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Wüstenväter


Martina Schäfer



Krimi




© Dr. Martina Schäfer 2019

Machandel Verlag

Charlotte Erpenbeck

Cover: Elena Münscher

Bildquelle: Chris Talbot (cc by sa/2.0)

Hintergrund: www.pixabay. com

Illustrationen. Wikimedia.org, Lindenschmit,1858, gemeinfrei

Haselünne

1. Auflage 2019

ISBN 978-3-95959-157-7

Über die Autorin


Wenn Ihnen dieses Buch gefallen hat, würde ich mich über eine Rezension sehr freuen.


1952 wurde ich in Düsseldorf geboren, um dort auch zur Schule zu gehen und dann das Abitur mit Bestnoten in Deutsch, Biologie und Geschichte zu vollenden.

Zum Schrecken meiner Vormundstante studierte ich solch angeblich brotlose Künste wie Literatur- Musik- und Theaterwissenschaft in Düsseldorf, Frankfurt, München und Bremen.

Lies mich aber dann doch dazu erweichen, ein anständiges Staatsexamen in Heil- und Sonderpädagogik, sowie den Diplompädagogen in Frankfurt abzuschließen um dann wacker im Jahre Tschernobyl in Bremen zu promovieren.

Hernach hatte ich das Gefühl, ich hätte wirklich noch nichts Richtiges gelernt, obwohl ich als selbstständige Trainerin und Coach für Kampfsport und Empowerment nicht am Hungertuch nagte und stürzte mich in das Studium der Ur- und Frühgeschichte in Köln, um als Magistra derselben wieder aufzutauchen, mit der Krone meines Bildungsganges, einem Master of Theology auf dem Haupt, in der Schweiz weiter zu schwimmen.


Entsprechend diesem Lebenslauf als poeta docta füllte ich viele Seiten mit belletristischen aber auch fachwissenschaftlichen Texten, die teilweise in unendlichen Ordnerreihen auf dem Dachboden dahin vegetieren, teilweise sich in unergründlichen Tiefen meines Computers aufhalten und nach dem Tageslicht der Veröffentlichung gieren, teilweise tatsächlich an die Oberfläche eines allgemeineren Bewusstseins gelangten, teilweise als Fachliteratur zur Gewaltprävention und interreligiöser Kommunikation, teilweise als schillernde Fischlein aus Fantasy- und Kriminalroman.


Mehr dazu findet sich auch auf meiner Website

http://www.martinaschaefer.ch/


Weitere Bücher der gleichen Serie im Machandel Verlag:


Schaefer-1-Mord-im-Pfahlbaudorf


Mord im Pfahlbaudorf

Krimi

262 Seiten, Taschenbuch und Ebook


Archäologen beschäftigen sich mit Toten. Allerdings sind diese für gewöhnlich schon sehr lange tot. Und auf keinen Fall aus ihren eigenen Reihen.

Genau das ändert sich, als Dr. Johanna Schmid und Prof. Joachim Drahm bei einer Tagung einen ihrer Kollegen ermordet auffinden. Pikanterweise genau jenen Kollegen, der gerade in seinen Ausgrabungen einen Mord in der Steinzeit festgestellt hat.

Kann es sein, dass diese beiden Morde über Jahrtausende hinweg miteinander zu tun haben?


Schaefer-2-Speerschleuder


Die Speerschleuder

Krimi

164 Seiten, Taschenbuch und Ebook


Ein Mord im archäologischen Institut. Dummerweise hat sich der Mörder einen schlechten Zeitpunkt ausgesucht und kann das Haus nicht verlassen – und die mit ihm darin Eingeschlossenen wissen das. Bis die Polizei kommt, kann es noch Stunden dauern.

Die Nerven aller liegen blank mit einem unbekannten Mörder unter einem Dach. So entschließen sich Dr. Johanna Schmid und Prof. Joachim Drahm, selbst die Fährte aufzunehmen.

Aber auch wenn Archäologen mit allen Schattierungen des Todes vertraut sind, heißt das nicht, dass er ihnen nichts anhaben kann.



Schaefer-3-Wessex-Dolch


Der Wessex-Dolch

Krimi

290 Seiten, Taschenbuch und Ebook


Eigentlich sollte es nur ein fröhlicher Tagesausflug werden. Doch nach dem Besuch eines steinzeitlichen Bergwerks vermisst Archäologie-Professor Drahm zwei seiner Studenten.

Die Suche nach ihnen ist unmöglich, denn ein heftiger Sturm hält ihn, seine Assistentin Dr. Johanna Schmid und die restlichen zehn Studenten in der Jugendherberge fest und macht gleichzeitig die Straßen für Polizei und Rettungskräfte unpassierbar.

Während draußen der Sturm wütet, beginnt Professor Drahm zu ahnen, dass das Verschwinden seiner Studenten nur der Auftakt zu weit Schlimmerem ist.



Handelnde Personen


Universitätspersonal


Professor Dr. Joachim Drahm, Metallzeiten

Dr. Johanna Schmid, Ürof. Drahms Assistentin

Professor em. Anatol Zink, Heinrich-Barth-Institut


StudentInnen am UFG-Institut


Chadidscha

Umm

Mustafa

Nassor

Yahva

Karl Marxen


Weitere Personen in Deutschland


Der unbekannte Patient

Dr. Berenboim


Besucher der Kellia


Johannes Cassian, der Gelehrte

sein Schreibsklave Africanus

Der Gesandte

Der Kameltreiber Abu Talib und sein Neffe Qutam


Bewohner der Kellia


Abt Theodorus

Abbas Joseph, der Vorsteher der Diakonie


Novizen


Bruder Fidelius

Bruder Amandus

Bruder Serenus


Die Wüstenväter


Monophysiten / Origenisten


Abbas Paphnutios, Abt der Sketis

Abbas Isaak, sein mutmaßlicher Nachfolger

Abbas Photin (Evagrios Ponticos)

Abbas Piamun

Abbas Palladios


Anthropomorphiten / Gestaltanbeter


Abbas Chaermon

Abbas Nesteros

Dämonenaustreiber Abbas Besarion

Abbas Theonas, der Spätbekehrte





Vorbemerkung


Gewidmet dem Heinrich-Barth-Institut zu Köln


Etwaige Fehler in der Darstellung prähistorischer, geologischer, klimatischer, wirtschaftlicher, politischer und weiterer Verhältnisse Nordafrikas bitte ich zu entschuldigen. Sie gehen alleine zu Lasten der Autorin.


Mögliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personenbeziehungsweide real existierenden Räumen, Gebäuden, Instituten und Dachböden sind weder gewollt noch gekonnt und wenn, sowieso rein zufällig.


