Über das Buch

Unter dem Schock einer alarmierenden medizinischen Diagnose verbringt Franz Ritter, Wiener Musikwissenschaftler, eine schlaflose Nacht. Schon lange hat er kaum mehr seine Wohnung verlassen, die über die Jahre zu einer einzigen großen Bibliothek des europäischen Orientalismus geworden ist. In dieser einsamen Nacht begibt er sich im Geiste noch einmal auf Reisen zu all den Orten, an die ihn seine Studien geführt haben: nach Istanbul, Damaskus, Aleppo, Palmyra, alles Orte, die für ihn untrennbar mit Sarah verbunden sind, der berühmten Orientalistin – seine große Liebe. Unentrinnbar gerät man in den Sog der Erinnerung dieses enzyklopädisch gebildeten, sehnsuchtsvoll liebenden Gelehrten, der immer mehr Dokumente, Romanzen, Fakten, Geschichten hervorzaubert, die von dem entscheidenden Beitrag des Orients zur westlichen Kultur und Identität zeugen.

Mathias Enard

Kompass

Roman

Aus dem Französischen von
Holger Fock und Sabine Müller

Carl Hanser Verlag

Die französische Originalausgabe erschien 2015

unter dem Titel Boussole bei Actes Sud in Arles.

Die Übersetzer danken dem Deutschen Übersetzerfonds (DÜF) Berlin für die großzügige Förderung ihrer Arbeit durch ein Stipendium.

Der Verlag dankt dem Centre national du livre
für die freundlich gewährte Übersetzungsförderung.

ISBN 978-3-446-25426-8

© Actes Sud, 2015

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München,

Kalligraphie: Ismat Amiralai

Satz: Greiner & Reichel, Köln

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Die Augen schließ’ ich wieder,
Noch schlägt das Herz so warm.
Wann grünt ihr Blätter am Fenster?
Wann halt’ ich mein Liebchen im Arm?

Wilhelm Müller & Franz Schubert,

Die Winterreise

Wir sind zwei Opiumraucher, jeder in seiner Wolke, ohne etwas draußen zu sehen, allein, ohne uns je zu verstehen, wir rauchen, sterbende Gesichter in einem Spiegel, wir sind ein gefrorenes Bild, dem nur die Zeit den Anschein von Bewegung verleiht, ein Schneekristall, der auf ein Raureifknäuel gleitet, dessen komplexes Geflecht niemand wahrnimmt, ich bin dieser kondensierte Wassertropfen an der Fensterscheibe meines Wohnzimmers, eine flüssige Perle, die hinabrinnt und nichts vom Dampf weiß, aus dem sie hervorgeht, und nichts von den Atomen, aus denen sie noch besteht und die bald andere Moleküle bilden werden, andere Gebilde, die Wolken, die heute Abend tief über Wien stehen: Wer weiß, in welchen Nacken dieses Wasser rinnen wird, über welche Haut, auf welchen Gehsteig, zu welchem Fluss, und dieses verschwommene Gesicht auf dem Glas ist nur einen Augenblick lang meines, eine der Millionen Konfigurationen, die sich in der Einbildung formen können – sieh an, trotz des Sprühregens führt Herr Gruber seinen Hund spazieren, er trägt einen grünen Hut und seinen ewigen Regenmantel; mit kleinen, lächerlich wirkenden Sprüngen auf dem Gehsteig schützt er sich vor dem Spritzwasser der Autos: Der Köter glaubt, sein Herrchen wolle spielen, deshalb springt er an ihm hoch und fängt sich einen kräftigen Klaps ein, als er seine schmutzige Pfote an den Regenmantel von Herrn Gruber legt, der sich schließlich trotzdem der Fahrbahn nähert, um über die Straße zu gehen, wobei seine Silhouette von den Straßenlampen in die Länge gezogen wird, eine schwarze Pfütze in einem Meer von Schatten hoher Bäume, das von den Scheinwerfern in der Porzellangasse zerrissen wird, und Herr Gruber zögert offenbar, in die Dunkelheit am Alsergrund einzutauchen, wie ich zögere, abzulassen von meinen Betrachtungen über die Regentropfen, das Thermometer und den Rhythmus der Straßenbahnen, die zum Schottentor hinunterfahren.

Das Leben ist ein schmerzendes Spiegelbild, der Traum eines Opiumsüchtigen, ein Gedicht von Rumi, gesungen von Shahram Nazeri, das Ostinato des Zarb lässt die Fensterscheibe unter meinen Fingern leicht zittern wie die Haut der Trommel, statt zu schauen, wie Herr Gruber im Regen verschwindet, statt den sich in die Höhe schraubenden Melismen des iranischen Sängers zu lauschen, dessen Kraft und Timbre manch einem unserer Tenöre die Schamesröte ins Gesicht treiben könnten, sollte ich lieber mit meiner Lektüre fortfahren. Ich sollte die CD anhalten, mich dabei zu konzentrieren ist unmöglich; obwohl ich diesen Sonderdruck zum zehnten Mal lese, verstehe ich seinen rätselhaften Sinn nicht, zwanzig Seiten, zwanzig entsetzliche, lähmende Seiten, die ausgerechnet heute bei mir angekommen sind, heute, wo ein mitfühlender Arzt meiner Krankheit vielleicht einen Namen gegeben und meinen Körper offiziell für krank erklärt hat, nachdem er fast mit Erleichterung eine Diagnose meiner Symptome stellen konnte – den Todeskuss –, eine Diagnose, die noch bestätigt werden muss, während, wie er meinte, die Behandlung schon beginnen und der weitere Verlauf abgewartet werden sollte, den Verlauf, so weit sind wir also schon, den Verlauf eines Wassertropfens beobachten bis zu seinem Verschwinden, bevor er sich im Großen All neu bildet.

Es gibt keine Zufälle, alles hängt zusammen, würde Sarah sagen, warum bekomme ich ausgerechnet heute diesen Artikel mit der Post zugesandt, einen altbackenen Sonderdruck, mit Heftklammern gebunden, und nicht als PDF, versehen mit »den besten Empfehlungen«, einer Mail, in der sie mir ein paar Neuigkeiten hätte berichten und mir mitteilen können, wo sie sich gerade aufhält, was es mit diesem Sarawak auf sich hat, von wo sie schreibt und das meinem Atlas zufolge ein malaysischer Bundesstaat ist, der im Nordwesten der Insel Borneo liegt und an Brunai mit seinem reichen Sultan grenzt, in Nachbarschaft auch, wie mir scheint, zu Debussys und Brittens Gamelan-Ensembles – aber der Artikel handelt von etwas anderem, nicht von Musik, abgesehen vielleicht von einem langen Klagelied; zwanzig eng bedruckte Seiten aus der Septembernummer von Representations, der schön gemachten Zeitschrift der Universität von Kalifornien, in der sie schon häufig veröffentlicht hat. Der Artikel trägt eine kurze Widmung auf dem Vorsatzblatt, ohne weiteren Kommentar, Für Dich, lieber Franz, ich umarme Dich ganz fest, Deine Sarah, und ist am 17.November, das heißt vor zwei Wochen, aufgegeben worden – es dauert also noch zwei Wochen, bis ein Brief aus Malaysia in Österreich ankommt, vielleicht hat sie mit den Briefmarken geknausert, sie hätte auch eine Postkarte beilegen können, was bedeutet das jetzt, ich bin alles durchgegangen, was ich von ihr in meiner Wohnung habe, ihre Artikel, zwei Bücher, ein paar Fotos und sogar eine gedruckte und in rotes Kunstleder gebundene Ausgabe ihrer Dissertation, zwei dicke Bände, je drei Kilo schwer:

