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Jürgen Drews

Glück und Entfremdung

Ein amerikanischer Traum

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Roman

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www.buchmedia.de

Oktober 2017

© 2017 Buch&media GmbH, München

Umschlaggestaltung Johanna Conrad

Printed in Germany

ISBN print 978-3-95780-094-7

ISBN epub 978-3-95780-095-4

ISBN pdf 978-3-95780-096-1

Für Helga

We hold these truths to be self-evident: that all men are created equal, that they are endowed by their creator with certain inalienable rights; that among these are life, liberty and the pursuit of happiness.

Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika, Juli 1776

Was mich in Amerika am meisten abstößt, ist nicht die dort herrschende äußerste Freiheit, sondern der geringe Schutz gegen die Tyrannei.

Alexis de Tocqville: Über die Demokratie in Amerika, Band 1, 1835

»Der Traum ist ausgeträumt, nicht wahr? Das Leben hat Sie eingeholt. Das geht vielen so. Die Erfüllung so vieler Träume, das kann keine Wirklichkeit hergeben. Nicht einmal die amerikanische.«

Emanuel Littlefield (Glücksspieler und Wahrsager)

Prolog

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Immer wieder geriet die Maschine in Turbulenzen. Dann leuchteten die Anschnallzeichen über den Sitzen auf, und manchmal ermahnte eine Stimme aus dem Cockpit die Passagiere, ihre Sitzgurte während des ganzen Fluges geschlossen zu halten. Die engen Sitze taten ein Übriges: An zusammenhängenden Schlaf war unter solchen Bedingungen kaum zu denken. Aber dafür ist es das letzte Mal, dachte Hinrich Vonderau. Mein unwiderruflich letzter Flug von New York nach Frankfurt. Ein merkwürdiger Gedanke für einen, der fast ein Leben lang zwischen diesen beiden Städten hin- und hergeflogen war. Seine Freunde von einst hatten ihn abgeschoben. Seinen amerikanischen Pass hatten sie ihm bereits im Gefängnis abgenommen und ihm dabei klar gemacht, dass er auch als Besucher nicht mehr willkommen sei. Von nun an würde er nur noch in Deutschland leben. Gleich nach der Ankunft in Frankfurt müsste er sich bei den deutschen Einwanderungsbehörden melden. Sein neuer deutscher Reisepass würde den Vermerk tragen: Nicht gültig für Reisen in die USA.

Warum, fragte sich Vonderau immer wieder, während er mit mehr als neunhundert Kilometern in der Stunde (den Rückenwind eingerechnet) über den Atlantik gejagt wurde.

Warum dieser unversöhnliche Bruch?

Auf dem Monitor vorn in der Kabine wurde die Position der Maschine angezeigt. Die Hälfte der Strecke lag hinter ihnen. Das Flugzeug befand sich mitten über dem Nordatlantik, etwa fünfhundert Kilometer nordwestlich der Azoren. Hier in der Nähe könnte es gewesen sein. Vonderau erinnerte sich an seine erste Atlantiküberquerung. Der alte italienische Dampfer, der unter chilenischer Flagge fuhr und der neben italienischen Auswanderern einige hundert Austauschschüler und Studenten in die USA bringen sollte, war in einen schweren Sturm geraten.

Nach und nach waren alle oder fast alle Passagiere krank geworden. In den überheizten Gängen unter Deck roch es nach Schweiß und Erbrochenem.

Auch die Schüler und Studenten aus vielen europäischen Ländern, die damals mit einem Stipendium für ein Jahr in die USA reisen durften, lagen krank in ihren Kojen oder bis unters Kinn eingehüllt in Liegestühlen an Deck.

Nur er, Hinrich Vonderau, damals siebzehn Jahre alt, fühlte sich pudelwohl zum Unwillen des Stewards, der ihn morgens beim Frühstück bedienen musste, obwohl auch er krank, blass und leidend war. Sicher hätte er viel lieber ebenfalls in der frischen Luft an Deck gelegen.

»Wenn der Sturm so weitergeht, ist das Schiff verloren«, prophezeite der Steward mit von Übelkeit gedämpfter Stimme, während er seinem einzigen Gast Spiegeleier mit Speck servierte.

»Wir laufen nur noch einen Knoten. Understand?«, vergewisserte er sich nicht ohne Gereiztheit, aber Hinrich hatte verstanden, denn auch er spürte das Schlingern und Stampfen des alten Dampfers, hörte das Heulen des Sturms und vernahm das Ächzen und Stöhnen des unter gewaltiger Spannung stehenden Schiffsrumpfs.

Aber er konnte nicht glauben, dass der American Field Service, der die Schüler und Studenten aus europäischen Ländern eingeladen hatte, ein unsicheres Schiff für diesen Transport ausgesucht haben könnte. Untergehen? Schiff verloren?

Sie fuhren doch in die USA. Eingeladen von derselben Regierung, die Westeuropa vor den Kommunisten schützte, den Marshallplan inszeniert, in Berlin die beispiellose Luftbrücke organisiert und der Stadt damit die Freiheit erhalten hatte.

Dieser alte Dampfer brachte sie in das Land ihrer Träume, und ihre Gastgeber waren doch kompetente Leute. Denen konnte man vertrauen.

Unbegrenztes Vertrauen hatte er diesem Land entgegengebracht. Nicht nur er, auch seine Altersgenossen, die ganze Gruppe, die sich damals mit ihm an Bord befand, hegte eine heimliche Liebe zu Amerika.

Und hatte sein Traumland nicht alle seine Erwartungen erfüllt und sogar übertroffen?

Nie hätte ich etwas Ähnliches in Deutschland erreichen können, sagte sich Vonderau und verfiel in einen kurzen Dämmerschlaf, gestand sich im nächsten Moment aber die unangenehme Wahrheit ein.