Inhaltsverzeichnis
Handelnde Personen
Vorbemerkung
I. Laudes
1. Kapitel – In der Wüste ganz allein
2. Kapitel – Zusammen in der Wüste
Das Kellia
3. Kapitel – Und einer vor dem Institut
II. Prim
4. Kapitel – Ganz so alleine doch auch wieder nicht
5. Kapitel – Und noch einer in der Wüste
6. Kapitel – Und die Polizei am Fundort
III. Terz
7. Kapitel – große Steine, kleine Steine
8. Kapitel – Heilige Prügelei
9. Kapitel - Kasten, Kästen und Kisten
IV. Mittagshore
10. Kapitel – Es gibt immer noch etwas darunter oder darüber
11. Kapitel – Nur ein toter Novize scheint ein guter Novize
12. Kapitel – Steine, Staub und altes Zeug
V. Non
13. Kapitel – Licht fällt auch in dunkle Kästen
14. Kapitel – Höhere Hierarchien kommen ins Spiel
15. Kapitel – Timbuktu alleine reichte nicht
VI. Vesper
16. Kapitel - Dias in der Wüste
17. Kapitel - Pales schützt ihre Kinder
18. Kapitel – Dias in the town
VII. Komplet
19. Kapitel – Die Wüste lebt ...
20. Kapitel - Der Ruf des Dromedars
21. Kapitel - Originale und ihre Bedeutung ...
VIII. Vigil
22. Kapitel – ... und gibt ihre Rätsel frei
23. Kapitel – Diener der Dämonen
24. Kapitel – ... für die Geschichte und auch sonst
IX. Ave auroram!
25. ... und hätte der Liebe nicht, so ... 77
Nachwort
Anhang
Fußnoten
Über die Autorin
Weitere Bücher der gleichen Serie im Machandel Verlag:


I. Laudes


Er erläuterte, dass auf jene unermessliche, unbegreifliche und unsichtbare Majestät nichts zutreffen kann, was mit einer menschlichen Gestalt oder durch Ähnlichkeit mit Menschen beschrieben werden kann, da sie, jene Majestät, ja eine unkörperliche, nicht zusammengesetzte, sondern einfache Natur ist, die weder mit Augen erfasst noch mit der Vernunft verstanden werden kann.1



1. Kapitel – In der Wüste ganz allein



Professor Dr. Joachim Drahm erschauderte, als er aus seinem Zelt in den nachtkalten Wüstensand hinaustrat. Wie jeden Morgen hatte ihn der Ruf zum Gebet geweckt, welcher die einheimischen Grabungshelfer aus den Zelten trieb. Doch so unangenehm die morgendliche Kälte war, er hütete sich, die Sonne so herzubeten, dass die womöglich noch rascher über dem sandigen Horizont heraufsauste, als sie es sowieso schon tat, was die Kälte der Nacht fast übergangslos in jene flirrige und flimmernde Hitze verwandelte, die die Augen tränen und die Haut aufschreien ließ.

Eigentlich eine bewunderungswürdige Disziplin, welche die jungen Ägypter da an den Tag legten. Fünfmal täglich verbeugten sie sich vor ihrem Gott: Zum Frühgebet in dem Augenblick, da die Morgendämmerung über den Horizont kroch, dann abermals, wenn die Sonne mittags ihren höchsten Zenit überschritten hatte. Es folgten Nachmittagsgebet und ein Gebet zum Sonnenuntergang. Ein Abendgebet, eher Nachtgebet, schloss dann am späteren Abend vor dem Schlafengehen die tägliche Gebetsabfolge. Es erinnerte Drahm ein wenig an die klösterliche Zucht der Stundengebete, eine naheliegende Assoziation, denn auch ihr Ausgrabungscamp war ja gewissermaßen eine Art Kloster.

Auch in den Zelten, in denen die Grabungstechniker und studentischen Hilfskräfte von den ägyptischen und französischen Universitäten schliefen, begann sich Unruhe auszubreiten. Die frühen Morgen- und Vormittagsstunden mussten genutzt werden, denn selbst unter den Palmen der kleinen Oase, die das Basiscamp der Ausgrabung beschatteten, war es ab Mittag zu heiß. Alle Arbeiten ruhten bis etwa fünf Uhr, und dann war eigentlich kaum noch Zeit, draußen richtig weiter-zumachen. Schaufeln, Schaber, Kellen, Wasserwaagen und das andere Werkzeug wurden zusammen geräumt, die Funde versorgt und in die dafür bestimmten, neonhellen Steilwandzelte mit den langen Sortiertischen zum Dokumentieren, Sortieren und Verpacken gebracht.

„Büroarbeit“ nannten seine Studenten diese zweite Schicht des Tages, die sich, je nach Umfang des Fundgutes, bis 22 oder 23 Uhr hinziehen konnte.

Spätestens dann waren die Finger klamm und die Schlafsäcke riefen laut nach ihren Insassen, denn geheizt wurde, um das Fundgut zu schützen, in den Bürozelten nicht.

Joachim Drahm vermisste den Süden, „den richtigen Süden“, wie er es nannte, die fast schon zur Heimat gewordene Ausgrabungsstätte in Italien: Die lauen Nächte, das schmeichelnde Gelächter aus der Dorftaverne, Ziegenkäse und Rotwein, „seine“ Brandopferplätze, die kühle Arroganz der norditalienischen, schneebedeckten Alpengipfel in der Ferne, wenn die Sicht klar war, die langsame und geruhsame Sichtung kleinster und feinster Funde in der Asche der Vergangenheit ... Ein auf Jahre hin angelegtes Grabungsprojekt, das wenig finanziellen Aufwand erforderte, da es auf einer abgelegenen Hügelkuppe lag und für das sich studentische Hilfskräfte jedes Jahr mit Wonne von ihm rekrutieren ließen.

Eine oft mehrmonatige Anwesenheit vor Ort gehörte zu seiner professoralen Arbeitszeit als deutscher Beamter – es reichte ja wohl, dass er sich für seine Vorträge und Seminare den feuchtkalten rheinländischen Winter um die Ohren zu schlagen hatte!

Zudem, wozu hatte er sonst eine solch fähige Assistentin haben müssen, die ihn meistens im Sommersemester, während ihn dringende Aufgaben auf seiner Grabungsstätte fest hielten, vertrat. Schließlich konnte er doch seine Studenten nicht unbeaufsichtigt in der norditalienischen Erde stochern lassen und die Studentinnen schon gar nicht! Besagte Assistentin ergriff dann zwar immer wieder die Gelegenheit beim Schopf, ein paar Metallzeitstudis zum Neolithikum zu bekehren, wie er diese Abwerbeaktionen gerne wohlwollend nannte. Aber warum auch nicht? Das senkte wenigstens die Anzahl der zu korrigierenden, oft leicht verquasten, Proseminarsarbeiten der Anfänger. Eloquent genug war sie ja.

