817499_Buechle_Unter_dem_Abendstern_S003.pdf

9. Kapitel

Wenig später betrat Jeffrey Chiaras und Forsters Ferienhaus. Sein Gesicht war knallrot, die Nase auffällig weiß. Er benötigte einige Minuten und einen heißen Tee mit viel Zucker, ehe er halbwegs verständlich sprechen konnte. Dabei bewegte und rieb er in einem fort seine Finger, die ebenfalls eine ungesunde weißblaue Farbe angenommen hatten.

„Nichts zu machen. Die Autos springen einfach nicht an. Wo ist Nick?“

„Der ist noch mit den Handys unterwegs, um zu schauen, ob er irgendwo Empfang hat“, erklärte Katja, die ihm eine zweite Tasse Tee hinstellte.

„Ich vermute, das ist ziemlich unsinnig.“ Jeffrey streckte seine Finger und verzog dabei vor Schmerz das Gesicht. Der zutiefst besorgte Forster knurrte Jeffrey ungehalten an, was dieser jedoch schlichtweg ignorierte. Stattdessen wandte er sich an Chiara. „Es hat keinen Sinn, dir etwas vorzumachen. Hast du einen Geburtsvorbereitungskurs besucht?“

Chiara nickte und strich ihrem aufgewühlten Mann tröstend über die verspannten Schultern.

„Dann sollten wir uns auf eine Hausgeburt vorbereiten.“

In diesem Moment sprang erneut die Tür auf, was Jeffrey, so schien es Katja zumindest, davor rettete, von dem entsetzten Thrillerautor kaltgemacht zu werden.

„Jeffrey? Hast du eines der Autos zum Laufen bringen können?“

„Leider nicht.“

„Und ich hatte kein Glück mit den Handys!“

„Das dachte ich mir. Komm rein, ehe du dir einen Schnupfen holst.“

„Das ist noch das Geringste, was man sich da draußen holen kann.“

„Wem sagst du das?“ Jeffrey massierte erneut seine Finger.

Katja fröstelte, nicht nur, weil das kurze Öffnen der Tür den gut beheizten Raum bereits spürbar abgekühlt hatte, sondern auch, weil ihr nun eines deutlich vor Augen stand: Chiaras Kind würde ohne professionelle Hilfe geboren werden.

Nick betrat den Raum, jedoch ohne sich die Schuhe oder die Jacke auszuziehen. Er hatte sich lediglich den langen Schal von den Ohren und der Mundpartie gewickelt. Katja verzog das Gesicht. Er humpelte unübersehbar mehr als zuvor. Offenbar hatten die übermäßige Belastung und die Kälte seiner Wunde erneut zugesetzt.

„Ich versuche, mich zu der Ferienhaussiedlung durchzuschlagen, die ein Stück weiter im Landesinneren liegt. Vielleicht kann uns dort jemand helfen.“

„Zuletzt hat es ziemlich verlassen ausgesehen. Außerdem sind es gut fünf Kilometer bis dorthin.“ Jeffrey schüttelte protestierend den Kopf, denn er wollte seinen Freund nur ungern wieder in der eisigen Kälte wissen.

„Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert“, bekräftigte Nick sein Vorhaben.

„Dein Bein ist noch nicht verheilt. Und du hinkst sogar mehr als an dem Tag, als du aus dem Krankenhaus gekommen bist.“ Katja trat näher an Nick heran, denn auch sie wollte nicht, dass er noch einmal wegging. Nicht in seinem Zustand und nicht bei dieser Kälte.

„Damals stand ich auch unter Drogen.“

Von Chiara kam ein Stöhnen, gefolgt von heftigem Atmen. Die Abstände zwischen den Wehen waren inzwischen deutlich kürzer geworden.

„Wenn einer geht, dann Forster“, entschied Jeffrey in ungewohntem Befehlston.

„Er ist doch der Vater!“, widersprach Nick.

„Du bist verletzt, und ich bin der Einzige, der schon mal bei einer Geburt dabei gewesen ist. Bei Zwillingen. Bevor meine Schwester damals ihre Babys zur Welt gebracht hat, habe ich mich in die medizinischen Belange rund ums Kinderkriegen eingelesen, weil ich von vorneherein wusste, dass ich derjenige sein würde, der meiner Schwester beistehen muss. Ihr Mann hatte das von Anfang an kategorisch ausgeschlossen.“

„Muss ich jetzt ‚Herr Doktor‘ zu dir sagen?“, brummte Nick.