Aber der Preis, fragte er sich. Wer hätte geahnt, welchen Preis er für seinen Erfolg zu entrichten haben würde. Andererseits: War er nicht ein Deutscher, der durch zahlreiche Wurzeln mit der bitteren Geschichte seines Landes verbunden war? Hatte ihn diese Geschichte schließlich eingeholt?

Wie oft bin ich auf dieser Strecke geflogen, überlegte Vonderau. Immer, selbst vor einigen Jahren noch in dem Bewusstsein, dass beide Ufer des Ozeans, den ich überflog, zusammengehörten und für mich heimatliche Ufer waren. Aber die Welt ändert sich. Die guten Vorsätze, die Sicherheiten, die Einschätzungen, die lange galten, hatten irgendwann ihre Gültigkeit verloren. Wann? Er wusste es nicht. Jedenfalls hatte es damit zu tun, dass die Welt ihre alte Orientierung eingebüßt hatte und sich nun auf der Suche nach einer neuen Ordnung befand. Und diese Neuordnung vollzog sich mit einer Gewalt und Gleichgültigkeit, die an Vulkanausbrüche oder tektonische Verschiebungen erinnerten. Kontinente wurden auseinandergerissen oder neu zusammengefügt.

Auch andere wussten das. Sie bedauerten es, aber sie konnten nichts daran ändern.

Robert Channing fiel ihm ein, der Präsident seiner Universität in New Port. Ein alter Freund, der ihn beim Ausbau der Medizinischen Fakultät unterstützt hatte.

Veritas et Lux. Wahrheit und Licht, so lautete der Wahlspruch ihrer Universität. Und damals in den sechziger und siebziger Jahren glaubten sie allen Ernstes, dieser Forderung nahe gekommen zu sein.

Werden wir das noch einmal erleben, hatte Vonderau den Präsidenten gefragt, als er sich vor mehr als einem Jahr von Channing verabschiedete, um für ein »Sabbatical« nach Deutschland zu gehen.

»Wohl kaum«, hatte Channing gemeint. »Nein, Henry, diese Zeiten kommen nicht wieder.« Seine Augen waren feucht geworden, als er diesen Satz sprach.

»Einen neuen Aufbruch, Zuversicht, Glauben wünsche ich mir.«

»Glauben woran?«

»An die Wahrheit, Robert, Lux et Veritas.«

Und Channing hatte den Kopf geschüttelt, fast so, als sei ihm dieses aufklärerische Pathos peinlich.

»Kommen Sie trotzdem wieder«, waren seine Abschiedsworte gewesen.

Vonderau dachte an seine Anfänge, an seinen Aufstieg, an die hellen Seiten des Erfolgs, der ihm zuteil geworden war: Ansehen, Reichtum, Zuneigung, und an ihre dunklen Geschwister: Nachrede, Neid und Gegnerschaft. Er dachte an seine Frau und seine Kinder und an sein Haus am Meer, in das er nicht mehr heimkehren würde. An die vielen Freunde dachte er, Freunde wie Robert Channing.

Nie wieder, sagte er sich, denn dies war sein letzter Flug von New York nach Frankfurt. In die umgekehrte Richtung würde er nie mehr reisen.

Wie konnte es dahin kommen, fragte sich Vonderau. Er hatte es doch erlebt: Stunde um Stunde, Tag für Tag und Jahr um Jahr – wie konnte er übersehen, was sich da entwickelt hatte? Er wusste es nicht. So viel er auch grübelte, er fand keine Antwort.

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Er war dankbar dafür, dass ihn der Konsulatsbeamte in einem Büro empfing, das fast wie ein persönliches Arbeitszimmer aussah. Bücher in Regalen, die bis unter die Decke reichten, hohe Fenster, durch die der Blick zwischen alten Bäumen hindurch auf einen kleinen Park fiel, eine Sitzecke mit angenehm sachlichen und doch einladenden Polstermöbeln, ein Schreibtisch ohne Fahne oder andere nationale Embleme, kein Bild eines Präsidenten, sondern ein ruhiges, farblich ausgewogenes Ölbild an der Wand hinter dem Schreibtisch. Der Beamte stellte sich vor, Vonderau verstand den Namen nicht gleich. Er wollte nicht nachfragen, es war ja auch egal, wie dieser Mann hieß. Dazu bin ich heute zu müde, dachte Vonderau, wobei das Wort erschöpft oder ausgelaugt es vielleicht besser trifft, und dabei so beschädigt, dass von außen angebotene Anregungen oder Angebote in seinem Inneren nichts auslösten.

Bitte, er möge doch Platz nehmen. Der Beamte wies auf einen Polsterstuhl auf der Besucherseite des Schreibtisches, während er selbst in seinem Schreibtischsessel Platz nahm.

»Kaffee?«

Als Vonderau »bitte, ja« sagte, griff Mister Joshua Rauenthal – oder Rosenthal? – zum Telefon und bestellte zwei doppelte Espressos. Dann schlug er die Akten auf, die vor ihm lagen, blätterte ein wenig, blieb an einer Seite hängen und blätterte weiter. Offenbar hatte er keine Eile, das Gespräch, zu dem das Generalkonsulat Hinrich Vonderau eingeladen hatte, zu beginnen. Vonderau war hier nicht erschienen, um Freundlichkeiten auszutauschen. Eigentlich wollte er es kurz machen. Sein Anliegen hatte er bereits schriftlich übermittelt. »Renunciation of nationality« hieß das für diesen Zweck benutzte Formular. Wozu das alles noch einmal wiederholen? Ein paar zusätzliche Begründungen könnte er immerhin anbieten, zum Beispiel die, dass er jetzt, in fortgeschrittenen Jahren, zu seinen Anfängen zurückkehren und nicht mehr auf zwei Hochzeiten tanzen wolle. Es wird mir einfach zu viel, wenn Sie verstehen, was ich meine.

