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9. Kapitel

Debora blickte erst wieder auf, als sie vier Ketten fertiggestellt hatte und ihr Magen vernehmlich zu knurren begann. Patrick und Leo arbeiteten konzentriert, ihre Unterhaltung führten sie leise, fast geflüstert. Debora lehnte sich zurück und betrachtete Vater und Sohn. Sie sahen sich sehr ähnlich, wenngleich Leo die Haarfarbe seiner Mutter und auch ihre Augen geerbt hatte. Sogar die Körperhaltung und manche Bewegungsabläufe ähnelten sich, allerdings hatte Leo nicht ein einziges Mal aufgehört, mit den Beinen zu baumeln. Debora schmunzelte. Ob sie dem hochgewachsenen Patrick einen höheren Arbeitstisch und Stuhl hätte anbieten sollen, damit auch er mit den Beinen baumeln konnte?

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Geschehen auf dem Tisch und erschrak: Patrick musterte sie völlig ungeniert.

Schnell schenkte sie ihm ein eher verlegenes Lächeln und erhob sich. „Was haltet ihr von Spaghetti mit Tomatensoße?“

„Viel!“, seufzte Patrick.

„Lecker! Heute essen wir mal bei dir, ja?“, freute sich Leo und fügte hinzu: „Und bekomme ich ein Glas von deinem prima Apfel-Zimt-Punsch?“

„Gern.“ Debora hängte die Ketten an einen kleinen Holzständer im Eingangsbereich und öffnete die Glastür. „Kommt in einer halben Stunde einfach hoch.“

Sie sah, wie Patrick die Stirn runzelte, und huschte davon, ehe er seine Bedenken aussprechen konnte. Natürlich hatten er und Leo bereits den ganzen Vormittag bei ihr verbracht und würden nun auch noch bei ihr essen – aber wen sollte das stören, von der eingestaubten Seite von Patrick einmal abgesehen?

Sie kochte Nudeln und bereitete eine Soße und einen Feldsalat zu, deckte den Tisch in ihrem Esszimmer und machte sich dann daran, den Apfelsaft zu erhitzen. Polternde Schritte auf der Treppe ließen sie innehalten und die Augen schließen. So hörte es sich an, wenn eine Familie zur Mittagsmahlzeit nach Hause kam: Schwere Schritte, die die Stufen zum Knarren brachten, dazwischen leichte, fast tänzelnde Tapser. Eine tiefe Stimme, die dazu ermahnte, die Straßenschuhe auszuziehen. Das hohe, unbekümmerte Lachen eines Kindes, weil es sich die als Hausschuhe dienenden Socken mit dem Elchgeweih aussuchte, sodass für den Vater nur noch die Plüschvariante mit den Eselsohren übrig blieb.

Debora fühlte die Sehnsucht zurückkehren, gekoppelt an die Gewissheit, dass sie das alles niemals haben würde. Allerdings kam diese Gewissheit dieses Mal erstaunlich kränklich daher …

Die Wohnungstür sprang auf, und Debora zwang sich, ihre rechte Hand von ihrem linken Oberarm zu nehmen, dort, wo sie häufig lag, wenn sie an ihre unerfüllbaren Wünsche dachte.

„Ich bin in der Küche“, rief sie, wie wohl eine Mutter und Ehefrau das tun würde.

Leo erschien im Türrahmen, Patrick im Schlepptau. Sie wuschen sich am Waschbecken die Hände, und Debora deutete wortlos auf die beiden weißen Keramikschüsseln mit den dampfenden Nudeln und der Soße.

Patrick nahm die Soße, Leo die Nudeln, dann zeigte er seinem Vater den Weg ins Esszimmer. Debora folgte ihnen mit dem Salat und dem Krug Apfel-Zimt-Punsch. Dabei sah sie, wie Patrick sich neugierig umschaute und vor jeder offenen Zimmertür etwas langsamer wurde.

Schließlich drehte er sich zu Debora um. „Die Wohnung ist … genial? Wer hat sie renoviert?“

„Debora!“, rief Leo aus dem angrenzenden Raum. „Debora hat das alles gemacht. Cool, gell?!“

Patrick hob anerkennend die Augenbrauen. „Sie haben mit den freiliegenden Wand- und Deckenbalken den Charme des alten Gutshauses erhalten. Die Farbkombinationen von Boden und Wand und die Möbelwahl sind geradezu perfekt.“

„Vielen Dank“, erwiderte Debora und fügte hinzu: „Im Ostflügel war das nicht möglich. Der Wohntrakt hatte sehr gelitten, Teile des Dachs und einige Böden und Außenwände mussten ersetzt werden. Aber der modernere Stil kommt ja Ihrem aufgeräumten Geschmack sicher entgegen.“

Patrick, der gerade dabei gewesen war, sich abzuwenden, drehte sich wieder zu ihr um. Die Soße war noch immer so heiß, dass vor seinem Gesicht eine dünne Dampfwolke aufstieg.