»Es gibt im Leben Wunden, die wie die Lepra, langsam, in der Einsamkeit an der Seele zehren«, schreibt der Iraner Sadeq Hedayat zu Beginn seines Romans Die blinde Eule: Das wusste der kleine Mann mit den runden Brillengläsern besser als jeder andere. Eine dieser Wunden hat ihn dazu gebracht, an einem Abend großer Einsamkeit in seiner Pariser Wohnung in der Rue Championnet den Gashahn weit aufzudrehen, an einem Abend im April, weit weg von Iran, sehr weit weg, mit nichts anderem zur Gesellschaft als ein paar Gedichten von Omar Khayyam und vielleicht einer dunkelbraunen Flasche Cognac oder einem kleinen Brocken Opium, oder vielleicht mit nichts, mit nichts außer den Texten, die er noch für sich behalten hatte und die er in die große Leere des Gases mitnahm.

Man weiß nicht, ob er einen Brief hinterlassen hat oder ein anderes Zeichen als seinen Roman Die blinde Eule, der seit langem vollendet war und der ihm zwei Jahre nach seinem Tod die Bewunderung französischer Intellektueller einbrachte, die nie etwas aus Iran gelesen hatten: Der Verleger José Corti veröffentlichte Die blinde Eule kurz nach Julien Gracqs Roman Das Ufer der Syrten. Gracq hatte mit diesem Roman großen Erfolg, im Jahr 1951, als das Gas in der Rue Championnet gerade seine Wirkung zu entfalten begann, und er sagte später, Das Ufer der Syrten sei der Roman »aller noblen Fäulnis«, gleich jener, die Hedayat damals im Äther des Weins und des Gases aufgefressen hatte. André Breton setzte sich dann für beide Männer und ihre Bücher ein, zu spät, um Hedayat von seinen Wunden zu heilen, hätte er denn je geheilt werden können, wäre denn sein Leiden nicht ganz sicher ein unheilbares gewesen.

Der kleine Mann mit den dicken, runden Brillengläsern lebte im Exil wie in Iran, ruhig und zurückgezogen, er sprach mit leiser Stimme. Seine Ironie und seine bissige Traurigkeit brachten ihm die Zensur seiner Texte ein, wenn es nicht seine Sympathie für die Irren und die Trinker war, vielleicht sogar seine Bewunderung für bestimmte Bücher und Dichter; vielleicht unterlag er auch der Zensur, weil er ein bisschen Opium und Kokain ausprobierte, wobei er sich zugleich über Drogensüchtige mokierte, weil er allein trank oder den Makel hatte, nichts mehr von Gott zu erwarten, nicht einmal an gewissen Abenden großer Einsamkeit, wenn das Gas rief; vielleicht auch, weil er im Elend versank oder weil er mit Augenmaß daran glaubte oder eben nicht daran glaubte, dass seine Schriften wichtig waren, alles Dinge, die störten.

Jedenfalls weist in der Rue Championnet kein Schild auf sein Leben oder seinen Tod hin, und trotz des Gewichts der Geschichte, aufgrund derer man nicht an ihm vorbeikommt, trotz des Gewichts seines Todes, der noch immer auf seinen Landsleuten lastet, erinnert auch in Iran kein Denkmal an ihn. In Teheran lebt sein Werk heute so, wie er starb, elendig und im Untergrund, auf den Auslagen der Flohmärkte oder in verstümmelten Neuausgaben, um jede Anspielung gekürzt, die den Leser in Drogen oder in den Selbstmord treiben könnte, um die iranische Jugend zu schützen, die von solchen Krankheiten wie Verzweiflung, Selbstmord und Drogen befallen ist und sich deshalb mit großem Genuss auf Hedayats Bücher stürzt, wenn sie welche findet, und auf diese Weise gefeiert und schlecht gelesen, gesellt er sich zu den großen Namen, die auf dem Friedhof Père-Lachaise um ihn versammelt sind, zwei Schritte entfernt von Proust, wo er in alle Ewigkeit so bescheiden, so diskret wie zu Lebzeiten, ohne auffällige Blumen und mit seltenem Besuch seit jenem Apriltag 1951 ruht, als er sich für das Gas und die Rue Championnet entschied, um mit allem Schluss zu machen, aufgezehrt von einer erstickenden und unheilbaren seelischen Lepra. »Niemand trifft die Entscheidung, sich umzubringen; der Selbstmord sitzt in manchen Menschen, gehört zu ihrem Naturell.« Diese Zeilen schreibt Hedayat Ende der zwanziger Jahre. Er schreibt sie, bevor er Kafka liest und übersetzt, bevor er Khayyam herausgibt. Sein Werk entfaltet sich durch das Ende. Die erste Sammlung Kurzgeschichten, die er veröffentlicht, beginnt mit Lebendig begraben, Zendé bé gour, dem Selbstmord und der Zerstörung, und beschreibt, wie wir meinen, ganz eindeutig die Gedanken, die ihm zwanzig Jahre später durch den Kopf gehen, als er sich dem Gas überlässt, sanft in den Dämmerschlaf fällt, nachdem er in der winzigen Küche, die vom unerträglichen Duft des nahenden Frühlings erfüllt ist, für die Zerstörung seiner Unterlagen und Notizen gesorgt hat. Vielleicht noch beherzter als Kafka hat er seine Manuskripte vernichtet, vielleicht, weil er keinen Max Brod zur Hand hat, vielleicht, weil er niemandem vertraut oder weil er überzeugt ist, dass es an der Zeit ist zu verschwinden. Und wenn Kafka sich hustend davonmachte, bis zur letzten Minute Texte korrigierend, die seinem Willen nach verbrannt werden sollten, fällt Hedayat in die langsame Agonie des Tiefschlafs, nachdem er über seinen Tod bereits zwanzig Jahre zuvor geschrieben hat und sein ganzes Leben von den Narben und Wunden jener Lepra gezeichnet blieb, die ihn in seiner Einsamkeit aufzehrte und von der man ahnt, dass sie mit Iran, dem Orient, Europa und dem Okzident zusammenhängt, so wie Kafka in Prag zugleich Deutscher, Jude und Tscheche war, ohne auch nur irgendetwas davon zu sein, verlorener als jeder andere und freier als alle. Hedayat litt an einer dieser Verwundungen an sich selbst, die einen durch die Welt schlingern lassen, es ist dieser feine Riss, der sich immer weiter auftut, bis er zur Kluft wird; und dem liegt wie beim Opium, beim Alkohol, bei allem, was einen aufreißt, keine Krankheit zugrunde, sondern eine Entscheidung, ein Wille, bis zum Ende Risse in seinem Sein zuzulassen.