Und ach! Johanna Schmid vermisste er auch aus anderen Gründen, denn sie konnte mehr, als guten Kaffee kochen, was sie sowieso verweigerte. Bis vor kurzem war sie mit ihrer neuen Flamme, dieser englischen, rothaarigen Jugendherbergsleiterin durch und über die Long Barrows des südlichen Englands getingelt, unterbrochen wohl von stillen Tagen in abgelegenen Bed-and-Breakfasthäusern, wo die beiden verliebten Ladies dann wohl noch ganz andere Long Barrows und Hügelforts gegenseitig erkundeten.

Drahm seufzte tief und neidisch auf. Hier, am Rand der Sahara, war es schlicht zu heiß, um auch nur an dergleichen Entdeckungsreisen zu denken. Ganz abgesehen davon, dass eine entsprechende Reisekameradin für ihn ebenso wenig in Aussicht war, wie der sprichwörtliche Schnee in der Wüste.

Nur ungern dachte Drahm an den Grund für die Trennung von seiner vertrauten Assistentin. Man hatte Dr. Johanna Schmid und ihrem Chef, Professor Joachim Drahm, eine Auszeit für einige Monate gegönnt – schließlich kümmerte sich der Staat um seine Diener – da die letzte Exkursion im Vorjahr in einem grauenhaften Desaster geendet hatte: Ein durchgedrehter Teilnehmer hatte in seinem Wahn alle anderen Studentinnen und Studenten der Gruppe auf heimtückische Art und Weise nach und nach umgebracht.2

Als alles vorüber war, die langen Verhöre durch den örtlichen CID sowie hochkarätigen Mitgliedern von Scotland Yard und die leider notwendigen Formalitäten, und sie ohne ihre Studentengruppe, aber mit 12 Särgen im Bauch des Flugzeuges sowie der fürsorglichen Begleitung von Scarlett, der Jugendherbergsmutter, deren heilende Hinwendung aber doch begreiflicherweise leider hauptsächlich Johanna galt, wieder daheim angekommen waren, hatte es natürlich auch dort die psychologische Nachsorge für ihre Seelen gegeben.

Schon in der Deutschen Botschaft, deren VertreterInnen sich zeitweise während ihrem erzwungenen, verlängerten Aufenthalt um den Professor und seine Assistentin kümmerten, hatte ein wackerer Traumapsychologe um ihrer beiden lädiertes Seelenheil gerungen. Ein Privileg, das Johanna Schmid jedoch bereits nach kurzer Zeit gerne ihrem wirklich geschockten und erschrockenen Doktorvater überließ, während sie die liebevolle Nachsorge Scarlett Madisons vorzog, mit der sie händchenhaltend durch die großen Londoner Museen streifte.

Johanna Schmid durfte diese englische Auszeit noch um weitere drei Monate verlängern, denn alle Welt sah ja, dass ihr das guttat, während man ihm geraten hatte, sich zeitweilig einmal auf etwas vollkommen Neues in vollkommen fremder Umgebung zu konzentrieren. Er sollte sich ablenken, möglichst unbelastet von jeglicher Verantwortung für Grabungstechnik, studentische Hilfskräfte, zerbrechliches Fundgut, Auswertungen und so weiter, denn er schreckte auch noch Wochen nach dieser mörderischen Exkursion in den Süden Englands immer wieder aus dem Schlaf, die Namen seiner ermordeten ExkursionsteilnehmerInnen auf den Lippen.

Ganz zu schweigen von all den Gesprächen mit der Universitätsverwaltung, dem Kultusministerium und nicht zuletzt den gebrochenen, verzweifelten Eltern seiner ermordeten StudentInnen.

Auf diese Weise konnte er ja nie zur Ruhe kommen und selber das letztlich Unbegreifbare verarbeiten, das ihnen da zugestoßen war wie eine elementare Katastrophe, ein Vulkanausbruch, ein Erdbeben, ein Dschungelbrand.

Da war diese Ausgrabung in der Sahara wirklich ein passendes Kontrastprogramm und enthielt sogar einen gewissen Fortschritt, denn Schlafen war hier ein wirklich heikles Kunststück: Nachts bibberte er in seinem 1000-Euro-Daunenschlafsack und tagsüber verwehrte ihm die Hitze jene kurzen Powernap-Nickerchen, die er so schätzte.

Ein französischer Kollege, eigentlich Römerzeitler mit Schwerpunkt auf der späten römischen Eisenzeit Nordafrikas, hatte ihn eingeladen, an der UNESCO-Ausgrabung einer unbekannten Kellia am Rande der Salzwüste teilzunehmen. Sein Knowhow als Professor für die Metallzeiten würde er bei Bedarf gerne beratend einbringen können.

Kellia nannte man die kleineren oder auch größeren Zusammenschlüsse der frühchristlichen Eremiten, die sich zu Gebet, Askese und Meditation, in den ersten Jahrhunderten nach Christi Geburt, in die Wüste zurückgezogen hatten, Aussteigern in Gottes Namen, hagere Heuschreckenesser, die um ein Drittel älter wurden als ihre Zeitgenossen drunten in den fruchtbaren Auen des Nil.

Kellion war der Singular dazu, die einzelne Zelle, in welcher die frommen Eremiten und Anachoreten, oft zusammen mit einem oder mehreren Schülern, lebten.

Joachim Drahm bezweifelte allerdings, dass er selbst hier, am Rande der alten Salzseen, sehr alt werden würde. Sein rotweingestähltes Bäuchlein jedenfalls hatte bereits einiges an Umfang einbüßen müssen. Aber auch das lag wohl an den Nachwirkungen der mörderischen Wessexexkursion. Wem schmeckt schon noch der gemeinsame Bohneneintopf, wenn man miterleben musste, wie junge Leute sich, hinterlistig vergiftet, in Todeszuckungen wanden?

Schattige Trattorias in Laufnähe, wie „zu Hause“ bei seinen oberitalienischen Brandopferplätzen, gab es hier sowieso nicht, also auch keine Chance, dass er sich wieder in Form päppeln konnte. Ganz im Gegenteil! Laufen über ein bestimmtes klar mit Drahtzaun und Stacheldraht obendrauf abgezirkeltes Areal hinaus war sowieso, um ihrer Sicherheit willen, verboten. Eine kleine Einheit gut bewaffneter Blauhelme sorgte dafür, dass kein unbefugter Terrorist hinein- und kein naiver Archäologe herauskam und begleitete die Zivilisten, falls sie einmal an einem weiter entfernten Fundort tätig waren.

Wer auch immer gerade die Macht in Ägypten in der Hand hielt, versuchte, wenigstens die weltberühmten Museen Kairos und die anderen Preziosen eines internationalen Weltkulturerbes vor gewaltbereiten Bombenlegern zu schützen. Fanatismus und Religion hin oder her, die Lebensader Tourismus ließ sich auch hierzulande niemand gerne beschneiden.

Wozu, so nahm Professor Drahm an, der pragmatische Prophet Mohammed, selig und hochgelobt sei er, nur wohlwollend genickt hätte. Von nichts und wieder nichts wird ein Mann der Spätantike, ohne Eltern oder sonstigen familiären Rückhalt in seiner Stammesgesellschaft nicht zum Feldherren und Reichsgründer.