„Deshalb kann ich dennoch praktische Funktionalität von gemütlicher Schönheit unterscheiden.“

Täuschte sie sich, oder schwang in seinen Worten eine tiefe Sehnsucht mit?

„Wenn Sie möchten, helfe ich Ihnen, Ihre Wohnung etwas wohnlicher zu gestalten. Zuerst könnte man einfach nur mit etwas Weihnachtsdekoration anfangen.“

Patrick runzelte die Stirn, dann grinste er sie an. „Sie wittern wohl bei mir ein gutes Geschäft?“

„Aber sicher!“, erwiderte sie und bedeutete ihm, mit ihr das Esszimmer zu betreten, das durch einen drei Meter breiten Bogen mit dem Wohnzimmer verbunden war. Patrick stellte die Schüssel auf den Eichentisch, auf dem ein halbes Dutzend Kerzen in verschieden großen, mit Bändern, Perlen und Tannenzweigen verzierten Einmachgläsern munter vor sich hin flackerten. Bevor er sich setzte, trat er noch in den Wohnbereich und ging vor dem gewaltigen, noch nie benutzten offenen Kamin in die Knie, um die Natursteine zu bewundern, mit denen Debora die Feuerstelle und einen Teil des Bodens ausgekleidet hatte.

„Sie sind eine Künstlerin!“

Debora wurde es warm ums Herz. Dieses Lob aus seinem Mund – endlich auch einmal ernst gemeint –, bedeutete ihr viel. Dennoch fiel ihre Antwort eher flapsig aus: „Na, das hoffe ich doch. Denn ich verdiene immerhin meinen Lebensunterhalt damit. Es wäre furchtbar, wenn meine Kunden nur aus Mitleid bei mir einkaufen würden.“

„Ich hab Hunger!“, meldete sich Leo. Er saß bereits am Tisch, erneut mit den Beinen baumelnd, und hielt sein Besteck in den Fäusten, wobei die Löffelspitze und die Gabelzinken zur Stuckdecke hinaufzeigten.

„Los geht es, Löwenfütterung!“ Debora zerzauste dem Jungen das Haar und setzte sich neben ihn auf die lehnenlose Bank. Somit blieb Patrick die Stirnseite mit Blick quer durch die beiden Räume.

Leo versuchte sich darin, wie ein Löwe zu brüllen, verstummte aber schnell, als Patrick den Zeigefinger an seine Lippen legte.

„Sprichst du das Tischgebet?“, fragte Debora und ignorierte den überraschten Seitenblick von Patrick. Leo nickte, sprach ein kurzes Gebet, und gleichzeitig mit dem Amen streckte er Debora seinen Teller hin.

Die Mahlzeit verlief fröhlich und in entspannter Atmosphäre. Debora genoss sie in vollen Zügen. Nicht nur, weil ihren Gästen das Essen schmeckte und sie immer wieder beobachten konnte, wie Patrick Details ihrer Einrichtung bewunderte, sondern weil er sich ebenfalls wohlzufühlen schien. Das bedeutete ihr unendlich viel.

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Patrick schlenderte in Richtung der Tür, hinter der er laut Leos Beschreibung das Bad vermutete. Dabei betrachtete er interessiert die hellgrau lasierten Holzbalken in der Diele. Eine gute Entscheidung für den lichtarmen lang gezogenen Flur, fand er und warf einen prüfenden Blick durch den Türspalt in den größten Raum im Haus, den er und Leo als Wohnzimmer nutzten. Abrupt blieb er stehen, wich sogar einen Schritt zurück und beugte sich vor, um besser zwischen Rahmen und Türblatt hindurchsehen zu können. Weiße Stoffbahnen hingen von der hohen Decke und bildeten eine Art Labyrinth. An ihnen waren mit Stecknadeln ungefähr 20 mal 30 Zentimeter große Fotografien befestigt.

