Über die Autorin

Elisabeth Büchle hat zahlreiche Bücher veröffentlicht und wurde für ihre Arbeit schon mehrfach ausgezeichnet. Ihr Markenzeichen ist die fesselnde Mischung aus gründlich recherchiertem historischem Hintergrund, abwechslungsreicher Handlung und einem guten Schuss Romantik. Sie ist verheiratet, Mutter von

fünf Kindern und lebt im süddeutschen Raum.

www.elisabeth-buechle.de

Kapitel 8

Charlotte ließ ihre Nichte Ellen stehen und rannte die knarrenden Stufen ins Erdgeschoss hinunter. Wie hatte ihr das passieren können? Und gleich zweimal hintereinander?

Im Grunde wusste sie die Antwort, immerhin galten ihr Sohn und Lisa noch immer als vermisst. Eine dritte Nacht war vergangen, ohne dass es Heinrich, Georg und einigen anderen Helfern vom Liliensee und aus Vierbrücken gelungen war, den garstigen Schiltrück zu bezwingen.

„Kommst du, Lotti?“, kam Johanns drängender Ruf von der Eingangstür her. Dass er verwirrt klang, war nichts Neues, aber die Beunruhigung in seiner Stimme irritierte Charlotte. Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Das war Unsinn. Natürlich war ihr Schwiegervater durcheinander, wenn schon wieder – ohne dass sie damit gerechnet hatten – eine Tochter von Gerda vor ihrer Tür stand. Charlotte erging es ja nicht anders.

Mit Erreichen der letzten Treppenstufe fiel ihr der ungeöffnete Brief auf dem Küchentisch ein. Vermutlich lag dort ein Schreiben, das erklärte, weshalb plötzlich ein Mann, eine Frau und zwei Kinder im Forsthaus um Einlass baten, wobei eines der Kinder Trudi war, die ihre Patentante besuchen wollte.

„Ich habe ja darum gebeten“, sagte Charlotte halblaut zu sich selbst, ehe sie über die Holzdielen in den Eingangsbereich eilte, in dem sich fünf Personen drängten. Der Mann, Ellen hatte gesagt, er habe sich im Hotel als Trudis Vater vorgestellt, trug einen etwa dreijährigen Jungen auf dem einen Arm und hatte den anderen beschützend um seine deutlich jüngere Frau gelegt. Die drückte die sechsjährige Trudi an sich, die sich an sie lehnte, als bräuchte sie Halt, um nicht umzufallen.

Die Augen des Mädchens, denen von Gerda überaus ähnlich, waren ängstlich auf Johann gerichtet, was Charlotte dem Kind nicht verübeln konnte. Ihr Schwiegervater hatte sich an diesem Tag noch nicht gekämmt, was ihm das Aussehen eines Piraten verlieh, zudem hatte er die Augenbrauen zusammengezogen und abwehrend die Arme vor der Brust verschränkt.

Charlotte unterdrückte das in ihr aufperlende Lachen. Das Misstrauen, das ihr ältester Sohn über Lisa ausgegossen hatte, schien ansteckend zu sein. Nur dass Johann Lisa von Anfang an akzeptiert hatte, wohingegen er die Neuankömmlinge offenbar durch stummes Anstarren wieder aus dem Haus hinauskomplimentieren wollte. Am besten gleich hinunter zum Liliensee – oder weit weg über die Berge, dorthin, woher sie gekommen waren. Bei Johann konnte Charlotte das als eine Art Altersstarrsinn abtun, was Robert bezüglich Lisa dazu getrieben hatte, verstand sie noch immer nicht. Und nun war das arme Mädchen mit ihm allein dort oben … Es wäre wirklich von Vorteil gewesen, wenn Lisa ihre Ausflüge in umgekehrter Reihenfolge gemacht hätte: zuerst die Besteigung des Schiltrücks und dann die Erkundung des Liliensees und Campingparadieses. Dort hätte sie höchstens eine Nacht festgesessen, und zwar mit Georg.

Charlotte spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht stieg. Lisa und Robert hatten nun schon die dritte Nacht zusammen dort oben verbracht. Noch vor ein paar Jahren wäre das der Auslöser für einen riesigen Skandal gewesen und man hätte die beiden nach ihrer Rückkehr unverzüglich miteinander verheiratet. Natürlich hatte sie Robert gut erzogen, und er wusste sich einer Frau gegenüber angemessen zu benehmen, dennoch war er nun mal ein Mann. Ein Mann von beinahe dreißig Jahren. In diesem Alter hatten Heinrich und sie bereits drei Söhne um sich herumtoben gehabt.

