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Für meine Eltern

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Übersetzung aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2016

ISBN 978-3-8270-7867-4

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel The Admissions 2015 bei Doubleday, New York

© 2015 Meg Mitchell Moore

Für die deutsche Ausgabe © Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung: Greiner & Reichel, Köln

DEZEMBER

Telefon.

Nora versuchte, sich keine Sorgen zu machen. Aber sie war schon seit achtzehn Jahren Mutter, natürlich machte sie sich Sorgen.

Es war ein schöner, frühwinterlicher Tag in der Bay Area, mit anderen Worten sonnige siebzehn Grad, jedenfalls bis zum Nachmittag, wenn der Nebel kommen würde. Handschuhe überflüssig. Bis Weihnachten waren es noch neun Tage.

Sie griff gerade nach ihrem Handy, als das andere Telefon klingelte. Auf dem Festnetz rief eigentlich nie jemand an, aber Noras gebetsmühlenartige Drohungen, den Vertrag einfach zu kündigen, galten in der Familie nur noch als Running Gag. Weil sie sowieso nie Zeit hatte, irgendwelche Drohungen in die Tat umzusetzen.

Mrs Hawthorne?

Ja. Ihre Hand mit dem Hörer zitterte.

Eine Männerstimme, fremd.

Unmöglich, dass ihr Herz noch höher schlagen konnte als bis zum Hals, was es ja in den letzten Wochen hinreichend getan hatte, dachte Nora. Aber doch, wie sich nun zeigte. Es war möglich.

In ihrer Kindheit in Narragansett, Rhode Island, spielten Nora und ihre Schwester Marianne ein Spiel, und das ging so: Stell dir vor, ein Geist schenkt dir drei Wünsche. Was wünschst du dir?

Sie dachten sich Antworten aus wie: Ich wünsche mir, dass sich alle Elektrogeräte im Haus in Schokolade verwandeln. Oder: Ich wünsche mir, dass ich vierundundzwanzig Stunden lang fliegen kann. Oder: Ich wünsche mir, dass es drei Wochen lang jeden Abend Pizza gibt.

Und später, als sie älter wurden: Ich wünsche mir, dass sich Jennifer Johnson eine richtig hässliche Dauerwelle machen lässt, die bis zum Ende des Schuljahrs hält. Oder: Ich wünsche mir, dass mein Busen wächst (Nora) oder endlich aufhört zu wachsen (Marianne).

Mrs Hawthorne?

Ja.

Mein Name ist Sergeant Stephen Campbell, California Highway Patrol.

Stephen. Was für ein banaler Name, dachte Nora später, für einen so außergewöhnlichen Anruf.

Drei Wünsche, lieber Geist, und zwar schnell.

Eins. Sag, was du sagen musst, los.

Zwei. Sag mir, dass alles gut wird.

Drei. Bitte alles noch mal von vorn.

Mrs Hawthorne?

Ich bin im Security Office der Golden Gate Bridge.

Dem was?

Kennen Sie den Weg hierher, Mrs Hawthorne?

Noras Stimme versagte. Alles drehte sich. Sie sank auf einen Küchenhocker.

Bitte, hören Sie mir gut zu. Ich erkläre Ihnen jetzt den Weg, und ich möchte, dass Sie sofort kommen. Haben Sie mich verstanden? Wir sind auf der Südseite der Brücke. Das heißt, Sie müssen die Brücke überqueren.

Nora schluckte, rang nach Luft. Sah, wie eine Hand, die nicht ihre war, nach der Tischkante griff. Sah, dass die Finger keinen Halt fanden. Um sie herum ein durchdringendes Geräusch, ein schrilles Summen, höher als Töne, die Glas zersplittern lassen.

Mrs Hawthorne?

Mmmmmm. Etwas anderes brachte sie nicht heraus.

Später würde sich Nora überlegen, dass eigentlich alles mit ihrem Job angefangen hatte. Wenn sie keine berufstätige Mutter gewesen wäre. Wenn die Sache mit dem Haus der Watkins nicht passiert wäre und dann noch der Horror im Garten der Millers. Wenn sie präsenter gewesen wäre, aufmerksamer. Wenn Sie alles besser gemacht hätte. Wenn wenn wenn.

