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Impressum

PROLOG

Das will ich immer sehen!

Ich war an einem dieser ziemlich ekligen grauen und nassen Novembertage in Hamburg unterwegs. Fahle Schneereste schmolzen matschig an den Straßenrändern. Ich hatte mich aufgemacht, ein Hausboot zu besichtigen. Meine Freundin Angela, mit der mich eine über zwanzigjährige Freundschaft verbindet, begleitete mich. Ich war froh, sie mit ihrer klugen, klaren Art an meiner Seite zu haben. Schließlich sehen vier Augen mehr als zwei. Ich war aufgeregt, nervös und unruhig, aber auch voller Erwartung und Vorfreude. Gefunden hatte ich das Schiff bei eBay Kleinanzeigen. Château d’eau hieß es und sah auf den Fotos ziemlich gut aus. Nein, eigentlich sah es großartig aus. Ich war nicht unvorbereitet, hatte mir für meine Besichtigung eine umfangreiche Frageliste erstellt: Ist das Ding winterfest? Wie ist die Wasser-, wie die Stromversorgung? Wie ist es gedämmt? Wie viel kostet der Liegeplatz? Wann war es das letzte Mal in der Werft? Gibt es ein Schwimmfähigkeitszeugnis?

Wir fuhren in die Vierlande, einen Stadtteil im Südosten Hamburgs. Man hatte mir eine ungefähre Adresse, den Namen eines Hafens genannt. Die Deichstraße war schier endlos, der Himmel spannte sich trüb über die graubraune Landschaft. Wir mussten eine Weile suchen, aber schließlich fanden wir die Straße, an der der Hafen liegen sollte. Wir schauten uns um und da sah ich das Boot auf der anderen Seite der Bucht. Da lag es, ein weißer Kasten, völlig unspektakulär. Aus der Entfernung wirkte es am langen Steg und im trüben Winterwasser eher klein.

»Hm«, machte Angela, »das ist es wohl.«

»Ja, nicht so prickelnd«, gab ich zurück.

Trotzdem blieb ich aufgeregt. Im Hafen stand ein Mann, ein anderer fegte ein wenig Schnee vom leeren Steg.

»Kommen Sie, um sich das Hausboot anzusehen? Ich bin der Verkäufer.« Er stellte seinen Besen beiseite und begleitete uns den Steg entlang. »Vorsicht, hier ist überall Gänsedreck«, warnte er uns, als wir frierend die vierhundert Meter zum Boot wanderten. Endlich standen wir vor der Eingangstür und mein Blick glitt am Bootsrumpf entlang. Auf den Fotos hatte die Château d’eau deutlich spannender ausgesehen. Unbehagen erfasste mich. Das sollte es sein? Das sollte vielleicht mein neues Zuhause werden? Schwer vorstellbar.

Wir betraten das Schiff. Drinnen war es eiskalt, beinahe kälter als draußen. Kein Wunder, wohnte doch niemand mehr darauf. Die Besitzer waren nur im Sommer dort gewesen, wie wir erfuhren, im Winter hatte es stillgelegen. Ich ging durch die einzelnen Räume – allesamt nicht eben groß, aber geschickt eingerichtet –, fand das Ganze recht nett, aber mehr auch nicht. Erst im großen Hauptraum packte es mich. Er war rundum von Fenstern umgeben, durch die ich das Wasser sehen konnte. Und dann der Moment, in dem die halbherzige Wintersonne meine Entscheidung beförderte, als sie durch die Fenster an die Decke schien und dort zitternde Lichtmuster erzeugte. Das will ich immer sehen, dachte ich unwillkürlich. Ein ganz seltsames Gefühl, ein sicheres Wissen, dass dies hier mein Boot sein würde, durchströmte mich. Plötzlich konnte ich mir vorstellen, dass mein Traum hier Wirklichkeit werden würde. Ich musste erst einmal durchatmen, denn plötzlich war ich innerlich ganz aufgewühlt. Also trat ich nach draußen auf das Vorschiff mit der geräumigen Terrasse. Von hier aus hatte man einen wunderbaren, weiten Blick über die Elbe. Irgendetwas wurde in mir angerührt, irgendetwas verliebte sich in diesem Augenblick.