„Du siehst aus, als hättest du gerade erfahren, dass Romy Schneider Georgs Heiratsantrag angenommen hat.“

Charlotte hob erschrocken den Kopf. Fünf Augenpaare waren auf sie gerichtet. Zwei fragend, sie gehörten dem Ehepaar, eines neugierig, das des kleinen Jungen, Trudis vorsichtig und Johanns äußerst amüsiert. Er hatte sogar seine Abwehrhaltung aufgegeben, so sehr lachte er innerlich über seine schweigend und wie versteinert dastehende Schwiegertochter, die sich in ihren Gedanken verlaufen hatte.

„Entschuldigen Sie bitte, wie unhöflich von mir“, stammelte sie.

„Wir wissen, dass Sie seit dem Schneesturm Ihren Sohn und eine Freundin der Familie vermissen. Dass Sie mit Ihren Gedanken woanders sind, ist doch völlig normal. Wenn wir ungelegen kommen –“ Die junge Frau, Charlotte schätzte sie auf Anfang dreißig, deutete hinter sich zur geschlossenen Eingangstür.

„Aber nein. Sie sind doch eigens mit Ellen hier heraufgekommen, um mich zu besuchen. Ich bin Charlotte Vogel.“

Die Frau stellte sich als Karin Müller vor, Werner, ihr Ehemann und Trudis Vater, war um die fünfzig und überaus gutaussehend. Charlotte konnte sich gut vorstellen, dass ihre Freundin sich einst Hals über Kopf in ihn verguckt hatte. Der kleine Junge hieß Jürgen und streckte ihr sofort die Hand entgegen, als Karin seinen Namen nannte. Charlotte ergriff sie und schüttelte sie mit dem gebotenen Ernst, den diese Geste verlangte. Schließlich ging sie vor Trudi in die Hocke. „Hallo, Trudi. Ich bin deine Patentante Charlotte. Leider habe ich dich seit deiner Taufe nicht mehr gesehen, aber ich habe oft an dich gedacht und für dich gebetet. Ich bin so froh, dich endlich wiederzusehen.“

Es freute Charlotte, dass das Mädchen bei seinem leiblichen Vater eine neue Familie gefunden hatte, auch wenn das hieß, dass Trudi nicht zu den Vogels ins Forsthaus ziehen würde. Doch das Kind passte eindeutig besser in eine jüngere Familie.

Trudi nickte und lächelte schüchtern, presste gleichzeitig aber den Rücken noch fester an Karin. Dies verriet Charlotte, dass Trudi nicht erst seit Gerdas Tod bei den Müllers lebte.

Ihr Herz wurde schwer. Hatte Gerda Lotti schon vor Jahren in die Obhut des Vaters übergeben, lange bevor sie verstorben war? Weil sie auch für dieses Kind – wie schon für Lisa – nicht hatte Sorgen wollen? Der Gedanke, diese Regelung könne für Trudi wohl das Beste gewesen sein, tat Charlotte weh und beruhigte sie zugleich. Welch ein Chaos, auch im Hinblick auf ihre Gefühle!

Sollte sie dem Kind ihr Beileid aussprechen? Hatte Trudi in Gerda überhaupt eine Mutter gesehen? Wenn Lisa Gerda erwähnte, gebrauchte sie immer deren Vornamen, als wären sie und ihre Mutter zwei Personen, deren Wege sich einmal zufällig gekreuzt hatten.

„Legen Sie bitte ab und folgen Sie mir in die Stube. Dort können wir uns ein bisschen besser kennenlernen.“

Charlotte führte die vier in das Wohnzimmer, das selten genutzt wurde. Der Lebensmittelpunkt ihrer Familie war die große Küche mit dem Esstisch, den gemütlichen Stühlen und der Eckbank.

„Würdest du bitte Tee und Kaffee für uns kochen, Johann?“, fragte sie ihren Schwiegervater, noch immer leicht überfordert von dem überraschenden Besuch und den Erkenntnissen, die sie bereits in den ersten Minuten gewonnen hatte.

„Zu Diensten, gnädige Frau“, murmelte der alte Mann und trottete, gutmütig, wie er war, davon. Charlotte ließ ihn ziehen. Seit er sich gemeinsam mit Robert die kleine Küche im Anbau teilte, ließ er zumindest das Wasser nicht mehr anbrennen. Also würde er auch Tee und Kaffee zubereiten können.

Werner räusperte sich. „Ich hoffe, Sie bekommen bald gute Neuigkeiten von den Vermissten.“

„Ja, das wäre wirklich eine Erleichterung. Wir gehen davon aus, dass es ihnen den Umständen entsprechend gut geht. Robert, unser Sohn, kennt sich in den hiesigen Wäldern und Bergen bestens aus. Dort oben gibt es eine Schutzhütte, die für solche Fälle ausgestattet ist. Er ist mit unserem jungen Gast bestimmt dort untergekommen und versucht nun, einen Weg ins Tal zu finden.“

Dass es sich bei ihrem jungen Gast um eine Halbschwester von Trudi handelte, wollte Charlotte vorerst für sich behalten. Das Mädchen sollte zuerst einmal mit ihr warm werden und sich hier ein wenig wohler fühlen, ehe sie ihm verriet, dass es nicht nur einen kleinen Bruder, sondern auch eine ältere Schwester hatte.

