Über das Buch

Wenn der zwölfjährige Sohn bei einer Demonstration von Gummigeschossen getroffen wird. Wenn jeder Weg aus dem Dorf zermürbende Straßenkontrollen bedeutet. Wenn der eigene Grund und Boden willkürlich konfisziert werden kann. Wenn Recht- und Perspektivlosigkeit zu Wut wird, Wut zu Widerstand und Widerstand zu Resignation. Ben Ehrenreich erzählt vom bedrückenden Alltag in palästinensischen Dörfern und Städten im Westjordanland, vor allem aber erzählt er von Menschen, die versuchen, in einer Atmosphäre ständig drohender Gewalt ihren Überlebenswillen zu bewahren: durch Stoizismus, durch aktiven Widerstand, durch geradezu aufsässige Lebensfreude. Gerade weil Ehrenreich auf neutrale Distanz verzichtet und Zeugnis ablegen will, bringt er uns palästinensische Leben auf eine Weise nahe, wie es im Stimmgewirr des scheinbar ausweglosen Konflikts sonst kaum erfahrbar ist.

Ben Ehrenreich

Der Weg zur Quelle

Leben und Tod in Palästina

Aus dem Englischen von Britt Somann-Jung

Hanser Berlin

Für meine Mutter

Es wird Morgen. Es wird unentwegt Morgen.
In allen Geschichten dieses Buches wird es Morgen.

Viktor Šklovskij

Inhalt

Dramatis Personae

Glossar arabischer Begriffe

Kartenverzeichnis

Einleitung

Teil eins Nabi Saleh

Prolog

1 Das Leben ist schön

Zwischenspiel: Der Staat von Hani Amer

2 Der Frieden der Tapferen

Zwischenspiel: Jeder Anfang ist anders

3 Über dem Johannisbrotbaum

Zwischenspiel: Bühnenkunst

4 Die Ameise und die Süßigkeit

Teil zwei Hebron

Prolog

5 Eine Frage der Hoffnung

6 Von einem Land ganz zu schweigen

Teil drei Tiefe Wolken

7 Schnee

Zwischenspiel: Die Erniedrigungsmaschine

8 Poker

Zwischenspiel: Was man sieht

9 So leicht, so schwer

Teil vier Ein tiefes, dunkles Blau

Prolog: Wenn nur

10 Meines Bruders Hüter

11 Der Teufel hat nie geträumt

Epilog

Danksagung

Anmerkungen

Dramatis Personae

Nabi Saleh

Bassem Tamimi: Anführer der dörflichen Protestbewegung; seit jungen Jahren Fatah-Aktivist; nach seiner Verhaftung im März 2011 von Amnesty International als »politischer Gefangener« eingestuft; mit Nariman verheiratet.

Nariman Tamimi: Aktivistin des Volkswiderstands und Anführerin der dörflichen Protestbewegung; mit Bassem verheiratet; Schwester von Ruschdi Tamimi, der am 17. November 2012 von einem israelischen Soldaten angeschossen wurde und zwei Tage darauf im Krankenhaus starb.

Waed Tamimi: ältester Sohn von Bassem und Nariman.

Ahed Tamimi: Tochter von Bassem und Nariman.

Mohammad »Abu Yazan« Tamimi: mittlerer Sohn von Bassem und Nariman.

Salam Tamimi: jüngster Sohn von Bassem und Nariman.

Bilal Tamimi: Videograf; ehemaliger Gefangener und Fatah-Aktivist während der Ersten Intifada; als Grafikdesigner beim Gesundheitsministerium der Palästinensischen Autonomiebehörde angestellt; mit Manal verheiratet.

Manal Tamimi: Aktivistin der Volkswiderstandsbewegung und eine Anführerin der dörflichen Protestbewegung; mit Bilal verheiratet.

Osama Tamimi: ältester Sohn von Bilal und Manal.

Mohammad »Hamada« Tamimi: mittlerer Sohn von Bilal und Manal.

Rand Tamimi: Tochter von Bilal und Manal.

Samer Tamimi: jüngster Sohn von Bilal und Manal.

Nadschi Tamimi: ein Anführer der dörflichen Protestbewegung; ehemaliger Gefangener und Fatah-Aktivist; angestellt bei der der Palästinensischen Autonomiebehörde unterstellten Beobachtungsstelle für die israelische Sperranlage und die Siedlungspolitik; Cousin von Bassem; mit Buschra verheiratet.

Buschra Tamimi: Aktivistin des Volkswiderstands; mit Nadschi verheiratet.

Marah Tamimi: Tochter von Nadschi und Buschra; Cousine und engste Freundin von Ahed.

Mohammad »Hamudi« Tamimi: jüngster Sohn von Nadschi und Buschra.

Abd al-Razzaq Tamimi: Taxifahrer; Vater von Mustafa Tamimi, der mit 28 Jahren starb, nachdem ihm am 9. Dezember 2011 eine Tränengaskartusche ins Gesicht geschossen wurde.

Ekhlas Tamimi: Mutter von Mustafa Tamimi.

Odai Tamimi: jüngerer Bruder von Mustafa Tamimi, Zwillingsbruder von Loai.

Loai Tamimi: jüngerer Bruder von Mustafa Tamimi, Zwillingsbruder von Odai.

Bahaa Tamimi: Mustafa Tamimis bester Freund; Verfasser von Theaterstücken und Liedern; Leiter von Nabi Salehs Dabke-Truppe.

Mohammad Ataallah Tamimi: Gründer von Tamimi Press, Nabi Salehs Medien-Team.

Baschir Tamimi: Eigentümer des Landes um die Ain-al-Qoos-Quelle; aktiv bei den dörflichen Demonstrationen; Vorsteher des Dorfrates von Nabi Saleh.

Said Tamimi: Gefangener; Freund von Bassem und Bilal; 1993 für den Mord an Chaim Mizrahi verhaftet.

Abir Kopty: Aktivistin, Organisatorin und Sprecherin der Volkswiderstandsbewegung; geboren in Nazareth; lebte in Ramallah.

Mariam Barghouti: Aktivistin; Bloggerin; Studentin an der Universität Birzeit; lebt in Ramallah.

»Shireen«: Aktivistin; Freundin von Bassem und Nariman sowie von Bahaa und der Dorfjugend; lebt in Ramallah.

Irene Nasser: Journalistin, Dokumentarfilmerin und Fernsehproduzentin; lebt in Jerusalem.

Jonathan Pollak: israelischer Aktivist, Mitgründer der Anarchists Against the Wall.

Renen Raz: israelischer Aktivist.

Hebron

Issa Amro: Aktivist der Volkswiderstandsbewegung; unterrichtet Elektrotechnik an einer örtlichen technischen Hochschule; Mitgründer und Anführer der Youth Against Settlements (YAS).

Ahmad Amro: Issas Bruder; ausgebildeter Tierarzt; Aktivist und Freiwilliger der YAS.

Mufid Scharabati: ehemaliger Kaufmann; ehemaliger Gefangener; Freiwilliger der YAS; Bruder von Zidan.