Steifbeinig vor lauter Aufregung stiefelte ich auf und ab, nickte innerlich vor mich hin: Schön, schön, das Ganze. Nein, nicht schön, wunderschön! Angela beobachtete meine Reaktion sehr genau, sie schmunzelte. Sie hatte mein inneres Nicken offenbar gesehen und sofort erfasst, dass ich das Schiff großartig fand. Aber ich blieb vorsichtig: Lieber erst mal zurückhaltend bleiben, vor allem dem Verkäufer kein allzu großes Interesse zeigen. Ich hatte schließlich vor, noch über den Preis zu verhandeln, wenn ich das Schiff denn tatsächlich kaufen wollte.

Auf all meine Fragen bekam ich zufriedenstellende Antworten: Gedämmt war es, die Stahlwände waren von innen mit vier Zentimetern Steinwolle isoliert, davor hatte man Rigips-Wände gesetzt. In der Werft war es im selben Jahr gewesen, hatte dort ein neues Schwimmfähigkeitszeugnis und einen Unterwasseranstrich bekommen. Der Liegeplatz kostete nicht viel, Strom und Wasser kamen aus dem Hafen. Wir saßen eine Weile im kalten Wohnzimmer herum, ich ließ meinen Blick schweifen. In meiner Fantasie richtete ich das Schiff ganz neu ein. Ich stellte mir vor, wie es sein würde, hier zu wohnen. Überlegte, wie es wäre, im Sommer auf der Terrasse zu sitzen und immer, jeden Tag, diesen unglaublich weiten Blick zu haben. Malte mir aus, wie gemütlich es sein würde, bei Sturm und Regen vorm Kamin zu sitzen, den es zu meinem Entzücken auch gab, sein wärmendes Feuer zu genießen und dennoch den Elementen ganz nah zu sein. Es fühlte sich schlichtweg richtig an, ich hatte das Gefühl, dies sollte mein Start in ein neues Leben werden. Andererseits war es das erste Schiff, das meinen Vorstellungen entsprach. Sollte ich da tatsächlich gleich zugreifen?

»Ich melde mich«, sagte ich beim Gehen.

Im Auto waren wir zunächst schweigsam.

»Du hast dich verliebt!«, konstatierte meine Freundin.

»Mhm, na ja«, murmelte ich.

»Und – kaufst du es?«

»Nein, ich glaube nicht, ich hab Angst. Ich weiß doch gar nicht, ob ich das kann, so ganz allein auf einem Schiff«, sagte ich.

Angela wandte sich zu mir und sagte streng: »Eisenschink, nun hast du ein Schiff gefunden, das genau so ist, wie du es dir wünschst. Nun kauf das Ding. Ich will mir nicht die nächsten zwanzig Jahre dein Gejammer anhören, weil du dich nicht getraut hast!«

Es ist gut, kluge Freundinnen zu haben.

Als mich Angela zu Hause abgesetzt hatte, betrachtete ich noch einmal die Fotos und ließ meine Gedanken schweifen. In den nächsten Tagen telefonierte ich mit meiner Familie und schwärmte meinen Freunden von dem Schiff vor. »Es ist noch viel schöner als auf den Bildern«, erzählte ich allen. Und doch beschlichen mich Zweifel. Sollte ich es wirklich wagen? Hatte ich tatsächlich den Mut und genügend Kraft für eine derart große Veränderung oder sollte ich diesen Traum nicht lieber begraben? Es war eine Zeit der Umbrüche, eine Zeit der Neuausrichtung für mich, die mit einem unangenehmen Knall begonnen hatte.

KAPITEL 1

Neubeginn mit einem Herrn

Mein neues Leben hatte mit einem gewaltigen Knall und einem Ende begonnen. Mein Mann und ich saßen bei einem – wie ich fand – entspannten Essen zur Feier unseres zwölfeinhalbten Hochzeitstages bei unserem Lieblingsitaliener. Bei der Nachspeise eröffnete er mir, dass er sich von mir trennen wolle. Er wollte keine Auszeit, sondern gleich die Scheidung. Ich war völlig geschockt, hatte nicht damit gerechnet. Die folgenden Wochen erschienen mir wie ein Alptraum: Ich versuchte, unsere Ehe zu retten, versuchte immer wieder, mit ihm zu sprechen, doch ich kam nicht mehr an ihn heran. Für ihn war alles klar: Er wollte nicht mehr. Im Nachhinein muss ich sagen, dass er recht gehabt hat.