Der Mann, der ihm gegenüber saß, war ihm sympathisch. Er erinnerte ihn an jemanden. Ein schmales Gesicht, eine lange Nase, Lider, die schwer auf die dunklen Augen herabhingen und Rauenthal oder Rosenthal dazu zwangen, seinen Kopf ein wenig höher zu heben als üblich, um sein Gegenüber ins Auge zu fassen. Weißes, sorgfältig gescheiteltes Haar. Über fünfzig muss er sein, entschied Vonderau und beobachtete die rechte Hand des Beamten, mit der dieser in den Akten blätterte. Eine schlanke, leicht gebräunte, noch glatt wirkende Hand. Keine gefüllten Adern auf dem Handrücken. Treibt wohl Sport, und vielleicht ist er ja noch nicht sechzig.

Jemand klopfte an die Tür. »Come in«, rief der Konsulatsbeamte, ohne seinen Blick von den Papieren zu nehmen. Eine ältere Dame in einem rosa Kostüm betrat den Raum durch eine Verbindungstür und brachte den Kaffee. Vonderau glaubte, ihr ein kurzes Begrüßungslächeln schuldig zu sein, zumal ihr Chef außer einem kurzen »Danke« keine Notiz von ihr nahm, worauf die Dame das leere Silbertablett mit beiden Händen wie ein Steuer vor sich hielt und im Frankfurter Dialekt sagte: »Wenn Se sonst noch was benötesche, melde Se sisch bitte!«

»Ja, danke, Frau Wittig (oder Fittich?)« Der Konsulatsbeamte sprach ein reines Hochdeutsch, aber Vonderau hatte den Namen der Sekretärin ebenfalls nicht verstanden. Er wartete, bis die Dame den Raum verlassen hatte. Dann lehnte er sich in seinem Sessel zurück und musterte Vonderau.

»Sprechen wir Deutsch?«

Vonderau nickte. »Wie Sie wollen.« Er zog seine Kaffeetasse näher an sich heran. Vielleicht würde ihn der Espresso ein wenig aufmöbeln.

»Sie waren also siebzehn Jahre alt, als Sie zum ersten Mal in die USA kamen?«

»Ja. Vor mehr als fünfzig Jahren. Ein halbes Jahrhundert.«

»Und das war ›Liebe auf den ersten Blick‹?«

Vonderau überlegte. »Herr Rauenthal oder Rosenthal?«

»Rosenthal, wie die Rose.«

»Danke, also Herr Rosenthal, Sie können sich vorstellen, wie das damals auf mich wirkte. 1950! Liebe ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort, obwohl so etwas auch dabei war, aber es war sofort eine große Sympathie, eine Art Befreiung.«

Rosenthal nickte. »Verstehe, verstehe. Ein glückliches Jahr, dieses Schuljahr in Princeton?«

»Man empfindet das vielleicht nicht so unmittelbar, wie Sie es jetzt sagen, nicht, wenn man drin steckt als junger Mensch. Man ist so beschäftigt. Ich war ziemlich angespannt, wollte gut reagieren, alles mitkriegen und alles richtig machen. Aber – ja: Im Nachhinein kann man es so nennen. Eine glückliche Zeit.«

»Aber auch eine kurze Zeit.« Herr Rosenthal lächelte. »Nach einem Jahr waren Sie ja wieder in Berlin bei Ihrer Familie.«

»Um das Abitur zu machen.« Vonderau wusste mit einem Mal, dass dieser Herr Rosenthal, der Vertreter der USA, so etwas wie eine Mission erfüllte. Natürlich hätte er den Gang des Gesprächs beschleunigen können. Hören Sie, Herr Rosenthal, ich weiß, was ich will. Ich habe mich dazu entschlossen, fortan in Deutschland zu leben oder irgendwo anders in Europa, aber eben nicht mehr in den USA, auf keinen Fall in den Vereinigten Staaten. Ich sage Ihnen auch, warum. Ich bin Ihrem Land immer noch dankbar, aber ich habe ihm eben auch einiges vorzuwerfen. Und jetzt, gegen Ende meines Lebens, wiegen die Vorwürfe schwerer als die Dankbarkeit. Denn die Haltungen und Handlungen, die ich Ihrem Land, ja, Ihrem Land, nicht mehr dem meinen, vorwerfe, haben vieles kaputt gemacht oder in Zweifel gezogen, wofür ich sonst dankbar zu sein hätte. Hier also ist mein Pass. Ich weiß, damit gebe ich mein Recht auf, in den USA zu wohnen und zu arbeiten. Lassen Sie mich ziehen!

Aber das ging mit einem Mal nicht mehr. Mit einem anderen Beamten in einem anderen Raum oder an einem anderen Tag hätte er es fertiggebracht, so kurz angebunden und schroff auf seiner Wahl zu bestehen, aber dieser Herr Rosenthal hatte vielleicht ein Recht auf eine ausführlichere Begründung seines Wunsches nach Entlassung aus dem Land, dessen Bürger sie zu diesem Zeitpunkt beide noch waren. Natürlich, diese Atmosphäre, die zivilen Umgangsformen, vielleicht sogar die Sekretärin mit ihrem Frankfurtisch, das alles wurde ihm ja nicht ohne Absicht zuteil. Vonderau wusste das sehr wohl. Auch war ihm bewusst, dass es ihm immer schwer gefallen war, gegenüber einem freundlichen und nachdenklichen Menschen sein Recht einzufordern. Neigte er nicht zu Kompromissen, zu Aufschüben, zur Unentschlossenheit? Hatte Herr Rosenthal dies vielleicht seiner Immigrationsakte entnehmen können? Aber sei’s drum. Der Mann begegnete ihm liebenswürdig, er war ihm sympathisch, und er schien alle Zeit der Welt zu haben.

