Buchcover

Anny von Panhuys

Ich habe dich lieb, kleine Liane

Frauenroman

Saga

Erstes Kapitel

Frau Fernande Romstedt betrat das Speisezimmer, in dem alle Mahlzeiten eingenommen wurden, auch das Frühstück. Ihr Mann saß, die Zeitung vor sich, schon am Tisch, neben ihm Liane von Lehndorf, die verwaiste Tochter seiner Schwester, die seit zwei Jahren in seinem Hause lebte.

„Wo bleibst du denn so lange, Fernande?“ rief er seiner Frau entgegen, „ich verspüre schon tüchtigen Hunger.“

„Ich fand meine Brille nicht, und wenn ich die nicht habe, bin ich bei meiner Kurzsichtigkeit, um mich deutlich auszudrücken, aufgeschmissen“, erwiderte Frau Fernande in leicht gereiztem Ton. „Ich bat Liane, mir die Brille morgens immer an denselben Platz zu legen, falls ich sie einmal in Gedanken irgendwo unterbrächte, wo sie nicht hingehört, aber Liane hat nun einmal nicht so viel Aufmerksamkeit für mich übrig.“

Sie setzte sich umständlich und ihr weißgepudertes, um Augen und Mund von feinen Fältchen durchpflügtes Gesicht zeigte einen tiefbeleidigten Ausdruck.

Liane hob langsam die dunklen Wimpern, und ihr Blick begegnete ruhig dem Blick der matten Grauaugen der Älteren.

„Liebe Tante, ich legte die Brille auf deinen Toilettentisch, wie du es wünschtest, wahrscheinlich verlegtest du sie wieder —“

„Natürlich.“

Frau Fernande lachte scharf und ärgerlich auf, „natürlich, du bist wie stets ohne Fehl, und wenn etwas nicht klappt, bin ich immer schuld! Deine Verteidigungsreden fangen nachgerade an, meine Nerven zu reizen. Nicht das geringste darf ich mir erlauben zu sagen, ohne daß du mir widersprichst.“

Friedrich Romstedt mischte sich ein.

„Es ist ja gut, die Sache ist doch gar nicht so vieler Worte wert.“

Er wollte seine Frau endgültig ablenken.

„Denk‘ nur, Fernande, was ich eben hier im Blatte las, dem Ingenieur Heinz Rikow ist in Anbetracht seiner Verdienste, die er sich auf dem Gebiet der Verbesserung und Neukonstruktionen von landwirtschaftlichen Maschinen erworben, der Titel Dr. h. c. verliehen worden. Dergleichen mag auch nicht oft vorkommen.“

Fernande Romstedt ließ sich von Liane mit Kaffee und bestrichenen Brötchen bedienen. Langsam erwiderte sie:

„Über die Auszeichnung wird sich seine Mutter freuen und ein bißchen Freude tut ihr sicher gut, gerade jetzt, der Tod sitzt ja schon an ihrem Bette. Ich begreife nur nicht, daß sich von dem Sohne getrennt hat, daß sie zugab, er dürfte eine Stellung in Süddeutschland annehmen. Hier um Berlin herum gibt es doch schließlich auch Fabriken, die landwirtschaftliche Maschinen herstellen.“

Ihr Mann lächelte ein bißchen überlegen.

„Zwischen solchen Fabriken besteht aber ein gewaltiger Unterschied. Die süddeutsche Fabrik, in die Heinz Rikow als erster Ingenieur eintrat, ist ein Riesenbetrieb, der sich besonders mit der Herstellung von Motorpflügen und landwirtschaftlichen Zugmaschinen befaßt. Das ganze Unternehmen trägt großzügigen Charakter.“ —

Fernande Romstedt warf den Kopf etwas zurück.

„Ich verstehe überhaupt nicht, wie die gute Anna ihren Sohn so ’ne Art besseren Schlosser werden lassen konnte. Weshalb nicht Arzt, Jurist oder dergleichen?“

Liane sagte mit leicht bebender Stimme:

„Mein seliger Vater war auch Ingenieur, Tante Fernande, und ich weiß von ihm, daß, wenn einer als Ingenieur etwas leistet, vor allem ein gescheiter Kopf auf dem Halse so eines besseren Schlossers sitzen muß.“

Die Frau hob ihre Brille vor die Augen und musterte Liane, als habe sie das junge Mädchen noch niemals gesehen.