Wenn wir diese Arbeit mit Hedayat und seiner Blinden Eule beginnen, dann um diesen Riss zu erforschen, weil wir seine Tiefen ausloten und uns in die Trunkenheit der Frauen und Männer versetzen wollen, die durch ihre Andersheit ins Taumeln gerieten; wir werden die Hand des kleinen Mannes ergreifen, um hinabzusteigen und die aufzehrenden Wunden zu beobachten, die Drogen, die Fremdheit und jenes Zwischenreich, jenen Barzach, die Welt zwischen den Welten, in die Künstler und Reisende fallen.

Dieser Prolog ist wirklich eine Überraschung, und die ersten Zeilen sind noch genauso verwirrend wie vor fünfzehn Jahren – es muss schon spät sein, trotz des Zarb und Nazeris Stimme fallen mir über dem alten Typoskript die Augen zu. Als man Sarah bei der Verteidigung ihrer Doktorarbeit den »romantischen« Ton der Einleitung und die »vollkommen abwegige« Parallele zu Gracq und Kafka vorwarf, war sie wütend geworden. Morgan, ihr Doktorvater, hatte immerhin versucht, sie in Schutz zu nehmen, auf ziemlich naive Weise allerdings, meinte er doch, es sei immer gut, »von Kafka zu sprechen«, was die Jury aus pikierten Orientalisten und schläfrigen Mandarinen aufseufzen ließ, die allenfalls durch den Hass, den sie einander entgegenbrachten, aus ihrem doktrinären Schlaf gerissen werden konnten. Sie vergaßen Sarahs befremdliche Einleitung übrigens ziemlich schnell, um sich über Fragen der Methodologie zu streiten, das heißt, sie sahen nicht, worin das wissenschaftliche Interesse an diesem Spaziergang (der alte Prof spuckte das Wort aus wie eine Beleidigung) liegen konnte, nicht einmal, wenn man sich dabei von Sadeq Hedayat an die Hand nehmen ließ. Ich war auf der Durchreise in Paris gewesen und freute mich, zum ersten Mal der Verteidigung einer Doktorarbeit »an der Sorbonne« beiwohnen zu dürfen, und dann auch noch bei ihrer Disputation, doch nachdem ich meine Überraschung und Belustigung über den baufälligen Zustand der Flure, des Hörsaals und der Jury hinter mir gelassen hatte, die ans hinterste Ende von Gott weiß welchem, im Labyrinth des Wissens verlorenen Fachbereich verbannt waren, wo fünf Geistesgrößen nacheinander ihr geringes Interesse an dem Text unter Beweis stellten, über den sie sprechen sollten, wobei sie – wie ich im Saal – übermenschliche Anstrengungen vollbrachten, um nicht einzuschlafen, erfüllte mich diese Übung mit Bitterkeit und Melancholie, und als wir den Ort verließen (einen schmucklosen Hörsaal mit zusammengeschobenen Pulten, die jede Menge Risse und Sprünge aufwiesen und kein Wissen, sondern unterhaltsame Graffiti und festklebende Kaugummis bargen), um diese Leute beratschlagen zu lassen, wäre ich am liebsten Hals über Kopf davongerannt, den Boulevard Saint-Michel hinunter ans Ufer der Seine, um Sarah nicht zu begegnen, damit sie nicht meine Eindrücke von dieser berühmt-berüchtigten Verteidigung erriet, die so wichtig für sie sein musste. Das Publikum zählte rund dreißig Personen, eine große Menge für den winzigen Flur, in den wir uns drängen mussten, Sarah war zusammen mit der Zuhörerschaft herausgekommen, sie sprach mit einer älteren und sehr eleganten Dame, ihrer Mutter, wie ich wusste, und mit einem jungen Mann, der ihr verblüffend ähnlich sah, ihrem Bruder. Es war unmöglich, zum Ausgang zu gelangen, ohne ihnen zu begegnen, also kehrte ich um und betrachtete die Porträts der Orientalisten, die den Flur schmückten, alte, vergilbte Stiche und Gedenktafeln aus einer glanzvollen Vergangenheit. Sarah schwatzte, sie sah erschöpft aus, aber nicht niedergeschlagen; vielleicht hatte sie im Eifer des wissenschaftlichen Gefechts, während sie sich Notizen machte, um ihre Antworten vorzubereiten, eine völlig andere Wahrnehmung gehabt als das Publikum. Sie hat mich bemerkt und mir zugewinkt. Ich war vor allem gekommen, um ihr beizustehen, aber auch, um mich, und sei es nur im Geiste, auf meine eigene Disputation vorzubereiten – und was ich nun erlebt hatte, war nicht dazu angetan, mich zu beruhigen. Ich täuschte mich: Nach einigen Minuten des Beratschlagens bat man uns erneut in den Saal, und sie erhielt die Bestnote; der berühmte Präsident, Gegner des »Spaziergangs«, beglückwünschte sie aufs Herzlichste zu ihrer Arbeit, und heute, da ich diesen Anfang wieder lese, muss ich durchaus einräumen, dass etwas Starkes und Innovatives in diesen vierhundert Seiten lag, die von den Bildern und Darstellungen des Orients handelten, den Nicht-Orten, Utopien und ideologischen Trugbildern, in denen sich viele, die sie durchstreifen wollten, verirrt hatten: Die Körper der Künstler, Dichter und Reisenden, die versucht haben, sie zu erforschen, sind nach und nach in die Selbstzerstörung getrieben worden; die Illusion zehrt, wie Hedayat sagte, in der Einsamkeit an der Seele – was man lange Zeit Wahn, Melancholie, Depression genannt hatte, war oft das Ergebnis einer Reibung, eines Selbstverlusts in der Schöpfung, im Kontakt mit der Andersheit, und selbst wenn mir das heute ein wenig voreilig erscheint, romantisch, um es genau zu sagen, lag darin zweifellos schon eine echte Intuition, auf der sie ihre ganze spätere Arbeit aufbaute.