Zidan Scharabati: mein Gastgeber in Hebron; arbeitsloser Arbeiter; Freiwilliger der YAS; Mufids Bruder.

Dschawad Abu Aischa: Aktivist der Volkswiderstandsbewegung; Freiwilliger der YAS; städtischer Angestellter; Neffe der Bewohner des »Käfighauses« in Tel Rumeida; Enkel des Geschäftspartners von Jacob Ezra, dem letzten jüdischen Einwohner Hebrons vor der Besatzung 1967.

Ahmad Azza: Student; Freiwilliger der YAS; lebt in Tel Rumeida.

Imad al-Atrasch: Metallarbeiter; Aktivist; Cousin von Anas al-Atrasch, der am 7. November 2013 von einem israelischen Soldaten am Container-Kontrollpunkt getötet wurde.

Tamer al-Atrasch: Aktivist des Volkswiderstands; Cousin von Anas al-Atrasch.

Fouad al-Atrasch: Schuhmacher; Vater von Anas al-Atrasch; lebt im Hebroner Viertel Abu Sneineh.

Nadscha al-Atrasch: Mutter von Anas al-Atrasch.

Ismail al-Atrasch: Bruder von Anas al-Atrasch.

David Wilder: in New Jersey geborener Sprecher der jüdischen Siedler Hebrons; lebt im Beit Hadassah.

Tzipi Schlissel: Siedlerin in Tel Rumeida; Enkelin von Rabbi Abraham Isaak Kook, dem ersten aschkenasischen Großrabbiner Israels; Tochter des ermordeten Rabbis Schlomo Ra’anan.

Baruch Marzel: in Boston geborener Anführer der Siedler von Tel Rumeida; Schüler des ultranationalistischen Rabbis Meir Kahane; Gründer der rechtsextremen Partei Jüdische Nationale Front; beharrlicher Knesset-Kandidat.

Anat Cohen: Siedlerin; Tochter von Mosche Zar, einem Mitglied des Jüdischen Untergrunds, und Schwester von Gilad Zar, der von palästinensischen Kämpfern 2001 getötet wurde; berüchtigt für ihre Attacken auf ortsansässige Palästinenser und ausländische Aktivisten.

Eran Efrati: israelischer Aktivist und ehemaliger Soldat.

Haim Hanegbi: Mitgründer der sozialistischen, antizionistischen israelischen Partei Matzpen; Sohn von Haim Bajayo, dem Führer der jüdischen Gemeinde Hebrons vor dem Massaker von 1929.

Umm al-Khair

Aid Suleiman al-Hathalin: Bildhauer; Vegetarier; Fahnder nach nicht explodierter Munition.

Tariq Salim al-Hathalin: Student; Aids Cousin.

Khaire Suleiman al-Hathalin: Hirte und Saisonarbeiter in Israel; Aids Halbbruder.

Moatassim Suleiman al-Hathalin: Aids jüngerer Bruder; ebenfalls Hirte und gelegentlicher Gastarbeiter in Israel.

Bilal Salim al-Hathalin: Tariqs älterer Bruder; Aids Cousin; ebenfalls Hirte und Gastarbeiter.

Mohammad Salim al-Hathalin: Tariqs älterer Bruder, Aids Cousin; erlitt 2004 einen schweren Hirnschaden, als ihn ein Bewohner der angrenzenden Siedlung Karmel verprügelte.

Suleiman al-Hathalin: Aids Vater; Hirte; der gegenwärtige Patriarch von Umm al-Khair.

Hassan al-Hathalin: jugendlicher Hirte; Aids Cousin.

Ezra Nawi: israelischer Aktivist; als Kind irakisch-jüdischer Eltern in Jerusalem geboren; ehemaliger Klempner.

Glossar arabischer Begriffe

argile: eine Wasserpfeife oder Schischa, durch die Tabak geraucht wird.

Dabke: ein traditioneller Tanz der Levante.

diwan: ein Raum oder freistehender Bau, der für Treffen, Versammlungen und den Empfang von Gästen genutzt wird.

dschaisch: Armee

Dschallabija: ein langes, locker sitzendes Gewand, das traditionell von arabischen Männern getragen wird.

Hadith: eine Geschichte oder ein Spruch, der dem Propheten Mohammed zugeschrieben wird, aber nicht im Koran enthalten ist.

Intifada: wörtlich »abschütteln«, ein Volksaufstand; die Erste Intifada dauerte von 1987 bis 1993, die Zweite Intifada von 2000 bis 2005.

muchabarat: Geheimpolizei oder Geheimdienstoffiziere

Mukataa: im Allgemeinen ein Verwaltungszentrum oder Regierungssitz; der Begriff wird häufig speziell für den Sitz des Präsidenten in Ramallah verwendet und metonymisch für die Regierung von Präsident Mahmud Abbas.

nakba: wörtlich »Katastrophe«; der Begriff bezieht sich auf die Vertreibung von über 700.000 Palästinensern während der Staatsgründung Israels im Mai 1948.

Knafeh: ein beliebter Nachtisch während des Ramadans, der aus einem kleinen Pfannkuchen besteht, der mit Käse oder Nüssen gefüllt und in süßen Sirup getaucht wird.

shebab: wörtlich »Jugendliche«; der Begriff beschreibt kollektiv die unverheirateten jungen Männer und heranwachsenden Jungen eines bestimmten Ortes; im Text habe ich annäherungsweise den Begriff Jungs verwendet.

taudschihi: die Abschlussprüfungen, die alle palästinensischen Schüler im letzten Jahr der weiterführenden Schule ablegen.

za’atar: ein scharf schmeckender wilder Thymian; mit Brot und Olivenöl verzehrt ein Grundnahrungsmittel der palästinensischen Küche.

Kartenverzeichnis

Israel/Palästina

Westjordanland

Nabi Saleh

Zonen A, B und C

Sperranlagen

Siedlungen im Westjordanland

Hebron

Ramallah

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Einleitung

Ich habe Angst vor einer Historie, die nur eine Erzählweise kennt. Geschichte hat unzählige Erzählweisen. Wird sie jedoch auf eine einzige reduziert, dann führt sie unweigerlich in den Tod.

