Cover

title

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter:
www.buchmedia.de

Februar 2017
© 2017 Buch&media GmbH, München
Umschlaggestaltung: Johanna Conrad, Augsburg
Printed in Germany
ISBN 978-3-95780-075-6
ISBN ePub 978-3-95780-076-3
ISBN PDF 978-3-95780-077-0

Inhalt

Vorbemerkung

Wann immer ich das Thema »Taubblindheit« angesprochen habe, kam die überraschte Frage: »Gibt es das denn überhaupt noch, Menschen, die nicht hören und nicht sehen können? Wie ist das möglich, bei den Fortschritten in der Medizin?« Und gleich vermuteten die Gesprächspartner, wohl aus Unbehagen über diese beängstigende Vorstellung und zur eigenen Beruhigung: »Aber für diese Menschen ist in unserem Sozialstaat doch gesorgt. Bei uns fällt niemand durch das soziale Netz.«

Dem ist leider nicht so. Taubblind leben in Deutschland, das ist ein Leben am äußersten Rand der Gesellschaft, vielfach ein Leben in menschenunwürdigen Verhältnissen, eine Lebenswelt, die von der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wird.

In den vergangenen Jahren schlossen sich in ganz Deutschland aktive Taubblinde zusammen, kämpften für mehr Selbstbestimmung und Teilhabe und konnten ihre Lebensbedingungen verbessern. Die digitale Revolution veränderte auch die Lebenswelt taubblinder Menschen. Computer und Internet ermöglichen eine selbstbestimmte und von fremder Hilfe unabhängige Kommunikation und Information. Mithilfe der persönlichen Assistenz wurde ein weiterer Schritt auf dem mühsamen Weg zu Eigenständigkeit und Unabhängigkeit getan. Assistenz beseitigt Kommunikationsbarrieren und gleicht Einschränkungen in der Mobilität aus. Taubblindenassistenten ermöglichen ein Leben nach eigenen Wünschen und Vorstellungen. Inzwischen gibt es in fünf Bundesländern Zentren, in denen Taubblindenassistenten qualifiziert werden. Diese positive Entwicklung, an der ich Anteil hatte, versuche ich in diesem Buch aus meiner ganz persönlichen Sicht aufzuzeichnen.

Trotz aller Erfolge und positiven Entwicklungen: Es bleibt noch viel zu tun! Noch immer ist Taubblindheit nicht als eine eigenständige Behinderung mit besonderem Unterstützungsbedarf anerkannt und das Recht auf persönliche Assistenz ist in keinem Gesetz verankert. Immer noch ist die Teilhabe taubblinder Menschen abhängig von den Zufälligkeiten ehrenamtlichen Engagements, dem Goodwill der Behörden und zuständigen Sachbearbeiter. Verlässliche Strukturen gibt es nicht.

Dennoch, und das möchte ich in diesem Buch zeigen: Ein selbstbestimmtes Leben in Würde und Zufriedenheit kann gelingen, wenn Unterstützung durch Assistenz, Rehabilitation, Hilfsmittel und Beratung gewährt wird.

Ursula Benard
November 2016

1. Was wird nun werden?

Ein Dröhnen und Krachen ließ Anna aus ihrem Gespräch mit Sabine hochfahren. Sie wandte den Kopf zu dem Treppenaufgang an der Längswand des Foyers, an der die drei übereinanderliegenden Galerien aus hellem Buchenholz mit den dunklen Natursteinen der Wand kontrastierten, den Raum belebten und ihm trotz seiner hohen bahnhofsartigen Ausmaße eine wohnliche Atmosphäre verliehen. »Verdammt!«, dachte sie, »Was um Gottes Willen ist dort los? Bisher ist alles so gut gelaufen. Das ist unser letzter Abend, morgen reisen wir ab.« Sie sah einen großen, länglich geformten Schemen von der Höhe der obersten Galerie ins Foyer herabstürzen, dabei die Geländer der beiden unteren Galerien berührend. Das Dröhnen und Krachen war unerträglich laut. Dann war es still.

Es war alles sehr schnell gegangen. Die Sanitäter hatten Otto und Manfred auf Tragbahren hinausgebracht. Das Heulen der Sirene schrillte noch in Annas Ohren, als der Krankentransporter sich längst entfernt hatte. Ingrid, die in Begleitung von Manfred, ihrem hörenden und sehenden Partner, zum ersten Mal an dem Seminar teilgenommen hatte und deren kräftiges Lachen von überall zu hören gewesen war, erzählte, wie sie an dem langen Tisch vor dem offenen Kamin gesessen hatte und mit Manfred und einer Flasche Wein ihre Silberhochzeit feiern wollte. Von seinem Platz aus hatte Manfred den Treppenaufgang im Blick und sah, wie Otto aus seinem Zimmer kam, den Flur der obersten Galerie entlang schlenkerte, zögernd stehenblieb und dann ein Bein über das Geländer schwang. Da war Manfred losgelaufen, zwei, drei lange Schritte. Gerade rechtzeitig war er da, fing ihn auf. Beide stürzten mit großer Wucht zu Boden. »Manfred ist vor drei Wochen am Knie operiert worden. Ich gehe jetzt auf unser Zimmer. Gebt mir Bescheid, wenn es etwas Neues gibt.« Ingrid ließ die noch ungeöffnete Flasche und die beiden Gläser auf dem Tisch zurück.