»Was führte Sie denn wieder zurück nach Princeton?«

»Meine Gastfamilie hatte einen Narren an mir gefressen. Sie meinten, ich passe so gut zu ihnen, vor allem zu Victoria, der einzigen Tochter. Es handelte sich bei den Tillinghasts, so hießen sie, um sehr wohlhabende Leute. Ein großes Haus in Princeton, ein Haus am Meer in South Carolina, Reisen nach Südamerika, nach Europa, die besten Schulen für die Kinder, Theaterbesuche, Musikabende zu Hause. Carl Tillinghast war ein guter Geiger – ungewöhnlich für einen Industriellen. Auch die drei Kinder spielten Instrumente. Und Victoria, Vicky, wie sie genannt wurde, hatte sich in den Kopf gesetzt, mich zu heiraten. Ja, ich sollte geheiratet und der Familie einverleibt werden.«

»Und Sie? Wollten Sie das auch?«

»Ich nahm das Ganze nicht so ernst.« Vonderau sah, dass Rosenthal sich in seinem Sessel bequem zurückgelehnt hatte, die Arme auf die Lehnen gestützt und die Hände gefaltet. Sein Blick war schräg nach unten gerichtet. Aber gelegentlich hob er den Kopf und lehnte sich noch ein wenig weiter nach hinten, um sein Gegenüber etwas schläfrig, aber voller Teilnahme anzublinzeln.

»Wissen Sie, ich war einfach zu naiv, um zu begreifen, dass ich mich diesen Leuten verpflichtete, wenn ich die Gefälligkeiten annahm, die sie mir erwiesen. Sie kamen im Sommer 1952 nach Berlin, um meine Eltern kennen zu lernen. ›Reizende Leute‹, fand meine Mutter, und mein Vater meinte, dies sei eine wunderbare Gelegenheit, um sein Schulenglisch aufzufrischen. Mich nahmen die Tillinghasts anschließend mit nach Wien, nach Rom, an die Côte d’Azur, um mich dann wohlbehalten in Berlin wieder abzuliefern und meiner Mutter eine weitere Gelegenheit zu bieten, die Gäste mit selbst gebackenem Kuchen zu füttern − ›absolutely delicious, Henriette‹ − und willig, die Englischübungen meines Vaters zu ertragen: ›You are coming along very nicely, Fritz‹.«

Ja, und im nächsten Jahr dürfte ich doch nach Princeton kommen, um mit der Familie an die Atlantikküste zu fahren?

Rosenthal lachte. Die Geschichte amüsierte ihn. »Klingt, als hätte man Sie ganz schön eingewickelt. Aber wer hätte solchen Liebenswürdigkeiten widerstanden?« Er warf Vonderau einen listigen Blick zu. »Und das Töchterchen?«

»Vicky? Die blieb harmlos. Wir waren ja noch so jung. Vicky hatte, als die Tillinghasts zum ersten Mal nach Berlin kamen, noch nicht einmal die High School abgeschlossen. Und ich? Ich hatte gerade begonnen, Medizin zu studieren, ohne ganz sicher zu sein, ob ich dabei bleiben würde.«

»Verstehe«, sagte Rosenthal, »aber das Mädchen hatte doch sehr deutliche Vorstellungen von seiner Zukunft?«

»Kindliche Vorstellungen, die erst allmählich festere Umrisse annahmen. Aber sie hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, mich zu heiraten, und sie war ein verwöhntes Kind, das erwartete, dass man ihm jeden Wunsch erfüllte.«

»Wann kamen Sie denn wieder zurück nach Princeton?«

»1954 fing ich dort an Biologie zu studieren, am Department für Molekulargenetik. Mich reizte die Wissenschaft mehr als die klinische Medizin.«

Rosenthal fing wieder an, in den Akten zu blättern.

»Und von da an ging es steil aufwärts mit Ihnen, Herr Vonderau. 1958 Master of Science in Princeton, vier Jahre später der Doktortitel und bald danach eine Professur in New Port. Dann eine glanzvolle Karriere in der Industrie, Gründung einer erfolgreichen Firma, Reichtum …«

»Wohlstand«, korrigierte Vonderau.

»Also Wohlstand, jedenfalls viel Geld, fast so viel, wie Ihr einstiger Gönner, Carl Tillinghast, eingeheimst hatte. Preise, Anerkennung. Aufnahme in ›Who is Who in America‹, und so geht es weiter.« Rosenthal lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück.

»Beklagen können Sie sich wirklich nicht, Herr Vonderau. Ihre Karriere ist eine typische amerikanische Erfolgsgeschichte. Und so jemand will dem Land den Rücken kehren, das ihm so viel gegeben hat, das gut zu ihm war? Nicht wahr, Mister Vonderau, dieses Land war doch gut zu Ihnen?«

Hinrich Vonderau will sich ja nicht beklagen. Er hat nicht vergessen, dass sich viele seiner Träume in Amerika erfüllt haben, aber er weiß auch, dass vieles in ihm zerstört worden ist, ausgelöscht.

»Herr Rosenthal, ich weiß nicht, wie alt Sie sind. Vermutlich sind Sie erst nach dem Krieg geboren worden − ich war schon sechs Jahre alt, als der Krieg begann. Und ich habe Erinnerungen an die Kriegsvorbereitungen der Nazis. Damals, 1938, als das Sudetenland ›heimgeholt‹ werden sollte. ›Egerländer, halt´ zusammen, nun dauert’s nimmer lang, bald marschieren Soldaten ein, die holen euch wieder heim‹. Es klang wie eine Marschpolka, und jeden Morgen, während mein Vater frühstückte, saßen wir, mein Bruder und ich, auf dem Sofa im Wohnzimmer und hörten das mit an. Natürlich verstand ich nicht alles. Vor allem mit dem Wort ›Egerländer‹ konnte ich nichts anfangen. Dann kapierte ich, dass es sich um Deutsche handelte, die in der Tschechei wohnten. Im Sudetenland, wie man damals sagte. In den Nachrichten gab es täglich Berichte über Zwischenfälle. Mit einem Mal schienen die Tschechen an der Grenze verrückt geworden zu sein. Ihr Sinnen und Trachten schien nur noch darauf gerichtet zu sein, Zwischenfälle zu provozieren. Und die Kommentare: Unerträgliche Zustände, einer Großmacht unwürdig, so viele Male habe der Führer den Tschechen die Hand zur Versöhnung gereicht und genau sooft seien alle Friedensangebote zurückgewiesen worden … bis, na ja, den Rest kennen Sie.«