Vollkommen fasziniert trat er ein, und sein erster Verdacht bestätigte sich schnell: Alle Fotos hatten in etwa denselben Blickwinkel. Sie zeigten den unterhalb des Gutshauses gelegenen See mit den sanften Hügeln dahinter, eingerahmt von den bewaldeten Höhenzügen des Schwarzwalds. Über der Szenerie, abwechselnd mittig, links oder rechts, thronte der Mond. Mal war er voll, mal halb, manchmal glich er nur einem schiefen Lächeln. Auf den Bildern wechselten die Jahreszeiten vom Winter zum Frühling, dann zum Sommer und schließlich zum Herbst. Die letzten Aufnahmen waren wieder im Winter entstanden.

Patrick schritt die unzählig vielen Fotografien ab, die durchgehend mit einem Datum versehen waren. Dazwischen gab es gelegentliche Sprünge; vielleicht, weil der Mond nicht über dem See gestanden hatte, die Fotografin nicht vor Ort oder das Wetter zu schlecht gewesen war.

Ein Bild vom vergangenen August zeigte einen quer verlaufenden grellen Blitz oberhalb der schwarzen Höhenzüge, der im See widergespiegelt wurde. Bei einem anderen prangte ein riesiger orangefarbener Vollmond am Himmel und warf eine goldene Bahn über das schwarze Wasser, bei einem weiteren wurde die gesamte Bergwelt durch einen kalten, weißen Mond in ein blaues Licht getaucht, und der See war mit Abermillionen weißblauen Diamanten übersät.

Patrick drehte sich um und betrachtete die Aufnahmen hinter sich. Ein friedlich im Licht eines halben Mondes liegender Landstrich; graue Wolken, die einen Teil des Himmels verschluckt hatten; der See, trotz der Dunkelheit in geheimnisvollem Grün schimmernd; der Schattenriss eines Nachtvogels vor einem fast runden Mond …

Diese Bilder erzählten die Geschichte eines Jahres. Die des Mondes. Um Mitternacht. Da hatte Patrick keine Zweifel. Er schüttelte über sich selbst den Kopf. Was für wirre Ideen und Verdächtigungen hatte er sich ausgedacht, als ihm Deboras mitternächtliche Ausflüge aufgefallen waren. Warum hatte er sie nicht einfach gefragt, was sie jede Nacht um dieselbe Uhrzeit auf der Gartenmauer machte? Er hätte sich so viel Misstrauen ersparen können. Sich und ihr. Und damit auch Leo und sogar Waldemar. Er seufzte laut, spürte, wie sein Herz selbstauferlegte Fesseln von sich warf, sogleich befreiter schlug und sich dieser besonderen Frau zuwandte.

„Ich plane einen Kalender mit dem Titel Mitternachtsmond.“

Patrick fuhr herum. Debora lehnte an der Zimmerwand, nur wenige Schritte von ihm entfernt. Wie gelang es ihr nur immer, sich so unauffällig zu bewegen? Weshalb hatten die ständig knarrenden Bodendielen sie nicht verraten? Allerdings lag kein Vorwurf in ihrem Blick, weil er heimlich in ihr privates Refugium eingedrungen war. Und sie war so wunderschön, wie sie da an der Wand lehnte, mit dieser eigentümlichen Rastafrisur, dem ebenmäßigen Gesicht, der Bluse, die ihre Figur umschmeichelte, und der engen Jeans, die ihre langen Beine betonte und in rot-weißen Wollstrümpfen endete. Er schaute auf seine Füße hinab und wackelte mit ihnen, sodass die grauen Eselsohren vor und zurückwippten. Ja, er hatte sich tatsächlich benommen wie ein störrischer Esel.

„Ich frage mich nur, wie Sie aus den vielen hervorragenden Fotos nur zwölf für einen Kalender auswählen wollen?“

„Mit einem strengen Auswahlverfahren“, erwiderte sie nüchtern. „Sie dürfen mir dabei gern helfen. Mit Bildern kennen Sie sich besser aus als ich.“

„Ich bezweifle es!“, lachte er und deutete auf die Fotografie mit der blauen Nacht und den Diamanten auf dem See.

„Das ist eines meiner Favoriten.“

„Für das Deckblatt?“

Debora stieß sich von der Wand ab und gesellte sich neben ihn. Er war sich ihrer Nähe nur zu deutlich bewusst, als er die letzte Stoffbahn abging. Vor einer verwackelten und somit unbrauchbaren Aufnahme, die vier Tage alt war, blieb er stehen und warf ihr einen fragenden Blick zu. Sie ging an ihm vorbei und rückte das letzte Foto gerade, das eine tief verschneite Winterlandschaft im sanften Licht eines Mondes zeigte, der hinter dichten Wolken und heftigem Schneetreiben nur zu erahnen war. Das Foto war zu dunkel, fleckig und unruhig, um es zu verwenden, hatte aber dennoch seinen Reiz. Und es stammte von dieser Nacht.

