckte mit den Schultern. „Sie ist nicht sehr klar. Schläft die meiste Zeit.“

„Bewusstlos?“

Doria schüttelte den Kopf. „Nicht wie beim letzten Mal.“

Rese nahm das Glas Rotwein, das Sofie, die an der Küchenzeile stand, ihr reichte. Wenn sie auf leeren Magen Wein trank, dürfte sie in Kürze betrunken sein. Doria nahm eine Auflaufform mit großen Champignons aus dem Ofen, über die eine grüne Sauce mit Stückchen gegossen worden war. Es war schwierig, sich einen weniger appetitanregenden Anblick vorzustellen.

„Portobello mit Pesto.“ Doria warf Lance einen schnippischen Blick zu. „Sofie hat das Pesto gemacht.“

„Ist schon gut.“ Er nahm das Glas mit Wein, das seine Schwester ihm hinhielt, und ein Stück Champignon. Letzteres hielt er ihr hin und Rese blieb nichts anderes übrig, als es zu nehmen.

Der Pilz war gummiartig, aber erstaunlich schmackhaft. Der Hunger machte sich bemerkbar, und sie aß die Vorspeise mit nur zwei Schlucken Wein. Dann nahm sie eine zweite Scheibe, die ihr angeboten wurde, als Lance’ Vater hereinkam.

„Hast du das Brot, Roman?“, rief Doria.

„Ich habe das Brot.“ Er reichte ihr eine braune Papiertüte, und ein warmer Hefeduft stieg von dem knusprigen Brot auf, als sie es herauszog.

Rese dachte, sie müsse in Ohnmacht fallen.

„Gut, es ist noch heiß.“ Doria legte es in einen Korb und faltete ein Tuch darum wie um ein Baby.

Sofie trug den Korb zum Tisch. Noch immer hatte sie kein Wort gesagt. Offenbar war Monica die Gesprächige. Und Lucy. Und alle die Tanten. Und verschiedene Cousinen, Onkels und Schwager, Nichten, Neffen und sogar Lance. Aber im Augenblick war es so ruhig, dass Rese nachdenken und beobachten konnte, und was sie bemerkte, war eine Beule in der Küchendecke, die nichts Gutes verhieß. War es höflich, die Familie darauf hinzuweisen? Wahrscheinlich nicht.

„Du solltest nach der Pasta gucken, Mama.“ Lance deutete mit dem Kinn auf den dampfenden Topf.

„Ich weiß, ich gucke.“

Lance zog eine Grimasse, als sie einen Klumpen Spaghetti aus dem Topf hob.

„Ein bisschen mehr als al dente.“

„Soll ich sie abgießen?“ Er nahm den Topf und leerte seinen Inhalt in ein metallenes Sieb in der Spüle.

„Die Sauce ist perfekt.“ Seine Mutter tauchte einen Löffel hinein und hielt ihn Rese hin. Da Doria keine Anstalten machte, das Werkzeug loszulassen, blieb Rese nichts anderes übrig, als sich vorzubeugen und die Sauce vom Löffel zu schlürfen.

Rese lächelte und nickte. Die Sauce war breiiger als alles, was Lance ihr vorgesetzt hatte, aber Hauptsache Essen …

Ein lauter Wasserhahn wurde im Bad zugedreht, und Lance’ Vater erschien. „Wie lange noch?“

„Alles fertig. Hast du deine Kinder schon begrüßt?“

„Sehe ich sie nicht jeden Tag?“

„Lance siehst du nicht jeden Tag und auch nicht seine … Rese.“

Roman schüttelte den Kopf und setzte sich auf seinen Platz am Tisch.

„Anstrengender Tag, Papa?“ Sofie tätschelte seinen Kopf.

„Mhm.“ Er ließ die Hände auf beiden Seiten neben seinen Teller fallen.

Doria drückte Rese eine Schüssel mit Fleischbällchen in die Hand, die sie zum Tisch trug, wobei sie überlegte, wo sie sie hinstellen sollte. Sofie zeigte auf eine Stelle vor ihrem Vater. Lance brachte eine Schale mit Spaghetti und einen Krug mit der Sauce.

Doria folgte ihm mit einem bunten Salat. „Ist das schnell genug für dich?“

„Sicher.“ Hastig steckte sich Roman die Serviette in den Hemdkragen.

Doria zog sie wieder heraus und legte sie über seinen Schoß. „Wir haben Gesellschaft.“

Er blickte auf. „Ich dachte, das wären unsere Kinder.“

„Unsere Kinder und unser Gast.“

Unter seinen Blicken schob Rese sich auf den Stuhl, den Lance für sie hielt, und zog ihn unbeholfen vor. Lance saß ihr gegenüber. Sofie setzte sich neben sie, und Doria nahm gegenüber von Roman Platz. Das war alles? Nur sie fünf? Freude und Schrecken zugleich.