DREI MONATE ZUVOR

1

ANGELA

Vor dem Haus ging der Rest der Familie seinen Geschäften nach. Es war Anfang September, kurz nach Labor Day. Hätte Angela Hawthorne eine Metapher finden müssen, die ihrer Englischlehrerin Ms Simmons gefallen würde, hätte sie vielleicht gesagt: Das Schuljahr war so frisch und unberührt wie eine Jungfrau.

An der riesigen Pinnwand über Angelas Schreibtisch hing ein Kalender. Mit einem roten, aus Mayas Zimmer stibitzten Filzstift – Maya war sieben und besaß jede Menge Filzstifte – hatte Angela das Datum umkreist, erster November, keine acht Wochen mehr bis dahin. Den Rest hatte Angelas Mutter in ihrer akkuraten (katholischen) Schulmädchen-Handschrift mit schwarzem Kugelschreiber hinzugefügt und dabei die Formulierung der Webseite übernommen: Annahmeschluss im Frühbewerbungsverfahren.

Acht Wochen. Eigentlich siebeneinhalb. Und noch so viel zu tun. Fünf hammerharte AP-Kurse auf Uni-Niveau dieses Jahr: Europäische Geschichte, Englische Literatur, Chemie, Statistik, Kunst. (»Kunst kann man auch als AP-Kurs nehmen?«, hatte ihr Vater etwas verwundert gefragt. »Ist das nicht Pfusch?« Worauf Nora in stillem Einvernehmen geschwiegen hatte.)

Um die Plätze im Klassenranking wurde bis aufs Messer gekämpft. Die Opfer waren auf dem Gelände der Oakville Highschool wie auch zahlloser anderer Schulen im Marin County aufgebahrt. Im übertragenen Sinne natürlich. Ms Simmons hätte den Vergleich vielleicht gut gefunden. Sammy Marshall, im letzten Frühjahr durch ein zur Unzeit ausgebrochenes Pfeiffer’sches Drüsenfieber umgemäht. (»Nicht seine Schuld«, hatte Angelas Mutter gesagt. »Der Arme.« Aber hatte sie dabei nicht leise gelächelt?) Oder Porter Webb, herausragendster Sportler der Schule, von den Scouts bereits aufmerksam beäugt. Verbrachte letztlich zu viel Zeit auf dem Baseballfeld, um seinen berühmten Knuckleball zu perfektionieren. (»Zu sehr Sportler, zu wenig Schüler«, hatte Angelas Vater betrübt gesagt, wobei Angela den Eindruck nicht loswurde, dass seine Betrübnis ein bisschen geheuchelt war.)

Derzeit war Angela Erste. Jahrgangsbeste. Doch sie spürte den Atem der Wölfe heiß in ihrem Nacken. (Oder war das ein Klischee?)

Doch die Wölfe schnappten schon nach ihren Füßen. Besser? Besser.

Einer der Wölfe war Maria Ortiz, als junge Lyrikerin ein Ausnahmetalent, Veröffentlichungen in mehreren Zeitschriften, von denen nur eine belanglos war, beherrschte vier Sprachen fließend. (Dazu Angelas Vater: »Zählt Spanisch bei ihr eigentlich als Fremdsprache? Immerhin hat sie es zu Hause von klein auf gelernt …«) Und natürlich Henrietta Faulkner – nein, nicht verwandt, wobei Henrietta Zweifel nur auf Nachfrage ausräumte. Ehedem Angelas beste Freundin. Ehedem. Prüfungswort. Stand hundertprozentig in den Wortlisten für den Studierfähigkeitstest.

Angela, sind die Klassenrankings schon raus?

Frag Angela. Angela wird es wissen. Angela weiß alles.

Angela, hast du die Hausaufgaben gemacht?

Angela, hast du gelernt?

Gleich in der ersten Woche war für den Literaturkurs schon der erste Aufsatz fällig, als wären die beiden Romane, die Angela in den Sommerferien hatte lesen müssen, nicht schon genug gewesen. Irgendwie war das nicht fair. »Ich kann nur zum zigsten Mal sagen, dass das Leben nicht fair ist. Es ist nur fairer als der Tod, das ist alles«, hatte Cecily neulich beim Abendessen verkündet – eine Weisheit aus dem Film Die Braut des Prinzen, den sie im Sommer mit ihrer besten Freundin Pinkie unzählige Male gesehen hatte. Es kam ihr so vor, als ob Cecily und Pinkie unendlich viel Freizeit hatten, in der sie ständig Filme sahen, Roller fuhren oder gegenseitig ihre Haare in unnatürliche Gebilde verwandelten, um zu schauen, wie lange das Ganze hielt.