„Was haben Sie damit vor?“, fragte er und deutete auf das verwackelte Foto.

Debora trat dicht neben ihn. Ihr Arm streifte seinen, und er musste all seine Beherrschung zusammennehmen, um nicht ihre Hand zu ergreifen. Wie gern hätte er wieder die Wärme ihrer Haut gefühlt, die Weichheit ihrer Finger, die sie sich trotz ihrer handwerklichen Arbeit irgendwie erhielt. Eilig schob er die Hände in die Hosentaschen und wackelte mit den Zehen. Die albernen Socken mit den Eselsohren halfen jedoch nicht viel, um ihn zur Vernunft zu ermahnen. Debora war einfach zu anziehend.

„Das Foto zeigt mir, dass in aller Schönheit auch immer eine Gefahr liegt, dass sie oberflächlich ist und …“ Sie brach ab. „Es war glatt auf der Mauer, ich wäre beinahe vornüber hinuntergefallen.“

Beim Gedanken an die Höhe der Mauer und des steilen Abhangs darunter zuckte Patrick zusammen. Reflexartig ergriff er ihren Ellenbogen, als müsse er sie jetzt noch festhalten und beschützen.

Erstaunt drehte sie sich zu ihm um. Die Stoffbahnen mit den Bildern umgaben sie wie ein Beduinenzelt. Eilig schob er die Hand zurück in die Hosentasche. Doch es war zu spät. Wie ferngesteuert beugte er sich bereits vor und berührte ihre Lippen mit seinen. Sie hielt still, nur einen Schritt von ihm entfernt, die Hände in ihren Gesäßtaschen. Sie wagten es beide nicht, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten. In Patrick drohte etwas zu explodieren, dennoch siegte die Vernunft. Ruckartig richtete er sich auf. Sie sah ihn mit einem Blick an, der merkwürdig verwaschen wirkte. Als kämpfe sie gegen Tränen an.

„Es … es tut mir leid“, stammelte er, völlig überfordert mit der Situation und den in seinem Inneren Fangen spielenden Gefühlen.

„Das muss es nicht“, gab sie leise zur Antwort. Noch immer sah sie ihn an. Direkt und fragend. Und irgendwie … verzweifelt?

„Ich gehe wohl besser.“

Sie nickte und wich einen Schritt zurück. Die Stoffbahn mit den Fotos geriet ins Schwingen und raschelte. Ihm wurde seltsam kalt, gleichzeitig regte sich in ihm eine schmerzliche Hilflosigkeit. Was sollte er jetzt nur tun?

„Danke für das Essen. Und für den Töpferunterricht. Sag mir einfach, was du für das Material bekommst.“

Sie trat einen weiteren Schritt zurück, die Hände jetzt in die Taille gestemmt, schwieg jedoch. Doch ihre ganze Haltung signalisierte nun Abwehr und Zorn.

„Die Schale benötigt zwei Wochen zum Trocknen, bevor ich sie zum Brennen fahren kann. Inzwischen kannst du dir überlegen, ob und wie du sie farblich gestalten willst.“ Sie marschierte im größtmöglichen Abstand an ihm vorbei. Die Stoffbahnen links und rechts bewegten sich erneut leise raschelnd, flüsterten ihm zu, dass er ein Idiot sei.

Sie ließ ihn allein in dem Raum mit den geschätzten 80 Mitternachtsmonden. Und mit seinem Unvermögen und einer tiefen Sehnsucht. Er musste über deutlich mehr nachdenken als nur über die Farbgestaltung einer Obstschale.

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Statt in sein Büro zu gehen schlug Patrick den Pfad in Richtung Stall ein. Dicke flauschige Flocken tanzten um ihn herum, hüllten ihn ein, sodass er kaum weiter als 20 Meter sehen konnte. Noch nie zuvor hatte er einen so andauernden und starken Schneefall erlebt. Laut den Radionachrichten vom frühen Morgen schneite es in ganz Deutschland, was überaus ungewöhnlich war. Selbst die Regionen, die selten einmal Schnee zu sehen bekamen, kämpften gegen die ungewohnten Massen an. Seine Schuhe versanken schon wieder im frischen Neuschnee und gaben dabei ein leises Knarren von sich, das sich mit dem Flüstern der Schneeflocken zu einer friedlichen Melodie vereinte.