Elias Khoury

Ich betrat den Weg, der zu diesem Buch führen würde, 2011, als ich für einen Auftrag der Zeitschrift Harper’s ins Westjordanland reiste und einen Freitag im Dorf Nabi Saleh verbrachte. Ich hatte damals nicht vor, zurückzukehren, aber ein Jahr später war ich zurück, diesmal für das New York Times Magazine. Palästina hat etwas an sich, was die Leute verzaubert. Ich habe es seither bei vielen anderen erlebt. Vielleicht liegt es an der berauschenden Nähe von Schmerz und Freude, von Liebe und Wut, dem Ausmaß und der schrecklichen Klarheit der Ungerechtigkeit und an der Widerstandskraft der Menschen, die mit ihr konfrontiert sind. Ich kann mich noch an den Moment erinnern, in dem ich wusste, dass es mich erwischt hatte. Ich hatte gerade Hebron verlassen und wollte mich nordwärts nach Jerusalem begeben. Es war spät am Tag, und das Licht war weich, die Rauheit der Landschaft für einen Augenblick verwandelt. Das Auto musste an einer Ampel halten, die von Feldern und Plantagen umgeben war. Ein Teenager stand allein an der Kreuzung, wartete vermutlich auf jemanden, der ihn mitnahm, und vertrieb sich die Zeit damit, einen alten libanesischen Popsong zu singen. Er sang nur für sich und schenkte uns, die wir im Wagen neben ihm warteten, keine Beachtung. Der Text war auf Englisch: »Do you love me? Do you? Do you?« Irgendwo jenseits der Felder hallte ein Schuss wider. Nicht weit entfernt, aber der Junge unterbrach seinen Gesang nicht: »Do you love me? Do you? Do you?« Die Ampel sprang um. Wir bogen ab. Vier Monate später zog ich nach Ramallah.

Es ist vielleicht unvermeidlich und sicherlich unglücklich, dass jedes Buch über die Region zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer nach einer Einleitung verlangt – und nach einer gewissen Verteidigungshaltung auf Seiten des Autors. So verhält es sich mit der gegenwärtigen Atmosphäre und dem Stand der Debatte, wenn dieser Begriff nicht zu freundlich ist. Mit diesem Buch hoffe ich, ein Ungleichgewicht zu korrigieren oder anzufangen, es zu korrigieren, das schon lange besteht, eines, das schon vielen Menschen zu viel abverlangt hat. Die Welt – jedenfalls der menschliche Teil der Welt – besteht nicht nur aus Erde und Fleisch und Feuer, sondern aus den Geschichten, die wir erzählen. Durch Erzählungen, Geschichten, die mit anderen Geschichten verwoben sind, beschwören wir das Universum herauf und bestimmen gemeinsam seine gegenwärtigen Konturen, die Form der Vergangenheit und unserer Zukunft. Der Ausschluss von unbehaglichen und ungelegenen Erzählungen, die fast exklusive Bevorzugung gewisser privilegierter Perspektiven und der Geschichten, die sie bestätigen – das ist es, was die Welt aus dem Gleichgewicht bringt. Es macht sie falsch. Es ist die Aufgabe eines Autors und meine Aufgabe hier, gegen die Unwahrheit zu kämpfen und gegen die Verzerrungen, die sie in unserem Leben hervorruft. In unser aller Leben, auf allen verfügbaren Seiten.

Die Geschichten zu erzählen, die ich erzähle, bestimmte Geschichten auszuwählen und andere nicht, bedeutet, sich auf eine Seite zu stellen. Das ist unvermeidlich und eine Sünde nur für die, die auf der anderen Seite stehen. »Keine Zuschauer am Tor zum Abgrund«, schrieb der große palästinensische Dichter Mahmud Darwisch, »und niemand ist hier neutral.« Nirgends, aber erst recht nicht in Palästina. Ich strebe auf diesen Seiten keine Objektivität an. Ich halte sie nicht für eine Tugend oder gar für eine Möglichkeit. Wir sind alle Subjekte, sind Körpern, Orten, Geschichten, Standpunkten fest verhaftet. Das Bestehen auf Objektivität ist, wie Frantz Fanon vor einem halben Jahrhundert bemerkte, immer gegen jemanden gerichtet. (Für Fanon waren das die Kolonisierten, die Marginalisierten und Unterdrückten.) Diese Wahrheit wird jedem Journalisten – oder jedem moralisch empfindsamen Individuum – schnell klar, der sich dafür entscheidet, im Westjordanland zu arbeiten und zu leben. Schon es bei diesem Namen zu nennen und nicht »Judäa und Samaria«, von Palästina zu sprechen statt von Eretz Israel, bedeutet, involviert zu sein. Und sich dort niederzulassen statt in Tel Aviv oder West-Jerusalem, Washington oder New York bedeutet, in den Konflikt einzutreten, ob es einem gefällt oder nicht. Falls das Wesen dieser Entscheidung nicht sofort offensichtlich ist, kann man sich darauf verlassen, dass die Soldaten an den Kontrollpunkten schnell dafür sorgen.

Was ich hier anstrebe, ist etwas Bescheideneres als Objektivität, nämlich Wahrheit. Sie ist eine schlüpfrige Kreatur, schwer zu fassen, eine, die die meiste Zeit über im Widerspruch lebt. Sie zu verfolgen erfordert nicht nur den Einsatz rigorosen Zweifelns und gründlicher Recherche, sondern auch die Fähigkeit zu Empathie und Urteilsvermögen, Eigenschaften, die nur Individuen zur Verfügung stehen, die in Körper, Orte, Geschichten und Standpunkte eingebettet sind. Es ist Blut in uns, um Aid Suleiman al-Hathalins Worte wiederzugeben, den Sie noch kennenlernen werden, und Geist und Herz. Das ist kein Handicap, sondern eine Stärke und der Quell unserer Erlösung. Ich habe viel mitgebracht, als ich mich daranmachte, dieses Buch zu schreiben. Sie bringen nicht weniger mit, wenn Sie sich daranmachen, es zu lesen. Wenn unsere Begegnung fruchtbar ist, und ich bete darum, dass sie es ist, wird es so sein aufgrund all dessen, was wir beide mitgebracht haben, nicht trotz dessen.

Sicherlich enthalten diese Seiten Argumente, aber es ist nicht meine primäre und auch nicht meine sekundäre Intention, mit diesem Buch eine Polemik zu verfassen. Die Argumente, die es vorbringt, bringt es nebenbei vor. Es ist zuallererst eine Sammlung von Geschichten über Widerstand und über Menschen, die Widerstand leisten. Mich beschäftigt, was Menschen weitermachen lässt, wenn alles verloren zu sein scheint. Diese Seiten zeugen von dem Versuch, verstehen zu wollen, was es bedeutet, an etwas festzuhalten, sich zu weigern, der eigenen Auslöschung zuzustimmen, aktiv oder in Form von täuschend schlichten Akten der Verweigerung gegen Mächte anzukämpfen, die viel stärker sind als man selbst. Es legt auch Rechenschaft über die Konsequenzen eines solchen Engagements ab, die Verluste, die es zeitigt, die Wunden, die es zufügt.

Dies ist somit kein Versuch, die Palästinenser einem westlichen Publikum zu erklären. Sie sind bestens in der Lage, sich selbst zu erklären. Man muss sich nur die Mühe machen, zuzuhören. Es ist auch kein Versuch, sie »menschlicher zu machen«, ein Gefallen, den sie gar nicht nötig haben. Es ist ganz sicher kein Versuch, für sie zu sprechen. Oder für irgendjemand anderen. Ich bemühe mich hier nicht um ein umfassendes Bild. Obwohl ich Zeit in Jerusalem, in Israel und kurze Zeit im Gazastreifen verbracht habe, beschloss ich, mich auf das Westjordanland zu konzentrieren, und sei es nur, weil ich wusste, dass ich meine Recherchen irgendwie eingrenzen musste. Selbst innerhalb des Westjordanlandes stattete ich den Flüchtlingslagern, die eine Welt für sich sind, nur kurze Besuche ab. Aus Gründen des Zugangs und der Affinität verbrachte ich wenig Zeit unter Anhängern des politischen Islams. Wie sehr und mit welcher Traurigkeit auch immer ich zu einem Verständnis der israelischen Sichtweisen gekommen bin – ich unternehme hier keinen Versuch, die Ereignisse mit den Augen von Israelis zu sehen. Außer in Situationen, in denen ihre Anwesenheit ein wesentlicher und unmittelbarer Teil der Welt war, die ich beschrieb, wie in Hebron, werden Sie israelische Stimmen hier nicht finden.