Nachdem die für sie sehr erfreuliche Entscheidung verkündet war, ging ich zu ihr, um sie zu beglückwünschen, sie umarmte mich herzlich und fragte, was machst du denn hier, und ich antwortete, dass mich ein glücklicher Zufall in diesem Moment nach Paris geführt habe, eine kleine Notlüge, und so nahm ich ihre Einladung gerne an, mich ihr und ihrer Gesellschaft auf das traditionelle Glas Champagner anzuschließen; wir kamen im ersten Stock eines Cafés im Universitätsviertel zusammen, wo solche Ereignisse häufig gefeiert werden. Sarah sah plötzlich vollkommen erledigt aus, ich bemerkte, dass sie in ihrem grauen Kostüm schwamm; ihre Formen waren von der Universität aufgesaugt worden, die Spuren der Anstrengungen, die sie im Laufe der vorangegangenen Wochen und Monate vollbracht hatte, waren körperlich bei ihr sichtbar: Die vorausgegangenen vier Jahre waren auf diesen Augenblick ausgerichtet gewesen, hatten keinen anderen Sinn gehabt, und jetzt, da der Champagner floss, zeigte sie das sanfte Lächeln einer Gebärenden – mit Ringen um die Augen, ich dachte mir, dass sie in der Nacht zuvor vermutlich ihr Exposé durchgegangen war und vor Aufregung nicht hatte schlafen können. Ihr Doktorvater, Gilbert de Morgan, war natürlich auch da; ich war ihm bereits in Damaskus begegnet. Er machte keinen Hehl aus seiner Zuneigung zu seinem Schützling, betrachtete sie zärtlich mit väterlichem Auge, das in der Champagnerlaune sachte nach dem Inzest schielte: Beim dritten Glas, als er allein, mit erregtem Blick und geröteten Wangen, auf seine Ellbogen gestützt an einem hohen Tisch stand, ertappte ich ihn, wie er an Sarah hinauf- und hinuntersah, von den Knöcheln bis zum Gürtel, von unten nach oben, dann von oben nach unten – dann entfuhr ihm ein leiser sehnsüchtiger Rülpser, und er leerte sein viertes Glas. Er bemerkte, dass ich ihn beobachtete, rollte grimmig mit den Augen, bis er mich erkannte und mir zulächelte, wir sind uns doch schon einmal begegnet, oder? Ja, ich frischte sein Gedächtnis auf, ich bin Franz Ritter, wir sind uns mit Sarah in Damaskus begegnet – ach, natürlich, der Musiker, an diese Verwechslung hatte ich mich schon so sehr gewöhnt, dass ich mit einem etwas einfältigen Lächeln antwortete. Ich hatte noch keine zwei Worte mit der frisch Promovierten gewechselt, die von ihren Freunden und Verwandten belagert wurde, da nahm mich schon dieser große Gelehrte in Beschlag, um den außerhalb eines Seminarraums oder einer Beratungsstunde alle einen großen Bogen machten. Er stellte mir in diesem Rahmen angebrachte Fragen nach meiner akademischen Laufbahn, Fragen, auf die ich keine Antwort wusste und die ich mir selbst lieber nicht stellte; trotzdem, er war gut drauf, locker, gaillard, wie es bei den Franzosen heißt, um nicht scharf oder geil zu sagen, und ich malte mir alles aus, nur nicht, dass ich ihn ein paar Monate später in Teheran wiedersehen würde, unter anderen Umständen und in einer ganz anderen Verfassung, aber wieder in Begleitung von Sarah, die gerade ein längeres Gespräch mit Nadim führte – er war soeben eingetroffen und sie musste ihm erklären, was es mit der Disputation auf sich hatte, ich habe keine Ahnung, warum er nicht dabei war; er war ebenfalls sehr elegant gekleidet, trug ein weißes Hemd mit Stehkragen, das auf seine blasse Haut, seinen kurzen, schwarzen Bart abstrahlte; Sarah hielt seine Hände, als ob sie gleich zu tanzen beginnen würden. Ich entschuldigte mich bei ihrem Professor und ging zu ihnen; Nadim umarmte mich sogleich brüderlich, was mich augenblicklich nach Damaskus und nach Aleppo versetzte, zu Nadims nächtlichem Lautenspiel, an dem sich die Sterne am metallischen Himmel Syriens berauschten, jenem fernen, so fernen Syrien, dessen Himmel nicht mehr von Kometen, sondern von Raketen, Granaten und Kriegsgetöse zerrissen wurde – 1999 in Paris bei einem Glas Champagner konnte sich kein Mensch vorstellen, dass Syrien von schlimmster Gewalt verwüstet werden sollte, dass der Souk von Aleppo in Flammen aufgehen und die Umayyaden-Moschee einstürzen würde, dass so viele Freunde sterben oder zum Exil gezwungen sein würden; und von einer komfortablen, ruhigen Wiener Wohnung aus kann man sich den Umfang der Schäden, das Ausmaß des Schmerzes auch heute noch nicht vorstellen.

Jetzt ist die CD zu Ende. Welche Kraft in diesem Stück von Nazeri liegt. Welch magische, mystische Schlichtheit in dieser Perkussionsarchitektur, die das langsame Pulsieren des Gesangs trägt, den fernen Rhythmus der ersehnten Ekstase, ein hypnotischer Dhikr, der einem im Ohr bleibt und einen stundenlang begleitet. Nadim ist heute ein international anerkannter Lautenspieler, ihre Heirat hatte in der kleinen Ausländergemeinde von Damaskus großes Aufsehen erregt, sie kam so unvorhergesehen, so plötzlich, dass sie in den Augen vieler und vor allem in denen der französischen Botschaft von Damaskus verdächtig war – eine der zahllosen Überraschungen, für die Sarah bekannt ist, die letzte ist dieser besonders ergreifende Artikel über Sarawak: Kurz nach Nadims Ankunft verabschiedete ich mich bei ihnen, Sarah bedankte sich lang und breit für mein Kommen, fragte nach, ob ich noch einige Tage in Paris bliebe, ob wir Zeit fänden, uns wiederzusehen, nein, antwortete ich, am nächsten Tag würde ich nach Österreich zurückkehren; ich grüßte respektvoll den Professor, der nun über seinem Tisch völlig die Fasson verloren hatte, und ging weg.

Nachdem ich das Café verlassen hatte, setzte ich meinen Pariser Spaziergang fort. Ich grübelte, während ich durch das welke Laub auf den Kais der Seine schlurfte, lange über die wahren Gründe nach, die mich dazu getrieben haben könnten, meine Zeit mit der Disputation einer Doktorarbeit und dem darauffolgenden Umtrunk zu vergeuden, und im Lichtschein, der die brüderlichen Arme der Brücken in Paris umgab und sie dem Nebel entriss, ahnte ich, dass es etwas mit meinem Lebensweg zu tun haben musste, einem Schlendern, dessen Sinn und Zweck vermutlich erst a posteriori und sicher nur hier, in Wien, zum Vorschein kommen würde, wo Herr Gruber jetzt mit seinem grässlichen Köter von seinem Spaziergang zurückkommt: laute Schritte im Treppenhaus, ein kläffender Hund, und dann über mir, an meiner Decke, Galopp und Scharren. Herr Gruber hat es nie verstanden, rücksichtsvoll zu sein, aber er ist der Erste, der sich über meine CDs beschwert, Schubert geht ja noch, sagt er, aber diese alten Opern und diese, ähm, exotische Musik ist nicht unbedingt jedermanns Geschmack, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich verstehe, dass die Musik Sie stört, Herr Gruber, und das tut mir sehr leid. Ich muss Ihnen allerdings sagen, dass ich in Ihrer Abwesenheit alles nur Erdenkliche ausprobiert habe, um ans Ohr Ihres Hundes zu dringen, und ich habe herausgefunden, dass einzig und allein Bruckner (und auch das nur in einer Lautstärke, die eigentlich nicht mehr akzeptabel ist) sein Scharren auf dem Parkettboden beruhigen und sein gellendes Bellen zum Verstummen bringen kann, über das sich übrigens das ganze Haus beschwert; ich habe mir sogar vorgenommen, eine wissenschaftliche Abhandlung zur Musiktherapie für Tiere darüber zu schreiben, was mir zweifelsohne die Glückwünsche meiner Kollegen einbringen wird: »Der Einfluss von Blechbläsern auf die Stimmung von Hunden, Ausblicke und Entwicklungen«.