„Das hättest du eigentlich schon lange tun müssen, ich habe nämlich einen Doktortitel.“

„Wann hast du den denn geklaut?“

„Erarbeitet und erschrieben. Rechtmäßig!“

„Und deine Doktorarbeit enthielt eine Abfolge von –“

„Ruhe jetzt!“, ging Chiara laut, aber nicht unfreundlich dazwischen. „Das Kind braucht eine ruhige und gelassene Atmosphäre.“

„Wenn ich dich richtig verstanden habe, braucht es wohl eher einen Fußball und Kickschuhe.“

„Ich schmeiß dich gleich raus, Nick“, drohte Chiara, was Forsters besorgte Miene deutlich erhellte. „Mach nur weiter so, Kumpel. Sonst bekomme ich das immer ab.“

„Katja, nimm dir bitte einen Besen und schiebe alles nach draußen, was irgendwie nach Mann aussieht.“

Shakespeare jaulte laut auf.

„Dich meine ich nicht. Du bist ja brav.“

„Ausgerechnet“, murmelte Forster, strich Chiara durch ihr kurzes Haar und ging zielstrebig in Richtung Ausgang.

„Ich werde es versuchen. Fünf Kilometer hin- und wieder zurückjoggen, das bekomme ich hin. Und abseits vom Meer ist der Wind auch nicht so beißend kalt.“

Katja vermutete, dass Forsters kleiner Monolog dazu dienen sollte, seine Frau zu beruhigen. Doch auch Katja war nicht sonderlich wohl bei dem Gedanken, ausgerechnet den Vater des Kindes wegzuschicken. Allerdings war Forster tatsächlich derjenige von ihnen, der die Strecke am schnellsten würde laufen können. Und falls Jeffrey wirklich etwas von Geburtshilfe verstand – und sei es nur aufgrund von angelesenem Wissen –, so war dies immer noch weit mehr als das, was sie selbst übers Kinderkriegen wusste. Oder Forster. Oder Nick.

Allerdings wurde ihr mulmig, als sie hörte, wie Nick zu Forster sagte: „Pass bloß auf! Einmal ausrutschen und nicht mehr aufstehen können, und du bekommst innerhalb kürzester Zeit Erfrierungen.“

Katja setzte sich wieder zu Chiara, die mit geschlossenen Augen auf der Couch lag. Ob sie betete? Für das Kind und Forster?

Für einen kurzen Augenblick gestattete Katja sich, an ihre Familie zu denken. Wie sie wohl die Weihnachtsfeiertage verbracht hatten? Es war seltsam, mit größtenteils Fremden im Urlaub zu sein, vor allem, seit diese sich neuerdings vor ihr zurückzogen. Vielleicht, weil sie sich eben doch zu fremd waren, zu unterschiedlich veranlagt?

Die Tatsache, dass sie erneut Zeit mit Nick verbrachte, hatte ihre Gefühle regelrecht in Aufruhr versetzt – vor allem aufgrund des unfreiwillig belauschten Geständnisses, seiner plötzlichen Bereitschaft, ein Gespräch mit ihr zu führen und dem Schweigen, das seitdem zwischen ihnen herrschte. Die eisigen Temperaturen sorgten zwar für eine faszinierende Landschaft, engten Katja aber auch ein – zumal sie kein Auto zur Verfügung hatte. Und nun steckten auch noch ihre neugewonnenen Freunde in beträchtlichen Schwierigkeiten, nein, sie schwebten sogar in Gefahr ... „Weihnachten hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt.“

Katja erschrak, als sie eine Antwort erhielt. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie den Gedanken laut ausgesprochen hatte.

„Das erste Weihnachtsfest hatte auch nichts Verklärtes, Romantisches an sich – vermutlich nicht einmal etwas Befreiendes“, sagte Chiara. „Maria sah sich gezwungen, sich hochschwanger auf den Weg nach Bethlehem zu machen. Sie musste weg von ihren Nachbarinnen, die ihr bei der Geburt hätten beistehen können. Sie war ausgelaugt und müde und bekam als Schlafplatz eine Grotte zugewiesen, in der sonst das Vieh stand. Dort die Nacht zu verbringen war sicher sehr ungemütlich. Und damals konnte niemand im Internet nachlesen, wie eine Geburt vonstattengeht.“

Von Jeffrey, der noch immer damit beschäftigt war, seine Finger warm zu reiben, kam ein zweifelndes Grunzen.

„Schon kurz nach der Geburt war klar, dass man nach Marias Kind suchte, weil es getötet werden sollte. Also musste die kleine Familie fliehen ...“ Chiara deutete zuerst auf Katja, dann auf das flackernde Feuer im Kamin. „Ich dagegen habe eine Freundin bei mir, liege warm und weich und –“ Die nächste Wehe setzte ein und brachte Chiara zum Schweigen.