Verliebt hatte er sich damals in eine lebensfrohe, bodenständige und selbstbewusste Frau.

Als wir uns kennenlernten, hatte ich einen riesigen Freundes- und Bekanntenkreis gehabt. Samstags tanzten wir in einer Rockdisco die Nächte durch. Sonntags trafen wir uns zu Radtouren und machten Picknicks. Ich trieb regelmäßig Sport, feierte mit Freunden wahre Kochorgien und freute mich meines Lebens.

Doch diese patente und fröhliche Frau war in all den gemeinsamen Jahren irgendwo verloren gegangen. Ich hatte versucht, mir seine Liebe durch Leistung zu erhalten. Und stand dabei ständig unter selbst gemachtem Stress: Ich wollte die perfekte Ehefrau sein, die geistreiche Gespräche mit ihrem Mann führt und immer gute Laune hat. Ich wollte die großartige Gastgeberin sein, die neben ihrem Job mühelos mehrgängige Menüs kocht, den Tisch liebevoll dekoriert und bis tief in die Nacht lustig und munter ist. Ich wollte eine beruflich erfolgreiche Vorzeigefrau sein, obwohl ich auch damals schon mit finanziell desaströsen Arbeitsbedingungen zu kämpfen hatte. Ich wollte eine aufregende Geliebte sein, die ihren Mann ständig überrascht und natürlich einen hinreißenden und durchtrainierten Körper hat. Ich wollte den riesigen Garten in ein Paradies verwandeln …

Ich wollte eine Frau sein, auf die er stolz sein konnte, die er immer lieben würde. All diese Ansprüche hatten mich von mir selbst entfernt, ich wusste im Grunde gar nicht mehr, wer ich wirklich war, was ich selbst wollte. Und war darüber unzufrieden geworden, nicht nur mit mir selbst. Er hatte mich nie in all diese Rollen hineingedrängt, hatte nie etwas von mir gefordert. Aber die starke Frau, die er kennengelernt hatte, war auf der Strecke geblieben und nun war er mit einem unwirschen und ewig nörgelnden Wesen zusammen. Das fiel auch mir selbst immer häufiger auf. Im Grunde mochte ich mein ganzes Leben nicht mehr, obwohl es von außen betrachtet perfekt war: Ich hatte einen liebenswerten Mann, wir wohnten in einem schönen Haus, fuhren regelmäßig in den Urlaub, es fehlte uns an nichts. Und doch hatte ich manchmal das Gefühl, dass wir uns voneinander entfernt hatten, dass sich die Liebe davongemacht hatte. Die Freude am Segeln war uns geblieben.

Nun hatte er also einen Schlussstrich gezogen, den ich akzeptieren musste, aber noch nicht konnte. Verzweifelt versuchte ich, ihn dazu zu bewegen, mit mir zu reden, einen gemeinsamen Weg zu finden. Ich wollte unsere Ehe nicht einfach so wegwerfen. So erzählte ich zunächst noch niemandem vom Entschluss meines Mannes, versuchte lieber erst einmal, ihn umzustimmen. Doch irgendwann wurde mir klar: Er meinte es bitterernst!

Mein Halt in dieser Situation waren meine Freunde. Alle halfen, wo sie konnten, sie schlossen sich wie ein warmer Mantel um meine Verzweiflung. Angela und ihr Mann Dirk quartierten mich erst einmal für ein paar Tage bei sich ein, damit ich wieder zu mir kommen konnte. »Du kannst so lange bleiben, wie du willst«, boten sie mir an, »fühl dich wie zu Hause.« Das tat ich und genoss das WG-Leben zu dritt sogar. Ich fühlte mich geborgen und hatte am Ende die Kraft, eine Scheidungsanwältin anzurufen. Edith fragte: »Was kann ich für dich tun, isst du überhaupt richtig?« Nein, das tat ich natürlich nicht. Also lud sie mich ein und bekochte mich und ich entspannte mich trotz all dem Stress zu Hause. Alex brachte mich mit ihrem schwarzen Humor tatsächlich zum Lachen und Monika nahm mich einfach in den Arm.

