Dr. Norden -95- 


Gebt diesem Mädchen eine Chance


Roman von Patricia Vandenberg

Dr. Daniel Norden ist voller Mitgefühl für Carin Fromann. Schon früh Waise geworden, lebt sie bei einer Großtante, die sie innig liebt. Doch nun wird das Haus abgerissen, in dem sie wohnten, und Frau Fromann geht in ein Altenheim. Als Teresa Mühlhaus, auch eine alte Patientin von Dr. Norden, über ihre Einsamkeit klagt, hat Dr. Norden eine Idee. Schon bald ist Carin die geschätzte Gesellschafterin Teresas. Alles scheint bestens zu gehen, bis Carin beschuldigt wird, die reiche Baronin Echenroth bestohlen zu haben…


*


»Nur nicht verzagen«, redete Dr. Norden beruhigend auf die alte Dame ein, der er eben einen Krankenbesuch machte. »Es wird schon wieder. In ein paar Tagen sind Sie wohlauf.«

Frau Mühlhaus blickte ihn aus traurigen Augen an. »Wenn ich doch nicht so schrecklich allein wäre, lieber Dr. Norden, dann wäre alles leichter. Einen jungen fröhlichen Menschen müßte man halt um sich haben. Allein mag ich auch nicht verreisen, wenn ich mich dann auch wieder wohl fühlen sollte. Ich weiß ja, daß Sie mich wieder auf die Beine bringen. Aber schauen Sie sich doch um. Da hat man alles, was anderen so erstrebenswert erscheint, und keiner ist da, der Frohsinn ins Haus bringt.«

Da kam Dr. Norden eine Idee. »Wenn Sie das wünschen, wüßte ich vielleicht jemanden«, sagte er. »Ein sehr nettes junges Mädchen. Carin Fromann heißt es und ist Waise. Carin ist bei einer Großtante aufgewachsen, die jetzt in ein Altersheim gegangen ist, weil ihr die Wohnung gekündigt wurde.«

Frau Mühlhaus richtete sich auf. Gleich wurde sie wieder lebhafter.

»Was es doch so alles gibt«, murmelte sie. »Wie kann man einer alten Frau die Wohnung kündigen?«

»Das Haus wird abgerissen. Ein neues wird gebaut, aber da werden die Mieten entsprechend höher. Vielleicht werden es auch Eigentumswohnungen. Von ihrer Rente kann Frau Fromann gerade das Altersheim hezahlen. Mehr ist da nicht drin, und Carin hat selbst gewollt, daß ihre Großtante gut versorgt ist.«

»Wie alt ist die Tante?« fragte Frau Mühlhaus.

»Achtzig.«

»Ich bin erst siebzig, und mir geht es gut. Mir kann keiner meine Wohnung wegnehmen, aber vier Zimmer sind zuviel für mich. Sie kennen das junge Mädchen, Dr. Norden?«

»Sehr gut. Ich kann mich für Carin verbürgen. Sie wäre gern Krankenschwester geworden, aber dazu ist sie zu zart, auch zu scheu. Da muß man schon resolut sein und zupacken können. Aber ein liebes Ding ist sie. War auch eine gute Schülerin. Ich kenne sie schon vier Jahre. Sie sind ja kein Pflegefall, Frau Mühlhaus.«

»Das möchte ich auch nie werden«, erklärte die alte Dame jetzt energisch. »Ich möchte nur nicht immer allein sein, und wem kann man denn heutzutage schon trauen. Also schicken Sie mir das Mädchen. Ich werde es mir anschauen.«

Da habe ich vielleicht mal wieder zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen, dachte Dr. Norden. Frau Mühlhaus ist geholfen und der kleinen Carin auch. Und weil er an diesem Tag schon alle Hausbesuche hinter sich gebracht hatte, fuhr er gleich zu dem alten Miethaus, denn er wußte, daß Carin noch beim Ausräumen der Wohnung war.