„Ellen sagte, es handelt sich dabei um Lisa Schwaiger. Es wäre schön, wenn wir sie kennenlernen könnten, solange wir hier sind, nicht wahr, Trudi?“

Charlottes Lächeln fiel zusammen wie ein schlecht aufgeschichteter Polter. Offenbar war Trudi mit dem Wissen aufgewachsen, eine ältere Schwester zu haben. Charlotte wusste nicht, was sie nun sagen sollte.

Vom Türrahmen her, an dem Johann lehnte und auf das Pfeifen des Wasserkessels wartete, kam ein Geräusch, als müsse er sich jeden Moment übergeben. Ahnte auch er, wie sehr Lisa die Erkenntnis zusetzen würde, dass Trudi von ihr gewusst hatte, während ihr selbst das Wissen um die Existenz einer Schwester vorenthalten worden war? Charlotte konnte nur hoffen, dass sie das nicht als Verrat vonseiten ihrer Großtante Camille einstufen würde.

„Gehst du denn schon zur Schule, Trudi?“, stellte Charlotte die erstbeste Frage, die ihr einfiel. Ja, sie wollte möglichst viel über ihr Patenkind erfahren, doch ihre Gedanken rutschten noch immer so unkontrolliert durch ihren Kopf wie draußen die Schneehauben von den Ästen.

Trudi saß weit vorn auf dem Sofa, sodass sie mit den Füßen das Kuhfell auf dem Boden berührte. Ihre Augen strahlten, ihr ganzer Körper schien vor Aufregung zu vibrieren. „Nein, aber im nächsten Sommer darf ich in die Schule gehen. Ich habe sie mir schon angeschaut. Es ist ein richtig großes Gebäude. Ich habe Angst, mich darin zu verlaufen. Aber die Angst ist nur ganz klein, weil ja meine beiden Freundinnen mitkommen. Wir werden ganz artig sein und viel lernen und …“

Charlotte hörte lächelnd zu, glücklich darüber, ein fröhliches und ausgeglichenes Kind vor sich zu haben, dem man anmerkte, dass es sich geliebt, umsorgt und beschützt fühlte. Ohne Zweifel war Trudi tief in der Familie Müller verwurzelt.

Zwischendurch brachte Johann die heißen Getränke herein. Er blieb jedoch nicht bei ihnen, obwohl er ein übermäßig neugieriger Mensch war, Kinder sehr gernhatte und sich stets für das Leben seiner Mitmenschen interessierte. Aus dem Augenwinkel sah Charlotte, wie er mit hängenden Schultern, als hätte jemand eine schwere Last darauf gelegt, in Richtung Anbau verschwand. Vermutlich würde er seine Pfeife aus dem Versteck holen, in der Annahme, dass sie nichts davon wusste, und vor dem Seiteneingang rauchen, ebenfalls in dem Glauben, sie würde das nicht mitbekommen. Seit Charlotte wusste, dass er diese Auszeiten zum Zwiegespräch mit Gott nutzte, hatte sie aufgehört, ihn dabei zu ertappen. Ralf hatte ihr den Hinweis mit den Worten gegeben: „Opa sendet mal wieder Rauchzeichen in den Himmel.“

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Robert stand auf und bedankte sich bei Lisa für das Mittagessen, was sie mit einem schiefen Grinsen und einem Fingerdeut auf den Stapel leerer Konservendosen in einer Feuerholzkiste quittierte. „Das nennst du hoffentlich nicht kochen?“

„Die höchste Kunst davon. Es soll Leute gegeben haben, die vor einer vollen Dose verhungert sind, weil sie sie nicht aufbekommen haben.“

„Dann waren sie definitiv keine Naturburschen!“

„Richtig, es waren Städter. Sie wussten nicht, wie man mit einem Fuchsschwanz, einer Axt oder auch nur mit einer verbogenen Gabel umgeht.“

„Du meinst also, ich würde sie ohne Dosenöffner nicht aufbekommen?“

„Niemals!“

„Würde ich wohl.“

„Und wie würdest du das anstellen?“ Er klang lauernd, stellte einen Fuß auf den Stuhl und beugte sich über sie. Der Schalk in ihren Augen war nicht zu übersehen.