Sabine sagte, sie wolle kurz hinausgehen und zu ihrem Gott beten. Anna schaute überrascht; sie hatte nicht gewusst, dass Sabine gläubig war. Sie beneidete Sabine ein wenig um den Halt, den sie in ihrem Glauben fand. Sie selbst glaubte nicht an eine Macht, die schützend ihre Hand über sie und die Menschheit hielt. Sie zog sich wieder an ihren Platz im Erker zurück, überließ sich ihren Gedanken und durchlebte noch einmal die Schrecknisse der letzten, langen Minuten. Das Geräusch des krachenden Holzes, das Entsetzen darüber, dass der Körper eines lebendigen Menschen und nicht irgendein Gegenstand gegen das Geländer geschleudert und ins Leere gestürzt war. Dieses Geräusch würde noch lange in ihr widerhallen, sie würde es nicht vergessen können.

Sie war so stolz gewesen, dass es ihr gelungen war, einen Schnupperkurs »Computer« einzurichten. Sie hatte alle skeptischen Kommentare überhört und es war ein großer Erfolg gewesen. Die Teilnehmer hatten eine nahezu uneingeschränkte Kommunikation in der virtuellen Welt erleben können, wo in der Realität sich Kommunikationsbarrieren auftun. Das war ein Anfang und sie war fest entschlossen, den Wunsch der Teilnehmer als ihren Auftrag anzunehmen und Computerkurse zu organisieren.

Sie war so stolz gewesen, Karen Finke vom Institut für Rehabilitation Sehgeschädigter in Hamburg für den Infoblock Mobilität zu gewinnen. Sie hatte bei den Mobilitätstrainern aus der Region nachgefragt und nur Absagen bekommen. Mobilitätstraining bei Taubblinden – das war nicht unumstritten, erschien einigen wenig sinnvoll, anderen sogar gefährlich. Sie hatte ihr eigenes Mobilitätstraining in Hamburg absolviert und Karen Finke danach gefragt. Es stellte sich heraus, dass Karen Finke mit dem Thema »Taubblindheit« vertraut war; sie hatte zwei Jahre im Deutschen Taubblindenwerk in Hannover gearbeitet. In der zurückliegenden Woche wurden durch einen Vortrag und viele Einzelberatungen Wege zu mehr Selbstständigkeit aufgezeigt und Hoffnung gemacht auf ein wenig mehr Eigenständigkeit und Sicherheit. Sieben gehörlose Teilnehmer würden in den nächsten Monaten ein von Gebärdensprachdolmetschern unterstütztes Mobilitätstraining bekommen.

Sie war so stolz gewesen, dass es ihr in dem ersten von ihr organisierten Seminar gelungen war, 14 taubblinde Teilnehmer zu gewinnen, gegenüber maximal sechs Taubblinden in den Vorjahren. Es hatte so etwas wie einen Generationswechsel gegeben: Menschen in der Lebensmitte, deren allmählicher Sehverlust zum Verlust des Berufs und des sozialen Umfeldes geführt hatte. Menschen, die ohne Beratung und Unterstützung zunehmend in Isolation geraten waren. Sie hatte diese neue Generation um die vierzig mit dem Computer-Workshop angelockt und sie hatten angebissen. Und sie würden weitermachen. Sie würden die Blindenschrift lernen, um mithilfe der Braillezeile den Computer zu bedienen. Sie würden ihr Leben ein wenig mehr in die eigene Hand nehmen können.

Und sie war so froh gewesen, Otto als Teilnehmer dabei zu haben. Otto, Mitte vierzig, mittelgroß, kräftig und breitschultrig, mit seinen klaren, regelmäßigen Gesichtszügen jünger aussehend, jungenhaft wirkend mit seinem schlenkernden, für Menschen mit Gleichgewichtsstörungen typischem Gang. Typisch für ihn auch die wegwerfende Handbewegung, mit der er sich von einem Gesprächspartner abwandte, wenn seine Gebärden nicht verstanden wurden – was allzu häufig vorkam.

Otto hatte sich nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes in einer Schreinerei immer mehr in sich selbst zurückgezogen und sein Elternhaus kaum noch verlassen, niedergedrückt von seiner ausweglosen Situation, verbittert und mit seinem Schicksal hadernd. Er hatte allen Mut verloren, sprach wiederholt davon, diesem Elend ein Ende machen zu wollen. Bisher hatte er sich konsequent geweigert, an der Seminarwoche teilzunehmen. Er wollte sich keinen weiteren Enttäuschungen und Frustrationen aussetzen. Dieses Mal hatte er sich überreden lassen und war mit seiner anfangs sehr besorgten Mutter gekommen.