»Aber was hat das mit unserem Thema heute zu tun?« Rosenthal schien wirklich erstaunt zu sein. »Möchten Sie noch einen Kaffee?«

»Ja, gern.«

Vonderau nickte und fuhr fort, während Rosenthal mit seiner Sekretärin telefonierte. »Ich will Ihnen sagen, was das mit unserem Thema zu tun hat, Herr Rosenthal. Was damals im Einzelnen gesagt wurde, weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich an das Gefühl, verstehen Sie? Dieses Gefühl, dass ein Unheil herbeigeredet wird, dass hier nichts mehr zu verhandeln oder auf friedliche Weise zu regeln ist, das habe ich damals kennen gelernt. Was sich da zusammenbraute, als verbale Drohkulisse, war doch längst beschlossene Sache. Ein ungutes Gefühl, eine Ankündigung von Unheil. Etwas Böses, dabei Geheimnisvolles, lag in der Luft. Die Vorahnung des Todes, das muss es wohl gewesen sein, Herr Rosenthal. Natürlich verstehen Kinder das noch nicht. Nicht konkret jedenfalls, aber jede Kreatur spürt den Tod, wenn er ums Haus schleicht oder um die Städte. Schon Kinder haben dafür einen Instinkt. Und dieser Instinkt hat uns ja auch nicht getrogen.«

»Ja, ja.« Rosenthal wusste immer noch nicht, worauf Vonderau hinauswollte. »Ich weiß das auch von meinen Verwandten, die 1938 noch aus Deutschland herausgekommen sind, gerade noch.«

Frau Wittig oder Fittich stand plötzlich in der Tür. Sie sammelte das alte Geschirr ein und stellte frisch gefüllte Kaffeetassen auf Rosenthals Schreibtisch.

»Ich gehe dann?«, fragte sie. Rosenthal hob seine Hand zum Einverständnis.

»Und wissen Sie, wenn ich heute die Kommentatoren von NBC höre oder von Fox News, dann beschleicht mich wieder das gleiche beklemmende Gefühl wie damals, als mein Bruder und ich, noch im Nachthemd und von Bettzeug umgeben, auf dem Sofa saßen. Ich sehe dann das Gesicht meines Vaters im Profil. Er kaute an seinen Broten und sah starr geradeaus durch das Fenster unseres Wohnzimmers in die große Gärtnerei, die sich hinter dem Haus erstreckte, als erwarte er, dass sich das Unheil von dieser Seite nähern werde. Ich sehe das kleine, schmucklose Radio, einen einfachen schwarzen Kasten zur Verbreitung von Propaganda mit einem runden Schirm aus grauem Stoff und zwei Knöpfen, einen zur Senderauswahl und einen zur Regelung der Lautstärke, und ich höre das Stimmenstakkato der Kommentatoren. Die von Hass und Kriegsentschlossenheit triefenden Stimmen, die gleichen Worte und Sätze, immer wieder.«

»Das können Sie doch nicht vergleichen!« Herr Rosenthal klang aufgebracht.

»Es vergleicht sich von allein, ich vergleiche gar nichts. Es ist einfach meine Erinnerung. Die Bilder und Stimmen von damals, von heute. Die Parallelen, Herr Rosenthal, sind erschreckend.«

Während er sprach, bemerkte Vonderau, dass Rosenthals Gesicht seinen liebenswürdigen, schläfrigen Ausdruck veränderte. Jetzt blickte er auf seine Armbanduhr und musterte Vonderau mit einer Mischung aus Nachsicht und Distanz. So wie ein Arzt einen Patienten beobachtet, der sich sträubt, seine Anweisungen zu befolgen.

»Ich glaube«, Rosenthal schloss die vor ihm liegenden Akten, »wir sollten das Gespräch zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufnehmen. Zu manchen Entscheidungen, die man treffen will, braucht man Zeit. Es treibt Sie doch niemand.«

Vonderau nickte. Der Gedanke, dass man sich ein zweites und vielleicht sogar ein drittes Mal sehen würde, war ihm nicht unsympathisch. Er hatte nie Freude an Konfrontationen gehabt. Zeit aufzuwenden, um einer Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen, war für ihn immer der leichtere Weg gewesen. In seiner derzeitigen Verfassung fühlte er sich zu einem energischen Auftritt auch gar nicht im Stande. Außerdem erinnerte ihn irgendetwas in Aussehen und Sprechweise Rosenthals, der so gut Deutsch sprach, an jemand anderen. Während er versuchte, diese Erinnerung zu präzisieren, sagte ihm ein Gefühl, dass hier vielleicht ein Zusammenhang verborgen läge, der für ihn und für seine Entscheidung wichtig werden könnte.

»Haben Sie einen Terminvorschlag für ein zweites Gespräch?«, fragte er Rosenthal.

»Heute in einer Woche?«

Vonderau schaute in seinen Taschenkalender, eine Angewohnheit aus der Zeit, in der er so fest in das Netzwerk beruflicher und menschlicher Beziehungen eingewoben war, dass er in seinem Kalender kaum einen freien, unbeschriebenen Streifen Papier entdecken konnte. Er wusste, dass auf den Seiten seines Kalenders nicht mehr viel stand. Die Tage ohne Eintragungen überwogen sogar. Dennoch studierte er seinen Kalender und blätterte hin und her, als müsste er seinem Gesprächspartner zeigen, dass er immer noch gefragt war und ihm immer noch nicht so viel freie Zeit zur Verfügung stand, wie er es sich in diesem Lebensabschnitt vielleicht gewünscht hatte.