Katja streichelte ihr wieder den Rücken und schaute dabei gedankenverloren zum Fenster hinaus. Vor etwas mehr als 2000 Jahren war ein hilfloses, unmündiges Kind unter widrigsten Umständen auf die Welt gekommen. Der Sohn Gottes hatte am eigenen Leib erfahren, was die Menschen auf dieser Erde erdulden mussten. Auch er war ausgelacht und geschlagen, gefoltert und schließlich sogar getötet worden. Das war es, woran Katja sich über all die Jahre hinweg geklammert hatte. Und das tat sie auch heute noch. Immer dann, wenn sie sich wieder einmal klein und unbedeutend, ja, gar wertlos fühlte. Dann hielt sie sich an dem Wissen fest, dass Gott sie kannte, sie wahrnahm, sie liebte und sie für so wertvoll erachtete, dass er dem Kind in der Krippe, und später dem Mann am Kreuz all das aufgebürdet hatte. Für sie.

Warum sollten sie also irgendwelche Miturlauber verletzen können, die sie ohnehin nur oberflächlich kannte und die sie später sicher nie mehr wiedersehen würde? Sie würde auch ein weiteres Mal über Nick hinwegkommen – diesmal vielleicht sogar endgültig. Weil sie sich nie wieder die Frage würde stellen müssen, ob es für sie nicht doch eine Chance gegeben hätte. Und Chiara hatte recht: Maria hatte ihr erstes Kind unter weitaus schlechteren Bedingungen zur Welt gebracht – und viele Frauen mussten das auch heute noch. Warum also sollte es ihnen hier nicht auch gelingen?

Die Wehe ebbte ab, wie eine Welle, die sich flüsternd und nahezu heimlich zurückzog, nachdem sie zuvor brodelnd und donnernd auf den Strand geschlagen war.

„Also gut“, Jeffrey erhob sich, prüfte noch einmal die fast wieder vollständig erlangte Beweglichkeit seiner Finger und wandte sich dann an Nick, der gerade Holz nachlegte.

„Du sorgst dafür, dass Chiara es warm hat und dass sie gleichzeitig ausreichend frische Luft bekommt. Sie darf Wasser trinken, allerdings nur schluckweise. Essen darf sie nichts, soweit ich weiß, doch vermutlich will sie das ohnehin nicht. Höchstens mal was kleines Zuckerhaltiges für den Kreislauf. Und dreh auch die Heizung im Bad an, vielleicht kann sie nachher ein schönes Bad vertragen. Dann besorge uns bitte noch eine saubere Schere. Die kannst du gern abkochen. Und etwas, womit wir die Nabelschnur abbinden können.“

„Aye, Sir.“ Nick salutierte und humpelte gehorsam davon.

„Katja?“

„Zu Ihren Diensten.“

Von Chiara kam ein Kichern. In Katjas Ohren klang es wie eine wunderschöne Melodie, so froh war sie darüber, dass die werdende Mutter gelassen blieb.

„Besorg Chiara bitte etwas Bequemes zum Anziehen. Das Hemd ist super, aber die Jeans muss nicht sein, auch wenn es eine Umstandshose ist. Und warme Socken wären nicht schlecht. Meine Schwester hatte Eiszapfen an den Füßen hängen. Für das Kind brauchen wir saubere, angewärmte Tücher … Handtücher vielleicht? Sobald es an die Geburt geht, kann Nick sie in den Trockner werfen und darin anwärmen. Und je nachdem, wie lange wir hier festsitzen, braucht der Fußballer auch Windeln. Aus Geschirrtüchern oder etwas ähnlichem.

„Wir haben eine komplette Babyerstausstattung im Kofferraum“, erklärte Chiara. „Ich bin zwar freiwillig unfreiwillig hier, aber nicht unvorbereitet.“

„Gut, Nick kann die Sachen reinholen, sobald sich sein Bein etwas erholt hat. Das eilt ja nicht.“

Katja umgriff das geschwungene Geländer der Wendeltreppe, drehte sich jedoch noch einmal zu Jeffrey um: „Du machst das super. Und ich bin sehr froh, dass du hier bist.“

„Ja, herumkommandieren kann er wirklich prima!“, erklang eine tiefe Stimme aus dem Küchenbereich.

„Danke, Kerstin“, sagte Jeffrey.