„Ich würde eine Wette mit ihr abschließen und Binokel gegen sie spielen.“

Robert lachte laut auf und streckte die Hände der Decke entgegen. „Ich gebe auf.“

„So wie die Dose auch!“

Ihre schlagfertige Antwort erheiterte ihn noch mehr. Er mochte dieses Mädchen einfach. Tust du nicht. Du liebst sie.

Robert hatte keine Ahnung, woher der Gedanke gekommen war, dennoch setzte er sich in seinem Kopf fest wie ein Buchdrucker in der trockenen Baumrinde. Er wusste, dass er den Blick von ihr abwenden sollte, aber es gelang ihm nicht. Sie lächelte noch immer, wenngleich das spielerisch Herausfordernde in ihren Augen von etwas abgelöst wurde, das er als Verunsicherung mit einer Spur Furcht bezeichnen würde, wäre sein Kopf nur in der Verfassung, einen logischen Gedanken zu produzieren. Allerdings fühlte der sich an, als hätte Robert Schnee darin gehortet. Er wollte ihr Gesicht studieren. Ebenso wie es ihn lockte, ihre sanft geschwungenen Brauen mit dem Finger nachzuzeichnen, sich in dem warmen Braun ihrer Augen zu verlieren, die kleine Nase anzustupsen, die vollen Lippen zu küssen.

„Ich bin dran mit Schneeschaufeln.“ Lisas Stimme klang gepresst, als hätte jemand ihre Stimmbänder unsanft mit einem Wendehaken bearbeitet.

„Ich übernehme das“, widersprach Robert ihr sofort. Er musste hier raus, musste das, was ihn da überfallen hatte, aus sich herausarbeiten.

„Aber du hast doch vorhin erst –“

„Die Schneise reicht jetzt bis in den Wald hinein. Dort liegt der Schnee weniger hoch, sodass ich zügig vorankommen werde, es vielleicht heute noch bis zum Jeep schaffe.“

„Aber dann kann ich doch –“

„Die Bäume haben erheblich gelitten. Man muss sehr vorsichtig sein, sie im Blick behalten und möglicherweise zuerst Schäden beseitigen.“

„Das kannst du tun, während ich –“

„Es ist nicht nötig, dass wir beide da rausgehen.“

„Kannst du bitte aufhören, mir ständig über den Mund zu fahren?“

Robert blickte auf ihren Mund. Drehte sich um. Verließ die Hütte. Mit offenen Schnürsenkeln, die Jacke in der Hand, ohne Mütze, Schal und Handschuhe.

Die Tür fiel lautstark hinter ihm zu. Endlich konnte er wieder Luft holen. Die Gefahr war gebannt. Für ihn, für sie. Jetzt musste er sich nur noch der Gefahr herabstürzender Äste oder fallender Bäume stellen. Aber das war erheblich einfacher für ihn. Und sicherer.

Bewaffnet mit der Schneeschaufel schritt Robert durch die Schneise. Man sah deutlich, wo er und wo Lisa gearbeitet hatte. Während er den Schnee aus dem Weg geräumt hatte, hatte Lisa der weißen Masse ihr ganzes Körpergewicht entgegengeworfen, dabei aber das meiste davon mit ihren Schuhen und ihrem Körper zusammengeschoben. An diesen Stellen stieg der Pfad an und senkte sich erst dort wieder, wo er das Schaufeln übernommen hatte. Ihre Art, ihnen einen Weg zu bahnen, war im Grunde keine schlechte und sie war gut damit vorangekommen, allerdings erklärte das auch, weshalb Lisa stets klatschnass und völlig durchgefroren in die Hütte zurückgekommen war.

„Vielleicht wollte sie einfach nur dein Hemd tragen, Junge“, sagte er zu sich selbst und ging zufrieden vor sich hin pfeifend weiter. Sobald er die ersten Bäume erreichte, wurde er wieder aufmerksam – und misstrauisch. Die Äste warfen inzwischen massenhaft Schnee ab, manchmal gaben sie unter der Last aber auch einfach nach. Dennoch schien der Baumbruch aus dem Frühjahr und nach dem neuerlichen Schneesturm nicht ganz so schlimm zu sein, wie er anfangs befürchtet hatte. Es zahlte sich aus, dass hier nicht nur Fichten standen, sondern eine bunte Mischung aus unterschiedlichen Baumarten und wild wachsendem Unterholz.

Robert arbeitete sich über den nicht mehr erkennbaren Pfad durch den Schnee, der hier unter den Bäumen deutlich niedriger lag als auf der Lichtung. Dafür lagen ihm einige umgestürzte Baumstämme im Weg, über die er klettern musste. Er schaufelte sich auch über die zweite, kleinere Lichtung hinweg und hielt schließlich vor dem steilen Abhang inne. Die letzte Strecke bis zum Jeep würden sie ohne vorheriges Freischaufeln überwinden können. Dabei würden sie zwar wieder nass werden, aber wenn sie erst einmal unten im Forsthaus angelangt waren, konnten sie sich ja aufwärmen und umkleiden. Allerdings hegte Robert die Befürchtung, dass auch auf der schmalen Serpentinenstraße umgestürzte Bäume lagen, und vermutlich auch wieder deutlich mehr Schnee als hier oben.