»Also, in einer Woche.«

Vonderau hatte sich erhoben. Vor den Fenstern dämmerte es. Die Konturen des kleinen Parks traten noch klar hervor, aber das herbstliche Bild hatte seine Farben verloren.

»Ich bringe Sie zum Fahrstuhl.« Herr Rosenthal trat aus seinem Büro und hielt seinem Gast die Tür auf. Jetzt, wo er seine offizielle Mission beendet hatte und das schöne Herbstwetter lobte − »endlich einmal«, sagte er und überließ es dem Besucher, diese Worte als Unzufriedenheit mit dem Frankfurter Klima zu verstehen −, verstärkte sich Vonderaus Eindruck noch, Rosenthal schon einmal begegnet zu sein. Das Nachdenken über diese Frage nahm ihn ganz in Anspruch, sodass er auf Rosenthals gut gelaunte Ausblicke auf das bevorstehende Wochenende, das er mit seiner Familie auf dem Land zu verbringen hoffte, nur einsilbig reagierte. Er drehte sich, als er im Fahrstuhl stand, noch einmal um und sah, wie Rosenthal die Hand hob, um ihm nachzuwinken.

Ungewöhnlich, dachte Vonderau, dass ein Konsulatsbeamter sich so viel Mühe mit ihm geben wollte. Oder wusste Rosenthal etwas von ihm, was Vonderau in dieser Anwandlung einer Erinnerung nur spürte? Er trat auf die Straße hinaus, sog die kühle, feuchte Luft ein und nahm dabei den Geruch von moderndem Laub wahr, der ihm für diese Zeit und für diese Stadt immer als so typisch erschienen war. November, dachte er und nahm sich vor, seinen Freund Fred Califano anzurufen, um für das kommende Wochenende einen Flug in den Süden zu planen. Ein Wochenende in Südfrankreich könnte mir gut tun, dachte er und machte sich auf den Weg nach Hause.

2

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»Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit!«, rief Mrs. McKee, drehte sich auf dem Absatz um und zeigte mit der linken Hand auf die drei Worte, die sie gerade an die Wandtafel geschrieben hatte. Sie strahlte ihre Klasse an, als seien diese Postulate just in diesem Augenblick zum Besitz der dreiundzwanzig Jungen und Mädchen geworden, die da vor ihr saßen. Da stand sie, wie immer voller Energie, mit blitzenden grünen Augen, die heftig mit ihrem roten Kostüm kontrastierten.

»Wer kann mir sagen«, Mrs. McKee legte ihren linken Zeigefinger an die Nase, als denke sie angestrengt nach, »worin sich die Grundforderungen der französischen Verfassung von unserer Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung unterscheiden?«

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Vor den Fenstern schien ein makellos blauer Himmel die leuchtenden gelben und roten Farbtöne der herbstlichen Vegetation zu beruhigen. Da nahm Mrs. McKee den Finger von der Nase, trat einen weiteren Schritt auf ihre Klasse zu und sagte: »Denkt an die Unabhängigkeitserklärung − an den zweiten Absatz.« Den hatte Mrs. McKee im Englischunterricht bereits durchgenommen.

»Na, Henry?« Hinrich Vonderau war als Austauschschüler für ein Jahr an die Schule gekommen. Mrs. McKee nannte ihn Henry, alle nannten ihn Henry. Henry also stand auf und wurde rot.

»Du musst hier nicht aufstehen, wenn du etwas sagst. Allerdings räkeln wir uns auch nicht so disziplinlos herum, wie so manche in dieser Gruppe es gerne tun. Jim Tenney zum Beispiel.« Mrs. McKee warf einen giftigen Blick auf einen dunkelhaarigen schlaksigen Jungen, der sich so weit in seinem Stuhl zurückgelehnt hatte, dass er fast zu liegen schien. Als er sich nun aufrichtete, war er plötzlich ein Sitzriese, der dem hinter ihm sitzenden Mädchen den Blick nach vorn versperrte.

»Ich sehe nichts mehr!«, rief Elisabeth Browning.

»Musst du auch nicht. Zuhören genügt.« Mrs. McKee wandte sich wieder an Henry, der sich inzwischen hingesetzt hatte.

»Brüderlichkeit, das, was die Franzosen ›Fraternité‹ nennen, fehlt in der Unabhängigkeitserklärung.«

»Ist das alles? Der ganze Unterschied?«

»Das Streben nach Glück fehlt dagegen in Frankreich − The pursuit of happiness.«

»So weit würde ich nicht gehen«, erwiderte Mrs. McKee. »In Frankreich streben die Menschen wohl genauso nach dem Glück, wie sie es hier tun?«

»Oh ja«, flötete Elisabeth.

Henry fing den Blick auf, den Elisabeth ihm hinter dem breiten Rücken von Jim Tenney zuwarf und errötete zum zweiten Mal. In Berlin hatte er ein Gymnasium für Jungen besucht. An Mädchen, die im Unterricht flirteten, musste er sich erst gewöhnen.

»Ich meine, der Hinweis auf das Streben nach Glück findet sich in der französischen Verfassung nicht.«

»Sehr gut, Henry, so wird ein Schuh draus.« Mrs. McKee ging wieder zur Wandtafel, zog mit einem Stück Kreide einen senkrechten Strich neben die zuvor untereinander geschriebenen drei Worte und schrieb auf die andere Seite der vertikalen Linie: Gleichheit, Leben, Freiheit und das Streben nach Glück.

»Fehlt uns Amerikanern der Sinn für Brüderlichkeit?«

Mrs. McKee ließ die grünen Augen über die Köpfe ihrer Schüler wandern. Zu einer zusammenhängenden Antwort wollte sich niemand aufraffen.