Diese Herangehensweise mag all jene besonders irritieren, die es gewohnt sind, die Region durch die Linse des »Terrorismus« zu betrachten. Das ist allerdings kein Begriff, den ich häufig verwende. Falls er jemals hilfreiche Differenzierungen ermöglicht hat, so funktioniert er nun eher ideologisch denn beschreibend und verzerrt und verbirgt mehr, als er offenlegt. Macht das Niedermetzeln von Zivilisten einen Gewaltakt zu einem terroristischen Akt? In dieser Hinsicht agiert Israel sehr viel effizienter als die Palästinenser, doch nur Letzteren wird regelmäßig dieses Etikett verliehen. Oder ist es die Urheberschaft, die ein Massaker zu einem terroristischen macht und ein anderes zu einem legitimen Akt staatlicher Gewalt? Welche Worte auch immer wir verwenden, es bleibt real, dass auch Israelis getötet oder verletzt wurden und Menschen verloren haben, die ihnen lieb waren. Es ist nicht meine Absicht, diese Verluste kleinzureden, und ganz sicher nicht, sie zu rechtfertigen. Doch dies ist ein Buch über Palästinenser, die unter militärischer Besatzung leben. Auf seinen Seiten erwähne ich Angriffe auf Israelis so, wie sie im Westjordanland erlebt werden: nebenbei, als Randerscheinungen, die im Kontext einer Umgebung der Gewalt zu verorten sind, mit der die Besatzung fast alle Aspekte palästinensischen Lebens umhüllt hat. Was in der Welterfahrung des einen zentral sein mag, bleibt in der eines anderen marginal. Diese verstörende Wahrheit anzuerkennen steht am Anfang allen ethischen Engagements.

Als ich anfing, nach Palästina zu reisen, war ich der starken Überzeugung, dass etwas passieren musste, dass ein solcher Zustand nicht ewig andauern konnte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich recht hatte, aber etwas passierte tatsächlich. Dieses Buch ist auch eine Chronologie der Ereignisse, die zu diesem schrecklichen Etwas hinführten: Israels vernichtender Angriff auf die Menschen im Gazastreifen im Sommer 2014. Es ist insofern keine glückliche Geschichte. Dennoch enthält sie jede Menge Freude und Lachen und Liebe. Ich bin überzeugt davon, dass dies ein Werk des Optimismus und der Hoffnung ist. Nicht weil ich irgendeine unmittelbar bevorstehende »Lösung« des palästinensischen »Problems« sehe oder das mühelose Eintreten von etwas namens »Frieden«. Im Gegenteil, ich bin optimistisch, weil Menschen selbst in verzweifelter Lage, ohne Anlass zur Hoffnung, fortfahren, Widerstand zu leisten. Mir fallen nicht viele andere Gründe ein, warum man stolz sein könnte, ein Mensch zu sein, aber dieser eine Grund ist genug.

Teil eins

Nabi Saleh

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Prolog

Ramallah, Tel Aviv, Nabi Saleh

Und die Straßen der Nationen
zu denselben alten Quellen sind endlos!

Mahmud Darwisch

Im Rückblick sieht alles ganz anders aus. Es fällt schwer, sich daran zu erinnern, schwer, das sich dazwischendrängende Grauen und die Bilder, die sich im Kopf eingenistet haben, wegzuschieben, aber damals war die Unsicherheit noch berauschend. Niemand wusste, dass nicht wirklich Frühling war. Niemand begriff, dass Herbst war. Die Luft war frisch und kühl und wunderbar klar, die Bäume ein ausgelassenes Fest der Farben, die so strahlten, dass wir gegenüber allen Zeichen des nahenden Winters blind waren. Die Vergangenheit war vor allem verkommen, aber sie schien vorbei zu sein. Die Gegenwart war reiner überschwänglicher Zusammenbruch. Und die Zukunft? Sie war noch nicht eingetreten. Anfang 2011 fühlte sich die Hoffnung ein paar Wochen lang in ihrer Süße fast stofflich an, als könnte man sich eine Scheibe aus der Luft herausschneiden und davon kosten.

In Tunis beschloss ein Obsthändler namens Mohammed Bouazizi, der einmal zu oft von der Polizei gedemütigt worden war, wenigstens in Würde zu sterben. Er begoss seine Kleider, seine Haut und sein Haar mit Farbverdünner und steckte sich auf den Stufen des Rathauses selbst in Brand. Es dauerte über eine Stunde, bis ein Krankenwagen kam. Binnen einer Woche brannten die Straßen. Binnen eines Monats war Präsident Zine al-Abidine Ben Ali, der Tunesien zweiundzwanzig Jahre regiert hatte, aus dem Land geflohen. Binnen zwei Monaten waren die Flammen auf Ägypten übergesprungen und Husni Mubarak war nach dreißig Jahren ununterbrochener Herrschaft zurückgetreten. Das Feuer griff auf Marokko, Algerien, Jordanien, Jemen, Bahrain, Oman und sogar Saudi-Arabien über. Libyen erhob sich in einem offenen, bewaffneten Aufstand. Mitte März war es nur in Syrien noch ruhig. Und in Palästina.

Am 15. März 2011 kam ich zum ersten Mal nach Ramallah. Nirgendwo sonst im Nahen Osten schienen die Unterdrückung und die Gewalt schon so lange so unveränderlich. Die schlimmsten Tage der Zweiten Intifada waren seit einigen Jahren vorbei, aber nicht das Geringste war gelöst worden. Die Friedensgespräche zwischen Israel und der Palästinensischen Autonomiebehörde waren 2010 in sich zusammengefallen. Niemand außer den Amerikanern schien ihnen nachzutrauern. Für die meisten Palästinenser waren die vorangegangenen zwanzig Jahre der immer wieder aufgenommenen und immer wieder unterbrochenen Verhandlungen eine lange Scharade gewesen, eine glänzende Show für die Kameras, die vor allem dazu diente, die zermürbenden und immer weiter eskalierenden Demütigungen des Lebens unter der Besatzung zu verbergen. Was Israelis als relative Ruhe wahrnahmen, erlebten Palästinenser als langsame und stetige Übung in Sachen Annexion: mehr Siedlungen, mehr Gefangene, mehr Zwangsräumungen und Abrisse von Häusern, mehr Land, das an die Route der Mauer verlorenging. Die Zahl israelischer Siedler im Westjordanland hatte sich seit dem ersten Oslo-Abkommen von 1993 mehr als verdreifacht. Angriffe auf Palästinenser durch Soldaten an den Kontrollpunkten oder durch Siedler überall sonst waren so üblich, dass sie in den Nachrichten kaum noch Erwähnung fanden. Aber die Dinge änderten sich. An anderen Orten gingen ganze Bevölkerungen auf die Straße. Gewaltherrschaften, die dazu bestimmt schienen, ewig zu währen, brachen links und rechts zusammen. Die Luft wirkte frisch und klar. Palästina hatte in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten große Aufstände erlebt. Wenn es im vergleichsweise friedlichen politischen Klima des Maghreb und der Golfregion passieren konnte, würde Palästina sicher nicht lange brauchen, um sich zu erheben.