Irgendwann hatte ich das Unvermeidliche akzeptiert und machte mich auf die Suche nach einer neuen Wohnung. Nicht leicht in der schönsten, aber eben auch sehr teuren Stadt. Ich fand eine Zweizimmerwohnung, zog aus dem gemeinsamen Haus aus und versuchte, mein Leben neu zu ordnen. Und das fühlte sich überraschenderweise ziemlich gut an. Ich war wie befreit von der Last des Perfekt-sein-Müssens. Auch meine Familie freute sich darüber: »Die alte Nico ist wieder da.« Es schien, als würden Verkrustungen aufbrechen, die mein eigentliches Ich wieder zum Vorschein brachten. Ich fühlte die vertraute und lange verschüttete Lebensfreude zurückkehren, war beschwingt, richtig gut drauf. Und das hatte auch mit einer wichtigen Entscheidung bei dieser Rückkehr zu mir selbst zu tun. Nur zehn Tage nach meinem Umzug erfüllte ich mir einen sehr, sehr großen Wunsch: Ich holte mir eine Katze aus dem Tierheim.

Als ich meinen Mann kennengelernt hatte, hatte ich auch eine Katze besessen, Dina hieß sie und war schon damals sehr alt. Ich hing mit großer Liebe an der Katze. Als sie unheilbar krank wurde und eingeschläfert werden musste, hatten wir kein neues Haustier mehr zu uns geholt.

Eine Samtpfote aber hatte mir während meiner Ehe schmerzlich gefehlt. Nun, in meinem neuen, eigenen Zuhause konnte ich mir diesen Herzenswunsch erfüllen. Ich fuhr in ein nahegelegenes Tierheim und erzählte meine Geschichte.

»Wir haben genau die richtige Katze für Sie, drei Jahre alt vielleicht. Wir haben sie Kaya genannt«, sagte die ­Angestellte.

»Hat sie jemand abgegeben?«, wollte ich wissen.

»Angeblich hat jemand sie in einem Gewerbegebiet gefunden. Ich hab’s nicht geglaubt. Dafür war sie zu gepflegt. Vermutlich passte sie nicht mehr ins Leben des Besitzers. Wie so oft …«

»Wie verantwortungslos«, entgegnete ich schockiert.

Die Tierpflegerin zuckte nur die Schultern. Sie war an diese Haltung offenbar gewöhnt.

Mit klopfendem Herzen betrat ich den Raum, in dem Kaya untergebracht war. Sie saß ganz oben auf einem Schrank in einem Katzenkorb. Zunächst sah ich durch das Gitter nur zwei grüne Augen, die mich neugierig beobachteten. Kaum hatte ich mich auf einen Stuhl gesetzt, kam Kaya auch schon aus dem Korb. Sie ließ mich nicht aus den Augen, während sie rasch nach unten auf den Fußboden kletterte, sich auf den Rücken warf, mich weiter intensiv betrachtete und zu schnurren begann. Ich war nicht gerade begeistert: Das Tier war schwarz-weiß gefleckt wie eine Kuh, ich hatte mir eher etwas Elegantes vorgestellt. Wie die graue Dina. Doch Kaya ließ sich von meiner Zurückhaltung nicht beirren, betrachtete mich und schnurrte weiter und wartete. Schließlich beugte ich mich vor und begann vorsichtig, ihren Bauch zu kraulen. Das Schnurren wurde stärker.

»Okay«, sagte ich, »du meinst wohl, dass wir zusammengehören.«

Warum nicht?, dachte ich. Katzen sind ohnehin nicht beherrschbar, da konnte ich mein Wunschbild auch gleich über Bord werfen. Ich besorgte eine Katzentoilette, Futter und einen Kratzbaum und fuhr am nächsten Tag wieder zum Tierheim, um Kaya abzuholen. Und war bestimmt genauso aufgeregt wie sie.