„Seit wann muß ich mir Zurechtweisungen von meiner Nichte gefallen lassen? Deine Eltern haben es scheinbar nicht verstanden, dir Respekt vor älteren Personen beizubringen.“

Friedrich Romstedt warf seiner Nichte einen beinahe bittenden Blick zu und, von dem Blick des geliebten, stets gütigen Onkels bezwungen, duckte sich ihr Stolz.

Ruhig, beinahe sanft, erwiderte sie:

„Es lag mir völlig fern, Tante Fernande, dich zu kränken, aber ich hatte schon das Gefühl, meinen seligen Vater verteidigen zu müssen. Er war doch Ingenieur mit Leib und Seele, dazu ein sehr kluger Mensch.“

Fernande Romstedts Groll pflegte meistens so rasch zu verschwinden wie er gekommen. Sie winkte gnädig mit der Hand, konnte es sich aber nicht versagen, noch einen Trumpf auszuspielen.

„Schade nur, daß dein Vater es mit seiner ganzen Klugheit nicht verstanden hat, für sein einziges Mädel ein bißchen Geld zusammenzubringen, nicht einmal die kleine Mitgift. Arme Mädels sind leider keine begehrte Ware auf dem Heiratsmarkt.“

„Das bewahrt mich wenigstens davor, das Opfer eines Mitgiftjägers zu werden!“ wollte Liane, aufs neue empört, erwidern, doch sie kam nicht dazu.

Das Mädchen trat ein und meldete überstürzt:

„Die Sabine von Frau Rikow war eben da, Frau Rikow ist vor einer halben Stunde gestorben.“

Frau Fernande Romstedt, entsetzt, sprang empor, mit weitaufgerissenen Augen starrte sie die Unglücksbotin an.

„Oh mein Himmel, wirklich? Ist es denn wahr?“ Schluchzen erstickte ihre Stimme.

Ihr Mann wollte ein paar tröstende Worte sagen, aber sie wies ihn fast schroff zurück.

„Meine beste Freundin, meine Jugendfreundin ist tot“, klagte sie, immer heftiger weinend. „Ich will zu ihr, es stand ihr ja hier in der großen Stadt niemand nahe außer mir. Liane, komm, hilf mir beim Umkleiden, und am besten ist’s, du begleitest mich rasch, rasch, essen kannst du später.“

Schon bei den letzten Worten war sie aus dem Zimmer gestürzt.

Friedrich Romstedt sah ihr nach, dann reichte er Liane herzlich die Hand.

„Sie ist in allen Dingen gleich erregt, du hast es nicht leicht bei ihr, Kind, ich weiß. Wenn es einmal gar nicht mehr gehen will, komme zu mir, ich stehe auf deiner Seite, sei dessen versichert.“

Liane nickte, doch seufzte sie heimlich.

Sie dachte nicht daran, den Onkel mit ihren Sorgen zu behelligen, mit der nervösen, verwöhnten Frau mußte sie allein fertig werden, ein Schutzsuchen beim Onkel hieße Unfrieden zwischen ihm und seiner Frau stiften.

Das aber wollte sie um keinen Preis, dazu hatte sie den Onkel zu lieb.

Sie lächelte den alten Herrn an und folgte dann rasch der Erregten.

Frau Fernande stand in ihrem Schlafzimmer heftig schluchzend vor dem geöffneten Kleiderschrank, erregt darin herumsuchend.

„Wo hast du mein schwarzes Jackenkleid mit dem Kreppbesatz hingetan?“ rief sie der Eintretenden entgegen, „du hast auch gar keinen Ordnungssinn.“

Sie konnte ihr ewiges Nörgeln selbst in diesem Augenblick nicht lassen.

„Das Kleid hängte ich, weil du es doch nur gelegentlich trägst, in den großen Kleiderkasten nebenan, Tante Fernande“, erwiderte Liane so freundlich wie möglich. „Aber du willst es doch nicht etwa anziehen?“

Fernande Romstedt brachte trotz ihrer verweinten Lider einen anklagenden Augenaufschlag fertig.

„Selbstverständlich will ich es anziehen. Ich kann doch unmöglich in einem buntfarbenen Kleide zu meiner lieben toten Freundin gehen, ich weiß, was sich gehört.“

„Trauer trägt man doch eigentlich nur um Verwandte“, wagte Liane zu erwidern.