Katja wandte sich lachend an die werdende Mutter: „Lass nur nicht den Geburtshelfer den Namen deines Kindes aussuchen, sonst heißt es alle paar Stunden anders.“

„Ach wo, er bekommt einfach eine vierseitige Liste mit Vornamen, dann passt das schon.“ Jeffrey grinste sie breit an, während Thor auf seinem schwarzen Shirt mit einer sehr ähnlichen Frisur, wie Jeffrey sie trug, kämpferisch dreinschaute.

H

Forster kehrte mit der Nachricht zurück, dass er in der Ferienhaussiedlung keine Menschenseele angetroffen hatte. Zwar habe vor einem kleinen Holzhaus ein Auto gestanden, auf sein Klopfen hin habe ihm jedoch niemand geöffnet. Er und Katja halfen Chiara in die Badewanne, und als Katja dem Paar etwas Privatsphäre gönnen wollte und das Bad verließ, fiel ihr Blick auf Shakespeare. Wie ein Wächter saß er vor der Tür, um nicht den Kontakt zu denen zu verlieren, die es zu beschützen galt.

Katja kraulte dem Tier den Hals, und dieses schloss genüsslich die Augen. „Du bist ein toller Hund. Und du wirst sicher gut auf das Kind achtgeben, nicht?“

Shakespeare bellte einmal kurz, flitzte davon, rutschte am Ende des Flurs auf seinem Hinterteil um die Kurve, als hätte er das mehrfach geübt, und kam wenig später mit einem zerkauten Ball zurück, den er sabbernd in Katjas Hände schob. Katja lachte und warf den Ball den Flur entlang. „Okay, ich habe verstanden. Du wirst wohl eher mit dem Kind herumtollen und ihm eine Menge Blödsinn beibringen.“

„Von der Sorte Beschützer hat der Kleine dann gleich zwei“, sagte Chiara durch die geschlossene Tür, was wieder einmal die hellhörige Bauweise des Ferienhauses unter Beweis stellte. Noch mehr, als Nicks Stimme aus dem Wohnbereich in den Flur herüberdrang: „Drei.“ Sekunden später kam von Jeffrey: „Vier.“

„Tut mir leid, Chiara. Aber das mit der Privatlehrerin wird doch nichts werden. Ich lasse mich lieber zur Hundetrainerin ausbilden.“

„Das ist ein geniales Geschäftsmodell: Bringen Sie mir Ihren Hund – und Ihre Kinder und Ihren Ehemann gleich mit!“ Chiaras ansteckendes Lachen erfüllte das Haus und machte Katjas Herz ein wenig leichter. Jetzt war sie sich sicher: Sie würden das Kind schon schaukeln.

H

Forster und Jeffrey kümmerten sich um Chiara, Katja und Nick bereiteten unterdessen eine warme Mahlzeit zu. Als Nick allerdings zu einer Zwiebel griff, schüttelte Katja den Kopf. „Wir bewahren eine Portion für Chiara auf – und bei Zwiebeln in der Muttermilch wird der Nachwuchsautor protestieren.“

„… und später in einem seiner Bücher einen Nickolas eines grausamen Todes sterben lassen?“

„Gut möglich. Willst du das wirklich riskieren?“

Nick warf die Zwiebel zielsicher zurück in den Weidenkorb. „Es macht Spaß, mit dir zu kochen.“

„Weil ich dich nicht daran hindere, mit den Zutaten Basketball zu spielen?“

Nick grinste, doch Katja sah die Traurigkeit in seinen Augen. Alles, was mit dem Zusammenleben zweier oder mehrerer Personen zu tun hatte, schien ihm gelegentlich Schwierigkeiten zu bereiten. Waren es ungute Erinnerungen, die ihm zu schaffen machten? An seine Familie? Bei dem Gespräch, das sie vor einigen Tagen begonnen und nie zu Ende geführt hatten, hatte er vorgehabt, ihr von seinen Eltern zu erzählen. Tatsächlich konnte sich Katja überhaupt nicht an sie erinnern. Sie hatten nie eine schulische Veranstaltung ihres Sohnes besucht – ganz im Gegensatz zu ihrer eigenen Mutter, die grundsätzlich überall ihre Finger im Spiel gehabt hatte, jedoch hauptsächlich, um zu kontrollieren, ob Katja auch wirklich eine grandiose Leistung erbrachte und nicht etwa übervorteilt wurde. Und anschließend hatte sie immer gejammert, wie viel Stress es ihr doch bereite, sich neben der Arbeit auch noch darum kümmern zu müssen, dass ihre Töchter stets ihr Bestes gaben ...