Ein kaum wahrnehmbares Motorengeräusch ließ ihn den Kopf heben. Offenbar war man im Tal bereits damit beschäftigt, ihnen die Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Robert stieß die Schneeschaufel mit viel Schwung in den Schnee, wo sie wie ein seiner Flagge beraubter Fahnenmast stecken blieb, und kletterte über die schneebedeckten Baumwurzeln und Felsbrocken hinweg den steilen Abhang in Richtung Jeep hinunter. Wenige Meter, bevor er den Wagen erreichte, entdeckte er eine Fußspur, die bis zu einem von Wind und Schnee umgeworfenen Baumstamm führte, dort jedoch endete und wieder zurückführte. Jemand war hier oben gewesen, hatte aber keine Möglichkeit gesehen, bis zur Hütte vorzudringen. Oder es war bereits spät gewesen und derjenige hatte nicht im Dunkeln weitergehen wollen? Der Jeep jedenfalls war bereits von einer helfenden Hand ausgegraben worden.

Robert lauschte erneut auf das Brummen der Motorsäge, dem sich gelegentlich das vertraute schrille Kreischen beimischte, war sich aber sicher, dass die Helfer noch weit unten am Hang zugange waren. Er öffnete die unverschlossene Fahrertür und entdeckte einen mit einem Tuch zugedeckten Weidenkorb auf dem Sitz. Obenauf lag ein orangefarbenes Kassenbuch. Robert schlug es auf und las, was Georg mit seiner schwungvollen, aber nahezu unleserlichen Schrift auf die erste Seite geschrieben hatte.

Wir nehmen an, ihr seid in der Schutzhütte untergekommen. Weiter unten liegen mehrere Baumstämme quer, wir arbeiten daran. Fahrt einfach so weit, wie ihr kommt. Den restlichen Weg bis dorthin, wo wir arbeiten, geht zu Fuß. Wir bringen euch dann zum Forsthaus und holen den Jeep später.

Wie sieht es weiter oben aus? Auf den Lichtungen liegen vermutlich zwei Meter Schnee? Wir sollten Schneeschuhe in der Hütte deponieren.

Falls jemand von euch verletzt ist, vermerkt es hier. Dann arbeiten wir uns erst einmal zu euch durch. Wenn ihr Verbandsmaterial oder einen Arzt braucht: aufschreiben. Wir tun unser Möglichstes.

Seid Gott befohlen, Georg

Robert schlug das Tuch beiseite und fand neben einem gut verpackten Brot vier Äpfel, eine Räucherwurst, eine kleine Tafel Schokolade und eine nur halb volle Flasche mit dickflüssigem Holunderbeerensaft. Halb voll deshalb, weil der Saft so genug Platz zum Ausdehnen hatte und das Glas nicht platzte, falls er gefrieren sollte. Seine Mutter war überzeugt, dass es nichts Gesünderes als Holunderbeerensaft gab. Der Vitamine wegen, und zur Linderung von Husten und weiteren Erkältungssymptomen.

Er tastete das Innere des Korbs ab und fand einen Bleistift. Obwohl er in seinen durchnässten Schuhen inzwischen eiskalte Füße hatte, nahm er sich die Zeit für eine Antwort.

Wir sind in der Schutzhütte und es geht uns gut.

Er zögerte. Sollte er noch schreiben, dass sich Lisa hervorragend hielt? Robert strich sich durch das feuchte Haar. Sie tat mehr als das. Nicht ein einziges Mal hatte sie über die Kargheit der Hütte geklagt oder ungeduldig gefragt, wann sie denn endlich vom Berg herunterkommen würden. Lisa nahm die Situation an, in die der Schneesturm sie gebracht hatte, und machte das Beste daraus.

Roberts Herz zog sich zusammen. Aufgewühlt blickte er zwischen dunklen Baumstämmen hindurch den steilen Hang hinunter. Irgendwo dort unten schlängelte sich die Straße entlang. Robert wusste zwar nicht genau, auf welcher Höhe Georg und seine Helfer inzwischen angekommen waren, aber wenn er und Lisa jetzt bis zum ersten Hindernis fuhren, das sich ihnen in den Weg stellte, und den Rest zu Fuß zurücklegten, würden sie wohl nicht länger als drei oder vier, allerhöchstens fünf Stunden unterwegs sein, bis sie bei der Hilfsmannschaft ankamen. Immerhin war Georg den Weg schon einmal herauf- und wieder hinuntergewandert.

