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B. Wild, geboren 1955, lernte die englische Sprache und schloss mit dem Cambridge Certificate of Proficiency in English ab. Er absolvierte einige Kurse an der Open University (UK), welche ihn zum Schreiben führten. Er lebt in Zug. Seit 2017 arbeitet er als freier Autor. Sein Debut-Roman »Fateful Encounters« (in englischer Sprache) erschien in 2014.

Erlösung

Informationen über den Verlag und sein Programm unter:
www.buchmedia.de

Juni 2017
© 2017 Buch&media GmbH, München
Umschlaggestaltung: Birgitt Andermatt
Gesetzt in der Stempel Garmond in Schweizer Rechtschreibung
Printed in Germany
ISBN print 978-3-95780-086-2
ISBN ePub 978-3-95780-087-9
ISBN PDF 978-3-95780-088-6

Prolog

Die junge Frau auf den Knien gräbt mit der einen Hand eine Mulde in die frische, nasskalte Erde. Mit der anderen Hand legt sie einen Anhänger hinein. Sie dreht ihn um; so, dass der eingravierte Name nach oben zeigt. Dann deckt sie die Mulde mit beiden Händen wieder zu.

Die junge Frau richtet sich auf. Schaut auf die zwei schlichten Holzkreuze, das kleinere und das grössere; denkt an das Mädchen und dessen Vater. Dann sieht sie auf die Stelle, wo der Anhänger begraben liegt. Denkt an das dritte Kreuz, welches hierhergehört. Denkt: Und wenn ich sie mit eigenen Händen aus der harten sibirischen Erde befreien muss – mit der Entschlossenheit und dem Starrsinn, welche sie all die Jahre im Arbeitslager durchstehen liessen.

Die junge Frau sieht auf ihre schmutzigen, zerfurchten Hände.

Attaché Frei zieht ein Taschentuch aus seiner Manteltasche. Er reicht es ihr. So, wie er ihr vorhin den Anhänger gereicht hatte. Wortlos.

Er hatte die junge Frau vom Flughafen abgeholt, wo sie, von Russland her, angekommen war. Entlassen aus dem Arbeitslager, im Zuge einer Amnestie. Zusammen mit anderen ehemaligen Insassen von Gefangenenlagern, die meisten von ihnen politische. Aus humanitären Gründen, wie der Präsident betont hatte. Wegen der bevorstehenden Olympischen Spiele, des Prestiges des Präsidenten, wie westliche Medien berichtet hatten.

Attaché Frei betrachtet nachdenklich das Grab. Er hatte schon vor zwei Wochen jemanden von Russland kommend vom Flughafen abgeholt und den Todkranken ins Spital begleitet. Wo er, Tage später, an den Folgen seiner schweren Krankheit verstarb.

Attaché Frei fühlt ein Versagen. Gegenüber beiden, dem Verstorbenen wie auch der jungen Frau, die er hierher auf den Friedhof begleitet, bevor sie in der französischen Schweiz eine Ausbildung zur Krankenpflegerin beginnen wird. Beide waren seine Schützlinge gewesen, bis er aus Russland ausgewiesen wurde. Er war ausfallend geworden gegenüber seinen russischen Kollegen; nach jahrelangen vergeblichen Bemühungen, die beiden aus der russischen Gefangenschaft freizubekommen. Die junge Frau aus einem Arbeitslager in Sibirien. Den Mann aus der Gefängnisabteilung einer Universitätsklinik in Moskau.

Flucht

Er geht mit gesenktem Kopf an der Kante des Bahnsteiges entlang; seine Schritte sind schwer. Am Ende des Bahnsteiges bleibt er stehen. Er schaut entlang der Schienenstränge, ins Leere, wartet auf den Neunzehn-Uhr-zweiunddreißig-Interregio von Zürich – erwartet die schwere, wuchtige Lokomotive.

Das Licht einer Laterne beleuchtet schwach den Bahnsteig. Durch das verschmutzte Lampenglas einer zweiten Laterne versucht Licht zu dringen. Vergeblich. Regen sammelt sich am Rand der Lampe, tropft schwer auf die Glasscherben einer zerbrochenen Flasche. Ting, ting, ting. Einige der Glasscherben kleben noch an dem Flaschenetikett. »Smirnoff« ist darauf zu lesen.