Nick klopfte ihr sanft auf die Schulter und holte sie damit zurück in die Gegenwart. „Versuchst du, das Fleisch allein mit deiner Willenskraft zu schneiden? Testest du deine Superkräfte, um endlich auf einem von Jeffreys T-Shirts verewigt zu werden?“

„Ach, hat dir das noch niemand gesagt? Mit dem Antritt dieser Reise hast du automatisch deine Einwilligung gegeben, mein nächstes Versuchskaninchen zu werden.“

Nick zog den Messerblock aus ihrer Reichweite und schenkte ihr dieses breite Lächeln, mit dem er damals viele ihrer Mitschülerinnen verzaubert hatte, das Katja aber jedes Mal als Warnung verstanden hatte, dass er demnächst zum Angriff überzugehen gedachte.

„Hier ist es viel ruhiger und harmonischer als drüben, findest du nicht auch?“, merkte sie an, um schnellstmöglich das Thema zu wechseln, und widmete sich endlich dem Schneiden der Putenbrust. „Ich habe mich in unserem Ferienhaus immer etwas fremd und deshalb unwohl gefühlt. Irgendwie ein bisschen ... gehetzt.“ Sie warf ihm einen Seitenblick zu und stellte erleichtert fest, dass er ihr aufmerksam zuhörte. Durch den Themenwechsel hatte sie den Angriff entweder verhindert oder zumindest auf später verschoben.

„Du hast dich von Anfang an wie eine Außenseiterin gefühlt und bist deshalb nicht wirklich in der Truppe angekommen. Aber du warst ja früher schon eher zurückhaltend. Außer mir gegenüber natürlich.“ Jetzt lächelte er sie voller Zuneigung an, sodass sie sich zwingen musste, sich wieder auf ihre Finger und das Messer in ihrer Hand zu konzentrieren. „Und ich bin in den Köpfen der anderen nach wie vor ihr Vorgesetzter, und nicht ihr Urlaubs-WG-Mitbewohner. Das hat die Situation für mich auch nicht gerade angenehm gemacht.“

„Und Jeffrey?“

„Der hat sich gekonnt hinter seiner Arbeit verkrochen. Wobei Jeffrey ein Typ ist, der ziemlich unkompliziert Anschluss findet und sich leicht in eine Gruppe einfügen kann. Aber trotzdem scheint er sich hier ebenfalls deutlich wohler zu fühlen als drüben bei den anderen.“

„Aber nur, weil ich euch hier herumkommandieren kann!“, warf Jeffrey ein, der plötzlich auf der anderen Seite der Küchentheke stand.

„Und was willst du?“ Nick sah Katja an und schenkte ihr ein schiefes Lächeln. Offenbar war er über die Störung alles andere als erfreut.

„Wie lange braucht ihr noch mit dem Essen?“

„Wir werden dich schon nicht verhungern lassen, versprochen!“

„Ich bin schon verhungert. Aber egal. Seit Chiara in der Badewanne gewesen ist, geht es mit der Geburt gut voran. Wenn wir also vorher noch Essen wollen ...“

„Sind fünfzehn Minuten okay?“, erwiderte Katja und warf das Fleisch in die heiße Pfanne.

„Klingt gut. Und sieh zu, dass dein Küchenjunge die Finger aus den Töpfen lässt.“

„Ich bin extrem treffsicher.“ Katja hielt vielsagend den hölzernen Rührlöffel in die Luft, ehe sie damit die Zutaten in der Pfanne verrührte.

„Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann. Nachher brauche ich übrigens deine Unterstützung. Chiara ist es bestimmt lieber, wenn ihr eine Frau hilft.“

Katja nickte nur, ohne Jeffrey dabei anzuschauen. Nun lief ihr doch ein kalter Schauer der Furcht über den Rücken. Bald war es so weit. Chiara würde ihr Kind bekommen. Und sie sollte ihr dabei helfen? Sie wusste doch rein gar nichts darüber, wie eine Geburt ablief, wie man ein Neugeborenes versorgte und was man dabei tun oder lieber lassen sollte.

Plötzlich fühlte sie zwei starke Hände an ihrer Taille. Nick stand dicht hinter ihr und beugte sich zu ihrem Ohr vor. „Entspann dich wieder. Du bist intelligent, einfühlsam und handelst überlegt und ruhig. Du bist genau die richtige Frau, um Chiara dabei zu helfen, ihr Baby auf die Welt zu bringen.“

„Aber –“

Nick legte seine Wange an ihre, verstärkte den Griff um ihre Taille und sie spürte die von ihm ausgehende Wärme in ihrem Rücken. „Pst“, versuchte er sie zu beruhigen, und seltsamerweise entspannte sie sich tatsächlich. „Du kannst das, auch wenn du dich nicht stundenlang darauf vorbereitet hast. Ganz einfach, weil du du bist.“

Katja fühlte neue Zuversicht in sich aufkeimen. Warm und weich wie eine flauschige Decke, umschmeichelnd und wohltuend. Dass Nick ihr dies zutraute, bedeutete ihr unsagbar viel. Und dass er es ihr gegenüber aussprach, erfüllte ihr Herz mit Dankbarkeit – und auch mit ein wenig Stolz. Er traute ihr offenbar eine Menge zu und maß sie nicht nur an ihren Erfolgen und ihren Leistungen.