Sie sprachen alle zusammen mit Lance das Tischgebet, und Rese bewegte mit gesenktem Kinn die Lippen, so als kenne sie die Worte. Romans Serviette wanderte zurück in seinen Kragen, und dann löffelte er drei große Fleischbällchen auf seine Nudeln, um anschließend alles in Sauce zu ertränken. Rese nahm alles, was ihr angeboten wurde, auch ein kleines Schälchen mit etwas Öl darin.

„Für dein Brot“, erklärte Sofie ihr.

Das Brot war nicht geschnitten. Jeder brach sich ein Stück ab, als der Korb zu ihm kam. Rese nahm sich ein dickes Stück und beobachtete dann Sofie, die ihres in mundgerechte Stücke riss und diese in Öl tauchte.

„Wer ist bei Nonna?“ Lance’ Gedanken waren noch immer ausschließlich auf sie gerichtet.

„Celestina. Sie bleibt über Nacht.“ Doria blickte auf. „Weißt du, wen ich im Laden gesehen habe? Diesen komischen kleinen Mann, der nur noch ein Bein hat. Johnny Grope.“

Sofie runzelte die Stirn. „Es ist nicht nett, einen behinderten Menschen komisch zu nennen, Mama.“

„Aber er ist komisch. Er macht Witze über seinen Namen und sagt, er hätte zwar ein Bein weniger, aber dafür wenigstens zwei Hände.“

„Und einen eingeschlagenen Schädel.“ Roman biss herzhaft in die Pasta.

Die Menge an Essen auf dem Tisch war viel mehr, als sie bewältigen konnten, selbst mit Rese’ Hunger. Und es ähnelte eher etwas, das sie selbst hätte kochen können, als einer Kreation von Lance. Es schmeckte nicht schlecht; es lag nur schwer im Magen.“

„Ich habe eine neue Schülerin. Sie ist erst vier und hat schon Ausstrahlung.“ Doria wandte sich an Sofie. „Genau wie du in dem Alter, nur Hals und Beine.“

„Gut für Brühe, aber sonst nicht für viel.“ Lance jaulte auf, als sie ihm unter dem Tisch gegen das Schienbein trat.

Doria ließ noch eine Frikadelle auf Lance’ Teller fallen. „Wo wart ihr denn heute? Myrna Caravaggio wollte etwas von dir.“

„Myrna Caravaggio glaubt immer noch, ich wäre sechs Jahre alt. Sie drückt immer mein Gesicht und sagt, wie süß ich in meinem Tomatenkostüm war.“

Rese warf ihm einen Blick zu, den er mit einem Zwinkern erwiderte.

„Du weißt doch, dass sie dich mag. Sie ist nur ein paar Mal im Jahr hier, und du warst ihre Lieblingstomate.“ Doria lachte.

„Ja, ja.“

„Nimm noch etwas Brot, Theresa.“ Doria schob ihr den Korb zu.

Das Brot war köstlich, nachdem sie sich daran gewöhnt hatte, es in das Öl zu tunken. Rese nahm auch noch etwas von dem Salat. Er war frisch und schmackhaft, nur die schlaffen braunen Streifen legte sie beiseite, diese Anchovis hatten schon bessere Zeiten erlebt. Wenn man bedachte, dass sie seit dem Teilchen heute Morgen, bevor sie Lance’ Großmutter besucht hatten, nichts mehr gegessen hatte, war diese Mahlzeit genau das Richtige für sie.

Sie brachte ihren Teller zu Lance, der an der Spüle stand. „Ich bin vollgestopft.“

„Mamas Sauce hat ihre eigene Schwerkraft.“

„Das habe ich gehört.“ Doria kam herein und stellte die Schüssel mit den Fleischbällchen auf die Arbeitsplatte.

„Bleibt an den Rippen hängen.“ Roman drückte sie von hinten. „Wie es sein soll.“ Er beugte sich über sie und liebkoste ihren Hals.

Rese versuchte, die beiden nicht anzustarren, aber war das normales elterliches Verhalten? Lance bemerkte ihren Blick und grinste.

„Nicht jetzt.“ Doria wand sich los.

„Was? Darf ein Mann seine eigene Frau nicht umarmen?“

„Sch.“ Sie lachte. „Ich habe zu tun.“

Roman sah sich in der Küche um. „Ich würde sagen, es ist alles unter Kontrolle.“

„Gäste waschen bei mir nicht ab.“

Rese erstarrte, als Roman den Blick auf sie richtete. „Willkommen in der Familie.“ Er nahm Dorias Hand. „Komm mit. Wir gehen spazieren.“

„Ich muss –“

„Wir gehen spazieren.“ Er zog sie federnden Schritts hinter sich her.