Schienenstränge, ins Düster des verregneten Herbstabends getaucht, versuchen sich bemerkbar zu machen, den Weg zu weisen. Sie verlieren sich im Dunkel der Distanz. Auf dem Schotter, zwischen den Geleisen, liegt Abfall. Achtlos weggeworfen. Liegen gelassen. Auf einem der Geleise vor dem stillgelegten Güterbahnhof steht, einsam und verlassen, ein Güterwagen; wartet darauf, abgeholt zu werden.

Der Zug taucht auf, aus der Kurve. Er kommt unaufhaltsam, mächtig auf ihn zu.

Er schliesst die Augen, wankt.

»Es ist gefährlich, auf dieser Seite der Linie zu stehen«, sagt eine Kinderstimme aus dem Dunkel.

Er tritt zur Seite. Der Windstoss des einfahrenden Zuges streift sein Gesicht. Bahnhofsgeruch steigt in seine Nase. Er dreht sich um und geht zurück; seine Knie sind weich.

~

Es ist nicht viel los in dem kleinen Café in der oberen Etage des Bahnhofs an diesem verregneten Samstagabend. Einzig an einem der Bistrotische auf dem Bahnsteig sitzen zwei Jugendliche. Rauchend. Drinnen verrückt ein Angestellter in grüner Schürze, eine Meerjungfrau darauf, Stühle; er kehrt den Fussboden. Hinter der Theke ist eine junge Frau damit beschäftigt, metallene Krüge zu reinigen.

Mehr los ist im Lebensmittelgeschäft gegenüber. Kundschaft geht ein und aus. Die Leute decken sich mit Alkoholika und Esswaren für einen verregneten Fernsehabend ein.

Er bleibt im Durchgang zwischen den beiden Lokalen stehen, überlegt sich, ob er nicht besser nach Hause gehen soll. Die Schiebetüre des Cafés öffnet sich. Die junge Frau hinter der Theke dreht sich um, lächelt ihm zu. Er tritt ein. »Sie sehen blass aus heute«, sagt die junge Frau. »Eine heisse Schokolade statt eines Kaffees?«, fragt sie mit freundlicher, fürsorglicher Stimme.

Er antwortet mit einem verlegenen Lächeln.

»Ein Stück Rüeblicake dazu, wie üblich?«, fragt sie, als sie an die Kasse tritt.

Er nickt. Er klaubt mit unsicherer Hand die verlangten elf Franken und zehn aus seinem Portemonnaie.

»Setzen Sie sich ruhig schon hin«, sagt die junge Frau. »Ich bringe es Ihnen an den Tisch. Wir haben Zeit heute.«

Er zieht seine nasse Jacke aus und setzt sich an eines der runden Bistrotischchen, das mit Intarsien verziert ist.

»Unfreundliches Wetter heute«, sagt die junge Frau, als sie ihm die Bestellung bringt. »Wenn man nicht muss, geht man nicht raus. Schön, dass Sie trotzdem gekommen sind. Auf Sie ist Verlass.«

Er nippt vorsichtig an seiner heissen Schokolade. Nimmt die halbe Marzipanrübe vom Cake.

Der Angestellte schleppt mit einer Hand einen Eimer Wasser heran. In der anderen Hand hält er einen Mopp. Er schaut aus dem Café, sagt: »Hat wohl seine Eltern verloren. «

Vor der Glasfront des Cafés steht ein kleines Mädchen, dünn und zerbrechlich. Es schaut mit traurigen Augen durchs Fenster, als suche es jemanden.

Er ist gerade dabei, die halbe Marzipanrübe zum Mund zu führen, als die Schiebetüre aufgeht. Das Mädchen tritt ein und bleibt stehen, schaut in seine Richtung. Dann nähert es sich ihm. Zögerlich.

Er schaut auf. Denkt: Ihr dünnes Kleidchen passt nicht zu dieser Jahreszeit.

Das Mädchen tritt an sein Tischchen. »Kann ich auch so eine haben?«, fragt es mit zerbrechlicher Stimme und blickt auf seine heisse Schokolade.

Er erschrickt. Die Stimme des Mädchens kommt ihm bekannt vor. Er nickt gedankenverloren, steht auf. »Ein Gebäck dazu?«, fragt er auf dem Weg zur Theke.