Aber gegen wen sollte es rebellieren? Zumindest vordergründig wurden die Städte und Ortschaften des Westjordanlandes von der Palästinensischen Autonomiebehörde regiert, die von der Fatah kontrolliert wurde, der säkularen nationalistischen Partei, die 1959 von Jassir Arafat gegründet worden war und zurzeit von Mahmud Abbas geführt wird. Der Gazastreifen wurde von der Hamas beherrscht, einem Spross der ägyptischen Muslimbrüderschaft, der während der Ersten Intifada Ende der 1980er Jahre gegründet worden war. Seit 2006 hatte es keine Wahlen gegeben. Die Hamas hatte damals gewonnen, doch die Fatah hatte mit verdeckter Ermutigung und Unterstützung der Bush-Regierung und der Israelis versucht, sie von der Macht zu verdrängen. Hunderte starben bei Kämpfen der beiden Parteien. Das Vorhaben scheiterte. Die Hamas behielt die Macht im Gazastreifen, und Abbas regierte das Westjordanland seit 2008, obwohl seine Amtszeit als Präsident offiziell im Januar 2009 ablief. Die Legislative war seit 2007 nicht zusammengekommen. Jede Gruppe verfolgte und inhaftierte die Anhänger der jeweils anderen in dem Gebiet, das sie unter Kontrolle hatte. Anders gesagt: Es gab keine legitime Regierung. Und dann war da noch Israel, dessen Truppen das Westjordanland besetzt hielten, mehr als 60 Prozent davon direkt regierten und dem Rest mit alles andere als subtilen Maßnahmen ihren Willen aufzwangen. Gaza bombardierten und blockierten sie nur.

Wo also anfangen – mit dem Handschuh oder der Hand darin? Das war die Frage, mit der sich eine kleine Gruppe junger Aktivisten konfrontiert sah – überwiegend Frauen, Angehörige der urbanen, gut ausgebildeten Mittelschicht, des Englischen mächtig und technisch versiert. Sie beschlossen, mit dem Handschuh anzufangen, und zwar sanft, diskret, nicht indem sie ihre Führer kritisierten, sondern indem sie sie drängten, die Teilung zu überwinden, die ein halbes Jahrzehnt die Fatah von der Hamas und das Westjordanland von Gaza getrennt hatte. Die Palästinensische Autonomiebehörde direkt in Frage zu stellen war unmöglich, erklärte mir ein junger Aktivist; sie würden alle im Gefängnis landen. Indem sie sich auf die unbedenkliche patriotische Forderung nach Einigkeit konzentrierten, so hoffte er, könnten die Aktivisten Raum für Widerspruch schaffen, ohne die Führungsriege zu verschrecken. Um die Bewegung in Gang zu setzen, riefen sie für den 15. März 2011 zu gleichzeitigen Demonstrationen im Westjordanland und im Gazastreifen auf.

Die Führungsriege war allerdings gewiefter, als die jungen Aktivisten ihr zugestanden. Beide regierenden Gruppierungen verstanden die Demonstrationen ganz richtig als Infragestellung ihrer Autorität. Die Antwort im Gazastreifen war direkt: Die Hamas unterdrückte den dortigen Protest mit Prügel und Verhaftungen. In Ramallah ging die Autonomiebehörde subtiler vor. Die Obrigkeit versuchte zunächst, die Veranstaltung zu vereinnahmen, indem sie al-Manara, den Kreisverkehr, der als zentraler Platz der Stadt fungierte, mit Fatah-Anhängern und Fatah-Sprechern überschwemmte, Fatah-Lieder übertrug und Fatah-Sprechchöre skandieren ließ. Am späteren Nachmittag zogen sich die Fatah-Anhänger abrupt zurück und ließen etwa hundert Demonstranten und etwa genauso viele Polizisten in Zivil und Geheimdienstagenten oder muchabarat zurück. Die Prügel begannen kurz nach Einbruch der Dunkelheit. Nicht alle auf einmal: mal hier, mal da, als wenn spontan Schlägereien ausbrächen. Bevor die Nacht vorüber war, würde ich sieben Aktivisten in Krankenwagen verschwinden sehen.

Ich verbrachte einen Großteil des Abends damit, Gesichter zu scannen, um die muchabarat auszumachen. Es war leicht, selbst wenn sie nicht in ihre Mantelkrägen murmelten. Sie waren die Wachsamen, jene, die aussahen, als wollten sie nicht da sein. Aber da war ein schmächtiger Mann in Lederjacke, den ich nicht einordnen konnte. Er stand am Rande, ein Ruhepunkt im Aufruhr der Menge. Er wirkte misstrauisch, distanziert, angespannt, aber ohne die Schwere und die unterdrückte Gewalttätigkeit, die, egal wie sehr sie sich um Coolness bemühen, die Haltung von Polizisten immer auszeichnet.

Der Name des Mannes war Bassem Tamimi. Er war laut dem Freund, der uns vorstellte, ein Führer der Protestbewegung von Nabi Saleh, einem winzigen Dorf etwa fünfundzwanzig Minuten nordwestlich von Ramallah. Seit etwas mehr als einem Jahr hielten die Bewohner von Nabi Saleh jeden Freitag nach dem Mittagsgebet einen Protestmarsch ab. Und jeden Freitag schlugen israelische Soldaten sie mit Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschossen zurück. Im Chaos auf dem Platz an diesem Abend bewahrte sich Bassem eine seltsame steife Ruhe, als wenn sein langes Gesicht und seine blauen Augen auf eine andere Welt als die turbulente um uns herum gerichtet wären. Im Rückblick kann ich mir einige Gründe vorstellen, aus denen er sich fehl am Platz gefühlt haben könnte, aber vielleicht war es auch nur Erschöpfung. Er war seit Tagen nicht zu Hause gewesen. »Ich werde gesucht«, erklärte er und lächelte traurig.