In ihrem neuen Zuhause verschwand sie erst einmal unter dem Bett. Ich kannte das schon von Dina, dachte, dass ich nun wochenlang Geduld haben müsste – und täuschte mich gründlich. Bereits am selben Abend kam Kaya auf meinen Schoß, ließ sich ausführlich streicheln und kraulen. Nachts belegte sie sofort den Platz im Bett neben mir, an mir, sollte ich wohl besser sagen. Denn sie kroch unter die Bettdecke, schmiegte sich eng an meinen Körper und begann zu schnurren. In dieser Nacht konnte ich nicht schlafen, aus Angst, das Tier zu zerquetschen, wenn ich mich im Schlaf umdrehte. Doch die Sorge erwies sich als unbegründet. Fortan schlief ich jede Nacht mit einer gemütlichen, warmen, schnurrenden – und später leise schnarchenden – Wärmflasche an meiner Seite.

Nur Kaya – mit diesem Namen konnte ich mich nicht anfreunden. Ich fand, die Katze sollte einen Namen bekommen, einen, der zu ihrem Kuhmuster passte. Ich taufte sie Emma – allerdings nur, um nach einiger Zeit festzustellen, dass Emma ein Kater war. Seither heißt er Herr Emma. Er war vom ersten Tag an ein Lichtblick in meinem Single­leben und tat mir gut: Wenn ich nach Hause kam, begrüßte er mich, indem er sich schnurrend auf den Rücken warf und am Bauch gestreichelt werden wollte. Ich war nicht allein. Das gab mir Mut und Kraft in dieser Lebensphase. Und noch heute ist Herr Emma der liebenswerteste Zeitgenosse, den ich mir vorstellen kann. Nie nörgelt er, nie zerstört er etwas. Das Einzige, was er ständig einfordert, sind seine Streicheleinheiten. Jeden Abend liegt er auf dem Sofa auf meinen Beinen, lang hingestreckt, und möchte gekost werden. Sitze ich am Schreibtisch, legt er sich gern auf die Tastatur, auf meinen Arm oder die Maus. Und wenn ich nicht reagiere, baut er sich einfach direkt vor dem Bildschirm auf. Emma ist mein Herzenskater, ich liebe ihn sehr und bin dankbar, dass er mein Begleiter geworden ist.

Herr Emma und ich starteten in ein neues und, ja, auch besseres Leben. Bald spürte ich wieder die Energie in mir, die mir so lange gefehlt hatte. Ich lud Freunde ein, kochte für sie und erfreute mich an den langen, fröhlichen Abenden in meinem neuen Zuhause. Ich ging aus, ins Kino oder zu Konzerten. Und als mein Bruder mit seiner Theatergruppe eine Aufführung in der Stadt hatte, verabredete ich mich mit meinem Cousin Helge. Dieses Ereignis wollten wir uns nicht entgehen lassen.

Als ich reinkam und mir ein Getränk besorgte, verwickelte ich mich als Erstes in ein lustiges Gespräch mit denen, die vor mir in der Schlange standen. Irgendwann hielt ich nach Helge Ausschau, der mich offenbar schon beobachtet hatte.

»Wow, du siehst ja toll aus! Zehn Jahre jünger. Wie ­früher.«

»Warum?«, wollte ich wissen.

»Na ja, Lederjacke, ein Bier in der Hand und gleich mittendrin, mit wildfremden Menschen, so hab ich dich all die Jahre nicht erlebt.«

Ich strahlte und prostete ihm zu.

»Nico hat ihr verstaubtes Batman-Kostüm wieder aus dem Schrank geholt, wie schön!«

Ja, genau so fühlte ich mich: Ich stand da mitten zwischen den Theaterleuten, plauderte, lachte, fühlte mich wohl. Das Stück mit meinem Bruder war großartig und ich fragte mich, warum ich so lange nicht mehr im Theater gewesen war. Anschließend saßen wir mit allen Schauspielern bis nachts um zwei auf der abgeräumten Bühne. Ich spürte die wiedererwachte Energie in mir, die Lust auf ein neues Leben.