„Wo warst du damals, als ich ermutigende Worte wie diese gut hätte gebrauchen können?“, flüsterte sie und drehte den Kopf. Sein Gesicht war nahe an ihrem, sein Atem streichelte ihre Haut und die zimtfarbenen Sprenkel in seinen Augen schienen mehr geworden zu sein.

„Mit mir selbst beschäftigt. So wie auch heute noch.“

„Das sollten wir dringend ändern, Nick.“

„Das wäre schön, Scarlett.“

„Wann kümmern wir uns darum?“

„Sobald du das Fleisch vor dem Anbrennen gerettet hast und –“

Katja wand sich erschrocken aus seinen Händen und zog die Pfanne von der Herdplatte.

„Siehst du, ich habe schon immer alles anbrennen lassen!“ Er zwinkerte ihr zu, doch die Leichtigkeit in seinem Blick war augenblicklich verschwunden und hatte der Dunkelheit Platz gemacht, die ihn gelegentlich gefangen zu halten schien. War sie es auch, die ihn von ihr fernhielt?

Katja kümmerte sich wieder um die Zubereitung der Mahlzeit, während Nick den Tisch deckte. Sie aßen abwechselnd, weil immer jemand an Chiaras Seite blieb, die inzwischen verschwitzt und von Wehen überrollt, aber weiterhin tapfer lächelnd und manchmal sogar scherzend ihre Runden durch das untere Stockwerk des Ferienhauses drehte.

Gerade als der letzte Topf gespült war und die Spülmaschine leise zu brummen begann, jubelte Jeffrey, als hätte er soeben das Internet revolutioniert. „Fruchtblase geplatzt!“ Gleich darauf fügte er hinzu: „Hey Mädchen, mach langsam!“

„Hier ist nichts mit langsam“, keuchte Chiara. Ihre weiteren Worte gingen in ein Jammern über. Alarmiert verließ Katja die Küchenzeile und beobachtete, wie Forster und Jeffrey Chiara mehr in Richtung Couch trugen, als dass sie ging. Das Möbelstück hatten sie zuvor mit einer Mülltüte und einem Betttuch überzogen.

Katja atmete mehrmals tief durch. Sie rief sich in Erinnerung, dass die Verantwortung nicht allein bei ihr lag. Forster und Jeffrey waren ebenfalls da. Und Gott! Er wusste um dieses Kind, hatte es im Mutterleib geformt und liebte es jetzt schon. Sie rief sich einige Zeilen aus Psalm 139 in Erinnerung, die ihr immer wieder dabei halfen, sich selbst als kostbar zu erachten. Energisch vertrieb sie jeden aufkeimenden Zweifel, erinnerte sich an Nicks ermutigende Worte und drehte sich zu ihm um. Er hängte gerade das Geschirrtuch an den Haken.

„Nick, gehst du bitte eine Runde mit dem Hund spazieren?“

„Hm?“

„Da ist Blut auf dem Boden.“

„Bin schon weg!“

Katja sorgte dafür, dass Nick den Hund nicht suchen musste und vergewisserte sich, ob der Mann auf der Flucht warm genug angezogen war. Schließlich stellte sie sich vor ihn und steckte ihm die losen Schalenden fest in den Jackenkragen.

„Ich bete für euch“, raunte er ihr zu und öffnete die Tür. Eine unbarmherzige Kälte schlug Katja entgegen. Vielleicht hätte sie Nick einfach nach oben schicken sollen. Allerdings musste Shakespeare wirklich dringend mal raus.

In der Tür drehte Nick sich noch einmal um. „Ich bleibe in Sichtweite des Hauses.“

„Das ist gut, danke.“ Sie war beruhigt, weil sie ihn würde sehen können, falls sein Bein Schwierigkeiten machte. Ohnehin sollte bei diesen Minusgraden niemand allein an einem einsamen Strand wie diesem unterwegs sein. Wie gut Nick sie doch verstand ...