Anna, die wie die Mutter im nachträglich errichteten Anbau mit den Einzelzimmern untergebracht war, hatte am vierten Seminartag zufällig Teile eines Gesprächs mitgehört, das diese wegen des besseren Empfangs im Hausflur mit ihrer Tochter führte. »Es geht viel besser, als ich dachte. Otto ist ganz entspannt. Er ist viel unterwegs mit Sabine. Scheint sich hier wohl zu fühlen. Ich bin sehr erleichtert.« Sabine hatte ihn in dieser Woche oft begleitet und die Mutter hatte zu Anna gesagt: »Sabine ist ein Geschenk des Himmels.« Anna konnte ihr da nur zustimmen. Sabine, Studentin der Sozialarbeit mit sehr guten Gebärdensprachkenntnissen, hatte am ersten Taubblindenstammtisch im September des vergangenen Jahres für die Gehörlosenfraktion gebärdet und die Handhabung der Wahlschablonen für blinde Menschen erklärt. Diese Schablonen ermöglichten zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik eine geheime Wahl auch für blinde Wähler, da mit dieser einfachen Pappschablone das Kreuz ohne fremde Hilfe an der gewünschten Stelle gemacht werden kann. Seitdem hatte Sabine bei den unterschiedlichsten Veranstaltungen assistiert und Anna konnte sich nicht vorstellen, wie sie ohne ihre Unterstützung auskommen sollte. Sabine war bei allen beliebt. Ihre heitere Gelassenheit, ihre Zuwendungsbereitschaft ohne jede Zudringlichkeit machten sie zu einer angenehmen Begleiterin. Alles, was sie tat, tat sie mit großer Selbstverständlichkeit. Unbefangen und unangestrengt. Ihre freundliche, unaufdringliche Zuwendung und ihr stets bereites Lachen schienen auch Otto gut zu tun. Er erzählte von sich selbst, von seinem Onkel und von dessen Wandergruppe, mit der er oft unterwegs war. »Wenn sich der Vater doch nur halb so sehr kümmern würde wie mein Bruder«, hatte die Mutter geseufzt.

Sabine war von draußen hereingekommen und hatte sich zu ihr gesetzt. »Du sitzt hier so allein …« Anna richtete sich auf, versuchte die durcheinander wirbelnden Bilder in ihrem Kopf zu ordnen. »Ich weiß nicht, was ich denken soll. Was haben wir falsch gemacht?« Sabine hatte den Tag über eine Veränderung in Ottos Verhalten bemerkt: »Heute war Otto wie durch den Wind, nervös, unwirsch und unzugänglich, ganz anders als in den Tagen zuvor. Eigentlich wollten wir ein letztes Mal ein Eis essen im Parkcafé. Es ist nichts daraus geworden. Keine Lust, will nicht, hat er mir gebärdet. Nach dem Abendessen ist er sofort auf sein Zimmer gegangen, um seine Koffer zu packen.« Anna versuchte nachzuvollziehen, was in ihm am letzten Tag vorgegangen sein mochte. Hatten die Erlebnisse dieser Woche ihm die Realität seines Alltags vor Augen geführt, die Monotonie und Leere, die Freudlosigkeit und den Mangel an sozialen Kontakten, seinen Alltag ohne Aufgaben, seine Tage ohne Struktur? Hatte er sein Leben mit dem seiner Geschwister verglichen, die beide verheiratet waren, Kinder hatten und einen Beruf?

Ein Bild vom Abschlussabend drängte sich in Annas Bewusstsein. Otto, in einem karierten, locker über der Jeans hängenden Hemd, wie er mit einem Luftballon in den erhobenen Händen die Schwingungen aus den unter der Decke hängenden Lautsprechern aufzufangen versuchte. An diesem Abend war Werner, Leiter eines benachbarten Blindenvereins, mit seiner Hammond-Orgel gekommen und hatte zum Tanz aufgespielt. Sie hatten alle, mit oder ohne Luftballons in den Händen, getanzt. Helga und Jürgen, sie gehörlos, er taubblind, hatten ineinander versunken im schwingenden Gleichmaß des Swing-Rhythmus auch dann noch weitergetanzt, als Werner eine Pause einlegte. Einige hatten nicht aufhören wollen, als der Musiklieferant nach Hause fuhr, hatten CDs organisiert und auf der Anlage im großen Seminarraum abgespielt. Der Raum mit seinem Parkettboden war ohnehin viel besser geeignet, Vibrationen zu übertragen, als der Steinfußboden im Foyer. Anna hatte Werner verabschiedet und war zum Seminarraum hinübergegangen. Staunend hatte sie Otto beobachtet, seine gelösten, harmonischen Bewegungen, seine glückliche Selbstvergessenheit. Sie war zu ihm gegangen und beide hatten sie sich, den Luftballon zwischen sich haltend, miteinander im Rhythmus der Musik bewegt.

Anna fühlte eine heiße Scham in sich aufsteigen. Was hatte sie sich denn gedacht? Was hatte sie getan aus purer Überheblichkeit und Selbstüberschätzung? Sie hatte den taubblinden Personen eine Woche lang eine lebendige bunte Welt gezeigt, voller neuer Erfahrungen und Herausforderungen, hatte sie wie durch einen Spalt in einem Theatervorhang blicken lassen: Schaut euch an, so kann das Leben sein. Nur um dann den Vorhang zu schließen und sie im dunklen Raum ihres Alltags zurückzulassen. Hatte sie sich vorgestellt, dass eine Woche Trallala reichen würde, um ein Leben zu füllen? Würde sie ihre Versprechungen auch nur annähernd halten können? Wie konnte sie sich anmaßen, in das Leben anderer einzugreifen? Es wurde ihr ganz elend, sie fasste alle Gefühle und Gedanken zusammen und sagte zu Sabine: »Wenn Otto und Manfred etwas Ernsthaftes passiert ist, ziehe ich mich sofort von allem zurück.«