Wo war eigentlich Angelas Freizeit? Weg, verschwunden. Gestohlen bei Nacht von einem unsichtbaren Dieb. Moment mal, Diebe konnten normalerweise nicht unsichtbar sein.

Genommen bei Nacht von einem unbekannten Eindringling. Klang verstaubt. Gestelzt. Außerdem musste ein Eindringling nicht zwingend ein Dieb sein.

Entwendet. Schon besser. Schlicht und elegant. Prüfungswort.

Im Grunde hatte Angela, wenn sie sich recht erinnerte, so etwas wie Freizeit nie gehabt. Vielleicht vor Äonen von Jahren, als Säugling, als sie noch gemütlich in dem Babykörbchen lag, das ihre Mutter bis heute verwahrt hatte, das einzige Relikt aus Angelas, Cecilys und Mayas frühen Jahren. Ja, vielleicht hatte es in Angelas Leben damals so etwas wie Freizeit gegeben, wobei sie eine diffuse, aber hartnäckige Erinnerung an einen schaukelnden Ball hatte, rot, schwarz und weiß, ein Ding, das sie damals aufmerksam betrachten und wahrscheinlich etwas daraus lernen sollte. »Ich hebe es auf«, hatte ihre Mutter erklärt (das Babykörbchen). »Für eine von euch. Wenn ihr selbst mal welche habt.« Angela hatte genickt und den Gedanken auf sich wirken lassen, denn sie hatte sich noch nie vorstellen können, zu heiraten oder gar Mutter zu werden. Wo zum Teufel sollte sie die Zeit dafür hernehmen?

Nach kompletter Lektüre des Buches Menschenkind von Toni Morrison musste sie jetzt also einen Aufsatz über das zentrale Thema schreiben. Bis morgen. Und Angela hatte noch nicht mal mit dem Lesen angefangen. Nach der Schule das Crosslauf-Training, erster Wettkampf schon in zwei Wochen, Wiederholungsläufe, sechs Mal eine Meile, durch den Wald und über den Fluss.

Over the river and through the woods to grandmother’s house … Angela hatte nur eine Großmutter, die Mutter ihrer Mutter, und die lebte in Rhode Island, aber im Gegensatz zu dem Weihnachtslied weder in der Nähe eines Flusses noch eines Waldes, und schon gar nicht an einem Ort, den man nur mit einem Pferdeschlitten erreichen konnte. Gab es solche Orte überhaupt noch?

Halb neun. Die Müdigkeit lag schwer auf ihren Lidern. (War das gut? Oder besser: Wie eine Decke breitete sich die Müdigkeit …? Nein. Übertrieben. Lag schwer auf ihren Lidern war besser.) Angela blickte noch einmal auf den Kalender: erster November. Nicht mehr lang bis dahin, gar nicht mehr lang.

Sollte sie?

Sie hatte es noch nie getan, noch nie gewollt, noch nie gebraucht, aber sie hatte welche zur Hand, für Notfälle oder auch nicht, je nachdem. Angela hatte sie von Henrietta Faulkner bekommen, die sie Gott weiß woher hatte. Eine harmlose kleine Lernhilfe, mehr nicht. Und auch nur ein paar – diskret verwahrt in dem Advil-Fläschchen, das sie in ihrer Schreibtischschublade versteckt hatte, hinter dem Bleistiftanspitzer, dem alten, kaputten iPod und ihrer komischen Schnürsenkel-Sammlung.

Sie nahm das Fläschchen aus der Schublade und ließ eine der Kapseln in ihre Hand rollen. Fünf Milligramm, das war nicht viel. Andere Jugendliche nahmen mehr. Viel mehr. Fünf, das war doch nichts, eine Babydosis. Ein Warm-up, ein Appetizer.

Sie griff nach dem Wasserglas, das auf ihrem Schreibtisch stand. Trinken war nach einem Training wie heute megawichtig. Ob die Teams von Novato, Redwood und den anderen Schulen genauso hart trainierten wie sie, genauso hart wie die mordsmäßig starken Warriors? Schwer zu sagen. Sie würden es herausfinden, wenn sie im November beim Regionalwettkampf Seite an Seite gegeneinander antraten. Fuß an Fuß.