Seine kluge Assistentin Johanna Schmid hätte zu diesem Argument natürlich sofort zu einem ihrer Lieblingsthemen gefunden: „Wissen Sie nicht, dass hinter jedem großen Mann mindestens eine starke Frau steht? Ich sage nur: Chadidscha! Professor Dr. Drahm!“

Als echter patriarchal-professoraler Macho hätte er allerdings bei diesem Namen wohl weniger an Mohammeds erste Frau als eine der ägyptischen Austauschstudenten gedacht – oh je: Studenten und Student innen natürlich! – die derzeit für zwei Semester an seinem Institut für Ur- und Frühgeschichte studierten: Eine aufmerksame, kluge junge Frau, mit ausgezeichneter deutscher Aussprache, da sie eine der deutschen Schulen in Kairo besucht hatte. Bisher interessierte sie sich für die Metallzeiten, was ihn wiederum freute, denn sie war – mit ihren großen dunklen Augen und dem langen, üppigen schwarzen Haar, eine wirkliche Schönheit.

Er seufzte, und seine Gedanken wanderten wieder zu seiner Assistentin Johanna Schmid. Wäre sie hier bei dieser frühmittelalterlichen Ausgrabung dabei, würden ihre kleinen Geplänkel wenigstens etwas die Langeweile dieses archäologischen Internierungscamps vertreiben!



2. Kapitel – Zusammen in der Wüste



Das Kellia



Johannes Cassian3 knabberte an seinem Schreibrohr, was er natürlich nicht tun sollte, denn letztlich war doch diese Knabberei nur ein kläglicher Ausdruck seiner Begierde, besser der Begierde sämtlicher Wölfe, knurrend und tobend da, wo sich sein Bauch fröhlich gefüllt nach vorne wölbte.

Er mochte sie ja schon, diese heiligen Asketen und Anachoreten. Sonst wäre er wohl nicht den ganzen weiten Weg aus Rom her übers Meer gefahren, um ihre berühmten Sprüche und Sentenzen, die im gesamten östlichen Mittelmeerraum von Mund zu Mund kursierten, zu sammeln und in die römische Sprache zu übersetzen.

Gerne passte er sich auch ihrem gestrengen täglichen Gebetsrhythmus an, lebte für eine kleine Weile das fromme Leben eines Anachoreten ..., nur diese Askese, dieses permanente Fasten und Fortschauen, wenn ein flotter Wüstenhase vorbeisprang, ein größerer Vogel durch den Äther schoss und schrie: „Fang mich doch! Rupf mich! Brat mich!“

Ja, wie auch? Die friedlichen Brüder würdigten den vorbei sausenden Braten mit keinem Blick und er selber musste alle seine Waffen, die ein moderner Reisender nun mal mit sich führt, dem Abt der Siedlung in die alten, ausgemergelten Hände legen, als er sich zu Besuch angemeldet hatte, so wie es ihm der Patriarch Theophilus in Alexandra bei seiner Durchreise bereits prophezeit hatte.

Nur eine kleine Schleuder hatte er unauffällig in seinem Gewand behalten können. Gestern nach der Mittagsruhe war er verstohlen losgeschlichen, um irgendwie und irgendwo einen kleinen Wüstenhasen in einer Senke oder vielleicht sogar einen größeren Vogel, eine wohlschmeckende Kragentrappe zum Beispiel, zu schießen, auch wenn die ausgezeichnet getarnt waren und im Mittagslicht vor den grauen Steinen kaum sichtbar. Allerdings hatte er sich noch keinen Plan zurechtgelegt, wann und wo er dieses Tier dann in einen kleinen, leckeren Festbraten verwandeln wollte. Und vor allen Dingen, wie er das unertappt bewerkstelligen könne, denn er war sich sicher, dass er den jungen Bruder, der sein Gästekellion bewirtschaftete, nicht in diesen kulinarischen Frevel einweihen sollte.

Doch er kam gar nicht dazu, heimlich die Küche seiner Gastgeber zu benutzen. Alles, was er als Beute heimbrachte, waren ein paar magere Kräuter, mit denen man wenigstens der täglichen Körnersuppe ein wenig Aroma beifügen konnte.

Den ganzen Nachmittag, beinahe bis zur Vesper, war er auf den steinigen, weiten Hängen und den verkarsteten Steppen herumgelaufen und es schien ihm, als er am Eselsgehege vorbei wieder die Kellia betrat, als würden ihn die schläfrig da stehenden Tiere, deren Ohren sanft unter dem Gebrumm der Fliegen zuckten, ein müdes, aber sehr wissendes Lächeln zuwerfen: „Das, Bruder, hätten wir Dir gleich wiehern können!“

Abbas Joseph, der Vorsteher der Diakonie, ein Bruder, der auch für die Gästebetreuung zuständig war und ein gepflegtes Griechisch sprach, hatte nur gütig über Cassians kurzes Zögern anlässlich der Waffenabgabe gelächelt und ihn dann beim gemeinsamen Gottesdienst allen Bewohnern der Kellia von vorne, aus der Gebetsnische heraus, vorgestellt: Den römischen Reisenden und Gelehrten, welcher im Auftrag Castors, des Bischofs von Apt4, die Siedlungen in der Wüste und am Rande der Salztäler sowie die weit verstreut lebenden Anachoreten und Eremiten besuchte, um sich ihre weisen Sätze, ihre berühmten Sentenzen, ihre koptischen Geheimniskrämereien und Gleichnisse Gott betreffend ins Schreibrohr diktieren zu lassen, das ein junger, afrikanischer Sklave, der ihm in Rom für diese Sammlertätigkeit zur Verfügung gestellt worden war, tagtäglich hinter ihm hertrug.

Die meisten Einsiedler dieser Region sprachen nur Koptisch, Abbas Joseph und Abt Theodorus, der ihn manchmal in der Siedlung begleitete, außerdem Griechisch, sein Sklave beherrschte noch weitere örtliche Dialekte sowie ein merkwürdiges Kauderwelsch, das er irgendwo weiter im Süden aufgeschnappt hatte und „al Arab“ nannte.

Johannes Cassian selber begnügte sich mit Latein und Griechisch, den zivilisierten Sprachen des geistigen Fortschrittes der Menschheit, eben aller römischen Bürger im Reich und war froh, sich dank Abbas Joseph und dem jungen Africanus5 nicht tiefer mit den sprachlichen Barbarismen Afrikas befassen zu müssen.