KAPITEL 2

Veränderung auf ganzer Linie

In diesem neuen Leben spielte auch meine Arbeit eine nicht unerhebliche Rolle. Ein halbes Jahr vor meinem Ehe-Aus hatte ich mich in einen ganz anderen Beruf gestürzt. Zuvor war ich freie – und äußerst schlecht bezahlte – Journalistin gewesen. Dieser Job hatte mir immer Spaß gemacht, trotzdem hatte ich jahrelang erfolglos nach einem neuen Berufsfeld gesucht, weil ich in den Medien keine Zukunft mehr für mich sah, die mir ein Auskommen sichern würde. Aber die meisten der angebotenen Stellen sollten mit jüngeren Menschen besetzt werden, so war zumindest mein Eindruck. Irgendwann war ich in der Zeitung über die Anzeige eines Bestattungsinstituts gestolpert, das eine Trauerrednerin suchte, und ich hatte einfach angerufen.

»Was muss man genau als Trauerrednerin machen?«, hatte ich gefragt.

»Natürlich müssen Sie zum einen Reden halten«, sagte mir die Dame am Telefon. »Aber die Arbeit ist sehr vielseitig.«

Das klang gut. Ich wollte mehr wissen.

»Normalerweise treffen Sie sich vor der Trauerfeier mit den Angehörigen, um die Feier und den Inhalt der Rede zu besprechen. Außerdem sind Sie dann auch die, die alles ausführt. Das heißt, Sie gestalten die gesamte Trauerfeier.«

Das hörte sich vielversprechend an. Ein völlig neues Berufsfeld. Ich wusste zwar nicht wirklich, was mich erwarten würde. Aber es klang interessant, ich hatte Lust, das Ganze auszuprobieren. Nach einem Vorstellungsgespräch bot man mir einen Arbeitsvertrag an, den ich unterschrieb, obwohl ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie ohne entsetzliche Nervosität vor mehr als zwei Menschen hatte sprechen können. Doch mein Gefühl sagte mir, dass dies der richtige Weg sein würde. Ich hatte mich bislang nicht mehr als andere mit den Themen Tod, Abschiednehmen und Beerdigung befasst, aber ich spürte eine positive Kraft, die davon auf mich ausging, und hörte auf diesen inneren Wegweiser.

So machte ich mit über fünfzig Jahren tatsächlich noch einmal etwas Ähnliches wie eine Lehre und lernte lauter Neues. Ich musste die Musik für die Trauerfeier zusammenstellen, Kondolenzlisten ausdrucken, in die sich die Trauer­gäste vor der Feier eintrugen, musste Särge und Urnen transportieren, für Kerzen und saubere Leuchter sorgen, den Blumenschmuck und die Kapelle dekorieren, Gestecke entgegennehmen und mit den Angehörigen sprechen, um zu sehen, ob ich vor der Trauerfeier noch etwas für sie tun konnte. War eine offene Aufbahrung gewünscht, so sorgte ich dafür, dass der Verstorbene in seinem Sarg gut und würdevoll aussah. Zum ersten Mal im Leben berührte ich einen toten Menschen. Anfangs fiel mir das nicht ganz leicht, ich war scheu, bald schon aber machte diese Berührungsangst im wahrsten Sinne einer Fürsorge und Wärme Platz. Seltsames passierte: Als ich einmal mit einem Kollegen den Sargdeckel hob, um alles für den Abschied der Angehörigen vorzubereiten, sah ich mir den Verstorbenen an und dachte: Da ist doch noch jemand! Es war mir, als wäre die Seele des Verstorbenen noch da. Mein Kollege schien zu merken, was in mir vorging. »Du siehst es also auch«, flüsterte er. Wir sahen es alle: Es war, als würde der Tote noch einmal auf seine Angehörigen warten, um dann friedvoll gehen zu können. Ich war nie esoterisch gewesen, hatte nie an etwas wie die Seele geglaubt. Das änderte sich nun.