Sonst war das Haus schon von allen Mietern geräumt. Man hatte sie nicht schlecht behandelt, sie hatten neue Wohnungen zur Verfügung gestellt bekommen. Nur für Frau Fromann war es untragbar gewesen, die höheren Mieten aufzubringen, die da verlangt wurden. Sie hatte fast fünfzig Jahre in diesem Haus gelebt. In einer modernen Wohnung hätte sie sich nicht mehr zurechtgefunden. Mit dem Altersheim hatte sie sich anfangs auch nicht abfinden wollen, aber sie hatte Carin sehr lieb, und sie wollte nicht, daß dieses junge Mädchen immer für sie sorgte.

Carin war ein wirklich liebes Mädchen. Ganz verwirrt blickte sie Dr. Norden an, als der plötzlich vor der Tür stand. Ihr langes braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihr zartes Gesicht war nun von dunkler Glut übergossen.

»Ich bin immer noch beim Kramen«, sagte sie stockend. »Ich möchte doch nichts wegwerfen, was Tante Olga dann vermissen könnte. Aber sonst geht es mir ganz gut, Herr Dr. Norden.«

»Das freut mich, Carin«, erwiderte er. »Ich kann Ihnen eine gute Nachricht bringen, wenn Sie damit einverstanden sind.«

»Darf ich doch Krankenschwester werden?« fragte sie.

»Haben Sie sonst gar keine Ambitionen?« fragte er vorsichtig.

»Ich möchte einfach für jemanden dasein dürfen«, erwiderte sie leise. »Tante Olga hat ja nun ihre Pflege. Sie ist gut untergebracht. Für sie bin ich froh, aber mir fehlt sie.«

»Ich hätte da eine Patientin, Carin. Ich komme gerade von ihr. Eine sehr nette, feine ältere Dame. Frau Mühlhaus ist siebzig. Sie lebt in guten Verhältnissen. Ihr Mann ist schon vor zwanzig Jahren gestorben. Kinder hat sie nicht, und sie bräuchte Gesellschaft, denn sie fühlt sich sehr einsam. Richtig krank ist sie nicht und reist noch sehr gern, aber allein macht es ihr keinen Spaß. Da habe ich an Sie gedacht und es ihr vorgeschlagen. Nun möchte Frau Mühlhaus Sie gern kennenlernen. Wären Sie einverstanden?«

»Einfach so?« fragte Carin verwirrt. »Ich habe doch keine Referenzen.«

»Bin ich keine?« fragte Dr. Norden lächelnd.

»O ja, Sie schon«, erwiderte Carin verlegen, »aber ich weiß doch nicht, ob ich den Ansprüchen genüge.«

»Ich bin davon überzeugt. Halt ein bißchen fröhlich müßten Sie sein und gute Laune verbreiten. Mehr will sie ja nicht.«

»Dafür bin ich wohl doch nicht geeignet«, sagte Carin verhalten.

»O doch, Sie können so nett lächeln, Carin, und warum sollten Sie nicht auch fröhlich sein, wenn Sie nicht mehr so arge Sorgen drücken? Ich weiß doch, wie hart es war für Sie, als die Kündigung kam.«

»Für Tante Olga war es viel schlimmer. Sie hing an dem alten Haus, an dieser Wohnung. Ich habe nur vier Jahre hier gelebt, sie fünfzig. Wenn man sich überlegt, was fünfzig Jahre bedeuten Herr Dr. Norden, und den Krieg hat das Haus auch überdauert, während so viele andere in Trümmer gesunken sind. Und dann wird man einfach vor die Tür gesetzt. Das ist schon arg.«

»Ja, für einen alten Menschen ist es arg, Carin, das will ich nicht wegreden Aber das Haus ist alt und baufällig geworden. Das muß man auch bedenken.«

»Ja«, nickte sie, »ich verstehe es ja, aber Tante Olga konnte es nicht verstehen. Sie hat doch nur noch in Erinnerungen gelebt. Sie glauben ja gar nicht, was da in den Kisten und Truhen alles steckt.«

»Sie müssen jetzt auch an Ihre Zukunft denken, Carin«, sagte er eindringlich. 