Gruber hat Glück, dass ich selbst müde bin, sonst würde ich ihm umgehend einen Wirbel von Tombak-Schlägen hochschicken, exotische Musik für ihn und seinen Hund. Müde vom langen Tag der Erinnerungen, durch die ich – wozu sich verstellen – die Krankheit vergessen wollte, habe ich schon heute Morgen bei der Rückkehr vom Krankenhaus den Briefkasten geleert, ich dachte, der wattierte Umschlag würde jene aufschlussreichen Ergebnisse der medizinischen Untersuchungen enthalten, von denen mir das Labor eine Kopie zuschicken sollte: Bevor der Poststempel mich über meinen Irrtum aufklärte, schreckte ich minutenlang davor zurück, den Umschlag zu öffnen. Ich dachte, Sarah sei irgendwo zwischen Darjeeling und Kalkutta, und da taucht sie im sattgrünen Dschungel im Norden der Insel Borneo auf, in den ehemals britischen Besitzungen dieser dickbauchigen Insel. Das monströse Thema des Artikels, der trockene Stil, der so anders ist als ihre übliche Lyrik, hat etwas Erschreckendes; wochenlang haben wir uns keine Briefe geschrieben, und ausgerechnet jetzt, da ich die schwerste Zeit meines Lebens durchmache, erscheint sie auf diese einzigartige Weise wieder – ich habe den ganzen Tag mit ihr verbracht, damit, ihre Texte wieder zu lesen, was mich vom Grübeln abgehalten, mich abgelenkt hat, und wenngleich ich mir vorgenommen hatte, die Hausarbeit einer Studentin zu korrigieren, werde ich jetzt schlafen gehen, ich glaube, morgen früh ist noch Zeit genug, um in die Überlegungen dieser Studentin einzutauchen, Der Orient in Glucks Wiener Opern, denn mir fallen vor Müdigkeit schon die Augen zu, so dass ich alle Lektüre aufgeben und ins Bett gehen muss.

Das letzte Mal sah ich Sarah, als sie aus irgendwelchen akademischen Gründen drei Tage in Wien verbrachte. (Ich hatte ihr natürlich angeboten, bei mir zu wohnen, doch sie hatte abgelehnt mit der Begründung, die Organisation, die sie eingeladen habe, zahle ihr ein ausgezeichnetes, sehr wienerisches Hotel, auf das sie nicht zugunsten meines durchgelegenen Kanapees verzichten wolle, und ich war, geben wir es ruhig zu, stocksauer.) Sie hatte sich in einem Kaffeehaus im 1. Bezirk mit mir verabredet, einer dieser prunkvollen Einrichtungen, denen der Andrang von Touristen und älteren Wiener Herren jene dekadente Atmosphäre verlieh, die ihr gefiel, und sie war in blendender Form. Trotz des Nieselregens drang sie bald darauf, mit mir spazieren zu gehen, was mich verdrießlich stimmte, denn ich hatte nicht die geringste Lust, an einem feuchtkalten Herbstnachmittag den Urlauber zu spielen, aber sie sprühte vor Energie und konnte mich schließlich überreden. Sie wollte den D-Wagen bis zur Endstation oben in Nussdorf nehmen, dann ein wenig den Beethovengang entlangwandern. Ich erwiderte, dass wir vor allem durch Matsch stapfen würden und deshalb besser hier im Viertel bleiben sollten – wir sind dann über den Graben bis zum Stephansdom flaniert, und ich habe ihr zwei oder drei Anekdoten über Mozarts schlüpfrige Lieder erzählt, die sie zum Lachen brachten.

– Weißt du, Franz, meinte sie, als wir die Reihe der Kaleschen am Rand des Stephansplatzes entlanggingen, es gibt etwas ziemlich Interessantes bei den Leuten, die glauben, Wien sei das Tor zum Orient, worüber nun wiederum ich lachen musste.

– Lach du nur, aber ich meine es ernst, ich denke, ich werde darüber schreiben, über die Darstellungen Wiens als Porta Orientis.

Die Nüstern der Pferde dampften in der Kälte, und sie defäkierten ganz ruhig in die Lederbeutel, die man ihnen unter ihre Schwänze gebunden hatte, damit sie das edle Wiener Pflaster nicht verschmutzten.

– So viel ich auch darüber nachdenke, ich sehe das nicht, erwiderte ich. Hofmannsthals Formel von Wien als »Porta Orientis« scheint mir sehr ideologisch besetzt zu sein, verbunden mit seinem Wunsch, was den Platz des Kaiserreichs in Europa angeht. Die Floskel stammt von 1917 … Natürlich haben wir Cevapcici und Paprika, aber abgesehen davon ist Wien mehr die Stadt von Schubert, Richard Strauss und Schönberg, und darin liegt meines Erachtens nichts Orientalisches. Und selbst in den Bildern und Vorstellungen der Wiener konnte ich außer dem Halbmond nur schwerlich irgendetwas erkennen, das auch nur ein wenig an den Orient erinnert.

Es ist ein Klischee. Ich rieb ihr meine Verachtung für diese Vorstellung, die so abgedroschen ist, dass sie keinen Sinn mehr ergibt, unter die Nase:

– Nur weil die Osmanen zweimal vor den Stadttoren lagen, wird man doch nicht gleich zum Tor des Orients.

– Darum geht es nicht; inwieweit diese Vorstellung der Realität entspricht, ist nicht die Frage, mich interessiert, warum so viele Reisende Wien und Budapest als die ersten »orientalischen« Städte betrachtet haben, und was uns das über die Bedeutung sagen kann, die sie diesem Wort gaben. Und wenn Wien das Tor zum Orient ist, zu welchem Orient hin öffnet es sich dann?