Der gelehrte Reisende Johannes Cassian ließ den Blick nachdenklich durch seinen kleinen, karg eingerichteten Schlafraum (6) schweifen, der aber doch alles beinhaltete, was zum Leben, nun ja, zu einem kontemplativen Leben, notwendig war. Und das hieß eben leider auch asketischen Leben! .6

Durch die offen stehende Bohlentüre blickte er in den Gebetsraum (5) seiner Eremitage, ins Oratorium, dem größten Raum der ganzen Anlage, circa vier Schritte im Quadrat mit einer kleinen Gebetsnische etwa in nordöstlicher Richtung, zum Sonnenaufgang hin ausgerichtet oder auch Richtung Jerusalem, der himmlischen Stadt SEINER Verklärung. Das zeigte die Bedeutung des Oratoriums an, während der Schlafraum, in dem er momentan saß, knapp die Hälfte an Schritten im Quadrat maß, zuzüglich beengt durch die abgerundeten Kanten des Bettlagers aus aufgemauertem Lehm, einem dreibeinigen Hocker sowie einem etwa zwei Hände breiten Sims an der Wand entlang, gegenüber der Bettstatt. Darauf stand das Fettlämpchen, lagen sein Schreibzeug und die kostbaren Buchrollen des geheimnisvollen Eremiten aus Syrien, dessen Weisheit ihn auf allen seinen Reisen überallhin begleitete.

Cassian bezweifelte stark, ob manche dieser geistig oft doch auch etwas einfach strukturierten Wüstenväter hier in der Kellia einen Satz, den er selber jeden Morgen betete, akzeptieren würden. Wobei das nicht für alle zutraf, denn es gab auch sehr gelehrte, ob ihrer Schriften weltweit bekannte Väter in diesen Siedlungen, die über die ganze westliche Sahara, die obere Thebais, verstreut lagen.

Beim Beten blieb er auf der Bettkante sitzen. Das große Oratorium (5), durch dessen drei Türen immer irgendein Luftzug hauchte, ganz egal von woher der Wind wehte, war eine ziemlich zugige Angelegenheit und zur betenden Vertiefung nicht so geeignet, weshalb er die Bettkante seines kleinen Schlafraumes vorzog:


„Weder bist DU Dunkelheit,
noch Licht,
weder Irrtum,
noch Wahrheit.
Keine Bejahung überhaupt
Und keine Verneinung mittels dessen,
was unter DIR liegt,
trifft DICH,
oder sagt etwas,
was DU nicht bist.
Denn DU bist über jeder Bejahung
Als der völlig eines-seiende Urgrund von allem,
und über jeder Verneinung,
als Erhabenheit des von allem völlig Gelösten,
die alles überragt.“ 7


Aus einer Ecke des Oratoriums, schräg gegenüber der Türe zu seinem Schlafraum, führte ein offener Durchgang aus dem Gebetsraum in eine weitere kleine Kammer (8), die er und sein Sklave Africanus im Augenblick als Schreibstube benutzten und um die kostbaren Papyrusrollen, sowohl die bereits beschriebenen als auch die noch leeren, aufzubewahren.

Ein schmaler Gang daneben (4) führte von der dritten Türe des Oratoriums durch eine breite Eingangshalle, das Vestibül (2–3), hinaus in den Hof (1).

Dem Schreibsklaven Africanus hatte Cassian jene Kammer (9) zum Schlafen zugewiesen, die sonst dem jeweiligen Schüler eines Abbas vorbehalten war. Man erreichte sie durch einen Arbeitsraum (11), der eine Verlängerung des Vestibüls darstellte, von wo aus man auch in die Küche (12) der Eremitage mit dem rund gemauerten Backofen, den Holzpflöcken an der Decke zum Aufhängen der dürren Wüstenkräuter, dem großen Mörser mit Stößel sowie der Reibschale für Getreide und andere hartschalige Früchte gelangte. Dieser Arbeitsbereich war, abgesehen vom Durchgang, durch eine Mauer von der Eingangshalle abgetrennt.

Abba Joseph hatte dem weit her gereisten Gast einen der jüngeren Brüder namens Fidelius, der Zuverlässige, zugeordnet, welcher die Gästeeremitage sauber hielt, die mageren Mahlzeiten zubereitete und den Garten pflegte, der einen großen Teil des mit einer Mauer umgebenen Innenhofes einnahm.

Die kürzere Seite der gesamten Anlage maß wohl an die zehn ausgreifende Fuß, die längere circa fünfzehn Fuß und das Wohngebäude nahm etwa ein Viertel dieser Fläche ein. Schräg gegenüber, in der von ihm am weitesten entfernten Ecke des Hofes befand sich der Abtritt (13) mit einer Hebevorrichtung, um bei Bedarf den Inhalt herauf zu befördern und auf den Beeten zu verteilen.

Der Brunnen lag in einem Winkel, den die vorgebaute Küche mit der Eremitage bildete, was ein wenig umständlich war, denn Fidelius, der junge Mönch, musste mit den Wasserschaffs immer erst aus der Küche durch die lange Zimmerflucht aus Arbeitsraum und Vestibül laufen, außen an der Hauswand entlang zurück und um den Küchenvorbau herum, um Wasser zu schöpfen – und dann natürlich mit den beiden schwappenden Holzbottichen, die er an einem Kummet über den Schultern trug, den ganzen weiten Weg wieder zurück.

Oft wurde Cassian durch das leise Quietschen der Brunnenwinde geweckt. Der weit gereiste Gelehrte vermutete, dass, solange jeweils nur ein Eremit alleine in dieser Kellion lebte, ein überdachter Küchenanbau wohl ursprünglich offen, ohne Mauern, vor dem Arbeitsraum gelegen hatte, so das der dort lebende Bruder nur aus dem Unterstand heraustreten musste, um Wasser zu holen, dass es aber auf Dauer dann wohl für die Gäste angenehmer war, wenn nicht gleich die ganze Geruchspalette aus gedörrtem Getreide oder leicht angebranntem Brei durch die offenen Fensterschlitze des Schlafraumes zog.

Nachdem immer zahlreicher Reisende aus allen Himmelsrichtungen die Siedlungen der frommen Einsiedler besuchten, hatte der Abt der hiesigen, in welcher Cassian zurzeit als Gast weilte, zusammen mit seinen Brüdern beschlossen, eine der Zellen, die eher im Zentrum der weit verstreuten Siedlung lag, nahe bei der Kirche, für diese Gäste herrichten zu lassen.

Die einzelnen Zellen, Kellion genannt, worunter eben immer eine solch kleines Wohngebäude, wie es gerade den gelehrten Gast beherbergte, mit ummauertem Hof und Garten zu verstehen war, breiteten sich von einem Zentrum her in der Wüstenlandschaft aus wie ein Sack hingeworfener Würfel. Zu den Rändern hin weiter verteilt, oft kaum noch in Rufweite zueinander, um das ungestörte Beten der Eremiten und Anachoreten zu sichern, zum Ausgangspunkt des Wurfes, dem Zentrum der Siedlung etwas gedrängter.

Hier fanden sich auch der kleine Kirchenbau sowie eine Art freier, fest gestampfter Platz, falls die wöchentlichen Versammlungen nach dem Gottesdienst einmal mehr Mönche umfasste, als das Kirchlein aufnehmen konnte.