Manfred kam durch die Tür, Sabine sprang auf: »Wie geht es …« Manfred winkte ab: »Alles in Ordnung mit mir.« Er schaute sich im Raum um. »Ist Ingrid auf unserem Zimmer?« Hinter ihm trat Elisabeth, Ottos Mutter, durch die Eingangstür ins Foyer, sie war allein aus dem Krankenhaus zurückgekommen. Beklommenheit machte Anna das Sprechen unmöglich. Elisabeth setzte sich erschöpft zu ihnen: »Otto geht es soweit gut, er hat nur ein paar Prellungen. Sonst ist ihm nichts passiert. Dank Manfred. Seine schnelle und mutige Reaktion hat Schlimmeres verhindert. Otto bleibt diese Nacht im Krankenhaus. Er hat eine Beruhigungsspritze bekommen und wird beobachtet. Morgen fahren wir dann direkt vom Krankenhaus nach Hause zurück.«

Sie saßen eine Zeitlang schweigend. »Wir waren so glücklich über die Geburt unseres Erstgeborenen.« Elisabeth sprach schnell, fasste im Zeitraffer zusammen: Die ersten Sorgen, die Beschwichtigungen der Ärzte: Das wird schon werden. Dann die Diagnose fast zwei Jahre nach der Geburt: Ein behindertes, ein gehörloses Kind. Später in der Pubertät die ersten, nicht erkannten Symptome einer Sehbehinderung, die Hänseleien der Mitschüler, das Unverständnis und die Bestrafungen der Lehrer, Ottos bis heute nicht verwundene Verbitterung über diese Ungerechtigkeiten, Ausbildung und Arbeit in der Schreinerei, schließlich die zweite Diagnose: Eine unheilbare Augenerkrankung mit der Perspektive einer völligen Erblindung. »Wir haben in dieser Situation keinerlei Hilfe gefunden.« Elisabeth verstummte. Was wird nun werden? Eine Antwort darauf gab es nicht, konnte es nicht geben.

Ingrid und Manfred kamen die Treppe herunter, gingen zu ihrem Platz am Kamin. Manfred entkorkte die Flasche, füllte die beiden Gläser. Sie stießen miteinander an und umarmten sich.

2. Am Bootshaus

Sie war spät dran; sie hätte doch einen früheren Zug nehmen sollen. Der Weg zwischen den mit hochwachsendem Mais bepflanzten Feldern zog sich länger hin als gedacht. Die Sonne brannte vom ungetrübt blauen Himmel. Der Asphalt gab die Hitze zurück. Sie musste sich beeilen. Schließlich erreichte sie den schmalen Fußweg, den Zugang zum Bootshaus. Die mächtigen Bäume in den Gartenanlagen schützten sie mit ihren überhängenden Zweigen vor dem Zugriff der Sonne. Vorbei an den sorgfältig gepflegten Jägerzäunen hetzte sie unter den neugierigen Blicken der Nachbarn weiter und fand schließlich, wie auf der Wegbeschreibung ausführlich erklärt, zu dem letzten Gartentor in der Reihe.

Als sie die Gartentür öffnete und auf die ersten Steinplatten trat, war sie verwirrt und fragte sich, ob sie sich nicht doch im Weg geirrt habe. Sie vermisste das Stimmengewirr und Gelächter von vielen Menschen in angeregtem Gespräch. Nur ab und zu waren leise Wortfetzen zu hören. Man hatte ihr gesagt, dass etwa mit 20 Personen zu rechnen sei. Sie tastete sich den holprigen, mit unregelmäßigen Steinplatten belegten Weg entlang, vorbei an einer überdachten, wie eine Rotunde geformten Terrasse, vorbei an dem langgestreckten Bootshaus. Rechts von ihr war das Geräusch des gegen den Bootssteg klatschenden Wassers zu hören, wenn die Boote dicht daran vorbeizogen, das Auf- und Abschwellen der weithin über das Wasser hallenden Rufe der Ruderer und das Gelächter vom gegenüberliegenden Ufer.

Sie fand die Gruppe, die meisten in einem großen Kreis unter den Bäumen sitzend, andere um einen Tisch versammelt. Alle hatten den kühlen Baumschatten gesucht. Eine sehr kleine, kompakte Person in einer dreiviertellangen grauen Hose und einem weißen XXL-T-Shirt kam mit flinken, entschiedenen Schritten auf sie zu und fragte mit einer Stimme, in der ein überlegenes Lächeln und leiser Spott mitschwangen, wo sie denn so lange abgeblieben sei und ob sie ihre Hausaufgaben gemacht und das Lormen geübt habe. Ja, das hatte sie getan. Noch während der Zugfahrt hatte sie die Buchstaben wiederholt, die Begrüßungsworte in die Hand geschrieben, ihren Namen in die linke Hand getippt: Mit dem rechten Zeigefinger auf die Spitze des linken Daumens für das »A«, zweimal auf die Wurzel des linken Zeigefingers für das Doppel-»N« und noch einmal auf die Spitze des linken Daumens für das »A«. Sie hatte versucht, ihre Hände ein wenig unter der Jacke zu verstecken, um ihr seltsames Gebaren vor den Mitreisenden zu verbergen. Das Handbuch zum Erlernen des Lormens hatte sie gründlich durchgearbeitet und alle Buchstaben auswendig gelernt. Dieses Mal wollte sie gewappnet sein. Bei ihrer ersten Begegnung mit einem Taubblinden hatte sie sich so hilflos gefühlt, unfähig, in seine Wahrnehmungswelt vorzudringen.