Abgesehen von all den Abläufen und Tätigkeiten lernte ich auch lauter neue Begrifflichkeiten: Katafalk oder Bockfalle zum Beispiel – das Gestell, auf dem der Sarg in der Kapelle steht, und das Tuch, das dieses Gestell umhüllt. Und ich lernte tatsächlich das Sprechen vor Menschen. Nach einiger Zeit machte es mir sogar immer mehr Freude. Bald schon konnte ich auch frei sprechen, hatte nur meine Notizen von den Hausbesuchen vor mir liegen. Ich liebte die Besuche bei den Hinterbliebenen und das Gespräch mit ihnen, mochte es, ihnen auf ihren Erinnerungswegen durch das Leben mit dem Verstorbenen zu folgen. Manchmal gelang es mir, ihnen durch eine Nachfrage oder einen eigenen Gedanken zu dem, was sie mir erzählten, ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Dann war ich glücklich. Wenn ich das Gefühl hatte, den Menschen auf ihrem schweren Weg zu helfen, dann war mein Tag gut. Oft war ich abends vollkommen erledigt, mein Kopf quoll über von all dem neu Gelernten. Nach den Arbeitstagen mit all den Eindrücken war ich völlig erschöpft und dennoch außerordentlich zufrieden.

Nachdem ich meinen Umzug bewältigt und alles eingeräumt hatte, stellte ich im Nachhinein noch einmal fest, dass es damals genau richtig gewesen war, auf meinen Bauch zu hören und Trauerrednerin zu werden.

Dann stand die Scheidung an – eine enorme Papierschlacht. Die Forderungen zwischen den Anwälten gingen hin und her, denn wir besaßen ein gemeinsames Haus, in dem mein Mann geblieben war. Ich hatte also Geld zu erwarten aus dem Anteil, den er mir auszahlen musste. Mein erster Gedanke war: Ich investiere es in eine Eigentumswohnung. Ich studierte die Angebote in der Umgebung, wollte gern in dem vertrauten Stadtteil bleiben. »Dreizimmerwohnung mit Terrasse« – das sah doch gut aus. Ich ging zur Besichtigung. »Hier kriegen Sie eine wirklich schöne Wohnung«, sagte der Verkäufer, als er die Tür aufschloss, »sie ist ganz wunderbar geschnitten, top gepflegt und mit der Terrasse haben sie sogar eine Art Mini-Garten.« Und wirklich: Sie war in hervorragendem Zustand, dazu die niedliche Terrasse mit Blick ins Grüne. Ich hätte mir tatsächlich vorstellen können, dort zu leben. Aber der Preis war exorbitant. Was ich für die Wohnung hätte zahlen müssen, hatte nicht einmal unser ganzes Haus gekostet! Die Preise für Wohnungen waren in den letzten Jahren derart drastisch gestiegen, dass das Geld, das ich erwartete, allenfalls für eine Anzahlung gereicht hätte. Den Rest meines Lebens hätte ich den Kredit abstottern müssen. Das wollte ich nicht, denn auch als angestellte Trauerrednerin verdiente ich nicht eben viel. Ich suchte also weiter. Kaufte mir Samstagfrüh die Zeitung mit den Wohnungsanzeigen, studierte sie beim Frühstück und vereinbarte Termine. Ich sah mir alles an, was auch nur irgendwie infrage kam, Wohnungen in teilweise extrem schlechtem Zustand, aber dennoch zu hohen Preisen. Und mit jeder Treppe, die ich hochstieg, mit jeder Tür in eine neue Wohnung, die sich auftat, merkte ich, dass ich diesen Weg nicht gehen konnte und wollte.

Was also dann? Das Geld ausgeben für Klamotten? Reisen? Ein todschickes Auto kaufen? Sparen? All das erschien mir nicht erstrebenswert. Und plötzlich hatte ich Lust auf etwas Neues, fühlte meinen alten Wagemut zurückkehren, der mir schon oft einschneidende Wendungen im Leben beschert hatte. Auch die Ehe war im Grunde ein solches Abenteuer gewesen, denn eigentlich hatte ich niemals heiraten wollen. Doch bei meinem Mann hatte ich das Gefühl gehabt, er sei derjenige, mit dem ich alt werden wollte. Ich mochte seinen abgründigen Humor, seine Affinität zur Sprache, ich liebte es, wenn er Worte erfand, mit ihnen spielte, obwohl er beruflich gar nichts mit Sprache zu tun hatte. Mit ihm hatte ich das Gefühl, angekommen zu sein. Und so hatte ich ihm schließlich einen Heiratsantrag gemacht. Jahrelang hatte es gut geklappt: Verlässlichkeit, ähnliche Ansichten, dieselben Hobbys, Nähe und gleichzeitig Freiräume – eigentlich schienen wir ein perfektes Paar zu sein. Jetzt war die Ehe gescheitert, dieses Abenteuer zu Ende. Und als ich auch innerlich damit abgeschlossen hatte, überkam mich die Lust auf ein neues. Mein Traum drängte an die Oberfläche.