Sie hob das Glas und trank. Die Kapsel war ziemlich klein und beim Schlucken kaum zu spüren. Ein leichter Widerstand, ganz kurz, und das war’s.

Sie wartete. Nichts. Wartete weiter. Und weiter.

Da, jetzt. Ihr Kopf wurde frei. Die Welt um sie herum rückte in den Hintergrund: das Kreischen, mit dem Cecilys Bogen über die Saiten schrammte (»Übung macht den Meister«, lautete dazu ihr munterer Kommentar, eine Behauptung, für deren Richtigkeit Angela jedenfalls in Cecilys Fall kaum Beweise sah, zumal man ihr selbst in den letzten siebzehn Jahren ad nauseam damit in den Ohren gelegen hatte), die Fernsehgeräusche und das Bellen des Nachbarhunds, der an der Hintertür stand und rauswollte.

Da, jetzt war er also da. Der Tunnelblick, wie sie das nannten. Und zwar aus gutem Grund. Angela Hawthorne, Jahrgangsbeste, starrte tatsächlich in einen Tunnel: keine Pausen, kein Schlaf mehr bis Cambridge.

Du schaffst das, und danach kannst du dich ausruhen. Danach kannst du dich ausruhen.

Aber jetzt noch nicht. Jetzt würde sie arbeiten, bis es geschafft war, und dann, ja dann würde sie schlafen unter einem Purpurmond.

2

NORA

4:44 Uhr

Liebe Marianne:

Weißt du, dass ich darüber nachgedacht habe, mir einen Therapeuten zu suchen? Da, jetzt ist es raus. Ich habe es noch niemandem erzählt, nicht einmal Gabe. Sag es auch Mom nicht, okay? Ganz im Ernst.

Der Anlass? Stress und Schlaflosigkeit. Ich dachte mir: Was habe ich schon zu verlieren?

Also habe ich mich umgehört, sogar ein paar Nummern aufgeschrieben und bei meiner Versicherung nachgefragt. Die natürlich nichts davon übernimmt. Dabei sind die bei Elpis so stolz auf ihre Krankenversicherung, dass es schon fast lächerlich ist. Und dann habe ich in meinen Terminplaner geschaut und gedacht: Oh. Wann eigentlich? Wie sich herausstellte, gab es doch etwas zu verlieren: Zeit, die ich nicht habe.

Ich mache es anders, habe ich mir überlegt. Ich habe nirgendwo angerufen, sondern einfach beschlossen, dass du meine Therapeutin bist. Verzeih mir also im Voraus die langen Mails.

Schlafstörungen sind für mich etwas Neues und regen mich einerseits auf, aber andererseits stelle ich fest, dass ich dadurch richtig viel erledigt kriege, ich muss es nur wollen. Vor dieser Mail zum Beispiel habe ich fürs Frühlingsfest in der Grundschule drei Preisanfragen für die Buden rausgeschickt. Ja, ich darf mich wieder um die Buden kümmern, und du wirst es nicht glauben, aber gerade habe ich doch tatsächlich »Busen« getippt (mit schönem Gruß von Freud). Außerdem habe ich eine Ankündigung für meinen nächsten Open-House-Tag geschrieben (was eigentlich Arthurs Assistentin Grace tun sollte, aber ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass sie das hinkriegt), und ich habe für alle Familienmitglieder die in den nächsten sechs Monaten fälligen Arzttermine aufgelistet: Zähne, Grippeimpfung, Vorsorgeuntersuchungen und so weiter. Maya muss zum Augenarzt, obwohl sie erst sieben ist. Cecily braucht einen Termin beim Kieferorthopäden. Und ich eine Mammografie. Dafür, dass wir gesund sind, kümmern wir uns erschreckend viel um unsere Körper, finde ich. Glückwunsch, Frau Doktor! Du hast den Job, obwohl du dich nie drum beworben hast.