»Na? Niemand?« Mrs. McKee spielte die Enttäuschte, obwohl sie eigentlich ganz froh darüber war, die Antwort selbst geben zu dürfen.

»Natürlich kennen wir Brüderlichkeit, aber in einem anderen Sinn als die Franzosen oder die übrigen Europäer. Brüderlichkeit wird uns von unserer Religion nahe gelegt.« Sie schwieg und prüfte, ob sich nicht doch eine Hand hob. »Brüderlichkeit ergibt sich aus der Nächstenliebe – das hört ihr doch jeden Sonntag in der Kirche. Aber Fraternité bedeutet etwas anderes als Brüderlichkeit«, dozierte sie. »Nicht etwas völlig anderes, aber doch etwas anderes …«, sie hielt Ausschau nach einem ausgestreckten Arm.

»Na, dann gebe ich euch einen Hinweis. Es gab den Adel, das Bürgertum und die Besitzlosen, hart arbeitende, vom Adel ausgenützte, fast rechtlose Menschen. Also?«

»Schluss mit der Klassengesellschaft!«, rief Henry. Mrs. McKee nickte erfreut, sprach aber weiter. »Also Solidarität zwischen den Klassen.«

Sie blieb plötzlich stehen. »Wie unterschied sich denn die Situation in Frankreich von den Verhältnissen bei uns, als Jefferson und seine Freunde die Unabhängigkeitserklärung verfassten? Henry, du kommst doch aus Europa. Wie war denn dort 1776 die Lage, als sich die Kolonien von England trennten?«

Diesmal blieb Henry sitzen. Auch vermied er, in die Richtung von Elisabeth Browning zu schauen, die ihn vermutlich wieder aus dem Konzept bringen wollte.

»Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Wir haben in der Schule über diese Zeit nicht viel gehört. Aber darf ich sagen, wie ich mir die Situation vorstelle?«

Mrs. McKee nickte und lächelte. Die Klasse schwieg. Dass ein Schüler eine Frage mit ›Ich weiß es nicht‹ beantwortete und dann doch zu einer längeren Antwort ansetzte, war neu. Mal sehen, was der jetzt von sich gab. Ganz blöd war er ja wohl nicht, sonst hätten sie ihn nicht ausgewählt für dieses Stipendium.

»Ja.« Henry versuchte, Ordnung in seine Überlegungen zu bringen. »Ich stelle mir vor, dass die Leute hier das Leben unter der Kolonialherrschaft satt hatten. Sie waren hierhergekommen, weil es in England so ähnlich zuging wie vor der Revolution in Frankreich, weil es ebensolche Unterschiede zwischen dem Adel gab, der die Macht hatte, und den einfachen Leuten. Da waren sie nun, hatten ihr Leben riskiert, um hierherzukommen, und saßen in einem riesigen Land, das noch ganz wild und ursprünglich war und große Chancen bot, vielleicht sogar Reichtümer. Und trotzdem sollten sie immer noch so tun, als hätte dieser George«, er zögerte einen Augenblick, »der Dritte …?« Mrs. McKee nickte.

»Ja, als seien sie immer noch Untertanen dieses Königs, als hätte dieser George drüben in England ihnen noch irgendetwas zu sagen.«

Henry fand, dass er schon zu lange gesprochen hatte, denn er schwieg plötzlich, ließ seine Lehrerin aber nicht aus den Augen.

»Ja? Sprich nur weiter.«

»Ich finde, dieses ›pursuit of happiness‹ besagt, dass die damaligen Siedler den Anspruch erhoben, selbst ihr Glück zu machen, ohne König und ohne Obrigkeit, außer der, die sie selbst wählten für eine begrenzte Zeit.«

»Und Brüderlichkeit?«

»Die übten sie ja schon. Solidarität war von Anfang an eine Notwendigkeit gewesen, das mussten sie nicht extra in die Unabhängigkeitserklärung oder in die Verfassung schreiben.« Jetzt hatte Henry seine Ausführungen wirklich beendet. Er nickte noch einmal zur Bestätigung und lehnte sich zurück.

»Henry, das war eine sehr gute Stellungnahme. Ich hätte gar nicht vermutet, dass du dich so gut in die Lage unserer Vorfahren versetzen kannst.«

»Henry ist eben ein Mensch mit Einfühlungsvermögen!«, rief Elisabeth.

»Wohin führt denn das Streben nach Glück?«, fragte Mrs. McKee.

Einige Hände fuhren in die Höhe.

»Tim.«

»Wettbewerb.« Die Lehrerin nickte. »Richtig, wozu noch?«

»Egoismus?«, fragte eine Mädchenstimme leise aus dem Hintergrund.

»Ja, Carol, erklär das vielleicht ein wenig näher, wenn du dir das zutraust.«

Carol strich sich mit beiden Händen ein paar braune Locken aus der Stirn und räusperte sich. Sie gehörte zu den Stillen der Klasse, obwohl sie hübsch war. Tim Henderson und Henry hatten sich einige Tage zuvor sogar darauf verständigt, dass sie das hübscheste Mädchen im ganzen Jahrgang war. »Sie hat keinen Freund«, hatte Tim angemerkt, als sie beim Lunch saßen, »vielleicht kannst du bei ihr landen?«

Henry hatte sich geschmeichelt gefühlt, obwohl er zunächst keine Vorstellung davon hatte, wie er bei Carol landen könne. Er mochte das ruhige Mädchen, das von allen mit Respekt behandelt wurde, obwohl es sich nie vordrängte.

»Ich habe mir überlegt, wohin das führt«, sagte Carol nun mit lauterer Stimme.

»Ruhe«, mahnte Mrs. McKee, weil ein Teil der Klasse sich über andere Dinge unterhielt.

»Wohin was führt?«, fragte die Lehrerin. »Sprich lauter, Carol, manche Leute in dieser Klasse haben schlechte Manieren.« Sie warf wieder ein paar giftige Blicke auf Jim Tenney und Elisabeth Browning.