Wir trafen uns ein paar Tage später in einem kleinen rauchgeschwängerten Café wieder. Bilder von der ummauerten und schneebedeckten Altstadt Jerusalems hingen über uns, und das Foto eines Märtyrers – ein junger Mann, der vermutlich in der Zweiten Intifada gefallen war und der stolz mit seiner Kalaschnikow posierte – wurde an einer entfernten Wand präsentiert. Bassem saß aufrecht da und paffte an einer argile. Zwölf Tage zuvor, ein oder zwei Stunden nach Mitternacht, hatte die israelische Armee Nabi Saleh einen Besuch abgestattet. Sie hatten mit dem Haus von Bassems Cousin Nadschi Tamimi angefangen. (Alle der über sechshundert Einwohner von Nabi Saleh gehören zur selben Großfamilie, und fast alle tragen den Nachnamen Tamimi.) Die Soldaten weckten Nadschi in seinem Bett, verbanden ihm die Augen, legten ihm Handschellen an und nahmen ihn mit. Als Nächstes gingen sie zu Bassems Haus. Seine Frau Nariman öffnete die Tür. Sie sagte ihnen, dass Bassem nicht zu Hause sei. Da er Ärger erwartet hatte, hatte er außerhalb des Dorfes geschlafen. Die Soldaten kamen trotzdem ins Haus und verbrachten eine Stunde damit, es zu durchsuchen, wobei sie seine vier Kinder und seine betagte Mutter weckten und alles auf den Kopf stellten. Seitdem war er nicht mehr zu Hause gewesen.

»Ich werde Ihnen die ganze Geschichte erzählen«, fing er an. »Sie können schreiben, was Sie wollen.«

»Ich wurde 1967 geboren«, sagte Bassem, das Jahr, in dem Israel das Westjordanland, Ostjerusalem, den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel1 und die Golanhöhen besetzte. »Für mich war ein Israeli nur ein Soldat an einem Kontrollpunkt, jemand, der Häuser durchsuchte, schoss, tötete, Menschen verletzte, der Gefängniswärter im Gefängnis, die Übersetzerin am Gericht.«

Seine Schwester, sagte er, starb 1993, als eine Übersetzerin am israelischen Militärgericht in Ramallah sie eine Treppe hinunterstieß. (Übersetzer im militärischen Justizsystem sind uniformierte Soldaten, genau wie die Richter und Staatsanwälte.) Der Sturz brach ihr das Genick. Sie war dort gewesen, um ihren Sohn Mahmud zu besuchen, der damals zwölf oder dreizehn war und gerade verhaftet worden war. Bassem war ebenfalls im Gefängnis und wurde zusammen mit drei anderen aus Nabi Saleh beschuldigt, einen Israeli namens Chaim Mizrahi in der Nähe der Siedlung Beit El außerhalb von Ramallah ermordet zu haben.2 Während Bassem befragt wurde, schüttelte ein Vernehmer vom israelischen Inlandsgeheimdienst, auch bekannt als Schin Bet oder Schabak, seinen Kopf so stark und so lange vor und zurück, dass Bassem das Bewusstsein verlor. »Ich fühlte mich, als würde mein Gehirn lose in meinem Kopf herumrollen«, berichtete er damals Rechercheuren von Human Rights Watch. »Ich dachte, mir platzt der Kopf, so stark waren die Schmerzen.« Als er aufwachte, konnte er sich nicht bewegen; er war mit 63 Stichen am Kopf genäht worden, das Bett umstellt von Soldaten. »Sie gaben mir eine Zeitung«, erinnerte er sich, »eine hebräische Zeitung. Da waren ein Foto von mir und ein Foto meines Cousins. Sie sagten, ich sei ein Mörder, dass wir einen Siedler ermordet hätten.« Er bemerkte das Datum der Zeitung. Tage waren vergangen, an die er keinerlei Erinnerung hatte: Er hatte im Koma gelegen und war operiert worden, zur Druckentlastung nach einer Hirnblutung. Er wurde am Tag der Beerdigung seiner Schwester entlassen, ohne dass Anklage erhoben worden war. Wochen vergingen, bis er seine Gliedmaßen wieder voll einsetzen konnte. Bassem zeigte auf eine Delle von der Größe einer 5-Cent-Münze an seiner Schläfe und zerteilte sein kurzes, ergrauendes Haar, um die Narben auf seinem Schädel freizulegen.3 Seine Hände, blass und feingliedrig, schienen einem anderen Mann zu gehören.

»Im Laufe meines Lebens bin ich zehnmal verhaftet worden«, fuhr Bassem fort. Bei den meisten dieser Verhaftungen war er nicht angeklagt oder vor Gericht gestellt worden, sondern war unter der nichtssagenden Bezeichnung »Verwaltungshaft« festgehalten worden, ein rechtliches Überbleibsel der britischen Kolonialherrschaft, das es den israelischen Behörden erlaubt, eine Person, die als Gefahr für Israels Sicherheit gilt, ohne Anklage und ohne Vorlage von Beweisen einzusperren.4 Insgesamt hatte Bassem drei Jahre seines Lebens in israelischen Gefängnissen verbracht, ohne jemals eines Verbrechens für schuldig befunden worden zu sein. »Meine Frau«, fügte er hinzu, »wurde 2010 bei der zweiten und der dritten Demonstration verhaftet. Mein Sohn, dreizehn Jahre alt, wurde verwundet, meine Frau wurde von Gummigeschossen verwundet, und mein kleines Kind, sieben Jahre alt, wurde von Gummigeschossen und Tränengas verwundet.«

Nabi Salehs Schwierigkeiten begannen 1976, als Israelis, die der messianischen nationalistischen Gruppe Gusch Emunim (»Block der Getreuen«) angehörten, sich auf einer Hügelkuppe gegenüber dem Dorf in einer alten steinernen Festung niederließen, die die Briten als Polizeistation errichtet hatten. Die Siedler, so Bassem, fingen bald an, Bäume zu fällen und Häuser zu bauen. Bewohner von Nabi Saleh und dem Nachbardorf Deir Nidham zogen gegen die Siedler vor Gericht und beschuldigten sie, ihnen ihr Land zu stehlen. Das Gericht entschied zugunsten der Dorfbewohner – das Land, das die Polizeistation direkt umgab, gehörte dem Staat, aber die Felder darum herum waren Privatbesitz. Die Siedler zogen ab, doch im Mai 1977 gewann der konservative Likud-Block die Parlamentswahlen und beendete drei Jahrzehnte der Mitte-Links-Herrschaft durch die Vorgänger der heutigen Arbeitspartei. Menachem Begin ersetzte Jitzchak Rabin als Premierminister. Die Siedler kehrten zurück. Im Jahr darauf nahm der Staat gut 60 Hektar des dorfeigenen Landes für »militärischen Bedarf« in Besitz und vergab es an die Siedler, deren Gemeinde schließlich den Namen Halamisch tragen sollte. Heute leben dort etwa 1200 Menschen, fast zweimal so viele wie in Nabi Saleh.