Bei zwei Besichtigungen in Sausalito war es spät geworden, aber dafür hatte Nora für die in Belvedere eine Absage bekommen, so dass sie nur etwas später nach Hause kam, als sie ihrer Babysitterin angekündigt hatte. Dummerweise war ausgerechnet der Termin abgesagt worden, von dem sich Nora wünschte, er hätte stattgefunden: Die Watkins-Immobilie, die ihr schon seit dem Sommer ein Dorn im Auge war – ein Dorn, bei dem nichts darauf hindeutete, dass ihn irgendwann jemand ziehen würde. Der Preis des Hauses war Noras Meinung nach deutlich zu hoch angesetzt. Aber die Besitzer waren stur und schwierig, und weil sie nicht mit sich reden ließen, wusste Nora, dass einige potenzielle Käufer gar nicht erst um einen Besichtigungstermin baten.

Es klang vielleicht komisch, dass zwei Mädchen, die eine siebzehnjährige Schwester hatten, nachmittags einen Babysitter brauchten, aber Angela war nach der Schule äußerst beschäftigt und darin nicht anders als ihre Freundinnen und die Freundinnen ihrer Freundinnen. Sie hatten den Glee-Club, die Orchesterproben, das Crosslauf-Training. Sie hatten den Recycling-Club (ungelogen), die Best Buddies (wo sie sich mit behinderten Mitschülern zusammentaten), die Französisch- oder Spanisch-AG und manchmal auch beides. Sie führten, wenn sie in den Schultheaterstücken nicht selbst mitspielten, Regie, malten das Bühnenbild oder nähten die Kostüme. Sie bereiteten sich auf Debattier-Wettbewerbe vor. Sie bewarben sich als Praktikanten in den Regionalparlamenten. Sie organisierten ihre fünfundzwanzig Stunden Freiwilligendienst für die National Honor Society. Und wenn davon mal nichts anstand, machten sie Hausaufgaben, Hausaufgaben, Hausaufgaben.

Alle Highschool-Schüler, die Nora persönlich kannte, waren so beschäftigt, dass Nora vor ihrem Wiedereinstieg in den Job vor zwei Jahren das halbe Netz abgrasen musste, um jemanden zu finden, der Cecily von der Schule abholen, sie zum irischen Tanz und danach wieder nach Hause kutschieren konnte. Natürlich immer in Begleitung von Maya, zweite Klasse, die wie eine angeschnallte Klette in ihrem Kindersitz ausharrte.

Derzeit musste Nora zwanzig Dollar pro Stunde für eine aus Wisconsin stammende Studentin der staatlichen University of South Florida lockermachen, die Maddie hieß und die bezahlten Nachmittagsstunden größtenteils ihrem iPhone widmete.

Als Nora nach Hause kam, öffnete sie als Erstes die Jalousien – Maddie hatte die unselige Angewohnheit, sie gegen die Nachmittagssonne zu schließen. Hierfür machte sie irgendeine ärztlich verbriefte Sonnenempfindlichkeit geltend, aber Nora vermutete (und Cecily bestätigte), dass es wohl eher daran lag, dass im Halbdunkel der Bildschirm von Maddies iPhone beziehungsweise iPad besser zu erkennen war. Sobald Nora Zeit hätte (wahrscheinlich nie), würde sie nach einer Neubesetzung für Maddie suchen, jemand, der mit Maya lesen oder ihr vorlesen würde, sie vielleicht mit den Klassikern vertraut machen würde, die Nora als Kind so geliebt hatte: die unvergängliche Anne auf Green Gables oder Betsy, Tacy und Tib. In ihrer Jugend hatte Nora alle Betsy-Tacy-Bücher verschlungen und später, in Angelas Kindergartenzeit, die eselsohrigen, lakritzverklebten Exemplare aus der Versenkung geholt, um sie ihr vorzulesen. Selbstverständlich hätte Angela sie auch allein lesen können, sie wäre wahrscheinlich schon mit Tolstoi zurechtgekommen, aber Nora genoss es, wieder ins Deep Valley im Minnesota des frühen neunzehnten Jahrhunderts einzutauchen. Bei Cecily hatte sie das mit dem Vorlesen versäumt, und jetzt war sie wahrscheinlich längst zu alt dafür. Nur Maya fand Kuscheln und Vorlesen eindeutig noch schön. Zumal sie immer noch nicht lesen konnte. Denk jetzt nicht dran, Nora. Regel Nummer eins: immer nur eine Sorge auf einmal. Okay, das war unmöglich. Immer nur eine große Sorge auf einmal.