KAPITEL 5

Château d’eau

Zunächst musste ich mir klarwerden, was ich mir eigentlich wünschte: ein neues Schiff oder ein altes zum Selbstausbauen? Dazu verschaffte ich mir im Internet einen Überblick über die Angebote und mailte sie an Angela weiter, um mich mit ihr zu beraten.

»Guck mal!«, schrieb ich und schickte ihr das Bild eines modernen Hausbootes. »Ist das nicht chic?«

»Toll«, fand auch sie, »aber ziemlich klein und ziemlich teuer.«

»Dafür ist es aber es technisch auf dem neuesten Stand, man kann damit fahren und es ist so gedämmt, dass ich im Winter nicht viel heizen muss.«

Wir stöberten weiter auf den verschiedenen Bootsplattformen und beim Vergleichen merkte ich, dass mein Herz doch bei den alten Schiffen höherschlug. Ich zeigte Angela ein altes niederländisches.

»Das ist ja gemütlich«, kam ich gleich ins Schwärmen. Es war ein Schiff mit Plattboden, das wirklich hübsch aussah, mit toller Raumaufteilung und durchdachter Technik. »Es gibt sogar eine kleine Terrasse.«

»Wenig Licht«, fand Angela, die sich schnell in die Details eingefuchst hatte und im Gegensatz zu mir alles mit kühlem Kopf begutachtete. »Da hockst du immer unter Deck und kannst nicht rausgucken. Willst du das?«

Der Blick auf den Preis erübrigte weitere Überlegungen.

Parallel zur Internetrecherche ging ich den Tipps nach, die ich bei der Liegeplatzsuche erhalten hatte. Ich fuhr zu Werften und schaute mir die schönen Schiffe an, die sie bauten und sogar fahren konnten, die sich aber als zu teuer entpuppten und letztlich nicht das waren, was ich wollte. Ich antwortete auf Kleinanzeigen, die Hausboote zum Verkauf anboten, kroch unter Deck durch düstere Dauerbaustellen, an denen schon viele Hausbootträumer herumgeschraubt hatten.

Einmal traf ich mich mit einem mürrischen Mann, lange Haare, Bart, schmuddelige Klamotten.

»Du willst also auf einem Hausboot wohnen?« Kritisch beäugte er mich von oben bis unten, als wäre ich eine von denen, die keine Ahnung haben und trendy wohnen möchten. Er selbst wollte mir ganz offensichtlich während der Besichtigung den Eindruck vermitteln, er sei ein echter Hausbootbesitzer. »Das Wohnen auf dem Wasser ist nicht für jeden was«, meinte er von oben herab. »Die Leute stellen sich das immer so cool vor, aber man muss auf vieles achten.«

»Auf was denn?«, bohrte ich nach.

»Erst mal musst du einen Liegeplatz haben«, belehrte er mich. »Mit einem Schiff wie diesem kannst du überall liegen, mit einem von diesen Ponton-Hausbooten wie am Eilbekkanal nicht. Dies hier ist ein echtes Schiff, das von jedem Hafen aufgenommen wird. Außerdem musst du dich um die Ver- und Entsorgung mit Wasser und Energie kümmern. Dieses Schiff hat große Tanks, damit ist das kein Problem.«

Doch sein Boot war keineswegs so perfekt, wie er mir weismachen wollte. Aber ich hatte inzwischen einen geschulten Blick. Es war eine Katastrophe, ein Fass ohne Boden, viel Arbeit, die ich allein neben meinem Job niemals hätte bewältigen und vermutlich auch finanziell nicht hätte stemmen können. An vielen Ecken des maroden Kutters hatte er schon herumgeschraubt, alles war düster, nirgends gab es einen Blick aufs Wasser. Ich stolperte über lose Kabel­enden, rüttelte an der Verkleidung, die mir daraufhin entgegenpurzelte. Er hatte offenbar ohne Konzept mal hier, mal dort herumgebastelt.