Bassem zufolge wurde das Problem während der Zweiten Intifada noch größer, in den schlimmen, harten Jahren Anfang des neuen Jahrtausends. Die israelische Armee erklärte das Land direkt unterhalb der Siedlung zu militärischem Sperrgebiet. Soldaten, sagte Bassem, »griffen jeden an, den sie auf dem Land entdeckten«. Palästinensische Bauern konnten ihre Felder nicht mehr bestellen. Siedler fingen an, sie zu bewirtschaften. Noch mehr Land ging verloren und danach noch mehr.5 Vierzig Prozent des dorfeigenen Landes, so Bassem, »sind unter der Kontrolle der Siedler. Wir können es nicht nutzen. Wir können es nicht bewirtschaften. Sie halten es frei, damit die Siedlung sich ausbreiten kann.«

Südlich des Dorfes und unterhalb des Hügels der Siedlung entspringt eine Quelle aus einer niedrigen Felsklippe. Die Menschen aus Nabi Saleh nennen sie »Ain al Qoos« oder die Bogen-Quelle. Die Bauern, die die Felder in der Nähe bewirtschafteten, bedienten sich von jeher ihres Wassers. Im Sommer 2008 gruben die jungen Leute aus Halamisch ein Loch und kleideten es mit Zement aus, um ein Becken zu schaffen, in dem sich das Wasser der Quelle sammelte. Die Siedler setzten Fische hinein und bauten eine Bank, eine Schaukel, weitere Becken, eine Laube für Schatten.6 Sie gaben der Quelle einen hebräischen Namen – Ma’ayan Meier oder Meiers Quelle, nach einem der Gründer der Siedlung. Als Palästinenser kamen, um ihre Pflanzen auf den Feldern neben der Quelle zu pflegen, jagten die Siedler sie Bassem zufolge fort – »sie schlugen und prügelten sie, bedrohten sie, machten ihnen Angst«. Die Armee, die schon längst einen Stützpunkt in der alten britischen Polizeistation eingerichtet hatte, folgte ihnen stets in ein paar Schritten Abstand.

An einem Freitag im Dezember 2009 marschierten die Bewohner von Nabi Saleh zur Quelle, »um der Welt zu sagen«, so Bassem, »dass wir das Recht haben, unser Land zu bewirtschaften«. Eine Gruppe Siedler kam aus Halamisch hinunter. (»Sie sind immer bewaffnet. Sie tun keinen Schritt ohne ihre Waffen.«) Bassem zufolge begannen sie zu schießen und mit Steinen zu werfen. Bald kamen Soldaten hinzu und feuerten Tränengas und Gummigeschosse ab. Die Dörfler – Männer, Frauen und Kinder – kehrten am nächsten Freitag zurück und an jedem Freitag seither, wobei sich ihnen immer mehr ausländische und israelische Aktivisten sowie Journalisten anschlossen. Die Soldaten ließen sie nie wieder in die Nähe der Quelle, aber sie zurückzugewinnen, insistierte Bassem, sei auch nie das Ziel gewesen. Die Idee war, die Besatzung insgesamt in Frage zu stellen, das nahezu unendlich komplexe System der Kontrolle, das Israel auf die Palästinenser überall im Westjordanland anwandte: nicht nur die Siedlungen und die Soldaten in ihren Stützpunkten oben auf den Hügeln, sondern auch die Kontrollpunkte, die Reisebeschränkungen, die Genehmigungen, die Mauern und Zäune, die Gerichte und Gefängnisse, der Würgegriff, in dem sich die Wirtschaft befindet, die Abrisse von Häusern, die Aneignung von Land, die Enteignung natürlicher Ressourcen, der gesamte riesige Apparat der Unsicherheit, Zwangsenteignung und Erniedrigung, der seit vier Jahrzehnten die israelische Herrschaft aufrechterhält, indem er die Möglichkeiten und häufig auch die Dauer palästinensischer Leben beschneidet. »Die Quelle ist das Gesicht der Besatzung«, sagte Bassem. »Die Besatzung ist illegal, und wir haben das Recht, gegen sie zu kämpfen.«

Die Armee hatte in der Zwischenzeit begonnen, den Kampf ins Dorf zu tragen, indem sie Tränengasgranaten in Häuser der Bewohner warf, nachts Hausdurchsuchungen durchführte und Verhaftungen vornahm. Bassem ratterte die Zahlen herunter: In den vierzehn Monaten seit Beginn der Proteste waren 155 Einwohner von Nabi Saleh verletzt worden, darunter vierzig Kinder. Ein dreizehnjähriger Junge aus einem Nachbardorf hatte drei Wochen im Koma gelegen, nachdem ihn ein Gummigeschoss am Kopf getroffen hatte. Fast jedes Haus in Nabi Saleh war beschädigt worden. Gasgranaten hatten Brände in sieben Häusern entfacht, bei denen Vorhänge, Teppiche und Möbel Feuer fingen. Siebzig Dorfbewohner waren verhaftet worden, darunter 29 Kinder. Das jüngste war elf Jahre alt. Weitere vierzig oder mehr ausländische und israelische Aktivisten waren ebenfalls verhaftet worden. Fünfzehn Dorfbewohner saßen immer noch im Gefängnis. Sechs, darunter Bassem, waren untergetaucht.

Ich fragte Bassem, was er von der Demonstration für Einigkeit auf dem al-Manara-Platz hielt. »Das ist gut«, sagte er. »Unser Hauptfeind ist die Besatzung. Wenn wir die Teilung [zwischen Fatah und Hamas] angehen, machen wir einen Schritt, um direkt gegen die Besatzung vorzugehen.« Wie sich herausstellen sollte, war es ein sehr kleiner Schritt. Die Bewegung des 15. März, wie sie später genannt werden sollte, dauerte nicht länger als der 15. März. Die Aktivisten trafen sich weiter und entwickelten weiter Strategien, aber es gelang ihnen nicht, eine bedeutende Anhängerschaft zu binden, und bald ging jeder seiner Wege. In Palästina würde der Frühling noch warten müssen.

Fünf Tage nachdem wir uns in Ramallah unterhalten hatten, riskierte Bassem einen Besuch bei seiner Familie. Seine Mutter war krank, und er glaubte, dass es nicht schwierig sein würde, sich ungesehen ins Dorf zu schleichen und wieder hinaus. »Ich bin nicht Osama bin Laden«, scherzte er dem Cousin gegenüber, bei dem er untergeschlüpft war, als sie ins Auto stiegen. Er war gerade zehn Minuten zu Hause, als Soldaten vor seiner Tür standen.