Die Nachmittagssonne knallte ins Wohnzimmer. Die Jalousien waren vielleicht eine unbewusste Reaktion auf Noras Kindheit in einem Haus, in dem Vorhänge das Regiment geführt hatten: im Bad Vorhänge mit gelben und rosa Blümchen, in der Küche rustikale Vorhänge, rot-weiß kariert, und in ihrem Zimmer wie auch dem von Marianne Vorhänge mit kleinen, umherfliegenden Feen darauf. Diese Feen hatten Nora lange begleitet, zu lange, nämlich bis zu dem Tag, als sie mit achtzehn das Elternhaus verließ, um an der University of Rhode Island zu studieren. Als sie und Gabe später dieses Haus kauften, ließ Nora Innenjalousien aus Holz installieren, nicht weil sie ihr gefielen – obwohl sie es taten –, sondern weil diese Jalousien optisch neutral und hochwertig waren und auch bei Nora, da konnte sie noch so oft das Gegenteil behaupten, solche Entscheidungen von einem unsichtbaren Helfer diktiert wurden, einer treibenden Kraft, die einen Namen hatte: Wiederverkaufswert.

»Mom!« Cecily stürzte sich auf ihre Mutter und schlang die dürren Arme um ihre Taille. Cecily aß und aß und aß – eigentlich alles, was in Sichtweite war – und sah trotzdem aus wie ein halbverhungertes Waisenkind: spitze Ellbogen, hohle Wangen. Ihr selbst war das egal. Gern zog sie, so weit sie konnte, den Bauch ein und stellte sämtliche Rippen zur Schau, um sie durchzählen zu lassen. »Wartet, bis sie in die Pubertät kommt«, lautete dazu Angelas finsterer Kommentar. »Ich war früher auch dünn.« Angelas vierundfünfzig Kilo wurden gerade noch von der digitalen Haustierwaage erfasst, die Nora bei Frontgate gekauft hatte, als Frankie, ihr geliebter, nunmehr verstorbener Neufundländer, mit Fressattacken zu tun hatte.

»Wo ist Maya?«, frage Nora.

»Verabredet«, sagte Maddie. »Mit Penelope. Hab ich Ihnen geschrieben.«

»Richtig.« Für einen kurzen Moment erlaubte sich Nora, ihr Gesicht in Cecilys Haaren zu vergraben, die nach Erdbeershampoo rochen, und die ungetrübte Zuneigung ihrer Tochter aufzusaugen.

»Ava hat sich einen Zeh gebrochen und kann nicht tanzen und meine Hardshoes sind mir über den Sommer zu klein geworden und vor dem Feis brauche ich neue aber bis dahin habe ich sie bestimmt nicht eingetragen und guck mal ich kann den letzten Teil von meinem Solo jetzt perfekt das musst du sehen da fehlt jetzt die Musik aber guck einfach zu.«

Maddie erhob sich langsamer vom Sofa, als man es bei einer Einundzwanzigjährigen erwarten würde. Nora versuchte, nicht daran zu denken, wie viel Geld dieses Mädchen von ihr bekam. Sie versuchte, nicht daran zu denken, dass im November der Vertrag mit den Watkins auslaufen würde und – sollte die Immobilie bis dahin nicht verkauft sein – Mr und Mrs Watkins ihr Haus über die Feiertage vom Markt nehmen und erst im neuen Jahr wieder anbieten würden, dann natürlich über eine andere Agentur. (Ihr Chef Arthur Sutton wusste nichts davon, und es war Noras derzeitige Lebensaufgabe, dieses Haus zu verkaufen, ehe er dahinterkam.) Sie versuchte, nicht daran zu denken, dass sie weder Ideen noch Zutaten fürs Abendessen hatte und Maya auf dem Heimweg bei Penelope hätte abholen müssen, und sie versuchte, nicht an die drei Körbe schmutziger Wäsche zu denken, auf die sie eigentlich Maddie hatte hinweisen wollen, was Maddie allerdings auch nicht davon abgehalten hätte, sie zu ignorieren.