Rese starrte ihnen nach, bis die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel. Hm. Lance war eindeutig der Sohn seines Vaters. Er sah sie nicht an, als sie sich umdrehte, sondern spülte weiter die Teller ab.

Spiegelte sich die Persönlichkeit ihres eigenen Vaters in ihr auch so deutlich wieder? Lance sagte, sie schlage wie ein Mann und laufe wie einer. Auf jeden Fall arbeitete sie wie ein Mann; sie hatte sich ins Zeug gelegt, um es in der Welt zu etwas zu bringen. Entschlossen griff sie zum Geschirrtuch und gab zu, dass es wohl Wunschdenken war, denn wenn die Leute in ihr nicht Vernon Barrett sahen, dann sahen sie vielleicht ihre Mutter.

Sofie hielt die Flasche über ihr Weinglas, um nachzuschenken, aber Rese schüttelte den Kopf.

„Ich kann dann nicht schlafen.“

„Wein soll gut dagegen sein. Auch fürs Herz und so.“

„Rese leidet unter chronischer Schlaflosigkeit.“ Lance reichte ihr einen gespülten Teller.

„Stress?“ Sofie goss sich ein Glas ein.

Rese schnaubte. „Was für einen Stress sollte ich denn haben?“ Und dann wurde ihr bewusst, wie das klingen konnte. „Ich meine …“

„Du meinst uns?“ Sofia nippte an ihrem Wein.

„Nein.“ Jedenfalls nicht einzeln.

Sofie legte den Kopf schief. „Hast du schon mal Entspannungstechniken probiert?“

Das Einzige, was funktionierte, war Lance’ Stimme, und dafür war eine intimere Situation nötig. Aber das wollte sie nicht wiederholen. Sie schwenkte das Handtuch. „Ist nicht so schlimm.“

„Du wirst dich wundern: REM-Schlaf ist wesentlich fürs Wohlbefinden. Und Schlafstörungen können auf andere Ursachen hinweisen – oder sie auslösen.“

Rese versteifte sich.

„Wie alt bist du, wenn ich fragen darf? Ich bin sowieso älter.“ Sie zog eine Grimasse. „Dreißig seit letzter Woche.“

Rese trocknete den Teller ab und stellte ihn beiseite. „Ich werde im Juli fünfundzwanzig.“ Sie wollte nicht über ihr Alter, die Schlaflosigkeit oder ihre Veranlagung zur Schizophrenie sprechen. „Und dreißig ist doch nun wirklich nicht alt.“

„Es ist immerhin so eine Zahl, bei der man sich angeblich verrückt macht.“

Rese nickte. Wenn sie es ohne psychotische Schübe bis dreißig schaffte, würde sie das feiern.

„Sag mir jedenfalls Bescheid, wenn du Tipps brauchst, um besser zu schlafen.“

Rese zuckte mit den Schultern. „Ich komme schon klar.“

Sofie stellte den letzten Teller in den Schrank, und Rese hängte das Geschirrtuch zum Trocknen über die Stange. Auf der Arbeitsplatte und den Regalen sah es immer noch ziemlich unordentlich aus, aber Lance wünschte Sofie eine gute Nacht, und Rese ging mit ihm nach oben.

Vor Antonias Tür blieb er stehen und trat dann ein. Obwohl er sie nicht darum gebeten hatte, wartete Rese draußen und beobachtete vom Flur aus, wie er an ihr Bett trat. Antonia und seine Tante Celestina schliefen, Antonia von ihrem Bett fast verschluckt.

Lance schlich sich so leise hinein, dass keine von beiden sich rührte. Er hätte früher hinaufgehen können. Aber sie wusste, dass er Antonia sehen wollte, wenn sie ihn nicht sah, so als könnte schon sein Anblick einen neuen Schlaganfall auslösen. Hatte er nicht bemerkt, wie ihre Augen sich jedes Mal veränderten, wenn er sich ihr näherte? Wenn er einen Spiegel brauchte, sollte er dort hineinsehen.

Antonia schlief weiter, aber Lance stand lange neben ihrem Bett. Dann murmelte er: „Gute Nacht, cara mia“, und in den Worten lag so viel Liebe, dass es wehtat.

* * *

Lance’ leises Gute Nacht versuchte zu ihr durchzudringen, aber sie konnte die Augen nicht öffnen. Die Bilder jener schrecklichen Nacht liefen in ihrem Kopf ab, wie schon so viele Male vorher. Nur schien es jetzt verzerrt, wie Marco sie im Tunnel „gefunden“ hatte und dass Papa es ihm „erzählt“ haben sollte. Nicht als ein Verehrer, sondern als Verschwörer?

Es war unmöglich. Sie konnte nicht ihr ganzes Leben mit Marco verbracht haben, ohne es zu wissen, ohne davon zu erfahren. Marco hatte sie vor Papas Schwierigkeiten gerettet. Er konnte nicht Teil des Ganzen gewesen sein.