Als Vera nun auf sie zueilte, erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung. Sie hatte Veras Aufruf in der Kassettenzeitung des Blindenvereins, der händeringend ehrenamtliche Mitarbeiter suchte, aufmerksam abgehört. Eine sehr klare, entschiedene Stimme, eine sehr prononcierte, fast pedantisch deutliche Aussprache. Sie hatte sich die Sprecherin ganz anders vorgestellt. Nun sah sie sich überrascht einer Person gegenüber, die kleiner war als sie selbst, was selten genug vorkam, mit einer voluminösen Figur, pfeffer- und salzfarbenem Stoppelhaar, einem runden Gesicht mit ausgeprägtem Kinn und Damenbart und vielen Lachfalten um die kleinen Augen.

Sie hatte Vera von ihren Vorbehalten erzählt und wie sie sich erst nach langem Zögern entschließen konnte, sich bei der Taubblindengruppe zu melden. »Ich wollte ja gern etwas tun, etwas Sinnvolles möglichst und etwas, was ich auch aus eigener Kraft und selbstständig tun kann. Da war es mir schon recht, innerhalb der Blindenselbsthilfe eine Aufgabe zu finden. Aber Taubblindheit? Das war mir viele Nummern zu groß!« Wie sollte sie mit Menschen umgehen, die weder hören noch sehen können? Sie hatte genug damit zu tun, die eigene Angst vor dem völligen Verlust ihres Sehrestes auszuhalten. Die Vorstellung, nicht hören zu können, konnte sie nicht zulassen. Ein Leben ohne Radio und Telefon, ohne Hörbücher und Musik, ohne den Klönschnack mit Nachbarn im Hausflur, ein Leben ohne Lachen und Gespräche mit Freunden. Und das Schlimmste: ein Leben in Abhängigkeit, nicht ohne fremde Hilfe das Haus verlassen können … Nein, ein Leben mit solchen Einschränkungen konnte und wollte sie sich nicht vorstellen. Das machte ihr Angst, schreckliche Angst!

Vera hatte ihr vorgeschlagen, im Juli zum Treffen der Taubblindengruppe am Bootshaus zu kommen. »Dort kannst du viele Taubblinde kennenlernen und selbst entscheiden, ob du deine Ängste überwinden kannst. Und ich wüsste schon, was zunächst einmal deine Aufgabe sein könnte. Du kannst doch Punktschrift, oder? … Ja, das ist doch prima. Dann übernimmst du den Punktschriftunterricht während des jährlichen Taubblindenseminars. « Danach waren sie ins Haus gegangen, um mit den anderen Teilnehmern des Seminars das Mittagessen im Speiseraum einzunehmen. Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. »Da bist du ja, wie schön, dass du zu uns stoßen und uns helfen willst …« Sie schaute den Handaufleger an und stellte fest, dass sie zumindest optisch auf Augenhöhe waren. Veras Mann, klein, schlank und mit Ulbricht-Bärtchen, brachte die beiden Frauen in den Speisesaal. »Du wirst bei uns mit Robert und Rosemarie am Tisch sitzen.« Vera hatte berichtet, dass Robert vor seiner Erblindung ein erfolgreicher und geschätzter Vorsitzender des Kreisverbandes der Gehörlosen gewesen war. Als seine Augen immer schlechter wurden und er die Außenwelt nur noch durch eine winzige kreisförmige Öffnung wahrnahm, konnte er die großräumig und schnell ausgeführten Gebärden nicht mehr erkennen. Er konnte seine gehörlosen Freunde nicht verstehen, bei ihren Unterhaltungen nicht mitreden. Er musste sein Amt als Vorsitzender, wie vorher schon seinen Beruf als technischer Zeichner, aufgeben. Seine Verzweiflung schlug um in Aggression gegen sich und seine Angehörigen, bis er schließlich durch einen Zufall auf die Taubblindengruppe traf, das Lormen lernte und neue Freunde fand.