Robert traute Lisa durchaus zu, mit ihm Schritt zu halten. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es wäre zu schaffen, auch wenn sie gegen Ende in die Abenddämmerung geraten würden.

Wieder sah er auf. Vermutlich war gerade jemand – vielleicht erneut Georg, weil er sich am meisten um Lisa sorgte – zu Fuß auf dem Weg hierher, um zu prüfen, ob sie beim Jeep gewesen waren. Wenn Robert nun schrieb, dass sie beide unverletzt waren, würde derjenige wahrscheinlich bis zur Hütte hinaufsteigen und dort übernachten, um am nächsten Tag gemeinsam mit ihnen den Abstieg in Angriff zu nehmen.

Wir treffen uns morgen dort, wo ihr mit Aufräumarbeiten beschäftigt seid. Grüß alle.

Ob Georg die Nachricht so auffassen würde, wie Robert sie meinte? Dass es keinen Sinn machte, die Nacht zu dritt in einer Hütte zu verbringen, die eigentlich nur Platz für zwei bot? Ohne sich um das leise Gefühl eines schlechten Gewissens zu kümmern, ergriff Robert den Proviantkorb und ließ das Heft und den Bleistift auf dem Sitz zurück. Er brauchte diesen letzten Tag mit Lisa dort oben in der Hütte, umgeben von Bäumen, Schnee und der Weite des Himmels. Danach würde er sie in Georgs Arme entlassen.

Allein bei dem Gedanken daran schien sich sein Herz zu einem Klumpen zusammenzuballen. Er blickte wieder zum wolkenlosen Himmel hinauf und bat um eine gehörige Portion Kraft.

Es sah nicht danach aus, als drohe erneuter Schneefall, also war sein Plan, den Abstieg auf den nächsten Tag zu verschieben, durchaus vernünftig. So würden sie deutlich länger im Tageslicht unterwegs sein, als es heute der Fall wäre.

Den steilen, dazu verschneiten und teilweise gefrorenen Weg den Hang hinauf mit dem Korb in der Hand zu bewältigen, stellte sich als eine Herausforderung der besonderen Art heraus, zumal sich rechts von ihm, verdeckt von etwas Gebüsch und einigen Baumreihen, eine senkrecht abfallende Felswand befand. Robert grinste bei dem Gedanken daran, dass eben jene seinen Bruder davon abgehalten haben könnte, sich bis zu ihnen durchzuschlagen. Darüber, was dies über die Tiefe von Georgs Zuneigung zu Lisa aussagte, konnte Robert nicht nachdenken, da in dem Augenblick, als ihm der Gedanke kam, über seinem Kopf ein gewaltiger Ast unter der Schneelast brach.

Instinktiv warf Robert sich nach rechts. Schnee und Fichtenzapfen fielen auf ihn herunter. Er rutschte. Auf die Felswand zu. Mit den Füßen suchte er Halt, fand aber keinen. Sein Körper wurde durchgeschüttelt, schlitterte immer schneller den Hang hinunter. Panik breitete sich in ihm aus; Hitzewellen jagten durch ihn hindurch. Schließlich bekam er eine der oberirdisch verlaufenden Baumwurzeln zu fassen. Seine Rutschpartie stoppte abrupt. Mit dem Gesicht nach unten blieb er reglos liegen. Wartete. Sein Herzschlag normalisierte sich. Aber nur so lange, bis Robert registrierte, dass seine Beine unterhalb der Knie bereits in der Luft hingen. Er wagte vorsichtig einen Blick an seinem Körper entlang. Zwischen ihm und dem Abgrund gab es nichts als den halben Meter Erdboden, auf dem er lag. Und diese eine Wurzel, die er krampfhaft umklammert hielt.

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Lisa hatte eine Liste der Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände erstellt, die sie bis heute verbraucht oder benutzt hatten und ersetzen mussten. Jetzt saß sie auf der Truhe, eigentlich Roberts Platz, und blätterte in der Bibel, dem einzigen Buch in der Hütte. Sie las darin, machte sich ab und zu Notizen auf dem kleinen Block, der bei dem Buch gelegen hatte, und schaute immer wieder besorgt zur Tür.

Täuschte sie sich oder blieb Robert heute wesentlich länger weg, als er es in den vergangenen Tagen getan hatte? War das ein gutes Zeichen? Womöglich war er bis zum Jeep gekommen und prüfte nun, ob sie ins Tal fahren konnten. Allerdings gab es auf dem schmalen Waldweg keine Wendemöglichkeit. Was also wollte er tun, wenn ein umgestürzter Baum auf dem Weg lag? Nach dem heftigen Sturm war das ja durchaus denkbar.