Das Mädchen nickt. Es setzt sich auf den Hocker an seinem Tischchen. Legt die Hände in seinen Schoss.

Die Frau hinter der Theke erhitzt Milch, nimmt ein Biskuit aus der Vitrine, bereitet dann das Getränk zu. Sie schaut zu dem Mädchen hinüber, dann zu ihm; lächelt, wenn sie ihm die Bestellung reicht. Er stellt dem Mädchen das Getränk und das Gebäck hin und setzt sich dann schweigend auf den Stuhl ihr gegenüber, wartet. Hin und wieder hebt er seinen Kopf und wirft einen zaghaften Blick auf das Mädchen.

Es herrscht eine schier gespenstische Stille im Café. Abgesehen von der leisen Musik im Hintergrund ist einzig der Mopp des Angestellten zu hören.

»Bist du alleine?«, fragt das Mädchen mit dünner Stimme in die Stille, den Blick auf seinen Schoss gerichtet.

Er erschrickt. Weiss nichts zu sagen. Er spürt, dass er errötet.

»Bist du immer alleine gewesen?«, möchte es wissen.

Er senkt den Blick.

»Vermisst du jemanden?«, fährt das Mädchen fort.

Er schaut verlegen zur Theke hinüber.

Die junge Frau dahinter lächelt ihn an, Verwunderung im Gesicht.

»Suchst du jemanden?«, fragt das Mädchen. »Jemanden, der zu dir gehört?«

Er weiss nichts zu sagen. Beklommenheit überkommt ihn.

»Weisst du es nicht?«, fügt das Mädchen an, Flehen in seiner Stimme, in seinem Blick.

Er ist den Tränen nahe. Hat Schwierigkeiten, seine Emotionen zurückzuhalten.

Es herrscht betretenes Schweigen im Lokal. Der Angestellte scheint mitten in seiner Arbeit erstarrt zu sein. Die junge Frau hinter der Theke macht den Eindruck, als wolle sie jeden Moment eingreifen.

»Du brauchst nicht traurig zu sein«, sagt das Mädchen. »Du hast mich, du hast uns.« Es nimmt seine Hände aus dem Schoss, öffnet die eine, schaut auf einen Anhänger darin. Sie wischt ihn ab, reibt daran. Dann legt es den Anhänger auf das Bistrotischen und schiebt ihn in seine Richtung. Es steht auf und schickt sich an, das Lokal zu verlassen. Ohne die heisse Schokolade und das Gebäck angerührt zu haben. Bei der Türe bleibt es stehen. Es dreht sich um. »Martin?«, sagt es, fragend, bevor es geht.

Er nimmt die Tasse auf. Seine Hände zittern. Schokolade schwappt über. Er setzt die Tasse wieder ab. Schämt sich für sein Missgeschick.

Die junge Frau kommt mit einem Abwischlappen. Sie reinigt das Tischchen, sagt »Nicht schlimm«, schenkt ihm ein Lächeln.

Er nimmt sein Taschentuch hervor. Tut, als müsse er sich die Nase putzen. Wischt sich stattdessen die Tränen ab. Er nimmt das Taschentuch vom Gesicht. Versorgt es in seiner Hosentasche. Schaut, mit verweinten Augen, den Anhänger an; versucht, seinen Atem zu kontrollieren; ist bemüht, seine Fassung wiederzuerlangen.

»Ist halt ein Kind«, sagt die junge Frau.

~

Auf dem Bahnsteig vor dem kleinen Café ist reger Betrieb. Die S2 ist eingefahren. Leute steigen aus und ein, durcheinander; versuchen gleichzeitig, Körperkontakt zu vermeiden. Der Angestellte mit der grünen Schürze stellt Stühle an ihren Platz zurück. Eine Schar junger Leute betritt das Lokal. Fröhlich, aufgekratzt. Sie starren auf die Anzeigetafeln über ihren Köpfen, mit den Getränken darauf, können sich schwer entscheiden. Die junge Frau hinter der Theke beantwortet geduldig Fragen, nimmt Bestellungen entgegen.

Er schaut den Albernheiten der jungen Leute zu, ist froh um die Ablenkung.

Eines der Mädchen aus der Gruppe setzt sich an das Tischchen neben seinem. Sie stellt ihre Tasche auf den Hocker, wo eben noch das kleine Mädchen gesessen hat. Das Mädchen schaut zu ihm herüber; schaut auf das Tischchen. »Da hat jemand einen Anhänger vergessen«, sagt es laut.