Aber jetzt übten Maddie und sie erst einmal den Schulterschluss und sahen Cecily gemeinsam beim Tanzen zu. Cecily war eine umwerfende Tänzerin, und Nora nahm sich Zeit, dies zu würdigen, dieses Kind aus ihrem eigenen Schoß, dem Schoß einer Frau, die weder musikalisch noch tänzerisch begabt war und sich nicht einmal den Electric Slide, der bei jeder Hochzeit gespielt wurde, richtig merken konnte, dieses Kind, aus dem ein so wunderbares Geschöpf geworden war, mit seinen langen, schlanken, muskulösen Beinen und seinem Lächeln, das einem das Herz brechen konnte. Für einen Augenblick träumte sich Nora ins Alte Land zurück, in die Heimat ihrer Vorfahren, sah sich vor hundert Jahren auf einer Hügelkuppe stehen oder an einem Sonntagnachmittag in einem verdunkelten Pub sitzen und ein Glas Stout-Bier trinken, während in einer Ecke drei Musiker ein Lied anstimmten.

»Wunderschön, Cecily«, sagte sie, als ihre Tochter fertig war, samt obligatorischer Verbeugung mit nach außen gedrehten Fußspitzen und einem Lächeln, das jede Jury sofort für sie einnahm. Die wenigsten Mädchen lächelten bei diesen Wettkämpfen, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, sich gegen Kotzanfälle auf der Bühne zu wappnen, ein nervlich bedingtes Phänomen, das leider verbreiteter war, als man glauben sollte. »Für mich wärst du klar auf dem ersten Platz«, sagte Nora. Und fügte, die Stimme von Cecilys Tanzlehrer Seamus O’Malley imitierend, mit vermeintlich irischem Akzent Gut gemacht, Mädel! hinzu. Cecily verdrehte zwar die Augen, aber es war ein gutmütiges Augenverdrehen, das Nora zu schätzen wusste. Aus Erfahrung wusste sie nämlich auch, dass die Gutmütigkeit im Alter von zwölf, dreizehn Jahren verschwand und erst wiederkam, wenn – ja wann eigentlich? Das wiederum hatte sie noch nicht in Erfahrung gebracht. Nora schwieg. Sie holte tief Luft. »Wo ist Ihre Majestät?«, fragte sie schließlich.

Cecily zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich noch nicht vom Crosslauf-Training zurück. Hab sie nicht gesehen.«

Just in diesem Moment ging die Tür auf und herein kam ein durchgeschwitztes Mädchen in Laufshorts und einem purpurroten T-Shirt, auf dem in stolzen, silbernen Lettern HARVARD stand. Angela peilte Harvard an, die Alma Mater ihres Vaters, schon seit langem und ohne jedes Zögern. Wobei man sich manchmal schon fragen konnte, wer Harvard eigentlich mehr anpeilte, Angela oder Gabe.

Sie musste heimgerannt sein, ihre Brust hob und senkte sich noch, und Nora fragte sich, wie sie das mit dem Rucksack geschafft hatte. Sie wollte es gar nicht wissen. Vielleicht hatte sie ja auch jemand abgesetzt, eine andere Mutter, eine nicht berufstätige Mutter, die ausreichend Zeit hatte, nicht nur allen Wettkämpfen, sondern auch jedem Training beizuwohnen.

»Hi«, sagte Angela und lächelte, allerdings bei genauerem Hinsehen nur mit dem Mund, nicht mit den Augen. Ihr Blick schweifte durchs Zimmer, über Cecily und Maddie und richtete sich dann auf ihre Mutter. »Ich sterbe vor Hunger«, sagte sie. »Und ich muss noch Berge von Hausaufgaben machen.«

Nora Hawthorne holte abermals tief Luft, breitete die Arme aus und legte sie um ihre älteste Tochter, ihren Engel, so viele Jahre lang ihr Ein und Alles. Dies war das Mädchen, das beim Einschlafen so besessen an seinen Fingern genuckelt hatte, dass eine frühzeitige, kostspielige Behandlung bei einem der renommiertesten Kieferorthopäden im Marin County unumgänglich gewesen war. Dies war das Mädchen, das schon vor seinem vierten Geburtstag einen ganzen Kinderroman gelesen und im Alter von zwei Jahren einen kompletten Satz in perfektem Spanisch von sich gegeben hatte. Dies war das Mädchen, das als Kindergartenkind seinen Vater nach Cambridge, Massachusetts begleitet hatte, um dort an einem frischen Novembernachmittag dem Harvard-Yale-Spiel beizuwohnen, das Mädchen, das sich mit diversen purpurroten Harvard-Accessoires am Leib ablichten ließ, die für Geld zu haben waren, und mit einigen, von denen man das eigentlich nicht sagen konnte. Vergrößert und gerahmt hing das Foto seitdem über dem Schreibtisch in Gabes Home-Office, diesem Allerheiligsten, das zwar nur selten für den erklärten Zweck genutzt wurde, aber trotzdem mit einem Sammelsurium an College-Erinnerungsstücken dekoriert war.