»Ich möchte ja gern arbeiten, und wenn diese Frau Mühlhaus mich nehmen würde, würde ich mich sehr bemühen Sie nicht zu enttäuschen, Herr Dr. Norden, aber Erfahrung habe ich doch keine.«

»Man lernt alles, wenn man will, Carin«, sagte er freundlich. »Gehen Sie morgen zu Frau Mühlhaus. Ich rufe sie an und sage ihr Bescheid, wann etwa Sie kommen. Sie öffnet nicht jedem.«

»Wann meinen Sie, daß ich mich vorstellen könnte?« fragte Carin.

»So gegen elf Uhr?«

»Ja, das ist sehr gut. Das ist fast Besuchszeit.«

»So genau nimmt es Frau Mühlhaus gewiß nicht. Ich glaube, daß sie Ihnen sehr gefallen wird, Carin.«

Carin lächelte zaghaft. »Eigentlich kommt es ja in erster Linie darauf an daß ich ihr gefalle«, sagte sie leise.

»Daran hege ich nicht den geringsten Zweifel«, erwiderte Dr. Norden. Und genauso meinte er es ohne jede Beschönigung. »Ich glaube, daß es ein guter Start für Sie ins Leben werden wird, Carin«, fügte er hinzu.


*


Nun saß das Mädchen wieder vor den Kisten, die sie vom Speicher heruntergeschleppt hatte. Schon acht Tage brachte sie damit zu, alle zu durchsuchen, damit ja nichts weggeworfen würde, was Tante Olga dann doch vermissen könnte. Diese schmale, niedrige Kiste, allerdings auch die schwerste, die sie kaum hatte tragen können, schien sich als die ergiebigste zu erweisen. In den anderen waren nur alte Kleidungsstücke gewesen. In dieser befanden sich Briefe und Bilder. Doch Carin war an diesem Abend viel zu müde, um da noch alles durchzuschauen. Es würde wohl sowieso am besten sein, wenn sie alles so beließ, wie es war.

Carin war jung und dachte schon an ihre Zukunft. Und Dr. Norden hatte ihr vielleicht, ja, vielleicht einen Weg gewiesen, sich diese zu gestalten. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr hatte Carin mit einer alten Frau zusammengelebt die gut und liebevoll zu ihr gewesen war, aber doch nur noch in Erinnerungen lebte. Carin hatte nichts gegen alte Menschen, ganz im Gegenteil. Von gleichaltrigen hatte sie nicht viel Gutes erfahren, als ihre Muttter gestorben war. Sie war froh gewesen, daß Tante Olga sie bei sich aufgenommen hatte und sie nicht in ein Heim mußte, daß sie zur Schule gehen durfte und etwas lernen konnte. Sie war fleißig gewesen und hatte schon daran gedacht, daß sie für die gute Tante Olga auch mal sorgen könnte. Aber dann war doch alles anders gekommen, weil ihnen die Wohnung gekündigt worden war. Wenn sie da Dr. Norden nicht gehabt hätten, hätte es böse ausgeschaut. Aber er hatte alles geregelt. Er hatte dafür gesorgt, daß Tante Olga in ein gutes Altersheim gebracht wurde, und Carin war dankbar, daß er sich auch um sie kümmerte. Sie wollte ihm keine Schande bereiten. Vor allem wollte sie morgen bei Frau Mühlhaus einen guten Eindruck hinterlassen.

So bürstete sie noch an ihrem grauen Kostümchen herum, damit ja nicht ein Stäubchen liegenblieb, und sie bügelte auch nochmals den Kragen ihrer weißen Bluse auf.

Liebe Tante Olga, drück mir die Daumen, dachte sie, als sie müde ins Bett sank. Ich möchte dir ja auch noch Freude bereiten.

Wirre Bilder geisterten durch ihre Träume, aber als sie am frühen Morgen erwachte, konnte sie sich an nichts mehr erinnern.

Sie frühstückte, bescheiden, aber doch so, daß sie satt wurde. Sie hatte nie zu hungern brauchen bei Tante Olga, und die gute alte Frau, war nur darauf bedacht gewesen, daß Carin mündig wurde, bevor sie sich dann doch in das Altersheim begab. Sie wußte, daß sie sich auf das Mädchen verlassen konnte, denn ordentlich und besonnen war Carin immer gewesen.

Teresa Mühlhaus war indessen schon von Dr. Norden benachrichtigt worden, daß Carin gegen elf Uhr kommen würde, und sie war schon voller Spannung und Erwartung.