Die junge Frau hinter der Theke schaut zu ihm herüber. Sie sieht ihn an, lächelt und nickt.

Er nimmt zögerlich den Anhänger vom Tischchen und versorgt ihn in seiner Jackentasche.

»Es ist seiner«, entgegnet die junge Frau hinter der Theke dem verwunderten Blick des Mädchens.

Es ist wieder Ruhe eingekehrt im Café. Die jungen Leute haben sich an die Tische draussen auf dem Bahnsteig gesetzt, wo das Rauchen noch erlaubt ist. Der Angestellte belädt einen kleinen Wagen mit Abfallsäcken, um sie zu entsorgen. Die junge Frau hinter der Theke trocknet Besteck ab. Aus den Lautsprechern dringt leise Musik. Leonard Cohen singt »Suzanne«.

Er greift in seine Jackentasche, fühlt den Anhänger darin. Er fragt sich, wie das kleine Mädchen wohl heissen mag.

Ein Schrei dringt ins Café. Die jungen Leute draussen stehen auf und laufen los, um nachzusehen, was geschehen ist. Ein Mann stürzt ins Café. »Schnell, einen Krankenwagen, die Polizei«, ruft er, »jemand hat sich vor den Zug geworfen!« Dann rennt er wieder raus. Der Angestellte lässt den Wagen mit den Abfallsäcken stehen, läuft hinterher. Die junge Frau hinter der Theke greift zum Telefon. Sie hängt gleich wieder auf. »Die wissen schon«, sagt sie. »Sind schon auf dem Weg. Da haben wohl etliche nach ihren Mobiltelefonen gegriffen und angerufen.«

Er bleibt sitzen, starrt ins Leere. Sein Brustkorb hebt und senkt sich, in schneller Folge. Nach einiger Zeit steht er auf und macht sich daran, das Lokal zu verlassen. Seine Beine sind zittrig.

»Auf Wiedersehen«, sagt die junge Frau hinter der Theke. »Machen Sie sich nicht zu viele Gedanken«, meint sie. »Sie dürfen ruhig eines der Magazine dort von der Ablage mit nach Hause nehmen. Es wird Sie ablenken.«

»Danke«, sagt er. »Danke«, in Gedanken woanders. »Ich habe etwas zu lesen zu Hause.«

Er verlässt das Lokal und geht in Richtung der grossen Treppe, welche zur Bahnhofshalle führt. Dabei bekommt er die Aufregung auf dem Bahnsteig der gegenüberliegenden Seite mit, sieht, wie Leute entsetzt in Richtung des Bahnsteigendes schauen. Sieht Leute auf der Passerelle stehen, Betroffenheit in ihren Gesichtern. Er kehrt um und verlässt das Bahnhofsgebäude durch den Seitenausgang, in die andere Richtung.

Er geht die grosse Betontreppe hinunter und überquert den Bahnhofsplatz. Auf dem nassen Asphalt spiegelt sich das Licht der Bahnhofsbeleuchtung wider. Es taucht den Platz in ein fröhlich-buntes Farbenmeer. Es will nicht zu seiner Stimmung passen.

Er hört die Sirenen von den Polizeifahrzeugen und der Ambulanz, beschleunigt seinen Schritt. In einem Durchgang zwischen zwei Geschäften bleibt er keuchend stehen. Er verspürt Beklemmung. Seit geraumer Zeit schon machen ihm Erschöpfungszustände zu schaffen. Er greift in seine Jackentasche und holt die Dose mit den Bronchialpastillen heraus, welche er in solchen Fällen immer nimmt. Als er die Dose wieder in seiner Jackentasche versorgt, fühlt er den Anhänger. Er nimmt ihn heraus, schaut ihn näher an. Dabei überkommt ihn ein Déjà-vu-Erlebnis. Er dreht den Anhänger um. Auf der Rückseite ist der Name »Jelena« eingraviert. Der Name sagt ihm nichts. Er betrachtet den Anhänger erneut, liest wiederholt den Namen. Erinnerungen suchen ihren Weg in seine Gedanken; er verdrängt sie gleich wieder. Er sieht in den Schaukasten an der gegenüberliegenden Wand; liest Veranstaltungshinweise, um sich abzulenken. Gedanken an Vergangenes bedeuten ihm Qual. Sie führen ihm nur sein Unvermögen vor Augen. Er steckt den Anhänger wieder ein und verlässt die Passage.