Nach Osten hin, jeweils etwa 5 – 10 Stadien8 entfernt, schlossen sich weitere Untersiedlungen an, eine sogar mit einer zweiten Kirche: Ein Abbild jenes unseligen Streites, welcher Gestalt denn nun Gott sei, der fast überall mittlerweile die Mönchsgemeinschaften spaltete: Absolut ungetrennt Einer in einer Gestalt einschließlich Jesus Christus? Ungetrennt und unvermischt aber in einer Gestalt? Göttlich in menschlicher Gestalt?

Als Gebildeter, einem apophatischen9 Gottesbild nahe stehender Römer, musste Johannes Cassian unwillkürlich innerlich seufzen ob solch rabulistischer Verwirrung seiner Glaubensbrüder im östlichen Mittelmeerraum. Mit Staunen hatte er sogar schon Prügeleien zwischen erbosten Fanatikern der einen oder anderen geistlichen Richtung beobachtet: Sogenannte Monophysiten prügelten sich mit Anthropomorphiten, Origenisten mit den Anhängern des Ketzerverzeichnisses eines gewissen Epiphanios. Die Beweggründe für solche verbiesterten, handgreiflichen Auseinandersetzungen waren ihm sehr viel weniger verständlich als beispielsweise die Motive jener Räuberbanden, welche immer mal wieder eine der großen Karawanen, die allerlei wertvolle Ware durch die Wüsten von Süden nach Norden bis ins byzantinische Reich transportierten, ausraubten.

Auf seiner Durchreise hatte ihm der Erzbischof Theophilus von Alexandria auch mit geteilt, dass er in seinem diesjährigen Sendbrief zu Epiphanias, in welchem jeweils der Tag des Osterfestes angekündigt wurde, auch Einiges zu diesen Streitigkeiten sagen werde, die er zutiefst missbillige.

Noch weiter in die Wüste hinein Richtung Südost, vielleicht dreimal so viele Stadien weit entfernt wie die Nebenkellia, hatte sich eine weitere, breit ausgefächerte Siedlung frommer Anachoreten gegründet10 und Richtung Nordosten, etwa eine Tagesreise entfernt, gab es eine weitere.11 Zwei bis drei Tagesreisen noch tiefer in der Wüste versteckt, im Süden und Südwesten lebten andere fromme Wüstenbrüder in ihren Siedlungen nahe der großen Salzlagerstätten.12

Soweit Cassian die einschlägigen Berichte anderer Reisender kannte, sollten sich angeblich im Ganzen sogar bis zu 5000 Mönche in all diesen weit voneinander liegenden Mönchssiedlungen mit ihren vielen tausend ummauerten Zellen befinden.

Ein oder zweimal in der Woche kamen die ansonsten abgeschieden lebenden Brüder einer Siedlung sowie deren Untersiedlungen und ihre Schüler zum gemeinsamen Gebet und zur Feier des heiligen Abendmahles zusammen. Aus diesen Zusammenkünften hatte sich dann in einigen Siedlungen im Laufe der Zeit auch ein kleiner Markt auf den Vorplätzen der Kirchen entwickelt, auf dem die Eremiten notwendige Gerätschaften aus Metall oder Töpferwaren gegen ihre geflochtenen Matten und anderes Handwerk austauschen konnten.

Die Kirche seiner Gastsiedlung stand auf einer seltsamen, runden Erhebung, die dem weit gereisten Gelehrten sehr künstlich anmutete. „Teufelskammer“ nannten die Eremiten den Hügel auf Griechisch, denn zwischen fast mannshohen Steinquadern, welche den Hügel zusammen hielten, konnte man durch einen schmalen Gang in eine große, unterirdische Höhle kriechen, die fast ebenso viele Menschen fasste, wie oben die neu errichtete Kirche. Deshalb hatten die ersten Eremiten, die sich am Fuße dieses seltsamen Hügels ansiedelten, auch anfangs ihre Gottesdienste im Bauch der Teufelskammer abgehalten bis die neue Kirche obendrauf fertig errichtet worden war – achteckig als Abbild des Himmels und seiner Hierarchien, der über alle Tiefen regiert.

Ob ihnen das nichts ausgemacht hätte, hatte Johannes Cassian den Abt Theodorus, bei ihrem ersten Gespräch auf einem Abendspaziergang durch das Gelände der Siedlung befragt doch der hatte nur gütig gelächelt und Cassian auf die Stirne geklopft:

„In diesem Gewölbe, mein Lieber, hausen die Dämonen. Gelingt es dir, sie daraus zu vertreiben, musst du sie weder in der Erde noch sonst irgendwo im Äußerlichen fürchten.“

Und nach einer kleinen Gedankenpause fügte Abbas Theodorus hinzu:

„So, wie deine Gebete deine Seele reinigen, reinigten die Andachten der ersten Anachoreten diese seltsame Höhle, die Wer-auch-immer errichtet hat. Du betest doch, Bruder?“ Er warf dem Gelehrten einen listigen Blick zu, worauf Cassian ein bisschen zu eifrig bestätigte, dass er regelmäßig seinen Tag mit einem Gebet beginne.

Doch der Abt der Siedlung winkte zweifelnd ab: „Ach geh’ mir doch mit deinem seltsam blutleeren Meister Apophanius. Was soll Gott sein: Unnennbar, unsichtbar, ungreifbar, und-alles-Mögliche, unbeschreiblich? Und was ist das da?“ Er wies mit großer Geste über die Wüstenlandschaft hin, an deren Horizont gerade in allen dunkelviolett schimmernden Farbtönen die Nacht herauf zog: „In jedem Stein liegt mehr greifbare Schönheit als in dem trunkenen Gesäusel deines Dionisos! Überhaupt – was für ein Säufername!“

„Er heißt Dionysius! Das ist ein ganz normaler, griechischer Name, verehrter Bruder Abt, er kommt ziemlich häufig vor. Du kannst gerne einmal etwas von ihm aus meiner Schriftrolle, die ich immer bei mir führe, lesen.“

„Ah pah!“ Der Abba Theodorus wandte sich zur Seite.

Das hier ist meine Schriftrolle! Schau doch mal, wie die Schönheit sich entfaltet!“ Der Abt wies zum Himmel hinauf, an dem nun ein Stern nach dem anderen sichtbar wurde – jene große, von Osten her aufgeblätterte Schriftrolle einer Schönheit, die alles Menschenmaß übersteigt, wie Cassian nach diesem Gespräch mit Abba Theodorus durchaus zugeben musste.