Beunruhigt schlug sie die Bibel zu, legte sie auf den Tisch und ging zur Tür. Sie öffnete diese einen Spalt breit, um nicht zu viel Kälte hereinzulassen, und ließ den Blick über die verschneite Lichtung schweifen. Das milchige Licht der tief stehenden Sonne brachte die Schneekristalle zum Glitzern, sodass die sanft geschwungene Ebene einer unberührten weißen Leinwand glich. Der Pfad, den sie geschaufelt hatten, wirkte wie ein Pinselstrich mit einem zuvor nicht richtig gesäuberten Malutensil, der alles ruinierte.

Nachdenklich lehnte Lisa den Kopf an den Türrahmen. War es nicht so, dass sie versuchte, die krummen, unsauber gemalten Pinselstriche zu überdecken, die Gerda auf ihrem Lebensgemälde hinterlassen hatte? Die vielen Jahre, in denen sie sich ungeliebt und wertlos gefühlt hatte, hatten Spuren auf dem einst tadellos geschaffenen, einzigartigen Bild hinterlassen.

Lisa biss sich auf die Unterlippe. Die auf sie einströmenden Gedanken waren zutiefst herausfordernd … Manche dieser Mängel mochten sich im Nachhinein ausbessern lassen, andere jedoch blieben für immer. Irritierten, störten, beeinflussten. Wie sollten ihre Mitmenschen Lisa verstehen, wenn sie nichts von den Fehlern auf ihrem Gemälde wussten? Wie sollten sie nachvollziehen können, weshalb es Lisa zu Worten oder Handlungen trieb, die sie – gäbe es jene unschönen Stellen nicht – niemals sagen oder tun würde? Wäre es nicht besser, offen darüber zu sprechen, auch auf die Gefahr hin, verlacht oder gar verachtet zu werden?

Mit zusammengekniffenen Augen trat Lisa von einem Bein auf das andere. Innere Unruhe verband sich mit Unsicherheit, was dazu führte, dass sich das Gedankenkarussell in ihrem Kopf unaufhaltsam weiterdrehte. Sie fragte sich, wie man mit Menschen verfahren sollte, die ihre fehlerhaften Pinselstriche nur allzu gern als Entschuldigung benutzten. Hinderten sie sich dadurch nicht selbst daran, ihr Verhalten kritisch zu hinterfragen, an dem Erlebten zu wachsen und es fortan besser zu machen?

Lisa schloss die Augen. Sie konnte sich kaum noch an Gerdas Gesicht erinnern, aber sie wusste, wie ihre Stimme geklungen hatte, wenn sie unglücklich gewesen war. Oder wenn Lisa sie gefragt hatte, warum sie keine Freunde einladen durfte, warum Gerda nicht mit ihr zu Schulveranstaltungen ging … Gerda hatte dann immer weinerlich geklungen, um Verständnis heischend, ein wenig manipulativ. Weißt du, Lisa, ich bin von vielen Menschen hier im Dorf verletzt worden. Deshalb will ich nichts mit ihnen zu tun haben … Ich leide sehr unter den Verletzungen, die andere mir zugefügt haben, deshalb kann ich nicht … Du musst verstehen, dass das für mich zu schmerzlich wäre …

Lisa verdrängte ihre Mutter aus ihren Gedanken und betrachtete den unsauberen Pinselstrich auf dem sich vor ihr ausbreitenden, glitzernden Schneegemälde. Es brauchte reine weiße Farbe, um einen verunreinigten Untergrund auszubessern. Wenn Gott es noch einmal schneien ließ, würden die von Menschenhand verursachten Vertiefungen überdeckt. Vielleicht nicht vollständig, sodass man sie nicht mehr sehen konnte, aber doch so, dass sie nicht mehr so deutlich zu erkennen waren. Einer liebevollen, geduldigen Hand konnte es gelingen, die Ausbesserungen geschickt in das Gesamtwerk einzuarbeiten. Sie würden immer noch da sein, jedoch nicht das Augenmerk auf sich ziehen, sich in den Vordergrund drängen, das Kunstwerk verunstalten.

Lisa hatte das dank Camille erfahren und gelernt. Gerda war dieses Wissen wohl verborgen geblieben. Das Wissen um die Wichtigkeit, die eigenen Schwächen anzunehmen, um den Wert des Geliebtseins, um die heilende Kraft der Liebe und Vergebung.

War es an der Zeit, dass Lisa die dunklen Schlieren akzeptierte, die durchschienen und weiterhin sichtbar waren? Dass sie sie als Teil ihres Lebensbildes annahm und sich über all jene Menschen freute, die sich nicht an dem Makel störten? Weil auch sie Makel auf ihren Lebensbildern hatten, um ihre eigene Fehlerhaftigkeit wussten?