Er überquert den Fussgängerstreifen zur Bahnhofstrasse. Geht die Einkaufsstrasse entlang, hell erleuchtet von den Schaufenstern der zahlreichen Geschäfte. Erinnerungen drängen sich erneut auf, quälen ihn. Er betrachtet die Auslagen der Geschäfte, um sie zu vertreiben. Es will ihm nicht gelingen. Er kann dem Glanz und Glitter der angepriesenen Dinge nichts mehr abgewinnen, hat die Freude verloren, sich etwas zu kaufen. Mit der neuen Technik weiss er nichts anzufangen, hat keine Lust mehr, Neues zu lernen.

Er wendet sich von den Schaufenstern ab. Schaut stattdessen den meist jungen Leuten auf ihrem Weg in den Ausgang zu. Wie sie fröhlich sind, sich necken, keine Berührungsängste haben. Die Ungezwungenheit der jungen Leute schmerzt ihn. Er kann ihren Anblick nicht mehr ertragen und weicht in eine ruhigere Seitenstrasse aus. Er fühlt sich auch dort nicht wohl. Fühlt sich einsam, ausgeschlossen.

Er weiss, es liegt an ihm. Er hat den Kontakt zu seinen Mitmenschen nie gefunden. Hat all jene vergrault, die den Kontakt zu ihm gesucht haben. Dieselbe Einsamkeit überkommt ihn in der nur spärlich beleuchteten Seitenstrasse, wie sie ihn überkam, bevor er zum Bahnhof gegangen war, um ihr endgültig zu entkommen. Er verspürt das Verlangen, nach Hause zu gehen, sich hinzulegen, einfach einzuschlafen.

Er wehrt sich jedoch dagegen, ins Bett zu gehen und sich hinzulegen. Er weiss um den Umstand, mitten in der Nacht aufzuwachen und dann nicht wieder einschlafen zu können. Er weiss um die zermürbenden, ausweglosen Gedanken, welche ihn nicht ruhen lassen – die ihn begleiten werden, unaufhörlich, bis zum Morgengrauen und darüber hinaus.

Er zwingt sich, ein Buch in die Hand zu nehmen und darin zu lesen. Es hilft – hilft ihm, langsam die Gedanken an das Geschehene auszublenden; Gedanken an das Mädchen, den Anhänger, die Vorgänge auf dem Bahnhof. An sein Verlangen, sich aus dem Leben zu stehlen.

Die Erleichterung jedoch droht ihn zu verlassen, als er sich später zum Schlafen hinlegt, als er das Licht ausmacht. Anders als früher, wenn ihm das Lesen eine sichere Einschlafhilfe war. Das Gefühl der Einsamkeit, des Ausgeschlossenseins kehrt zurück. Es droht ihn zu erdrücken. Lebensangst bahnt sich ihren Weg zurück in sein Gemüt. Er wehrt sich dagegen. Er greift in die Schublade seines Nachttischchens und nimmt eine der farbigen Stimmungskarten, die mit den Sinnsprüchen darauf, heraus. Die grüne. Grün für Hoffnung. Sie sollen ihn daran erinnern, positiv zu denken. »Versuch es doch einfach einmal«, steht in glänzend weissen hervorstehenden Buchstaben geschrieben. Er liest den Spruch. Er sagt ihm nichts. Er ist zu müde, um darüber nachzudenken. Er schaut sich die lieblich grüne Landschaft an. Liest die Aufforderung, die Erinnerung an einen Moment wie jenen abgebildeten wachzurufen. Er versucht es, schliesst die Augen, lässt sich gehen – lässt es geschehen. Er denkt an das Museum mit den alten Holzhäusern in der Nähe der Ortschaft Listwjanka in Sibirien, denkt an den saftig grünen Abhang dort, mit Sicht auf den Baikalsee. Wie er sich damals hatte hinlegen wollen ins grüne Paradies, Wurzeln schlagen, eins werden mit der Natur, für immer bleiben. Er verweilt in der Erinnerung.