Gerhard hatte sie an den Tisch geführt, an dem das Ehepaar saß. Vera ergriff Roberts Hand und tippte mit flinken Tipp- und Streichbewegungen auf die Handinnenfläche. Alle Wörter, die sie so in Roberts Hand schrieb, sagte sie laut vor sich hin, damit Anna es hören konnte: »Heute ist eine Frau zu Besuch. Sie will unsere Gruppe kennenlernen. Sie heißt Anna.« Robert, mit seinem vollen weißen Haar und seiner kräftigen Gestalt eine würdige Erscheinung, gab diese Information mit weit ausholenden Gebärden an seine gehörlose Frau weiter. Dann stand er höflich auf, um Anna zu begrüßen. Kräftiges Händeschütteln, eine kurze Umarmung und Begrüßungsformeln, von Anna ein gemurmeltes »Guten Tag, ich freue mich …«, von Robert der Willkommensgruß in Gebärdensprache. Beide Begrüßungsformeln gingen ins Leere: Die eine wurde nicht gehört, die andere nicht gesehen. Vera musste vermittelnd eingreifen, nahm Roberts Hand und lormte: »Anna kann deine Gebärden nicht verstehen, sie kennt die Gebärdensprache nicht. Sie ist fast blind.« Robert nahm Veras Hand und tippte seine Frage ein: »Ist sie hörend?« Vera bejahte. Wieder gab Robert die Info an seine Frau weiter; Anna vermeinte, in seinen heftigen Bewegungen die Ungeduld eines Mannes zu spüren, den es nach unmittelbarer Begegnung drängte. Anna fühlte sich hilflos und beschämt über ihre Unfähigkeit, einen direkten Kontakt herzustellen. Es würde nicht leicht sein, in diese ihr fremde Welt vorzudringen.

Vera holte sie in die Gegenwart zurück: »Komm, wir gehen zu den Taubblinden, die warten alle schon auf dich.« Anna versuchte, ihre Erinnerungen und die ängstlich kreisenden Gedanken abzuschütteln, die Sorge, ihre Befangenheit könnte spürbar werden, die Angst, die Gehörlosen wegen ihrer ungewohnten und oft undeutlichen Aussprache nicht zu verstehen und keinen Zugang zu finden. Was, wenn es ihr nicht gelang, das Vertrauen dieser Menschen zu gewinnen, wenn ihr Interesse als Einmischung missverstanden würde? Sie hätte gern noch nach dem stillen Örtchen gefragt, um den Moment der Begegnung hinauszuschieben, aber Vera hatte sie schon zu Robert geführt und angemerkt: »Nun versuch mal dein Glück …« Rosemarie, die sie sofort wiedererkannte, umarmte sie kurz, lächelte freundlich, deutete auf den Gartenstuhl neben Robert, den sie für Anna geräumt hatte, und lormte ihrem Mann, dass er eine neue Sitznachbarin hatte.

Robert tastete vorsichtig mit seiner rechten Hand zur Armlehne ihres Gartenstuhls, Anna überließ ihm ihre linke Hand und Robert lormte: »Mein Name ist Robert.« Und weil er sich noch an ihre erste Begegnung und daran erinnerte, dass Anna hörend war, sprach er gleichzeitig laut mit. Das war, trotz seiner schwer verständlichen Aussprache, als Ergänzung zum Lormen für Anna eine große Hilfe. Dann deutete er mit der Hand in ihre Richtung und fragte: »Dein Name?« Anna ergriff vorsichtig und ängstlich besorgt, etwas falsch zu machen, Roberts Hand, die er ihr bereitwillig mit der nach oben geöffneten Handinnenfläche überließ. Er spreizte sogar ein wenig die Finger, sodass sie bequem ihren Namen in seine Hand eintippen konnte. Gleich kam die nächste Frage: »Wie alt?« Oh je, über die Schreibweise der Zahlen stand nichts im Handbuch. Was nun? Fragend schaute sie sich um und Gerhard, der ihr Gespräch beobachtete, rief ihr zu: »Du schreibst die Zahlen einfach nacheinander in die Hand.« Anna fragte nun nach Roberts Alter. So folgten Frage und Rückfrage nach Familienstand, Kindern und Beruf. Anna erfuhr, dass Robert seit 40 Jahren verheiratet war, einen erwachsenen Sohn und seit Kurzem eine kleine Enkeltochter hatte. Sein Gesicht leuchtete auf, als er davon erzählte.

Es entstand eine kleine Pause, die wichtigsten Fragen waren gefragt, Anna holte tief Luft, geschafft. Verständigung gelungen! Anna wollte sich gerade entspannt zurücklehnen, da stand schon eine andere Frau vor ihr, lächelte freundlich, nahm ihre Hand, »Komm mit!« Gerhard, der sie immer noch beobachtete und dem es nicht entgangen war, wie sehr sie sich hatte konzentrieren müssen und wie sehr sie sich über eine Atempause gefreut hätte, lachte leise vor sich hin: »Da musst du jetzt durch, jeder möchte hier wissen, wer du bist, und das musst du jetzt alles nacheinander jedem einzeln erzählen.« Und schon saß Anna in einem anderen Gartenstuhl, ein Stückchen weiter in der Reihe, neben sich einen älteren Mann, der sie mit einem Lachen begrüßte. »Guten Tag, mein Name ist Hermann, wie heißt du?« Anna war erleichtert, sie hatte die Frage verstanden, der Fragende hatte zwar eine sehr verwaschene, aber doch viel verständlichere Aussprache für ihre ungeübten Ohren. Sie lormte die Antwort und gleich kam die nächste Frage: »Wo wohnst du?« Anna stutzte, als sie den ersten Buchstaben lormen wollte. Es war kein Finger da, nur ein kurzer Stummel. Hermann lachte vergnügt, hielt ihr aber dann doch die andere Hand hin, damit sie ungehindert lormen konnte. Anna erfuhr, dass Hermann sein Haus auf dem Land mit viel Eigenarbeit gebaut hatte, als er noch einen Sehrest hatte. Dabei war ihm der Finger abhandengekommen.