»Darf man auch nach dem eigenen Glück streben, wenn man damit das Glück anderer zerstört oder zumindest gefährdet?«

»Nenn uns Beispiele.«

»Darf man oder durften wir den Indianern das Land, das sie schon viel länger bewohnt hatten als wir und das sie zu ihrem Lebensunterhalt benötigten, wegnehmen, um unser eigenes Leben zu entfalten und Reichtum zu erwerben?«

»Kannst du auch aktuellere Beispiele nennen?«

»Viele«, antwortete Carol.

»Ihr Vater ist Pastor an der lutherischen Kirche«, raunte Tim seinem Freund Henry vorsichtig zu, um bei Mrs. McKee keinen Anstoß zu erregen.

»Na, denn mal los.«

Carol räusperte sich. »Kann ein Unternehmer hohe Gewinne machen und seinen Arbeitern nur einen kleinen Lohn zahlen? Darf man eine schöne Landschaft, die doch allen gehört, mit Häusern zubauen, damit einige gut Betuchte dort wohnen können? Oder ganz einfach: Darf jemand in seinem Haus oder Garten so viel Lärm machen, dass seine Nachbarn belästigt werden?« Carol hatte sich ereifert. »Wir sind doch ein Volk von Egoisten, Mrs. McKee, unser Streben nach Glück ist immer das Streben nach unserem eigenen. Nie oder nur selten machen wir uns Sorgen um das Glück der anderen. Und das hat etwas mit unseren Anfängen zu tun. Dieses ›Streben nach Glück‹ war eine unglückselige Formulierung. Sie ist eigentlich eine Aufforderung zum Egoismus.«

Die Klasse war unruhig geworden. »Ein Ausschnitt aus der Sonntagspredigt!«, rief Jim Tenney, und Elisabeth setzte die Reihe der Fragen, die Carol gestellt hatte, für einen kleinen Kreis von Zuhörern fort: »Darf ich meiner Freundin ihren Freund ausspannen, wenn ich doch weiß, dass ich sie damit kränke?«

»Natürlich darfst du«, raunte Jim, der sich nach hinten lehnte, um von Elisabeth besser gehört zu werden. »Du bist einfach besser als die Freundin. Du bist überhaupt die Beste.«

»Halt die Klappe.«

»Ruhe!« Mrs. McKee verschaffte sich wieder Respekt. Sie klatschte in die Hände. »Ihr solltet über diese Fragen nachdenken und euch an der Diskussion beteiligen, denn irgendwann in nächster Zeit lasse ich euch eine Arbeit über dieses Thema schreiben. Und wer dann Mist abliefert, bekommt eine schlechte Zensur.«

Der Lärm verebbte. Mrs. McKee lächelte wieder. »Carol hat schon Recht«, sagte sie, »die Freiheit, sein Glück zu suchen, ist ein hohes Gut, aber es kann auch zum Fluch werden. Henry!«

»Ja?«

»Was ist denn die Kehrseite der Fraternité? Gibt es da auch Konflikte?«

Henry brauchte immer Zeit zum Nachdenken. Diese Lehrerin hatte eine unverblümte Art, schwierige Fragen zu stellen.

»Na, was passiert denn, wenn man es mit der Brüderlichkeit übertreibt.«

»Man teilt alles, was man hat«, rief eine piepsige Stimme aus der ersten Reihe. Sie gehörte Francesca Nelly, einem kleinen, dünnen Mädchen, das Minny genannt wurde.

»Na und?«, ließ sich Carol aus dem Hintergrund vernehmen.

Minny wandte sich um. »Ich meine«, rief sie nun mit etwas kreischender Stimme, »man kann es auch übertreiben. Alles gehört allen, wie bei den Kommunisten. Wollen wir denn das?« Sie hatte alarmiert geklungen, so, als stünde die Zwangsaufteilung ihres Besitzes unmittelbar bevor.

»Henry?« Mrs. McKee ließ nicht locker.

»Ich glaube, Minny hat Recht. Teilen ist gut, aber wer mit wem teilt und wie viel er teilt und was er behalten darf, muss gut überlegt sein. Fraternité bedeutet nicht, dass allen alles gehört.«

»Passt auf!«, rief Mrs. McKee in die Klasse. »Dieser Junge kommt aus einer Stadt, die von einem kommunistischen Regime umgeben ist. Er weiß, wovon er spricht.«

»Die Menschen haben es gut hier in Amerika, in Princeton.« Henry fühlte sich zu weiteren Äußerungen ermutigt. »Freiheit, nach dem eigenen Glück zu suchen, aber auch Gesetze, die dafür sorgen, dass dieses Streben nicht zu Ungerechtigkeiten führt. Jedenfalls nicht so oft. Keine zerstörten Städte, keine Russen im Land, keine Not, keine Diktatur. Jeder kann sagen, was er will. Es sollte so bleiben.«

»Nein, Henry, es sollte noch besser werden, denn dass es noch an so manchem fehlt, wirst du schon noch merken, wenn du ein wenig länger hier bist. Aber wir sind auf gutem Wege. Wir und unsere Freunde, zu denen du nun auch gehörst.«

Sie meint es wohl ehrlich, dachte Henry.

Die Glocke schellte. Fürs Erste waren die Erörterungen über das Streben nach Glück und Brüderlichkeit beendet.

»In der nächsten Stunde«, Mrs. McKee erhob ihre Stimme, um sich gegen den aufkommenden Lärm durchzusetzen, »werden wir über den Einfluss der amerikanischen und der Französischen Revolution auf das politische Leben in anderen Ländern sprechen.« Sie wandte sich zum Gehen. Dann sah sie sich noch einmal um, als sei ihr etwas eingefallen. »Elisabeth und Jim!«, rief sie, aber die beiden hatten sich bereits aus dem Staub gemacht.

»Die sind schon weg«, meinte Tim und grinste: »Pursuit of happiness.«