Um so merkwürdiger fand er es, dass sich andererseits einige der frommen Väter zum Teil bis ins Mark hinein über ihren blöden Streit zu Gottes Wesen zerfleischten. Aber auch dazu hatte sich Dionysius Areopagites, wie der geheimnisvolle Philosoph mit vollem Namen hieß, einmal in einem Brief geäußert: „Dabei wird nicht die eine Ordnung wider die andere gekehrt werden, sondern ein jeder wird in seiner Ordnung und seinem Amt verbleiben.“13

Johannes Cassian legte das Schreibrohr beiseite, mit dem er sich Notizen an den Rand der Schriftrolle des Areopagiten gemacht hatte, erhob sich von seiner Bettstatt, legte beides auf das Sims an der Wand, reckte sich und beschloss, vor dem Frühstück einen kleinen Spaziergang hinauf zur Kirche über der „Teufelskammer“ zu machen. Von dort würde er einen wunderbaren Rundblick über die verstreut liegenden anderen Zellen der Siedlung und über die karge, jetzt im Morgenlicht grün-braun schimmernde Landschaft haben.



3. Kapitel – Und einer vor dem Institut



Dr. Johanna Schmid war Assistentin an einem der größten Institute für Ur- und Frühgeschichte in Deutschland – und doch, so musste sie jedes Mal denken, wenn sie an der grauen Mauer empor schaute – und doch, wie klein und unbedeutend wirkte es im Vergleich zu anderen, breit und modern hingeklotzten Institutsgebäuden für Wirtschaft, Biochemie oder Jurisprudenz! Sie vollführte einen rasanten Schlenker mit dem Vorderreifen, hob sich vom Fahrradsattel ab, als führe sie ein Pferd über ein Hindernis, holperte leicht den abgeflachten Bordstein hoch und bremste knapp vor dem verwinkelten Gitterzaun, der die alte, aufgestockte Villa aus der Gründerzeit, in der das Institut für Ur- und Frühgeschichte untergebracht war, umgab.

Sie lehnte ihr Rad an den Zaun und schloss es mit einer doppelten Kette sorgfältig mehrfach umschlungen, ab. Ein bisschen missbilligend betrachtete sie den Container, der im auch sonst nicht sehr sorgfältig gepflegten Vorgarten stand. Der Dachboden des Instituts sollte während der Semesterferien renoviert werden und allerlei sperriges Zeug, abgebrochene Latten, zersplitterte Holzbalken, kalkverklebte Bretter, zerfleddertes Isoliermaterial und zerbrochene Dachziegel reckten sich in die kühle Märzluft hinaus.

Diese seit Jahren überfällige Renovierung war der Grund, warum sich Johanna schweren Herzens von ihrer rotfeurigen Jugendherbergsmutter hatte trennen müssen, damit wenigstens ein Paar verantwortungsvoller Augen im Sinne ihres Chefs auf der ganzen Entrümpelungsaktion ruhten.

„Und passen sie auf, dass nicht wieder Akten oder sonst wertvolle Papierquellen einfach so wie Klopapier entsorgt werden, wie vor dreißig Jahren unter meinem Vorgänger bei der Entrümpelung der unteren Stockwerke“, hatte ihr Dr. Drahm aus seinem Exil im Wüstensand geschrieben. „Ich brauche wenigstens eine vernünftige, geschichtsbewusste Person an Bord, wenn sich schon alle anderen Kollegen in die Ferien verdrückt haben.“

Damit hatte er nur zu recht. Neulich hatten sie in einem Aktenschrank, dessen altmodisches Rouleau nur mit Gewalt aufzubrechen war, einen Haufen vergilbter und feuchter Arbeiten aus den späten 40er und frühen 50er Jahren gefunden, die es irgendwie geschafft hatten, die Kriegs- und Nachkriegszeiten zu überdauern, ehe sie dann wohl, nach Wiedergründung des Institutes, in der alten Villa auf dem Dachboden landeten. Sie waren nur mehr von historischem Wert. Beispielsweise fand sich darin die frühe Arbeit zum Epipaläolithikum des Süddeutschen und südfranzösischen Raumes vor, die ein bekannte Mesolithiker – nun auch bereits emeritiert und vermutlich sogar schon verstorben – damals verfasst hatte. Auch wenn die darin dargestellten Ergebnisse mittlerweile, wenn nicht überholt, so doch wenigstens aktualisiert worden waren, galt die Arbeit, auf der dann auch seine weiteren Veröffentlichungen beruhten, als bahnbrechend für die Erforschung des Zeitraumes zwischen der Mittleren Steinzeit und der Jungsteinzeit – also den Phasen der Sammler und Jäger sowie dann der darauf folgenden Sesshaftigkeit der Ackerbauern.

Eigentlich hießen die Semesterferien „vorlesungsfreie Zeit“ und sollten der Wissenschaft gewidmet sein, dem Abfassen von Master- oder Seminararbeiten, dem Klassifizieren und Ordnen vom Funden, der Vorbereitung auf mündliche und schriftliche Prüfungen aller Art. Aber für manche KollegInnen, wozu nicht zuletzt auch Professor Dr. Drahm selbst gehörte, war das eben doch ein recht dehnbarer Begriff. Johanna Schmid hatte seinen fernen Argumenten auch nicht viel entgegenzusetzen, schließlich lag eine erfüllte, lange Auszeit von mehreren Monaten hinter ihr. Johanna war klar, wenn dieses halbe Jahr in Englands und Scarletts Armen sie seelisch nicht wieder auf die Beine gebracht hatte, dann konnte sie wohl generell ihren Beruf – ach was, alle möglichen anderen Berufe auch – an den Nagel hängen und als traumatisiertes Psychowrack den Rest ihres Lebens herumhängen. Also war sie Professor Drahms Bitten gefolgt und hatte sich in die Organisation und Beaufsichtigung dieser Renovation gestürzt, selbst Latten und Isoliermaterial heruntergerissen, leicht schimmelige Pappkartons mit vielversprechenden Papieren darin in einer Ecke ihres Büros gestapelt und das Telefon bei den Terminvereinbarungen mit den Handwerkern heißlaufen lassen, da leider auch die effiziente Sekretärin, Frau Bärbel Sessinger, in den wohl verdienten, sicherlich kompetent organisierten und durchstrukturierten Familienosterferien weilte.

Der alte Dachboden mit seinen verwinkelten, abgeschrägten Nebenkammern und Seitenspeichern sollte entkernt und zu einem kleinen Vorlesungs- und Seminarraum ausgebaut werden, um die Bibliothekszimmer im ersten Stock, die seit über fünfzig Jahren als Seminarräume dienten, vom Lehrbetrieb zu entlasten.

Was dann wohl mit dem berühmten großen, historischen Grünen Tisch geschehen würde, an dem nun bereits die dritte Generation von hoffnungsvollen Ur-und-FrühgeschichtlerInnen heranreifte und auf dem Johanna eines schönen Tages, die durch einen Speer hingestreckte Leiche eines Kommilitonen gefunden hatte,14 stand noch in den Sternen. Sie schätzte, dass, wie auch immer der Aufgang zu diesem neuen Seminarraum gestaltet sein mochte, er sicherlich zu eng werden würde für dieses bedeutungsschwere Möbelmonster aus den Nachkriegsgründerjahren ihres Instituts. Ganz sicher könnte man den nicht die schmale Treppe hinauf wuchten, die allerdings sowieso aus sicherheitstechnischen Gründen verbreitert werden musste. Ebenso, wie der Boden des alten Speichers verstärkt werden sollte, damit eine größere Studentengruppe dort an Seminaren und Vorlesungen teilnehmen konnte.