Sie hatte sich angekleidet und sah sehr vornehm aus in dem dunkelblauen schlichten Kleid. Das schneeweiße Haar ringelte sich in kleinen Löckchen um die hohe Stirn. Wie ein Rauschgoldengel erschien sie Carin, als diese dann ganz pünktlich erschien.

»Mein Name ist Carin Fromann«, sagte sie leise, »Dr. Norden sagte mir, daß Sie mich erwarten, gnädige Frau.«

Besser konnte sie sich gar nicht einführen. Teresa Mühlhaus war entzückt.

»Ich freue mich, Fräulein Carin«, sagte sie. »Dann werden wir uns mal unterhalten. Ein wenig mehr möchte ich doch von Ihnen wissen. Bemerken möchte ich dabei jedoch, daß seine Fürsprache mir mehr bedeutet als Referenzen.«

Scheu blickte sich Carin in dem Wohnzimmer um, das ihr fürstlich erschien mit den schönen Bildern, Teppichen und den kostbaren Stilmöbeln. Sie hatte schon Beklemmungen bekommen, als sie vor der vornehmen Villa angekommen war.

Steif saß sie dann in einem der kleinen Gobelinsessel, und heiße Glut stieg ihr in die Wangen, als sie von den grauen Augen so forschend betrachtet wurde.

»Nun erzählen Sie mal ein bißchen von sich«, sagte Teresa Mühlhaus freundlich. »Ich weiß bisher nur, daß Sie bei einer Großtante lebten, die jetzt in einem Altersheim ist.«

Carin nickte. »Ich kam zu Tante Olga, als ich vierzehn war. Da war meine Mutter gestorben. Tante Olga hatte mich aufgenommen. Ich hatte sonst überhaupt keine Verwandten.«

»Ihr Vater ist auch verstorben?«

Verlegen blickte Carin zu Boden.

»Nein, meine Eltern waren geschieden«, erwiderte sie beklommen.

Armes Kind, dachte Teresa Mühlhaus.

Dann starb auch die Mutter noch so früh. »Sie gingen hier noch zur Schule?« fragte sie rasch weiter.

»Ja, aufs Gymnasium bis zur mittleren Reife, und dann noch zwei Jahre zur Handelsschule. Tante Olga wollte, daß ich etwas fürs Leben lerne. Ich habe meine Zeugnisse mitgebracht.«

Interessehalber schaute sich Teresa Mühlhaus diese doch an, obgleich sie schon entschlossen war, Carin bei sich aufzunehmen.

Sehr gut und Gut waren die einzigen Noten, die diese Zeugnisse aufwiesen und als Charakteristik stand geschrieben: Carin Fromann ist ein interessiertes, fleißiges Mädchen und gab nie zu Klagen Anlaß.

»Wann können Sie zu mir kommen, Carin?« fragte Frau Mühlhaus.

»Ich räume jetzt noch die Wohnung aus. Morgen muß ich fertig sein.«

»Dann bringen Sie gleich Ihre persönlichen Sachen mit. Müssen noch Möbel abgeholt werden?«

»Nur mein Bett und mein Schrank. Ich darf beides bei Dr. Norden einstellen, bis ich ein Zimmer gefunden habe. Ich dürfte auch solange bei ihm wohnen.«

»Jetzt haben Sie ein Zimmer«, sagte Frau Mühlhaus. »Ich zeige es Ihnen gleich, und Möbel brauchen wir eigentlich nicht, Aber wir können Ihre Sachen auch hier einstellen. Ich werde das veranlassen. Morgen früh wird jemand kommen und alles abholen, was Sie behalten wollen; in diesem Haus ist Platz genug. Ich freue mich, wenn Sie zu mir kommen. Sie haben selbstverständlich alles frei und werden ein ausreichendes Taschengeld bekommen. An wieviel denken Sie?«

Auch das fragte sie nur, um Carin noch ein wenig mehr kennenzulernen.