Er öffnet die Augen, sieht auf die Stimmungskarte, liest die angegebene Telefonnummer – die Aufforderung, nicht zu zögern anzurufen, falls es nicht gelingen sollte. Er legt die Karte zurück ins Nachttischchen, beschliesst, es ohne fremde Hilfe zu versuchen. Der Angst zu begegnen. Sich dem Leben zu stellen, der Vergangenheit.

Er löscht das Licht, schliesst die Augen wieder und versucht, weitere Erinnerungen wachzurufen, an Schönes, das er erlebt hatte; auf diese Weise Schlaf zu finden. Es will ihm nicht gelingen. Er steht auf und geht zur Garderobe, nimmt den Anhänger aus der Jackentasche und schaut ihn lange an. Er dreht ihn um, liest erneut den eingravierten Namen »Jelena«, liest ihn immer wieder. Dann geht er zurück ins Bett. Den Anhänger in seiner Hand, schläft er schliesslich ein.

~

Er fühlt sich ungewohnt gut, als er am nächsten Morgen aufsteht. Er hat bis in die Früh geschlafen und die Zeit bis zum Aufstehen mit positiven Gedanken verbracht. »An etwas Angenehmes denken. An einen schönen Ort. An einen lieben Menschen«, steht auf einer der Karten in seinem Nachttischchen. Er hat an die Frau hinter der Theke gedacht. An ihr freundliches Wesen. An ihre Aufmerksamkeit. Ihre Fürsorge und Anteilnahme.

Während er im grellen Licht des Badezimmers vor dem Spiegel steht und in das verhärmte Gesicht seines Gegenübers blickt, droht ihn das gute Gefühl wieder zu verlassen. Er beeilt sich mit der Morgentoilette. Zieht sich rasch an. Zwingt sich dazu, aus dem Haus zu gehen, um frisches Brot zu holen. Die frische Luft wird mir guttun, wird meine Lebensgeister wecken.

Der Vorfall am Bahnhof ist bereits Thema beim Bäcker, als er dort eintrifft. Eine Frau steht am Ladentisch und spricht aufgeregt zur Bäckereiangestellten. »Schrecklich«, sagt sie, »schrecklich! Ein Kind, in diesem Alter! Ein Mann ist involviert«, glaubt sie zu wissen. »Ich habe es von jemandem gehört, der jemanden kennt, der im Café im Bahnhof arbeitet, wo der Mann zusammen mit dem Kind gesehen worden ist, bevor es sich vor den Zug geworfen hat.«

»Was darf ich Ihnen geben?«, fragt ihn die Bäckereiangestellte über die Schulter der Kundin. Diese tritt zur Seite, mustert ihn argwöhnisch. »Darf es sonst noch etwas sein, vielleicht ein Kaffee?«, möchte die Bäckereiangestellte wissen, nachdem er ein Hörnchen und ein Brötchen gewählt hat.

»Danke, nein«, sagt er. Er wird seinen ersten Kaffee nicht wie üblich an der Stehbar der Bäckerei trinken. Er erträgt das Geschwätz nicht.

Er geht am Ufer des Sees der Altstadt entlang bis zum kleinen Badeplatz beim Theater, das Geschwätz noch immer im Ohr. Er setzt sich auf eine niedrige, feuchtkalte Mauer und isst sein Hörnchen. Ein kleiner frecher Vogel pickt ohne Scheu die Krümel auf, welche zu Boden fallen. Wellen schlagen ans Ufer. Er sieht aufs Wasser hinaus. Er mag die Weite des Sees, die ständige Bewegung. Er sieht sie als Gegensatz zur Enge der Kleinstadt, in der er lebt. Als Gegensatz zum Stillstand in seinem Leben. Der See zieht ihn an. Es ist der nahe See, der ihn seine Wohnung immer wieder verlassen lässt, ob er sich nun gut fühlt oder schlecht.

Er geht auf den Steg hinaus, schaut in die Tiefe des Wassers. Er fragt sich, wie es wohl wäre, ein Bewohner des Sees zu sein. Das Wasser – sein Lebensraum, sein Grab.

Er erschrickt. Ein Geräusch im Wasser reisst ihn aus seinen Gedanken. Ein alter, runzeliger Mann steigt aus dem See. Seine von Wind und Wetter gegerbte Haut hängt an ihm herab. Einer jener unerschrockenen Schwimmer, die sich weder vom Wetter noch von der Jahreszeit abhalten lassen, ihren frühmorgendlichen Sprung ins Wasser zu wagen. »Morgen«, sagt der Mann. »Auch auf dem Weg ins Wasser?« Er zieht ungeniert seine Badehose aus und stellt sich nackt unter die kalte Dusche.