So ähnelten diese Vorbereitungen zur eigentlichen Renovation teilweise wirklich einer Ausgrabung in luftiger Höhe. Der spannendste Fund war bisher eine vollständig ausgetrocknete Katzenmumie gewesen, die unter den heraus gerissenen Bohlenbrettern zum Vorschein gekommen war. Die Göttin allein wusste, vor wie vielen Jahren sich dieses Tier hierhin zum Sterben zurückgezogen hatte!

Johanna hatte gleich eine ehemalige Studentin aus den Neunziger Jahren angerufen und diese meinte: „Müsste vor 1958 gewesen sein.“ Sie hatte ihre Mastgisterarbeit über die Geschichte des Instituts geschrieben und lebte nun in der Schweiz, wo Johanna sie einmal anlässlich eines Besuches bei ihrer damaligen Geliebten kennengelernt hatte. 1958 war das Jahr, in welchem dieses einstmals so stolze und große Institut, welches mit modernen Laboren und weitläufigen Hörsälen während der Zeit des Nationalsozialismus sogar im Hauptgebäude der Universität residiert hatte, viel bescheidener und eher still und unauffällig wieder eröffnet worden war.

Johanna hatte die Katzenmumie mit der Bitte an das biologische Institut weiter gereicht, sie vollständig zu erhalten und zu präparieren, da sie vorhatte, sich dieses merkwürdige, flachgetrocknete Relikt aus der großbürgerlichen Vergangenheit der alten Villa irgendwo an die langen Wände ihres Büros zu hängen.

Auch sonst war ihre Anwesenheit durchaus sinnvoll, weil das Haus den ganzen Tag über offen stand und allerlei Leute, die sie nicht einmal vom Sehen kannte – Handwerker, Hilfsarbeiter, Architekten, usw. – hier aus- und eingingen. Frau Sessinger wären sie vermutlich bekannt gewesen – aber ihr?

Ein wenig unsicher fühlte sie sich schon, moderne Architektur war nicht unbedingt ihre Stärke. Neulich hatte sie zum Beispiel ein Gespräch, vermutlich Architektenlatein, im Treppen-haus mit angehört, in dem es um „Aufpassen“ und eine „Waage“ gegangen war, die „rechtzeitig“ zum „Stillstand kommen müsse“. Sie hatte die Männer nicht gesehen, die irgendwo zwischen dem dritten Stock und dem Dachboden miteinander sprachen. Es ging um eine „Lohnung“, was immer das sein mochte und dass man „verhindern müsste, sein Bild zu zerstören“. Wer weiß, was da jemand gefunden hatte – hoffentlich gehörte das zu den Dingen, die ihr die Bauarbeiter pflichtschuldigst immer mal wieder ins Büro brachten.

Sie warf sich ihren Rucksack wieder über die Schultern, öffnete das leicht rostige und quietschende Törchen im Zaun und stakste vorsichtig über die unregelmäßigen Steinplatten des Gartenweges, am Container vorbei, zur Haustüre des Instituts. Vorsichtshalber warf sie einen Blick über seine Kante, um sich zu vergewissern, ob auch wirklich niemand im Eifer des Aufräumgefechts alte Bücher, Ordner, Fundkisten oder gar Seminararbeiten dort hineingeworfen hatte. In Gedanken schauderte sie jedes Mal, wenn sie sich an eines der Interviews aus der Magisterarbeit erinnerte: Dort erzählte ein Student aus den achtziger Jahren, wie sie mit Schwung beim Entrümpeln alte Ordner und Schriften aus dem Fenster direkt in den damaligen Container gefeuert hatten – hei, hatte das Spass gemacht!

Beruhigt sah sie, dass Professor Drahms und auch ihre wilden Drohungen bei den Hiwis und Bauarbeitern gefruchtet hatten – außer dem Abrissplunder fand sich nichts Quellenrelevantes in dem Wirrwarr des Containers.

Irgendwie hatte wohl jemand seine Arbeitsschuhe ebenfalls entsorgen wollen oder schlichtweg daneben getroffen, denn hinter der Ecke des Behälters ragten zwei braune, verschmierte Schuhe hervor. Sie schüttelte den Kopf und bückte sich vor, um diese mit Schwung hinauf zu befördern – doch in den Schuhen steckten Füße. Sie schaute weiter um die Metallwand herum.

Da waren Beine in dreckigen Hosen, ein Rumpf auf dem Bauche liegend, Arme irgendwie an die Seiten oder darunter gepresst, ein seitlich geneigter Kopf, blass und – ja doch, blutig im dunklen Haarschopf!

War etwa einer der Arbeiter aus dem Dachboden heruntergestürzt? Wie lange lag der wohl schon da? Lebte er überhaupt noch?

Johanna kniete sich vorsichtig neben den Körper und versuchte, den Puls an der Halsschlagader zu fühlen, was einigermaßen schwierig war – schwieriger als in all den Theorien und Übungsstunden zur Ersten Hilfe, die sie als ehemalige Kampfsporttrainerin im Laufe ihres Lebens absolviert hatte. Möglicherweise war der sogar noch zu spüren – aber sie konnte das nicht entscheiden, denn so in der Morgenfrische war der Körper des Verunglückten auch ziemlich kalt.

Suchend schaute sie zum Fenster des Sekretariats gerade über ihr hinauf – aber da war natürlich niemand dank Frau Sessingers österliche Abwesenheit. Sie schaute in die andere Richtung, durch die Gitterstäbe des Zauns hindurch quer über die Kreuzung vor der Villa, wo ein großes, modernes Krankenhaus stand, ließ den Rucksack von den Schultern gleiten und kramte nach ihrem Handy, das sie eigentlich nur benutzte, wenn sie eine Verspätung anzumelden hatte ... aber es nützte ihr sowieso nichts, da sie ja die Nummer des Krankenhauses nicht kannte. Sie sah Leute dort drüben hineingehen, stand auf und rief, so laut sie mir ihrer trainierten Stimme konnte: „Feuer, Feuer!“, was erfahrungsgemäß besser zu hören war und schnellere Reaktionen hervorrief, als das quäkige I-Wort „Hiiilfe!“

Tatsächlich stockte eine der Gestalten auf dem Parkplatz vor dem Krankenhaus und schaute zu ihr hinüber. Johanna trat einige Schritte vom Container weg, winkte mit den Armen und rief: „Hier liegt ein Verletzter, schnell, wir brauchen Hilfe!“

Der Mann nahm seine Tasche unter den Arm, verhielt kurz vor der Kreuzung und kam quer herübergerannt zum Vorgarten des Instituts.