Ihre endlose, ewige Suche nach der Bedeutung des Orients – ich gebe zu, dass ich meine Gewissheiten in Frage gestellt, sie meinerseits überdacht habe, und wenn ich jetzt daran denke, während ich das Licht ausknipse, lag vielleicht etwas von Istanbul, etwas von Öster-Reich, dem Reich des Ostens, im Kosmopolitismus des Kaiserreichwiens, aber heute läge das in weiter, sehr weiter Ferne für mich. Wien ist seit langem nicht mehr die Hauptstadt des Balkans, und die Osmanen gibt es nicht mehr. Das Habsburgerreich war zweifellos das Reich der Mitte, und während mein Atem wie immer kurz vor dem Einschlafen ruhiger wird, während ich, das wohltuend kühle Kopfkissen unter meiner Wange und den Nachklang des Zarb noch im Ohr, die Autos über die nasse Straße gleiten höre, muss ich mir eingestehen, dass Sarah Wien zweifellos besser, gründlicher kennt als ich, nicht auf Schubert oder Mahler beschränkt, wie so oft Auswärtige eine Stadt besser kennen als ihre im Alltag gefangenen Bewohner – vor langer Zeit, ich hatte bereits diese Wohnung bezogen, vor unserer Abreise nach Teheran, schleppte sie mich ins Josephinum, die ehemalige Lehranstalt für Feldärzte, in dem sich eines der schauderhaftesten Museen befindet: eine Ausstellung anatomischer Modelle vom Ende des 18.Jahrhunderts, die zu Anschauungszwecken und zur Ausbildung von Chirurgen für die Armee konzipiert war, so dass man ohne Leichen und die damit verbundenen Gerüche auskam –, es sind Wachsfiguren, die bei einer der größten Skulpturenwerkstätten in Florenz bestellt worden waren. Unter den in Schaukästen aus wertvollen Hölzern ausgestellten Modellen lag auf einem heute verblichenen rosa Kissen hingestreckt eine blonde junge Frau mit zarten Gesichtszügen, das Gesicht zur Seite gekehrt, den Nacken leicht geneigt, das Haar gelöst, mit einem goldenen Diadem über der Stirn, den Mund ein wenig geöffnet, mit einer schönen, zweireihigen Perlenkette um den Hals, ein Knie halb angezogen, die Augen geöffnet, in einer nahezu ausdruckslosen Pose, die aber bei längerer Betrachtung an Hingabe oder zumindest Passivität erinnert: Vollständig nackt, der Schamberg dunkler als ihr Haar und leicht gewölbt, war sie von großer Schönheit. Von der Brust bis zur Vagina offen wie ein aufgeschlagenes Buch, konnte man Herz, Lunge, Leber, Gedärme, Gebärmutter und Schlagadern sehen, als hätte ein Sexualstraftäter ihren Brustkorb und ihren Unterleib sorgfältig aufgeschlitzt und ihre Innereien mit außergewöhnlicher Geschicklichkeit freigelegt wie das Innere eines Nähkästchens, einer teuren Standuhr oder eines Automaten. Ihr langes, über das Kissen fließende Haar, ihr ruhiger Blick, ihre halb geschlossenen Hände suggerierten sogar, dass sie Lust daran hätte empfinden können, und das ganze Objekt samt dem Glaskäfig und seinem Mahagonirahmen erregten zugleich Begehren und Entsetzen, Faszination und Abscheu: Ich stellte mir vor, wie die jungen Medizinstudenten vor zweihundert Jahren diesen Wachskörper entdeckten, warum denken wir vor dem Einschlafen an solche Dinge, wo es doch besser wäre, sich den Kuss einer Mutter auf unsere Stirn vorzustellen, diese zärtliche Geste, auf die man am späten Abend wartet und die nie kommt, und nicht anatomische Puppen, die vom Schlüsselbein bis zum Unterleib offen daliegen – was dachten wohl jene angehenden Knochenklempner vor diesem nackten Simulacrum, gelang es ihnen, sich auf den Verdauungsapparat oder das Atmungssystem zu konzentrieren, wo doch die erste Frau, die sie aus der Höhe ihrer Sitzreihen und ihrer zwanzig Jährchen so unbekleidet sahen, eine elegante Blondine war, eine künstliche Tote, der ein Bildhauer unter großen Anstrengungen alle Aspekte des Lebens mitgegeben hatte, für die er sein ganzes Können aufgewandt hatte, in der Kniebeuge, beim Teint der Schenkel, dem Ausdruck der Hände, der realistischen Gestaltung des Geschlechts, beim gelben Aderwerk der Milz, beim Dunkelrot der Lungenbläschen. Sarah geriet vor dieser Perversion in Entzücken, schau dir nur dieses Haar an, ist doch unglaublich, meinte sie, wie gekonnt sie drapiert ist, um Unbekümmertheit und Liebe auszudrücken, und ich hatte einen ganzen Hörsaal voller studierender Feldscherer vor Augen, die Laute der Bewunderung ausstießen, als ein schnauzbärtiger Professor rüde dieses Modell enthüllte, um mit dem Stock in der Hand nacheinander die inneren Organe aufzuzählen und mit Kennermiene den Clou des Spektakels anzutippen, den winzigen Fötus in der dunkelrosaroten Gebärmutter wenige Zentimeter über dem verblassenden, zarten blonden Schamhaar, der so feingliedrig war, dass man ihn für den Abglanz einer erschreckenden, verbotenen Zärtlichkeit halten konnte. Sarah hatte mich darauf aufmerksam gemacht, ist ja irre, sie ist schwanger, und ich habe mich gefragt, ob diese wächserne Gravidität eine Laune des Künstlers oder eine Forderung der Auftraggeber war, das ewig Weibliche in jeder Hinsicht, in all seinen Möglichkeiten zu zeigen; hatte man über dem feinen Schamhaar diesen Fötus erst einmal entdeckt, verstärkte das noch die sexuelle Spannung, die von dieser Komposition ausging, und es beschlich einen ein ungeheures Schuldgefühl, hatte man doch die Schönheit im Tod gefunden, einen Funken Lust in einem so perfekt zerlegten Körper – man konnte nicht umhin, sich den Augenblick der Empfängnis dieses Embryos vorzustellen, eine im Wachs verloren gegangene Zeit, und sich zu fragen, welcher Mann, aus Fleisch oder aus Harz, in diese makellosen Eingeweide eingedrungen war, um sie zu schwängern, und wandte sogleich den Blick ab: Sarah lächelte über meine Scham, sie hat mich immer für prüde gehalten, sicher weil sie nicht begreifen konnte, dass es nicht an der Szene selbst lag, dass ich mich abwandte, sondern an der tatsächlich weitaus verwirrenderen Szene, die sich in meinem Kopf abspielte – und in der ich oder jemand, der mir ähnelte, dabei war, diese lebende Tote zu penetrieren.

Die restliche Ausstellung war entsprechend: Ein Gehäuteter ruhte friedlich, mit angezogenem Knie, als ob weiter nichts wäre, dabei bedeckte, um die bunte Vielfalt seines Blutkreislaufs zu zeigen, kein Quadratzentimeter Haut mehr seinen Körper, kein einziger; Füße, Hände, verschiedene Organe befanden sich in Präparategläsern, dazu Teile von Knochen, Gelenken, Nerven, also alles, was ein Körper an großen und kleinen Geheimnissen birgt, und natürlich muss ich jetzt daran denken, heute Abend, in dieser Nacht, nachdem ich am Vormittag Sarahs schrecklichen Artikel gelesen und dann die Mitteilung über meine Erkrankung erhalten habe und jetzt auf die verdammten Analyseergebnisse warte, wechseln wir lieber das Thema, drehen wir uns um, der Mensch, der versucht einzuschlafen, dreht sich um und unternimmt einen neuen Anlauf, einen neuen Versuch, atmen wir tief durch.