„Nick?“

Er hob fragend die Augenbrauen, sie hingegen musste den Impuls unterdrücken, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, um ihrer eigenen Courage zu entkommen.

„Du weißt, dass diese Häuser extrem hellhörig sind?“

„Ja, und?“

„Ich habe an der Badezimmertür gelehnt, als du davor gestanden hast. Ich konnte hören, was du geflüstert hast.“

Shakespeare drückte sich ungeduldig an ihren Beinen vorbei ins Freie, doch Nick machte trotzdem einen Schritt auf Katja zu. Er wirkte plötzlich viel größer. Nicht auf bedrohliche oder einschüchternde Weise, sondern irgendwie ... vor lauter Selbstbewusstsein. Wie ein Mann mit einer Vision?

„Hebamme, wir brauchen dich hier!“ Jeffreys Stimme ließ Katja herumwirbeln.

H

Nick betrat die kleine Terrasse vor dem Wintergarten, in dem das Poolwasser in sanftem Aquamarinblau schimmerte. Vorsichtig stellte er sein schmerzendes Bein auf die unterste Verstrebung des wegen der Eisschichten futuristisch anmutenden Holzgeländers. Shakespeare schnüffelte neugierig an allem, was größer als fünf Zentimeter war, und schien noch immer voller Tatendrang zu sein, obwohl sie gut eine Stunde lang am Meer entlang spaziert waren. Nicks Blick schweifte über die erstaunlich ruhige Nordsee, und es war ihm unmöglich, nicht an Katja zu denken. Selten zuvor hatte die Farbe des Meeres ihrer Augenfarbe so sehr geglichen wie an diesem späten Nachmittag. Allerdings wollte er Katja gar nicht mehr aus seinen Gedanken vertreiben. Dass sie wusste, wie lange er sie bereits liebte, machte die Dinge einfacher – und zugleich auch komplizierter. Jedenfalls war er nun gezwungen, Entscheidungen zu treffen und seinem Leben dadurch womöglich eine vollkommen neue Richtung zu geben.

Nick rieb sich seine trotz der Handschuhe kalten Finger. All die Jahre, die seit jener Theateraufführung vergangen waren ... Wie sehr er doch bedauerte, dass er sie hatte verstreichen lassen! Diese großartige Frau hätte sein Leben schon viel früher bereichern, verschönern und erfüllen können. Wenn er nur mutiger wäre und daran glauben könnte, dass Gott Vergebung und Heilung schenkte, dass bei ihm Veränderung möglich war. Schließlich war Katja der lebende Beweis dafür.

Nun, da seine Gefühle für Katja endlich die Mauer des selbst auferlegten Widerstandes und der Vorsicht durchbrachen, geschah etwas Seltsames mit ihm. Er hatte immer befürchtet, dadurch angreifbar, verletzlich und schwach zu werden. Das Gegenteil war jedoch der Fall. Er fühlte neue Energie in sich, als würde sein Herz erst jetzt damit beginnen, seinen Dienst richtig zu versehen. Es kam ihm vor, als wären die eisigen Ketten aufgesprungen, die ihn jahrelang fest umschlungen gehalten hatten. Eine wohltuende Ruhe überkam ihn. Sein Eindruck, ein Getriebener zu sein, den er zuvor zwar gespürt, aber nicht hatte benennen können, versank im Meer seiner überschwappenden Emotionen.

Konnte er tatsächlich frei sein? Musste er seine Gefühle nicht länger hinter einer Maske verstecken, nicht mehr nur das Kind seiner getriebenen Eltern sein? Er war Nickolas. Und er war geliebt. Von Katja und – was ihm noch viel wichtiger erschien – von Gott, der ihn an die Hand nahm und auf neue Wege führen wollte. Wege, die nichts mit denen zu tun hatten, von denen er immer geglaubt hatte, dass sie ihm vorherbestimmt waren.

Am liebsten wollte Nick einmal tief durchatmen, doch das ließ er angesichts der eisigen Meeresluft lieber bleiben. Stattdessen schweifte sein Blick erneut über das ruhige Meer, das sich weit entfernt mit dem Horizont vereinte, während der Himmel allmählich seine lichte Farbe ablegte und sich in dunklere Blautöne kleidete. Die Zeit zwischen Tag und Nacht, eingetaucht in ein wunderbar sanftes Licht.

Nick hatte den Eindruck, dass ihn jemand auf behutsame Art dazu bewegen wollte, seine Entscheidungen endlich festzumachen. Er befand sich ebenfalls in einer Art „Zwischenzeit“ und musste sich nun entscheiden. Noch immer zögernd betrachtete er die schneebedeckten Hügel, die vereisten Steine und Muscheln und den Sand, der teils von Schneeverwehungen bedeckt und teils mit einer den Himmel widerspiegelnden Eisschicht überzogen war. Dies alles versank zunehmend im warmen Blau der Dämmerung. Ein einzelner Stern leuchtete am Himmel auf. Der Abendstern.