In seinem Herzen ging es allerdings alles andere als friedlich zu, als er in Gedanken den heutigen Tag Revue passieren ließ. Deboras Worte über Perfektion und Schönheit, ihre Art, mit Leo umzugehen, zeugten von so viel Liebe, Verständnis und Lebensweisheit. Eigenschaften, die er ihr gar nicht zugetraut hätte. Immerhin war sie noch sehr jung. Zudem verband er mit Models wenig mehr als Glitzer, Glamour und das Streben nach Aufmerksamkeit und Ruhm – weil sie sich dadurch ihre Jobs sicherten.

Waldemar hatte einmal angedeutet, dass es mehrere Gründe gegeben habe, aus denen Debora ihre offenbar erfolgreiche Karriere abgebrochen hatte. Wie hatte sie es ausgedrückt? Ein von Gottes Händen wunderbar geformter, perfekter Mensch, dem das Leben so übel mitgespielt hatte, dass er nun Risse, Fehler und Makel aufwies … War es Debora so ergangen? Dennoch schien sie auch den nachfolgenden Schritt vollzogen zu haben, den sie in ihrem Gespräch angedeutet hatte: Sie wusste um ihre Verwundungen und hatte aus ihnen gelernt. Und das erstaunlich konsequent. Bewundernswert, resümierte Patrick. Und dieses Wort traf nicht nur auf ihr Äußeres zu, sondern auf sie als ganze Person.

Abrupt blieb er stehen.

Die Ponys hatten sich in den Schutz des Stalls zurückgezogen, vor ihm lag die hügelige Koppel. Eine Welt aus reinem Weiß mit Fichten, die sich mit Hauben schmückten und von denen filigrane Kristalle zu Boden trudelten. Er schickte ein Stoßgebet um Weisheit zum Himmel, und dabei wanderten seine Gedanken zu Mia. Erstaunt und erleichtert zugleich stellte er fest, dass der grausame Schmerz, der ihn über Jahre zu zerreißen gedroht hatte, einer sanften Trauer und schönen Erinnerungen gewichen war. Mia würde immer ein wichtiger Teil seines Lebens bleiben, doch inmitten der schlafenden, frostigen Landschaft wurde ihm innerlich angenehm warm. Weil er mit absoluter Sicherheit wusste, wie sehr Mia sich für ihn und Leo freuen würde, wenn sie endlich wieder einer Frau erlaubten, eine bedeutsame Rolle in ihrem Leben zu übernehmen. Es war richtig, sich nicht länger gegen seine Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte zu sperren. Auch er hatte im Laufe der Jahre Risse abbekommen, Teile seines Ichs waren abgeblättert, und nach Mias Tod wäre er beinahe zerbrochen. Aber jetzt hatte sich etwas verändert. Er war verändert. In seinem Inneren war eine Tür aufgegangen, die er nun bereit war zu durchschreiten.

„Okay, wunderschöne, flatterhafte Künstlerin. Mach dich darauf gefasst, dass der durchorganisierte Esel dich umwerben wird.“

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Patrick hob den Kopf und blickte zum Fenster seines Büros hinaus. Es schneite noch immer, wenngleich jetzt kleinere Flocken der Erde entgegentrudelten. Im Atelier gegenüber brannte Licht, deshalb stand er auf und trat ans Fenster. Er sah Leo mit Waldi spielen – oder ihn „trainieren“, wie er es nannte. Debora saß an einem Tisch vor ihren überfüllten Regalen, zu weit weg vom Fenster, als dass er mehr als ihren Umriss erahnen konnte. Er atmete tief durch, spürte dem warmen Gefühl in seinem Inneren nach, das sich in aufgeregte Vorfreude verwandelte, je länger seine Gedanken bei Debora verweilten.

Schließlich verließ er seinen Beobachtungsposten, fuhr seine Rechner herunter, obwohl er noch nicht mit der Arbeit fertig war, und schlüpfte in Schuhe und Jacke. Es war Zeit, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, zumal er Leo von drüben loseisen musste. Immerhin war es möglich, dass er am nächsten Tag wieder in die Schule gehen könnte.

Als Patrick die Eingangstür öffnete, bezweifelte er dies allerdings. Der Pfad, den sie freigeschaufelt hatten, war nur noch als leicht eingesunkene Mulde zu erkennen; seitdem waren nochmals gut 30 Zentimeter Neuschnee hinzugekommen.