Am Freitag darauf besuchte ich Nabi Saleh zum ersten Mal. Ich wohnte in Tel Aviv und wurde von einer Gruppe junger israelischer Aktivisten mitgenommen. Sie waren auf theatralische Weise vorsichtig: Mein Kontakt instruierte mich, an einer Straßenecke im Süden der Stadt zu warten. Erst nachdem ich dort ein paar Minuten gestanden hatte, erreichte mich eine SMS mit der Adresse des wirklichen Treffpunkts ein paar Ecken weiter. Die meisten der Aktivisten waren Anfang zwanzig: blasse, gepiercte, Drogen und Alkohol ablehnende Kids in ausgewaschenen schwarzen Jeans, schwarzen Stiefeln, mit schwarzen Rucksäcken. Die meisten waren Anarchisten, aus Prinzip gegen Militarismus und den Staat genauso wie gegen spezifische Aktionen der israelischen Armee in Nabi Saleh und überall sonst. Einige von ihnen hatten an Protesten gegen den Bau der Sperranlagen teilgenommen (Israelis nennen sie »Sicherheitszaun«; Palästinenser ziehen den Begriff »Apartheid-Mauer« vor), die sich seit den frühen Nullerjahren durch Dörfer im Westjordanland ziehen, und gehörten zu den Gründern eines lockeren Bündnisses aus Aktivisten namens Anarchists Against the Wall. Sie waren ein ernster und manchmal mürrischer Haufen, schnell am Belehren, aber nur langsam zum Lachen zu bringen. Ihr Engagement war allerdings beeindruckend: Ihre politische Haltung hatte die meisten von ihnen zu Ausgestoßenen der israelischen Gesellschaft gemacht, einige sogar zu Ausgestoßenen ihrer Familien. Fast alle von ihnen waren verhaftet – einige schon Dutzende Male – und verprügelt worden, waren Tränengas und Schüssen ausgesetzt gewesen, und dennoch kehrten sie Freitag für Freitag zurück. Mit ein paar namhaften Ausnahmen waren – und sind – die Anarchisten die einzigen Israelis, die regelmäßig die Grüne Linie ins Westjordanland überqueren, um solidarisch mit den Palästinensern gegen die Besatzung zu protestieren. Zusammengenommen könnten sie alle in einen Bus passen. Zwei Busse maximal.

Fünf von uns quetschten sich in einen roten Suzuki-Kompaktwagen. Während wir ostwärts aus der Stadt hinausfuhren, bereitete mich ein eifriger Kerl mit einem ungleichmäßigen roten Bart auf Nabi Saleh vor. »Es ist ein sehr starkes Dorf«, begeisterte er sich. »Nichts ist so Asterix wie dieses Dorf – du kennst Asterix, oder?« Das tat ich. Mit den französischen Comics über die unermüdlichen Gallier, die fröhlich gegen ihre römischen Besatzer kämpfen, war ich aufgewachsen. In den Heften braut der gallische Druide Miraculix einen Zaubertrank, der die Dörfler unverwundbar stark macht, so dass sie ganze Legionen römischer Soldaten mit ihren nackten Fäusten vermöbeln können. Nabi Saleh hatte keinen Druiden und keinen Zaubertrank. »Es ist das unverwüstlichste Dorf«, versicherte mir mein neuer Freund. »Im Moment ist es schwach, aber es wird nie aufgeben. Nie.«

Als wir dort eintrafen, blockierten ein Jeep und vier Soldaten die Hauptstraße ins Dorf. Wir parkten neben der Quelle und stiegen einen steilen und felsigen Hügel hinauf. Die Wolken hingen niedrig und waren grau. Es regnete ein bisschen. Die rot gedeckten Häuser von Halamisch kauerten sich auf die Hügelkuppe hinter uns. Die Demonstration begann ein paar Minuten nach Mittag. Wie immer ging es darum, vom Platz in der Dorfmitte zur Quelle zu marschieren. Wir waren vielleicht fünfzig Leute. Etwa die Hälfte kam aus dem Dorf – Männer und Jungen und ein paar Frauen. Der Rest waren solidarische Aktivisten – die Israelis, die ich in Tel Aviv getroffen hatte, plus ein gutes Dutzend Europäer im College-Alter. Wir konnten die Jeeps der Soldaten sehen, die am Fuß des Hügels parkten, als wir uns auf den Weg die Straße entlang und dann quer über ein sehr abschüssiges Feld mit Disteln und Wildblumen machten. Einer der älteren Jungen rief Sprechchöre in ein Megafon. »Wir haben keine Angst«, schrie er auf Arabisch, und alle klatschten, während sie marschierten und seine Worte zurückskandierten. Drei Esel kamen herübergewandert, um uns genauer anzusehen, schienen es sich dann aber anders zu überlegen und trotteten davon.

Wir waren kaum halb den Hügel hinunter, die Quelle war noch mehrere Hundert Meter entfernt, als vier Minuten nach Beginn des Marsches die ersten Tränengasgranaten über uns durch den Himmel rauschten. Die nächsten Salven waren flacher – eine zischte knapp über meinem Kopf vorbei –, und die Soldaten rückten von rechts und links auf den Hügel vor. Die Sprechchöre wurden von Schreien abgelöst, und bald rannten, duckten und verstreuten wir uns alle, während die Granaten vorbeipfiffen und das Gas in langsamen, sauren Wolken um uns herumwaberte. Ich beobachtete drei Soldaten, die am Fuß des Hügels Granate um Granate abfeuerten, nicht im Bogen über uns hinweg, sondern gezielt auf Höhe unserer Köpfe und Oberkörper, und plötzlich waren da noch mehr Soldaten über uns und schossen vom Dorfkern auf uns hinunter.

Ich suchte Zuflucht bei etwa einem Dutzend Aktivisten, die sich ins Wohnzimmer eines Hauses drängten, das ich später als Mustafas Zuhause kennenlernen würde. Es gehörte einem Taxifahrer namens Abd al-Razzaq Tamimi, seiner Frau Ekhlas, ihrer Tochter und ihren vier Söhnen, deren ältester Mustafa hieß. Als der Regen aufgehört hatte und die Soldaten sich zurückgezogen hatten, ging ich wieder nach draußen. Die Nachricht machte die Runde, dass ein Teenager verhaftet worden sei, einer von Ekhlas’ Söhnen. Ekhlas rannte heulend vor Verzweiflung zum Dorfkern. Zwei lang gediente israelische Aktivisten – Jonathan Pollak und Kobi Snitz – waren ebenfalls verhaftet worden, genau wie Bilal Tamimi7, Nabi Salehs örtlicher Videograf, der jeden Protest filmte und beinahe jede Interaktion zwischen Dörflern und Armee dokumentierte. An jenem Tag verbanden sie Bilal die Augen und sperrten ihn hinten in einen Jeep, der am Rande des Dorfplatzes geparkt war. Die Israelis und die Internationalen hakten sich unter und setzten sich dem Jeep in den Weg. Die Kids aus dem Dorf fingen an, Kartons zu zerreißen, damit die Aktivisten nicht auf dem kalten, nassen Asphalt sitzen mussten. Bald packte ein israelischer Offizier in der grauen Uniform des Grenzschutzes die sitzenden Protestler jeweils am Kinn, zog es hoch und sprühte ihnen Pfefferspray in die Augen, und ihre Freunde eilten herbei, um ihnen zu helfen. Zwei Aktivisten klammerten sich auf der Motorhaube des Jeeps aneinander, während die Soldaten sie in Pfefferspray tränkten, und sie stolperten mit zusammengekniffenen, geschwollenen Augen spuckend und würgend davon, als die Soldaten den Platz mit Blendgranaten8 und noch mehr Tränengas räumten, bis das Chaos schließlich so plötzlich, wie es begonnen hatte, verebbte und eine seltsame, heitere Ruhe einkehrte.