Ja, es war gut, offen über diese Makel zu sprechen. Denn was im Verborgenen blieb, nagte an dem, der es in sich trug, und erinnerte ihn stets an die eigene Unzulänglichkeit. Nur was ans Licht kam, was offengelegt wurde, konnte von Gott geheilt werden.

Lisa rieb sich die Stirn, denn in diesem Moment begriff sie, dass nicht sie selbst ihre Makel übermalen musste, sondern dass sie dies Gott überlassen durfte.

Eine Bewegung am Ende der Lichtung ließ sie aufschauen. Diesmal war es nicht der Schnee, der von den Bäumen stäubte, sondern eine sich nähernde Gestalt. Robert. Unwillkürlich fragte sich Lisa, welche Farbspritzer auf seinem Lebensbild hatten übermalt werden müssen. Ob er eines Tages bereit wäre, sie ihr zu zeigen?

Lisa kniff die Augen zusammen. Seine offenkundigen Verletzungen konnte er jedenfalls nicht verstecken. Obwohl ihr inzwischen kalt war, stürmte sie aus der Hütte und lief ihm entgegen. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten, mehrmals drohte sie auszurutschen, doch sie ließ sich nicht aufhalten.

„Was ist passiert?“, stieß sie hervor, als sie bei ihm ankam. Aus der Nähe betrachtet sah Robert noch viel schlimmer zugerichtet aus: Aus einer Wunde an seiner Stirn lief ihm Blut ins Gesicht, seine rechte Wange war von einer Schramme dunkel verfärbt. Die Jacke war verdreckt und nun auch auf der Vorderseite an mehreren Stellen gerissen.

Er drückte ihr den Korb in die Hand, den er bei sich trug. „Ich bin bis zum Jeep durchgekommen. Meine Familie versucht, von unten her den Weg freizubekommen. Wir können uns morgen auf den Rückweg machen.“

Lisa stellte den Korb in den Schnee. Robert war klatschnass, und nun, da er aus dem Wald heraus und in den fahlen Sonnenschein getreten war, fielen kleine Eisstückchen aus den Falten seiner Hose und von den Schnürsenkeln seiner Schuhe; winzige Eiszapfen, die in seinen Haaren hingen, schmolzen hinweg.

Sie legte ihre Finger an sein mit Bartstoppeln übersätes Kinn und drückte vorsichtig dagegen, sodass er den Kopf drehen musste und sie die Schürfwunde und die blutende Stelle betrachten konnte. „Ich will nicht wissen, was wir morgen tun werden, sondern was heute mit dir passiert ist“, stellte sie klar.

Er nahm ihre Hand von seinem Kinn, drückte kurz ihre Finger und ließ sie los.

See.Zur Lilie.

Lisa lachte leise auf. „Diese seltsame Namensgebung hier bei euch ist mir schon aufgefallen. Meist hat sie etwas mit dem Beruf des Mannes zu tun, nicht wahr? Ist deine Mutter die Förster-Lotti?“

Robert schüttelte den Kopf und biss noch einmal in den Apfel. Nachdem er den Bissen heruntergeschluckt hatte, erklärte er: „So einen Namen verdient man sich über Jahre hinweg oder er entsteht aus einer Laune heraus. Meine Mutter ist eine Zugezogene. Die haben es nie leicht, in den kleinen Gemeinden Fuß zu fassen und akzeptiert zu werden. Meine Mutter hat sich ihren Platz in der Gemeinschaft erkämpft. Durch Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und sehr viel unnachgiebigen Trotz. Aber sie ist nach wie vor die Frau Forstmeister, die Frau Charlotte oder die Frau Vogel. Anders ist das mit der Hirschen-Alma aus Vierbrücken oder der Pferde-Amrei.“

„Pferde-Amrei, das klingt hübsch.“

Robert lachte erneut und legte das Kerngehäuse beiseite. „Die Pferde-Amrei wohnt einige Kilometer entfernt und unterhält eine Pension, nebenbei züchtet sie Nutz- und Reitpferde. Die schweren Schwarzwälder, die hier noch immer bei der Ernte oder den Waldarbeiten helfen, stammen alle von ihr. Sie ist eine robuste, scharfsinnige und nicht immer einfache, aber dennoch großartige Frau mit einer bewegten Vergangenheit. Du würdest sie sicher mögen.“

„Vielleicht lerne ich sie ja mal kennen.“

Auf Roberts zweifelnden Blick hin hakte Lisa nach: „Und wie nennt man deine Tante nun?“

„Also, ich nenne sie Tante Marianne.“

Lisa drohte Robert damit, das Kerngehäuse ihres Apfels nach ihm zu werfen.

„Offiziell heißt sie nach wie vor Marianne Stein. Aber die Leute aus Vierbrücken, jene, die Angst haben, dass das neue Hotel ihnen die Kunden stielt, nennen sie heimlich Touristenelster.“