Er ergriff die Schneeschaufel und bahnte sich einen Weg zu Debora. Vor ihrer Haustür zögerte er mit klopfendem Herzen. Er fühlte sich wie ein Pennäler, der sich zum ersten Mal mit seiner großen Flamme verabreden wollte. Also schaufelte er auch noch den Weg zu Waldemars Treppe frei, anschließend arbeitete er sich bis zum Stall vor. Der herbe Geruch nach Tieren, Heu und Stroh schlug ihm entgegen und wirkte seltsam beruhigend auf ihn. Er trat ein und wurde von einem freudigen Schnauben begrüßt. Alligator kam auf ihn zu, verlor jedoch schnell wieder das Interesse an ihm. Der kleine Paddy hingegen suchte mit dem Maul alle seine Taschen nach einer Leckerei ab, blieb aber selbst dann noch bei ihm stehen und ließ sich streicheln, als er erkannt hatte, dass es nichts gab. Patrick füllte die beiden Heuraufen auf und kontrollierte, ob genug Wasser vorhanden war, ehe er den Rückweg antrat.

Wieder hielt er vor der wuchtigen Eichentür zum Westflügel inne. Es half nichts – er musste jetzt reingehen. Und sei es nur wegen Leo. Obwohl, er könnte auch telefonisch …

Plötzlich ging die Tür auf, und Debora stand vor ihm. Vom Licht aus dem Foyer umstrahlt, kam sie ihm vor wie eine zarte, wunderschöne Elfe. Eine Elfe mit Dreadlocks, zerschlissener Jeans, Flanellhemd und derben Arbeitsschuhen. Warum war J.R.R. Tolkien nicht auf die Idee gekommen, seine Elben so zu beschreiben?

„Bist du hier festgefroren?“, fragte sie und neigte den Kopf zur Seite, als sei sie tatsächlich etwas besorgt.

„Ich möchte Leo abholen“, stammelte er. Meine Güte, jetzt raubte diese Frau ihm sogar die Fähigkeit zu sprechen.

„So, wie du ausschaust, musst du aber schon mindestens eine halbe Stunde hier stehen.“

„Ich habe Schnee geräumt“, erklärte er schnell.

Debora trat vor und warf einen prüfenden Blick nach links und rechts. „Das ist sehr nett, vielen Dank.“

„Die Ponys habe ich mit Heu versorgt, Wasser ist noch da. Allerdings weiß ich nicht, was die sonst so brauchen.“

„Noch mal: Danke.“

„Du könntest es mir verraten, dann gehe ich …“ Er deutete in Richtung Stall, um vor seiner eigenen Courage zu fliehen.

Debora schüttelte den Kopf und stemmte ein weiteres Mal die Hände in die schmale Taille. Dass sie ihn durchschaut hatte, verriet ihre Frage: „Hast du ein schlechtes Gewissen?“

Patrick runzelte die Stirn, ehe er sich aufrichtete und zur Vernunft rief. Zielstrebigkeit war etwas, das ihn eigentlich auszeichnete. „Nein. Und übrigens: Ich nehme die Entschuldigung von vorhin zurück. Es tut mir ganz und gar nicht leid!“ Mit diesen Worten drängte er sich an ihr vorbei, schritt durch das Foyer und öffnete die Glastür. Sie würde schon wissen, dass er von seinem Kuss sprach.

„Komm, Leo.“

„Och nö, ich will noch hierbleiben.“

„Was hältst du davon, wenn wir uns bei Debora für das Mittagessen revanchieren? Wir beide bereiten doch so hervorragende Sandwiches zu.“

Während Leo zögernd an seiner Unterlippe kaute, rannte der Welpe auf Patrick zu und sprang fiepend an seinen Beinen hoch. Zumindest Waldi liebte ihn bereits innig. Da würde es ihm doch wohl auch gelingen, Debora für sich zu gewinnen.

Er ging in die Knie und kraulte das kleine Fellknäuel durch, das sich hingebungsvoll wand und spielerisch nach seiner Hand schnappte.

„Bitte hör auf deinen Vater, Leo“, half ihm Debora und zwängte sich an ihm vorbei in ihre Werkstatt. „Du darfst gern morgen wiederkommen. Für heute ist es genug.“

„Aber du kommst zum Abendessen zu uns, ja?“ Leo rutschte vom Hocker herunter und ergriff Deboras Hand. Bittend schaute er an der groß gewachsenen Frau hoch. Patrick sog das Bild in sich auf. Leo liebte Debora und sie wohl auch seinen Sohn. Wenn aus ihm, Patrick, und ihr ein Paar werden dürfte, wäre das einfach … perfekt!