»Guten Morgen«, sagt er. Schaut verlegen weg, wendet sich ab. Er verlässt den Badeplatz und geht durch die Altstadt nach Hause.

Er verlässt an diesem Tag die Wohnung nicht mehr, verzichtet auf seine üblichen sonntäglichen Spaziergänge. Besucht nicht, wie gewohnt, das Grab seiner Grossmutter in der Nachbarstadt. Zupft keine welken Blätter von Ranken, zündet das Windlicht nicht an. Kauft nicht auf dem Rückweg sein Abendbrot beim Bäcker im Bahnhof, spaziert danach nicht entlang des Sees nach Hause. Er hebt das Brötchen fürs Abendessen auf.

Er verbringt den Sonntag mit Lesen; liest zuerst die Sonntagszeitung, dann ein Buch. Es steht nichts in der Zeitung von dem Vorfall am Vorabend im Bahnhof. Auch in den Nachrichten, die er zwischendurch immer wieder im Radio hört, wird nicht darüber berichtet. Es ist ihm recht. Er sucht das Taschenbuch über die Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn hervor. Jenes, welches ihn vor Jahren so fasziniert hatte. Wenn er nicht liest, steht er am Fenster und sieht in die graue Herbstlandschaft hinaus, gibt sich der Melancholie hin – verliert sich in Erinnerungen an die grosse Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn, vor Jahren. Denkt an den Anhänger, an das Mädchen, an den

Vorfall im Bahnhof. Immer wieder nimmt er den Anhänger hervor, betrachtet ihn, dreht ihn um, liest den Namen, »Jelena«.

Er geht früh zu Bett, will zeitig aufstehen am Morgen.

~

Am nächsten Morgen, noch bevor er sich eine Tasse Tee zubereitet, geht er zum Briefkasten, um die Zeitung zu holen. Noch im Treppenhaus liest er die Schlagzeilen auf der Frontseite. »Vermeintlicher Sprung eines kleinen Mädchens vor den Zug«, lautet eine Überschrift in fetten Druckbuchstaben. Er vergisst den Tee, setzt sich und liest den Artikel.

Eine Frau, wird berichtet, die auf den Zwanzig-Uhr zwei von Zürich gewartet hat, glaubt gesehen zu haben, wie ein kleines Mädchen am Ende des Bahnsteiges vor den einfahrenden Zug gesprungen ist. Ihre Beobachtung wird von mehreren Zeugen bestätigt. Der Lokführer des betroffenen Zuges hat ausgesagt, zwar gesehen zu haben, wie jemand am Ende des Bahnsteiges gestanden hat; er hat jedoch keinen Aufprall wahrgenommen. Man würde das instinktiv wahrnehmen als Lokführer, so lange bei der Bahn, meinte er auf die Frage des Reporters, ob man das denn überhaupt spüren würde bei dem schweren Gewicht der Lok.

Der Angestellte eines Cafés im Bahnhof berichtet, das Mädchen kurz vor dem Vorfall gesehen zu haben. Zusammen mit einem Mann, in dem Lokal, in dem er arbeite. Seine Arbeitskollegin könne es bestätigen. Sie hätten sich beide merkwürdig verhalten, das Mädchen und der Mann.

Eine weitere Person, wird berichtet, glaubt gesehen zu haben, wie das Mädchen durch die Fensterfront verschiedener Geschäfte gespäht habe. Als halte es Ausschau nach jemandem.

Der Sprecher der Polizei sagt, dass nichts darauf hindeute, dass jemand von einem Zug erfasst worden wäre. Weder habe man Spuren von einem Aufprall an der Lokomotive festgestellt, noch sei ein Leichnam gefunden worden. Bis weit in die Nacht hinein habe man die Gegend abgesucht und die Suche bei Tagesanbruch fortgesetzt, unterstreicht er die Ernsthaftigkeit, mit welcher die Angelegenheit angegangen wird. Der Körper könne durch die Heftigkeit des Aufpralls weit weggeschleudert worden sein, meint er. Erst recht, wenn es sich wie behauptet um ein kleines Kind handeln würde.