Wieder wurde sie eindringlich und ausführlich zu ihrer Person befragt: Wie alt bist du, bist du verheiratet, hast du Kinder, lebst du allein, was machst du beruflich? Fragen, die Anna in anderen Zusammenhängen als unverschämt und indiskret zurückgewiesen hätte. Hier erschien ihr das eine durchaus vernünftige Vorgehensweise. Wie sollte jemand wissen und einschätzen können, mit wem er es zu tun hatte, wenn er sich weder über das Erscheinungsbild, das Aussehen, die Kleidung, noch über die Körpersprache oder die Art zu sprechen, ein Bild von einer Person machen konnte?

Als Anna zum dritten Mal in einen anderen Gartenstuhl wechselte, entspannte sie sich. Sie wusste, welche Fragen gestellt und welche Antworten erwartet wurden. Sie konnte verstehen und, trotz der immer noch holprigen Kommunikation, am Leben der Gesprächspartner teilhaben. Und als der nächste Partner, nach seinem Alter gefragt, ihr die Zahl 17 in die Hand schrieb, stutzte sie nur kurz, lachte leise auf und schrieb zurück: »Dann bin ich 16.« Lachend kam die Antwort: »Dann bin ich zehn Jahre älter als du!«

Da zog vom Bootshaus Kaffeeduft herüber, und Anna wurde sich ihrer Umgebung bewusst: Der paradiesisch schöne Garten mit seinen mächtigen, schattenspendenden Bäumen, die im Zusammensein heiter gestimmten Menschen, der feuchtmodrige Geruch des Flusses, das rhythmische Schlagen der Ruder vorbeiziehender Boote. Sie spürte zufriedene Gelassenheit und Ruhe, das Gefühl, am richtigen Ort zu sein.

Ein Boot legte am Steg an; lachend und lärmend kamen die Ruderer an den Tisch. »Wir wären fast mit einem Kajak zusammengestoßen!« Ein großer, kräftiger Mann fragte Anna: »Willst du auch mal mitkommen?« Anna schaute zweifelnd zu dem Mann hoch, sie hatte immer ein Faible für Männer mit breiten Schultern gehabt und dieser sah zuverlässig aus, aber der Modergeruch des Flusses verlockte sie nicht. Gerhard, der ihr Tun noch immer beobachtete, beruhigte sie: »Die Ruderboote sind richtige, schwere Appelkähne, die bringt niemand so leicht zum Kentern.«
Anna saß mit geschlossenen Augen auf der hinteren Sitzbank, fühlte die Sonnenstrahlen, die sich durch das Blätterdach hindurch stahlen, über ihr Gesicht gleiten, spürte das leichte Schwanken des schweren Bootes, die im gleichmäßigen Takt schwingenden Ruder und träumte sich Jahre zurück in die weite, romantische Landschaft des Burgunds, träumte sich zurück in das kleine, gelbe Schlauchboot: Lautloses Gleiten auf dem silbrig schimmernden Wasser der Cure, sanfte Berührung tiefhängender Weidenzweige, die grüne Stille des weiten, burgundischen Hügellandes, das tiefe Gefühl des Einverständnisses mit sich selbst und der Natur, unterbrochen nur durch den gutmütigen Zuruf eines vereinzelten Anglers. Der Ruderer vor Anna hatte sein Ruder tief ins Wasser getaucht, ein Sprühregen durchnässte Annas linke Seite und holte sie in die Gegenwart zurück. Lachend beruhigte sie den Ruderer, der sich besorgt zu ihr zurückgewandt hatte: »Eine kleine Abkühlung bei der Hitze tut nur gut!«

Im Garten hatte sich die Szenerie verändert. Gerhard stand mit einer Kerze und einem in Geschenkpapier eingewickelten Päckchen vor Mechthild, der taubblinden Partnerin von Horst, der Anna ins Ruderboot geschleust und den taubblinden Ruderern als Steuermann gedient hatte. Mechthild saß still da, ein strahlendes Lächeln auf ihrem schönen Gesicht mit dem energischen Kinn, und hielt sich das Geburtstagskärtchen in Blindenschrift zu ihrem runden Geburtstag dicht an die Augen. Gerhard war ärgerlich, dass sie immer noch versuchte, mit den Augen statt mit den Fingern zu lesen. Anna konnte sie gut verstehen, sie wusste, wie schwer es war, das Unvermögen zu akzeptieren und sich auf den Tastsinn zu konzentrieren. Wider besseres Wissen hatte sie anfangs die Punktschriftfibel immer wieder unter das Bildschirmlesegerät gelegt, um die Anordnung der winzigen sechs Punkte zu entschlüsseln.
Mechthild packte das Geschenk aus, ein aus Holz geschnitztes Mensch-Ärger-dich-nicht-Spiel, von Hermann hergestellt, die Püppchen mit unterschiedlich geformten Köpfchen und von Renate, seiner Frau, gelb, rot, grün und schwarz eingefärbt. Mechthild war glücklich und gerührt, bedankte sich bei jedem mit einer kräftigen Umarmung und schmatzenden Wangenküssen.