Debora sah den Jungen zweifelnd an, und Patrick ahnte, dass sie absagen wollte. Sein Kuss und seine Worte vorhin schienen sie nachhaltig verwirrt zu haben. Oder empfand sie nicht dasselbe wie er? War ihr seine Annäherung unangenehm gewesen? Entschlossen hob er Waldi hoch, drückte ihn an sich und sagte an Leo gewandt: „Na los, Kumpel. Waldi nehme ich schon mal mit. Bis gleich, Debora.“

Damit wandte er sich um und ging hinaus. Was diese Frau konnte, konnte er schon lange!

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Während Debora mechanisch ihren Arbeitsplatz aufräumte, schlugen ihre Gedanken wilde Kapriolen. Was war nur in den sonst so angestaubten Patrick gefahren? Erst küsste er sie unvermutet und entschuldige sich dann dafür, um einige Stunden später aufzutauchen, die Entschuldigung zurückzunehmen und einfach über ihren Abend zu verfügen? Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, wäre sie ja auf den Gedanken verfallen, dass er …

Nervös zerrte sie das Zopfgummi aus ihren Haaren und schüttelte die Rastas aus. Das war nicht möglich. Oder doch? Gut, sie wusste, dass ihr Äußeres auf Männer anziehend wirkte. Aber das war nicht genug. Bei Weitem nicht, zumal der Schein täuschte. Sie musste etwas dagegen unternehmen, dass Patrick Gefühle für sie entwickelte, und das, ohne ihre nachbarschaftliche Freundschaft zu gefährden. Alles in ihr sträubte sich dagegen, erneut ihr Herz zu verschenken, um es später wie zersplittertes Glas aufsammeln und kitten zu müssen. Die scharfkantigen Zacken hatten ihr zu viel Schmerz zugefügt.

Sie löschte das Licht, schlüpfte in Stiefel und Mantel und eilte auf dem schmalen Pfad an der Hauswand entlang zum Haupthaus. Sie fand Waldemar in seinem Salon vor, wo er in einer Zeitung blätterte. Er nahm die Brille ab, als er sie im Türrahmen zögernd stehen bleiben sah, und winkte sie herein, wobei er ihr mit dem Fuß den Schemel hinschob.

Seufzend ließ sich Debora darauf nieder.

„Hast du Kummer, meine Liebe?“, erkundigte er sich, knickte das raschelnde Tageblatt zusammen und legte es zu seiner Brille auf den krummbeinigen, mit Intarsien verzierten Beistelltisch.

„Ich verstehe diesen Patrick nicht.“

Waldemar hob lediglich die buschigen Augenbrauen und faltete die Hände über seinem flachen Bauch.

„Es ist nicht so, dass wir nicht miteinander auskommen, keine Angst“, beteuerte Debora schnell, wusste sie doch, wie wichtig ihrem Vermieter ein harmonisches Miteinander war.

„Meiner Erfahrung nach sind viele Menschen umgänglich, nett und normal … bis man sie näher kennenlernt.“ Sein Schmunzeln brachte sie zum Grinsen. Sie verstand es mittlerweile, seine manchmal etwas kryptischen Aussagen zu deuten. Er wollte ihr verdeutlichen, dass sie Fortschritte machten, weil sie allmählich auf die schwierigen Seiten aneinander stießen. Allerdings würde sie ihm nicht verraten, dass Patrick inzwischen womöglich mehr als nur eine Nachbarin in ihr sah. Und dass ihr das Angst machte. Von ihren eigenen verworrenen Gefühlen für Leos Vater einmal ganz abgesehen. Aber was wollte sie eigentlich hier?

„Er hat mich zum Abendessen eingeladen.“

„Das ist wirklich sonderbar! Sonst hast du dich ja immer selbst bei ihm eingeladen – wenngleich du die Mahlzeit mitgebracht hast.“ Wieder zeigte sich das Schmunzeln auf seinem Gesicht.

„Ich habe das für Leo gemacht. Und um deiner Bitte zu folgen, mich ein bisschen um die beiden zu kümmern.“

„Ja. Sicher.“

Er glaubte ihr nicht.