»Tante Olga hat mir dreißig Mark gegeben, weil ich mir mittags manchmal auch ein Brötchen kaufen sollte, wenn ich länger Schule hatte. Ich brauche nicht viel, gnädige Frau.«

»Sie brauchen Kleidung. Wir werden bald verreisen. Aber darüber sprechen wir morgen. Jetzt zeige ich Ihnen Ihr Zimmer.«

Da schloß Carin erst mal schnell die Augen, als Frau Mühlhaus die Tür öffnete, denn dieses Zimmer hätte sie sich nicht einmal zu erträumen gewagt. Ein breites Bett, mit buntem Chintz bezogen, weiße Schleiflackmöbel mit Goldkanten, wie man sie in Schlössern sah, in den Zimmern, die Prinzessinnen bewohnt hatten.

»Gefällt es Ihnen?« fragte Frau Mühlhaus sanft.

»Es ist wunderschön«, flüsterte Carin. Dann machte sie einen Knicks und bedankte sich, daß sie kommen durfte. Ihre schonen hellgrauen Augen glänzten feucht. Frau Mühlhaus wurde es warm ums Herz.

»Ich freue mich, daß Sie kommen, Carin«, sagte sie freundlich. »Es ist schön, wenn ich nicht mehr allein

bin.«

Im Eilschritt lief Carin nun zu dem alten Haus, um nur ja alles schnellstens zu erledigen, was noch erledigt werden mußte. Und Tante Olga wollte sie auch noch besuchen, um ihr von dem Glück zu erzählen, das ihr widerfahren war.

Am Nachmittag fuhr sie mit der S-Bahn zu dem Vorort, in dem sich das Altersheim befand. Es war ein schönes, ziemlich neues Gebäude. Carin war sehr froh, daß Tante Olga so gut untergebracht worden war. Sie hatte auch ein sehr hübsches Zimmer bekommen, das sogar einen Balkon hatte.

Sie saß in ihrem alten Lehnstuhl am Fenster, als Carin kam, und ein Aufleuchten überflog ihr faltiges Gesicht.

Sie hatte einige ihrer Möbel mitnehmen können, und Carin stellte fest, daß diese in dem hellen Zimmer viel hübscher aussahen als in der alten Wohnung.

»Lieb, daß du mich so bald besuchst, Carinchen«, sagte die alte Frau mit ihrer zittrigen Stimme. »Wie kommst du zurecht?«

»Ich muß dir etwas Schönes berichten, Tantchen«, sprudelte es gleich von Carins Lippen. »Dr. Norden hat mir eine Stellung bei einer alten Dame besorgt. Ich kann schon morgen zu ihr kommen.

Ich brauche mich nicht mehr nach einem Zimmer umzuschauen.«

»Immer nur bei alten Frauen«, murmelte Tante Olga, »das ist mir nicht recht, Carinchen.«

»Frau Mühlhaus ist siebzig, und ich darf mit ihr verreisen. Sie ist eine vornehme Dame und hat eine sehr schöne Wohnung. Sie gibt mir auch ein Taschengeld.«

»Laß dich nur nicht ausnützen, Kindchen«, sagte Tante Olga. »In einem Büro kannst du gut Geld verdienen. Aber du wirst es schon recht machen. Für den Anfang wird es wohl gut sein, wenn du nicht allein bist. Sind die Sachen schon alle abgeholt?«

»Morgen werden sie geholt. Da ist noch eine Kiste mit Briefen und Bildern, soll ich sie dir bringen lassen?«

»Was soll ich noch damit? Du wirst mal hineinschauen wollen. Was weißt du denn schon groß von der Familie«, murmelte Tante Olga. »Wird wohl manches dabei sein, was dich interessieren wird. War ja alles mal ganz ordentlich in früheren Zeiten, aber die Kriege, diese schrecklichen, überflüssigen Kriege… Ach was, reden wir nicht davon. Mir geht es hier recht und gut, und ich bin froh, wenn du es auch gut triffst. Aber du wirst doch an mich auch denken?«

»Aber ganz bestimmt, Tantchen. Du warst doch immer lieb zu mir.«

»Kannst ja nichts dafür, daß mein Bruder und sein Sohn so…«, sie sprach nicht weiter.