Stand er heute als Wegweiser für ihn am Firmament und wollte ihn dazu auffordern, das anzunehmen, was Gott längst für ihn vorbereitet und ihm geschenkt hatte? Und beinhaltete dieses Geschenk auch Katja?

Plötzlich war sie bei ihm, einem Wirbelwind gleich, und nur in Jeans und Pullover gekleidet, der an den Armen weit hochgekrempelt war. Dazu steckte sie in viel zu großen Gummistiefeln, die vermutlich Forster gehörten. Sie schlitterte über die eisigen Holzbretter auf ihn zu, sodass er schnell den Fuß herunternahm und sie auffing.

Mit funkelnden Augen und einem Strahlen auf ihrem Gesicht, das er so noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte, blickte Katja ihn an. Ihr ganzer Körper schien zu vibrieren. Sie strahlte Freude und Erleichterung aus und sprühte förmlich vor Überschwang.

„Von wegen Fußballer!“ Sie lachte glockenhell auf, schlang ausgelassen die Arme um seinen Nacken und drückte sich kurz an ihn, wich aber – soweit er das zuließ, und das war nicht wirklich viel – sofort wieder zurück.

„Sie haben ein wunderschönes, perfektes und sehr lautstarkes Mädchen bekommen!“

„Das ist ja –“

„Sie hat jede Menge schwarze Haare auf ihrem süßen Köpfchen.“

„Das ist –“

„Und sie hat mich schon angeschaut, obwohl ihr Gesicht noch ziemlich zerknautscht ist.“

„Das –“

„Und erst diese kleinen, perfekten Finger und ihre herrlich knubbeligen Zehen!“

„Da –“

„Ach, und ihr rosiger, kleiner Mund. So entzückend!“

Nick konnte nicht anders. Er drückte seine Lippen auf einen anderen rosigen Mund. Katja zuckte nicht zurück, stattdessen lehnte sie sich an ihn. Obwohl sie für die eisigen Temperaturen bei Weitem nicht warm genug gekleidet war, verströmte sie eine enorme Hitze.

„Chiara geht es richtig gut. Forster wirkt etwas ... verstört.“ Katja lachte und legte ihre Hände an Nicks Wangen. „Er bringt Chiara gerade zur Dusche. Und Jeffrey! Du solltest Jeffrey mit dem kleinen Mädchen im Arm sehen. Er ist ... glückselig. Ja, glückselig. Genau so muss man ihn beschreiben!“

Nick fragte sich, was Katja dann wohl war, beschloss aber, dem Gedanken nicht weiter nachzugehen. Auf jeden Fall war sie eine Frau, die unbedingt eigene Kinder brauchte! Ihre Nase war inzwischen ganz rot und ihr Körper reagierte auf die feindliche Umgebung, wie ihr Zittern verriet, was sie jedoch nicht zu bemerken schien.

„Ist das nicht einfach fantastisch?“, sprudelte es weiter aus ihr heraus.

Du bist fantastisch.“ Zumindest war er nun endlich mal zu Wort gekommen. Ob sie jetzt erst bemerkte, dass er sie im Arm hielt und dass sie ihre Handflächen liebkosend an seine Wangen gelegt hatte? Jedenfalls biss sie sich auf die Lippe und zog ihre Hände zurück, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen. Vielleicht hatte sie das tatsächlich, immerhin fühlte sich Nick, als würde er unter Strom stehen.

„Ich bringe dich gleich rein. In diesen Klamotten solltest du nicht länger zweistelligen Minusgraden trotzen. Aber zuerst muss ich noch etwas sehr Wichtiges erledigen.“

„Shakespeare ist schon drin und –“

Er brachte sie mit einem flüchtigen Kuss zum Schweigen.

„Das funktioniert prima. Ich werde mir das für die Zukunft merken müssen.“

„Für ...?“ Ihr Zittern verstärkte sich. Sie sah ihn erstaunt an, und er versank im Anblick des weiten Meeres, das sich in ihren Augen spiegelte. Nie zuvor hatte sich etwas so richtig angefühlt wie der nun folgende innige Kuss. Umgeben von atemberaubenden Eisformationen, einer stillen, nahezu grenzenlosen Landschaft, die in blaues Licht getaucht war, und unter dem sanft glühenden Abendstern.