„Gut, auch für Patrick. Der Mann sollte ja nicht zusehen müssen, während ich seinen Sohn mit anständigen Mahlzeiten aufpäppele.“

„Wie nett von dir.“

Debora wusste, wann sie verloren hatte. Dennoch wagte sie einen weiteren Vorstoß: „Und dich habe ich dabei ja auch bekocht.“

„Wofür ich sehr dankbar bin. Und Patrick sicher auch. Aber denkst du tatsächlich, das würde spurlos an einem jungen Mann vorübergehen? Natürlich macht er sich Gedanken über deine Motive.“

Debora sprang auf und fuchtelte wild mit den Armen. „Es ging mir immer um die nachbarschaftlichen Beziehungen, die ja auch dir so wichtig sind.“

„Sicher sind sie das.“ Jetzt grinste Waldemar, und Debora verdrehte die Augen. Diese Unterhaltung lief in eine völlig falsche Richtung. Sie atmete tief durch und kam auf ihr eigentliches Anliegen zu sprechen: „Was hältst du von einem Abendessen bei Patrick und Leo?“

„Viel!“ Waldemar erhob sich ächzend und klopfte ihr im Vorbeigehen sanft auf den Oberarm. Ob er sie damit aufmuntern, trösten oder vielmehr auffordern wollte, sich nicht so verquer anzustellen, war für sie nicht zu ergründen. Sie vertrieb die Überlegungen und freute sich darüber, dass sie nicht allein bei Patrick auftauchen musste.

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Debora schob den letzten Bissen eines übervoll belegten, sehr leckeren Sandwiches in den Mund und versuchte zu übersehen, wie intensiv Patrick sie betrachtete. Den rebellischen Gedanken, zur Abschreckung einfach mit offenem Mund weiterzukauen und dabei zu schmatzen, verdrängte sie schnell. Leo saß mit an dem kleinen Küchentisch, und sie wollte ihm keine Steilvorlage für schlechtes Benehmen liefern.

„… und Debora hat gesagt, dass ich morgen mal ein Krippenschaf machen darf.“ Leo strahlte sie glücklich an. Ob er in seinem Überschwang verraten würde, dass er die Krippenfiguren für Patrick anfertigen wollte?

Doch der Junge hielt dicht. „Opa und Oma haben geschnitzte Krippenfiguren aus Holz. Ich habe noch nie welche aus Ton gesehen“, plapperte er weiter und schob mit dem Zeigefinger ein Tomatenstück auf dem Teller hin und her, auf das er offenbar keinen Appetit hatte. „Und Opa hat mir erzählt, dass Jesus Schreiner war. Er hat mit Holz gearbeitet. Opa sagte, dass er vielleicht die erste Krippe selbst geschnitzt hat.“

Debora schluckte und wollte etwas einwenden, allerdings kam ihr Patrick zuvor. „Ich habe dir schon mal erklärt, dass dein Opa gern Scherze macht. Das hat er nicht ernst gemeint.“

„Ich weiß.“ Leo seufzte abgrundtief, als fände er sowohl den Spaß seines Großvaters als auch die Erklärung seines Vaters völlig überflüssig.

Ihr war abwechselnd heiß und kalt. Ihr Puls raste. Sie sehnte sich mit erschreckender Intensität danach, dass er sie wieder umarmte. Und noch mal küsste. Allerdings würde sie das tunlichst verschweigen. Sie nickte und wich in den Flur zurück. Aus sicherer Entfernung sah sie zu, wie er die Scherben zusammenkehrte, in den Mülleimer beförderte und sorgfältig seine Schuhsohlen reinigte, damit er keine Scherben in der Wohnung verteilte. Dann ging er dazu über, die Küche aufzuräumen, und schien sie dabei völlig zu vergessen. Oder wollte er ihr etwas Freiraum schenken? Annäherung und Rückzug. Verwirrend. Oder war er einfach nur vorsichtig, weil er ihre Anspannung spürte und sie nicht überfordern wollte? Wie konnte sie nur verhindern, dass er sich in sie verliebte? Schließlich kannte er lediglich ihre schöne Seite. Ob er fähig war, über die hässliche hinwegzusehen, sich mit ihrem Makel zu arrangieren? Ausgerechnet ein Mann, dessen Beruf es war, in allem das Schönste und Beste hervorzuheben …

Debora wandte sich ab und schlich den Flur entlang. Als sie die Eingangstür aufzog, warf sie einen Blick zurück. Patrick stand an den Türrahmen der Küche gelehnt, hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah sie an. Und da wusste sie es: Es war zu spät.

Dieser feinfühlige Mann, der jahrelang um seine verstorbene Ehefrau getrauert hatte, dem das Wohlergehen seines Sohnes über alles ging und der bestimmt nicht leichtfertig sein Herz verschenkte, hatte sich verliebt. Und das ausgerechnet in sie.

Eilig huschte sie ins Treppenhaus und zog die Tür hinter sich zu. Was sollte sie jetzt nur tun?