Er war im guten Glauben zu Papa gekommen, in Unkenntnis der heimlichen Verbindung zu Arthur Jackson. „Sie sind es, die vermuten, dass ich einen Ganoven vertrete, Miss Shepard.“ Er hatte von Papas imbroglio nichts gewusst, wollte nur Diskretion für seinen Klienten. Wie hätte er wissen sollen …? Wie konnte es sein, dass er …? Aber hatte sie sich das nicht immer gefragt? So viel an Marco war ein Geheimnis.

Wellenartige Schmerzen. Sie würde niemandem trauen, schon gar nicht einer Erbin von Arthur Jackson. Ein Geheimagent? Unmöglich. Das würde bedeuten, dass er über Papa Bescheid wusste, als er zu uns kam. Hatte er ihr den Hof gemacht, um Vittorio Shepard eine Falle zu stellen?

Konnte Marco Papa erschossen haben? Nein! Lance sagte, sie hätten zusammengearbeitet. Verdeckte Ermittlungen. Aber auch das konnte nicht sein. Papa würde niemals erlauben, dass er ihr zum Schein den Hof machte und sie nur benutzte.

Ich finde, du solltest mich küssen.“

Dein Vater hat mich gebeten, es nicht zu tun.“

Papa, der sich nicht einmischte, der ihr in Herzensangelegenheiten vertraute. Warum hatte er Marcos Werben um sie Grenzen gesetzt? Alle ihre Gespräche unter vier Augen. So viel gab es doch über sie unmöglich zu erzählen. Oder hatte sie in ihrer Naivität angenommen, dass sie für die beiden Männer das wichtigste Thema war? Sie war zwanzig, drehte sich um sich selbst und blühte unter Marcos Zuwendung förmlich auf.

Erschöpft stöhnte sie auf, ob im Schlaf oder nicht, konnte sie nicht sagen. Geheimagent. Der Begriff drehte und wendete sich in ihren Gedanken. Was hatte sie da angestoßen? Sie hatte die alte Geschichte wieder belebt, die sie jetzt auf ihrer letzten Wegstrecke quälte. Papa. Nonno. Marco. Ihr Herz schmolz wie weicher Käse, ein Herz, das gelernt hatte, stark zu sein, fiel zurück in diese dunklen Tage …

Marco sagt Dinge, die ich nicht hören will. „Ich soll dich heiraten?“

„Die Schwierigkeiten deines Vaters sind noch nicht vorbei.“

„Was für Schwierigkeiten? Woher weißt du das? Was hat er dir erzählt?“

Marco schüttelt den Kopf. „Du weißt schon jetzt mehr, als gut ist.“ Er steht groß neben dem Auto und streckt nach so vielen Stunden Fahrt die Beine aus. Das Gras und der Farn duften würzig in der Nachmittagssonne. „Sagen wir so: Mit einem neuen Namen ist es für dich sicherer.“

Benommen und wütend funkle ich ihn an. „Wie kann ich heiraten, wenn ich in Trauer bin?“

„Ein mildernder Umstand.“

Meine Trauer ein Umstand? „Ich kenne dich doch gar nicht.“

„Es hat schon Ehen gegeben, da kannten sich die Eheleute noch weniger als wir uns.“

„Nicht für mich; so nicht. Ich will …“ Was für eine Rolle spielt es, was ich will? Mich packt die Wut. „Ich hasse dich.“

„Antonia …“ Er nimmt meine Hand. „Ich möchte dir helfen.“

Ich reiße mich los. „Mir ist egal, was passiert. Sollen sie mich doch töten.“

„Das lasse ich nicht zu.“ Seine Worte umschließen mich wie die Angst, die mich packt. „Als Mrs Marco Michelli bist du in Sicherheit.“

„Pah!“ Ich mache eine abfällige Handbewegung. „Warum kümmert es dich überhaupt?“

„Du weißt, warum.“ Seine Augen sind unergründlich. Was, glaubt er, weiß ich?

„Was ist passiert? Warum sagst du es mir nicht?“

„Sie haben deinen Vater in einen Hinterhalt gelockt.“

„Ich weiß. Ich habe sie kommen sehen.“

„Deshalb bist du in Gefahr.“

„Ich mache mir keine Sorgen um mich.“

„Ich aber.“

„Warum warst du dort? Wie hast du –“

Er nimmt meine Hände. „Hör auf zu fragen. Je weniger du weißt, desto besser.“

Warum versuche ich nur, es zu verstehen? Was Marco sagt, könnte stimmen; es könnte aber auch gelogen sein. Aber was macht das schon für einen Unterschied?

Er setzt mich wieder ins Auto. „Wohin fahren wir?“

Er drückt meine Hand. „Nach Hause.“