Fernande Romstedt richtete sich auf und salbungsvoll belehrte sie:

„Es gibt auch Verwandte des Herzens. Liebe Freunde stehen einem im Leben oft näher als leibliche Verwandte.“

Liane verstand die Anspielung und ging schweigend, das gewünschte Kleid zu holen.

Frau Fernande überzog inzwischen ihr vom Weinen etwas erregtes Gesicht mit einer frischen Puderschicht, fuhr mit der Bürste leicht über die tief eingebrannten Wellen ihrer rostrot gefärbten Haare und ließ sich dann von der inzwischen zurückgekehrten Liane in das düstere Trauergewand und den dazu passenden Hut helfen.

Nach vollendetem Werk drehte sie sich langsam vor dem Spiegel hin und her. Dabei heiterten sich ihre Mienen zusehends auf.

„Trauer steht mir vorzüglich, nicht wahr, Liane? Es macht mich jünger. Mein Haar hebt sich wie dunkles Gold aus dem schwarzen Schleier.“

Lianes Gefühl empörte sich, sie erwiderte hastig:

„Ja, ja, Tante.“

Und fragte gleich, ob sie sich nun ebenfalls zum Ausgehen zurechtmachen dürfe.

Frau Romstedt nickte gnädig, sie hatte noch genug mit ihrem Spiegelbild zu tun. Sie litt zuweilen an solchen Eitelkeitsanwandlungen, die ihre Umgebung heimlich belächelte.

Aber Liane stand heute nicht der Sinn danach, darüber zu lächeln, sie fühlte, wenn sie auch in keinen Tränenstrom ausbrach, ein tiefes Weh im Herzen ob der Todesnachricht. Die gute Frau Rikow war tot, die verehrte Dame, die stets freundlich und liebevoll zu ihr gewesen und sie oft getröstet, wenn sie es der Tante Fernande wieder einmal gar nicht recht machen konnte. Und wie oft gab es solche Tage in den zwei Jahren, seit sie im Romstedtschen Hause Aufnahme gefunden, ach, wie gar oft gab es solche Tage.

Gern und freudig war sie nach dem Tode der Eltern, die kurz nacheinander gestorben waren, mit der Tante gegangen, unzählige gute Vorsätze hatte sie in ihr neues Leben mitgenommen, und doch wurde sie allmählich immer zaghafter und unsicherer in allem, was sie tat. In manchen Augenblicken trat sogar die Versuchung an sie heran, sich bei fremden Menschen einen Wirkungskreis zu suchen, die kleinliche Quälerei der Tante verdarb ihr jede frohe Stunde.

Wenn Onkel Friedrich nicht gewesen wäre, hätte sie auch wahrscheinlich nicht standgehalten. Wenn er nicht gewesen wäre, er und die alles verstehende Frau Anna Rikow. Die Gütige, Mütterliche war nun aus der Welt gegangen, und niemals würde ihre weiche liebe Stimme zu ihr mehr sagen:

„Lassen Sie nur, Kindchen, und grollen Sie nicht, wenn Ihnen auch Unrecht geschieht. Das nimmt auch ein Ende, alles ändert sich einmal, und schließlich, die Fernande meint es nicht so böse. Es liegt so in ihr, Menschen zu piesacken, das tat sie zuweilen schon in ihren jüngsten Jahren gar zu gern. Im innersten Herzen ist sie nicht schlecht, glauben Sie es mir, ich kenne sie besser als sonst jemand.“

Die Erinnerung in Liane war so lebendig, daß sie fast die Stimme der nun Toten zu hören glaubte. Sie fuhr sich über die Augen, aus denen sich jetzt ein paar heiße Tränen drängen.

Nicht weinen, nicht weinen! dachte sie, für die arme Frau war der Tod ja als Erlöser gekommen, schon seit Jahren siechte sie an einem heimtückischen Herzleiden dahin.

„Bist du noch nicht bald fertig?“

Die scharfe Stimme der Tante scheuchte ihre Gedanken jählings in die Flucht.

„Jawohl, Tante, ich komme.“

Sie fuhr sich noch einmal schnell über die Augen und eilig, ohne einen einzigen Blick in den Spiegel zu werfen, zog Liane den einfachen grauen Herbstmantel an und setzte den gleichfarbenen Filzhut auf das dicke blonde Wellenhaar.

Schweigsam machten sich die beiden Damen auf den Weg.

Im schwarzen Schleier und stumpfen Krepp sah Frau Fernande aus wie eine tieftrauernde Witwe, während Liane neben ihr herschritt wie eine bescheidene Gesellschafterin.