Mit bebenden Fingern strich sie über Carins seidiges Haar. »Deine Mutter war eine gute Frau, Kindchen, gut und so hübsch. Sie hätte Besseres verdient. Alles hat sie hergegeben, alles, ach ja, man soll nicht zurückdenken. Denk du nur voran, Carinchen.«

»Ich besuche dich, so oft ich kann, Tante Olga, und ich schreibe dir auch.«

»Ist schon recht, meine Kleine, denk aber auch an dich. Laß dich nicht unterkriegen, und trau den Männern nicht, die dir schöne Augen machen.«

»Danach steht mir nicht der Sinn«, erwiderte Carin lächelnd. »Ich bin Dr. Norden so dankbar, daß er sich auch für mich eingesetzt hat.«

»Ja, er ist gut«, nickte Tante Olga. »So einen Mann müßtest du finden, Kindchen, und schön wär es, wenn ich es noch erleben könnte, daß du gut aufgehoben bist.«

Das hatte sie schon oft gesagt, aber Carin konnte sich gar nicht vorstellen, wie das sein würde, wenn ein Mann käme, der ihr gefiel. Da hatte sie schon ihre Träume, wie wohl jedes Mädchen in ihrem Alter. Aber es waren ganz geheime Träume.

Die gute Tante Olga bekam einen herzlichen Abschiedskuß. Nie hatte Carin ein böses Wort von ihr gehört, manchmal aber grollende Worte über ihren Vater, an den sie sich gar nicht mehr erinnern konnte. Aber sie wollte darüber gar nicht nachdenken. Sie haderte nicht mit ihrem Schicksal. Sie wußte sehr gut, daß es anderen Kindern in ihrer Situation viel schlimmer erging.

Sie dachte an ihre Mutter, an ihre liebe, schöne, gute Mama. An sie konnte sie sich noch genau erinnern, obgleich sie nur eine einzige Fotografie von ihr besaß.

Ob Tante Olga vielleicht Kinderbilder aufbewahrt hatte in der Kiste? Das ging Carin durch den Sinn, als sie zum letzten Mal die kahle Wohnung betrat.

Ihre Schritte hallten in den leeren Räumen. Ganz allein war sie in dem großen alten Haus. Aber Angst kannte sie nicht. Nein, seltsamerweise hatte sie wirkliche Angst nie empfunden. Auch nicht, als ihre Mutter eines Tages so wachsbleich und leblos in ihrem Bett lag.

Schön hatte sie ausgesehen, wie ein Engel. Sie war friedlich gestorben. Das hatte der Arzt gesagt, der dann gekommen war. Und er hatte zu ihr gesagt: »Armes Kind.«

Aber so hatte sich Carin nie gefühlt. Die Mama hatte so oft große Schmerzen gehabt, nun hatte sie keine mehr. Und dann war Tante Olga gekommen und hatte sie mitgenommen. Von Tante Olga hatte die Mama so oft gesprochen, daß sie dem vierzehrjährigen Mädchen ganz vertraut war. Sie hatte dann wieder ein Zimmerchen für sich gehabt und genug zu essen. Sie hatte zur Schule gehen können, und nie hatte sie ein Gefühl des Neides gehabt, wenn andere Mädchen schönere Kleider trugen als sie.

»Denk nie an Geld, an diesen schnöden Mammon«, hatte Mama so oft gesagt. »Er verdirbt die Menschen.«

Carin dachte nun an Frau Mühlhaus. Gewiß hatte sie Geld, aber sie war davon nicht verdorben worden

Carin hüllte sich in die Wolldecken. Es war kalt im Zimmer. Sie wollte nicht mehr heizen. Alles, was es zu verbrennen gab, hatte sie schon in den letzten Tagen verbrannt. Jetzt war nur noch diese eine Kiste da, und die wollte sie mitnehmen.


*


Am nächsten Morgen, schon gegen acht Uhr, fuhr ein  Kleintransporter vor und holte die Sachen ab. Frau Mühlhaus hatte es keine Schwierigkeiten bereitet, das schnellstens erledigen zu lassen. Sie hatte zu oft erfahren, daß man mit Geld alles erreichen konnte, nur Liebe nicht. »Sie können gleich mitfahren, Fräuleinchen«, sagte der Mann zu Carin