Eine Straßenbahn rattert unter meinem Fenster vorbei, wieder eine, die die Porzellangasse hinunterfährt. Die Straßenbahnen, die hinauffahren, sind leiser, oder vielleicht sind es einfach auch nur weniger; wer weiß, ob die Stadtverwaltung nicht bestrebt ist, die Konsumenten in die Innenstadt zu bringen, ohne sich darum zu kümmern, wie sie anschließend wieder nach Hause kommen. Das Scheppern hat etwas Musikalisches, etwas von Alkans Etüde Le chemin de fer, nur langsamer, Charles-Valentin Alkan, der vergessene Klaviervirtuose, Freund von Chopin und Liszt, Heinrich Heine und Victor Hugo, von dem man erzählt, er sei von seinem Bücherregal erschlagen worden, als er in einem Fach nach dem Talmud griff – neulich las ich, dies stimme wahrscheinlich nicht, es handele sich um eine weitere Legende, die sich um den legendären Komponisten rankt, der so brillant war, dass man ihn mehr als ein Jahrhundert lang vergessen hat, tatsächlich soll er von einer Garderobe oder einer schweren Hutablage erschlagen worden sein, der Talmud hatte a priori nichts damit zu tun. Le chemin de fer ist jedenfalls ein höchst virtuoses Klavierstück, man hört darin den Dampf und das Quietschen der ersten Eisenbahnzüge, für die rechte Hand galoppiert die Lokomotive und für die linke drehen sich ihre Pleuelstangen, was den wahrlich seltsamen Eindruck einer Vervielfachung der Bewegung erzeugt, und meiner Meinung nach furchtbar schwierig zu spielen – Kitsch, hätte Sarah dagegengehalten, reiner Kitsch diese Geschichte mit dem Zug, und sie hätte nicht ganz unrecht gehabt, diese programmatischen »imitativen« Kompositionen haben in der Tat etwas Antiquiertes, dennoch könnte das vielleicht die Idee zu einem Artikel sein, »Das Brausen von Zügen: die Eisenbahn in der französischen Musik«, wenn man zu Alkan noch Pacific 231 von Arthur Honegger, die Essais de locomotives des Orientalisten Florent Schmitt und sogar die Chant des chemins de fer von Berlioz hinzunähme: Ich könnte auch selbst ein kleines Stück komponieren, Porzellanstraßenbahnen, für Glöckchen, Zarb und tibetanische Klangschalen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde Sarah auch das für den allerletzten Kitsch halten; ob sie die Evokation der Bewegung eines Spinnrads, eines Pferds im Galopp oder der Abdrift eines Boots für ebenso kitschig halten würde, sicher nicht, ich glaube mich zu erinnern, dass sie wie ich Schuberts Lieder schätzte, jedenfalls haben wir häufig darüber gesprochen. Der Madrigalismus ist definitiv ein Streitfall. In den zarten Federn meines mit einem Baumwollbezug frisch bezogenen Kopfkissens bekomme ich Sarah nicht aus dem Kopf, ich kann mich einfach nicht erinnern, warum sie mich in dieses unglaubliche Wachsfigurenmuseum geschleppt hatte – woran arbeitet sie zu dem Zeitpunkt, als ich hierherzog, damals kam ich mir vor wie Bruno Walter, der dem Ruf des großen Mahlers folgt, um ihm an der Wiener Oper zu assistieren, nur hundert Jahre später: Siegreich zurückgekehrt von einem Feldzug im Orient, aus Damaskus, um genau zu sein, war ich berufen worden, meinem Professor an der Universität zu assistieren, und ich hatte beinahe auf Anhieb diese Wohnung zwei Schritte vom herrlichen Campus entfernt gefunden, wo ich meines Amtes walten sollte, ein kleines Apartment, sicher, aber angenehm, trotz des Kratzens von Herrn Grubers Tier, und das Schlafsofa war, ganz gleich was Sarah dazu sagt, ganz in Ordnung, der Beweis: Als sie zum ersten Mal hier war, zum Zeitpunkt unseres seltsamen Besuchs im Museum der aufgeschnittenen Schönen, hatte sie mindestens eine Woche darauf geschlafen, ohne sich zu beklagen. Entzückt von Wien, entzückt darüber, dass ich ihr Wien zeigte, wie sie sagte, obgleich sie es war, die mich zu den unwahrscheinlichsten Orten in der Stadt schleppte. Natürlich habe ich ihr Schuberts Geburtshaus und die zahlreichen Wohnstätten Beethovens gezeigt; natürlich habe ich ein Vermögen ausgegeben (ohne es ihr zu verraten, denn ich log, was die Preise betraf), damit wir in die Oper gehen konnten – in Verdis von Schwertern und Wut erfüllten Simon Boccanegra in der Inszenierung des großen Peter Stein, hinterher war Sarah begeistert, verblüfft, überwältigt vom Opernhaus, dem Orchester, den Sängern, der Aufführung. Gott weiß, dass die Oper kitschig sein kann, dennoch hat sie sich Verdi und der Musik hingegeben, nicht ohne mich wie immer auf eine amüsante Koinzidenz aufmerksam zu machen: Hast du mitbekommen, dass der Mann, der die ganze Oper hindurch zum Spielball der anderen wird, Adorno heißt? Der, der meint, er habe recht, der sich auflehnt, sich täuscht, am Ende aber zum Dogen ernannt wird? Das ist doch verrückt. Sie war unfähig abzuschalten, selbst in der Oper. Was hatten wir hinterher gemacht, sicher ein Taxi genommen, um in einem Heurigen zu Abend zu essen und die ungewöhnlich warme Frühlingsluft zu genießen, wenn die Hügel um Wien nach Gegrilltem, nach frischem Gras und Schmetterlingen riechen, das täte mir jetzt gut, ein bisschen Junisonne anstelle dieses endlosen Herbsts, dieses ständigen Regens, der gegen die Fensterscheibe prasselt – eilig, wie ich es hatte, mich hinzulegen und das Licht auszumachen, vergaß ich Idiot, die Vorhänge zuzuziehen, ich werde wohl wieder aufstehen müssen, nein, nicht jetzt, nicht jetzt, wo ich gerade unter einer Weinlaube beim Heurigen sitze und mit Sarah Weißwein trinke, um vielleicht Erinnerungen aufzufrischen an Istanbul, an Syrien, die Wüste, wer weiß, oder über Wien und seine Musik zu reden, über den tibetanischen Buddhismus oder den Aufenthalt in Iran, der sich abzeichnete. Die Grinzinger Nächte nach den Nächten von Palmyra, der Grüne Veltiner nach dem libanesischen Wein, die Frische eines Frühlingabends nach den schwülen, durchwachten Nächten von Damaskus. Eine leicht verlegene Spannung. Schwatzte sie da schon von Wien als dem Tor zum Orient, sie hatte mich schockiert, als sie Claudio Magris’ Donau, eines meiner Lieblingsbücher, förmlich in der Luft zerriss: Magris sei ein Habsburg-Nostalgiker, meinte sie, sein Donaubuch eine furchtbare Ungerechtigkeit gegenüber den Balkanländern; je weiter er die Donau hinabfahre, umso weniger Informationen liefere er. Die ersten tausend Kilometer des Wasserlaufs nähmen zwei Drittel des Buchs ein; den weiteren tausendachthundert Kilometern widme er nur hundert Seiten: Sobald er Budapest verlasse, habe er fast nichts mehr zu sagen, vermittle er den Eindruck (im Gegensatz zur Ankündigung in seiner Einleitung), ganz Südosteuropa sei weit weniger interessant, als hätte sich dort nichts Bedeutendes abgespielt, als wäre dort nichts Bedeutendes gebaut worden. Das sei eine schrecklich »austrozentristische« Sicht der kulturellen Geographie, eine nahezu vollständige Negation der Identität des Balkans, von Bulgarien, Moldawien, Rumänien und vor allem ihres osmanischen Erbes.