Den Rückweg zwischen den mit hochwachsendem Mais bepflanzten Feldern legte sie gedankenverloren zurück. Ihre Besorgnis und ihre Ängste waren vergessen, sie fühlte sich den Menschen, die sie soeben kennengelernt hatte, vertraut und nahe. Sie war voller Respekt für den Mut und die Würde, mit denen diese Menschen ihr Leben meisterten. Die Erfahrung, wie viel Lachen und Lebensfreude durch die Gemeinschaft möglich werden, machte sie glücklich und gaben ihrem zukünftigen Tun ein potenzielles Ziel.

3. Kommunikation – Kommunikation – Kommunikation

3.1 Fehlgeschlagene Kommunikation

Berlin, Bahnhof Zoo – das Jahr 2002 hat einen sonnigen, warmen Juni bereitgestellt. Auf Gleis 3 drängt sich im Schatten eines Vordachs eine Ansammlung heftig gestikulierender und durch geheimnisvolle Handzeichen miteinander kommunizierender Menschen, teilweise mit langen, weißen Stöcken bewaffnet, auf den Zug via Ruhrgebiet wartend. Ein Mann mit grauem, zerzaustem Lockenschopf spricht einen aus der Gruppe an: »Ich sammle für die Obdachlosen, ein Euro für die Obdachlosen!« Keine Reaktion. Ein wenig lauter wiederholt er den Spruch. Vergeblich! Der Angesprochene muckst sich nicht, zuckt nicht einmal. »Verdammt nochmal, blödes Schwein! Wenigstens antworten könntest du!«

Ein Beispiel einer fehlgeschlagenen Kommunikation, so geschehen auf der Rückfahrt der Taubblindengruppe nach einer Woche in Potsdam und Berlin. Dank der kundigen Führung von Barbara Steinmüller, einer Frau, die ihr ganzes Leben taubblinden Menschen gewidmet hat, war es eine wunderbare Woche voll neuer Erfahrungen, interessanter Begegnungen und schierer Lebensfreude gewesen. Einige Programmpunkte: die Besichtigung des Neuen Palais, auf dessen Marmorboden Twinkle, Annas Führhund, als erster Hund nach den Windspielen des großen Friedrich seine Pfoten setzen durfte, ein Gang zur Glienicker Brücke, wo zu Zeiten des Kalten Krieges Agenten ausgetauscht wurden, und die Besichtigung des Reichstags, eine Diskussionsrunde mit den Volksvertretern inklusive. Diese wollten es sich nicht nehmen lassen, für die kommende Bundestagswahl zu werben. Es war für Anna eine Genugtuung, die Politiker um klare und eindeutige Ausführungen in einfacher Sprache bitten zu dürfen. »Es ist schier unmöglich, den politischen Jargon mit seinen Fremdwörtern und verklausulierten Formulierungen für gehörlose und taubblinde Menschen zu übersetzen. Und bitte, sprechen Sie ganz langsam, denn alles muss in drei unterschiedliche Kommunikationsformen übertragen werden: In die Gebärdensprache, in die Lormschrift und in Braille.« Fast möchte man jedem Politiker ein Publikum wünschen, das ihn zu einer solchen Klarheit der Sprache und somit auch der Gedanken zwingt.

Auf der Rückfahrt erlebt auch die Zugbegleiterin ihre Überraschung mit der taubblindenspezifischen Kommunikation. Elfriede und Jürgen sitzen im Großraumwagen nebeneinander, allerdings getrennt durch den Gang. Beide haben sich viel zu erzählen. Die Hände treffen sich in der Mitte des Gangs. Die Zugbegleiterin steht unschlüssig und wartet. Wie soll sie hier vorbeikommen? Schließlich kehrt sie um. Ob sie wohl aussteigt und außen am Zug vorbei in den nächsten Wagen geht?

Horst, der mit seiner taubblinden Frau Mechthild regelmäßig das einwöchige Taubblindenseminar besucht und natürlich auch bei dieser Studienfahrt dabei war, fragt Vera, die langjährige Leiterin der Taubblindengruppe: »Wie ist das, treffen wir uns dieses Jahr auch am Bootshaus, wie im letzten Jahr?« Vera meint, anscheinend überrascht von diesem Ansinnen: »Da warst du gerade eben eine ganze Woche in Berlin, das sollte dir doch erst einmal reichen. Für das nächste Jahr können wir dann wieder ein Treffen am Bootshaus planen.« Anna sitzt Horst und seiner Frau gegenüber und verfolgt das Gespräch. Eigentlich hält sie den Wunsch nach einem Treffen nicht für besonders extravagant, ist überrascht von der rüden Abfuhr, die Vera erteilt, und überlegt, was sie, die seit zwei Monaten die Leitung der Taubblindengruppe aus den Händen von Vera entgegengenommen hat, arrangieren kann.

3.2 Der erste Stammtisch

Am 7. September 2002 ist es soweit. In der Beratungsstelle des Blindenund Sehbehindertenvereins wird geräumt, Tische werden gerückt und Klappstühle aufgestellt, Kaffee gekocht und Wasser auf den Tischen verteilt. Der Raum, der von den Seniorengruppen des Blindenvereins gern und viel genutzt wird und in dem zwölf Personen bequem sitzen können, muss nun so hergerichtet werden, dass bis zu 20 Personen irgendwie Platz finden.