Neben uns verschlang eine Tischgesellschaft von Japanern Wiener Schnitzel von märchenhafter Größe, die wie Ohren riesiger Teddybären zu beiden Seiten über den Rand der auch noch übergroßen Teller hingen.

Mit jedem Wort regte sie sich mehr auf, ihre Augen hatten sich verdunkelt, ihre Mundwinkel zitterten ein wenig; ich konnte nicht anders, ich musste scherzhaft dagegenhalten:

– Tut mir leid, aber ich versteh nicht, worum es geht; das Buch von Magris scheint mir kenntnisreich, poetisch und bisweilen sogar witzig zu sein, ein Spaziergang, ein gelehrter und subjektiver Spaziergang, was soll daran schlecht sein, sicher, Magris ist ein Spezialist für Österreich, er hat eine Doktorarbeit über das Bild des Kaiserreichs in der österreichischen Literatur des 19.Jahrhunderts geschrieben, also, was willst du, du wirst mich nicht von der Meinung abbringen, dass Donau ein großes Buch ist, ein weltweiter Erfolg zudem.

– Magris ist wie du, ein Nostalgiker. Ein melancholischer Triester, der dem Kaiserreich nachtrauert.

Sie übertrieb natürlich, der Wein tat das seine, sie war aufbrausend, redete immer lauter, so laut, dass sich unsere japanischen Tischnachbarn manchmal nach uns umdrehten; es machte mich allmählich etwas verlegen – außerdem wurmte mich das Wort Nostalgiker, auch wenn mir die Idee eines Austrozentrismus am Ende des 20.Jahrhunderts doch äußerst komisch erschien, sehr erheiternd.

– Die Donau ist ein Fluss, der Katholizismus, Orthodoxie und Islam verbindet, fügte sie noch hinzu. Das ist das eigentlich Wichtige: Sie ist mehr als ein Bindestrich, sie ist … Sie ist … ein Transportmittel. Die Möglichkeit des Übergangs.

Ich sah sie an, sie schien wieder ganz ruhig zu sein. Ihre Hand lag auf dem Tisch, ein Stück in meine Richtung geschoben. Zwischen den Weinspalieren und den Stämmen der Schwarzkiefern im blühenden Garten der Buschenschenke liefen Kellnerinnen in Spitzenschürzen mit schweren Tabletts um uns herum, die beladen waren mit Karaffen, aus denen bei fast jedem Schritt der Mädchen auf den Kieswegen ein wenig von dem Weißwein herausschwappte, der so frisch aus den Fässern kam, dass er noch trübe war und schäumte. Ich hätte gern in Erinnerungen an Syrien geschwelgt; stattdessen erörtere ich die Donau von Magris. Sarah.

– Du hast das Judentum vergessen, sagte ich.

Etwas überrascht lächelte sie mich an; für einen Augenblick hatte sich ihr Blick aufgehellt:

– Ja, natürlich, auch das Judentum.

War das, bevor oder nachdem sie mich ins Jüdische Museum in der Dorotheergasse mitgenommen hat, keine Ahnung mehr, sie war entrüstet, absolut schockiert gewesen über die »Armut« dieses Museums, sie hatte sogar eine sehr ironische und recht vergnügliche Zusätzliche Erläuterung zum offiziellen Führer des Jüdischen Museums Wien verfasst. Ich sollte wieder einmal hingehen in den nächsten Tagen, nachsehen, ob sich etwas gebessert hat; damals war der Besuch nach Stockwerken organisiert, zuerst die wechselnden Ausstellungen, dann die ständige Sammlung. Der holographische Rundgang die herausragenden jüdischen Persönlichkeiten der Hauptstadt entlang schien ihr von unsäglicher Vulgarität, Hologramme für eine verschwundene Gemeinde, für Geister, welch fürchterliche Evidenz, von der Hässlichkeit dieser Bilder ganz zu schweigen. Dabei war das erst der Beginn ihrer Entrüstung. Im obersten Stockwerk brach sie sogar in Gelächter aus, ein Lachen, das nach und nach in traurige Wut überging. In Dutzenden von Vitrinen, vollgestopft mit Gegenständen jeder Art, waren ohne jede Ordnung Hunderte von Bechern, Kerzenleuchtern, Tefillin, Schals, Tausende von Judaica angehäuft und mit einer summarischen und grauenerregenden Erklärung versehen: Zwischen 1938 und 1945 geraubte Gegenstände, deren Besitzer sich nie gemeldet haben, oder so ähnlich, Kriegsbeute, die man aus den Trümmern des Dritten Reichs geborgen und unter dem Dach des Jüdischen Museums Wien aufgestapelt hatte wie auf dem Dachboden eines etwas unordentlichen Uropas, eine Ansammlung, ein Haufen von Trödelkram für einen skrupellosen Antiquitätenhändler. Und es besteht kein Zweifel, sagte Sarah, dass dies in bester Absicht geschah, bevor sich Staub auf die Dinge gelegt und diese Anhäufung ihren Sinn vollkommen verloren hätte, um einem Kapharnaum Platz zu machen, und Kapharnaum ist, nicht zu vergessen, sagte sie, der Name einer Stadt in Galiläa. Sie wechselte zwischen Wut und Lachen: Was gibt denn das für ein Bild von der jüdischen Gemeinde, ich sag’s dir, stell dir eine Schulklasse beim Besuch dieses Museums vor, sie werden denken, diese verschwundenen Juden seien Finanzjongleure gewesen und hätten Kerzenleuchter gesammelt, und sie hatte zweifellos recht, es war deprimierend, und ich fühlte mich ein wenig schuldig.