»Mom«, sagte Angela. Sie versuchte, sich aus Noras Umarmung zu lösen, aber Nora ließ nicht los. So verschwitzt und widerspenstig Angela auch war, für einen Augenblick sollte sie wieder Noras Ein und Alles sein.

In zwölf Monaten würde Angela nicht mehr bei ihnen sein, ausgezogen, weg, eingetaucht in den Strudel ihres Fast-Erwachsenenlebens, auf die Eltern nur noch angewiesen zur Sicherung ihrer finanziellen und – gelegentlich – emotionalen Bedürfnisse, aber eigentlich, grundsätzlich und de facto weg.

»Mom«, wiederholte Angela. »Lass mich los. Bitte. Mom?« Nora spürte das kurze Sichanlehnen, bevor sich Angela wieder zu befreien versuchte, und den ganzen schicksalhaften Herbst hindurch (oder war das Wort übertrieben?) klammerte sie sich an diesen Bruchteil einer Sekunde, dieses Zeichen, dass Angela immer noch zu ihnen gehörte.

»Mom. Ich bin total verschwitzt. Ich bin eklig.«

Maddie tippte schon wieder auf dem Bildschirm ihres iPhones herum, fast so, als wäre die Person, von der sie jeden Monat eine ordentliche Stange Geld bekam, gar nicht da. Cecily hatte derweil begonnen, eine Reihe ausgefeilter Dehnübungen zu machen, bei denen sie unter anderem ein übers Sofa gelegtes Bein hob und senkte. Noras Telefon vibrierte: Wahrscheinlich Penelopes Mutter, die sich fragte, wann Nora Maya abzuholen gedachte.

Nora ließ ihre älteste Tochter los. Zu Beginn der Woche hatte sie drei bedeutungsvolle Worte in Angelas Wandkalender geschrieben: Annahmeschluss im Frühbewerbungsverfahren. Erster November.

Es war so weit. Die wichtigste Phase in Angela Hawthornes jungem Leben hatte begonnen. Achtung, fertig, los!, dachte Nora.

3

GABE

Gabe war ein bisschen früh dran für den Termin mit der Studienberaterin, was ja an sich gut war, nur hatte er sich extra dafür einen halben Tag frei genommen, weshalb es nicht ganz so gut war, dass er nun warten musste – bei Elpis war man immer busy, busy, denn in der Wirtschaft standen die Räder niemals still.

So einen Beratungstermin zu bekommen, war schwieriger als eine Reservierung in einem Nobelrestaurant wie dem French Laundry, weshalb ihm Nora einen Tag vorher noch mehrere Erinnerungsmails und -SMS geschickt hatte. Vierzehn Uhr, hatte sie gesagt. Wir müssen beide hin, um Angela zu unterstützen. Im Empfangsbüro stellte sich Gabe einer jungen Frau mit auffallend roten Strähnchen vor. Sie deutete auf eine geschlossene Tür, neben der eine kleine, hölzerne Sitzbank stand. »Warten Sie dort«, sagte sie. »Ms Vogel ist gleich für Sie da.« Im Grunde hielt Gabe den Termin für unnötig; das hier war Noras Idee. Gabe hatte, um es mal so zu sagen, kein Pferd im Rennen. Oder, um genauer zu sein, nur ein Pferd, und somit war es für ihn kein Rennen. Angela würde nach Harvard gehen. Ergo war das Treffen mit der Studienberaterin eine bloße Formalität.

Er wartete fünf Minuten, dann zehn. Schon drei Minuten vor zwei. Es sah Nora gar nicht ähnlich, bei so einem Termin zu spät zu kommen. Er schaute auf sein Handy: da, eine SMS, zwar ohne Satzzeichen (wofür er Siri die Schuld gab), aber mit deutlichem Inhalt: Treffen ohne mich muss das watkinshaus zeigen hat sich gerade ergeben sorry

Das Watkins-Haus, fünf Zimmer, sechseinhalb Bäder. Atemberaubender Blick auf die Golden Gate Bridge. Jede gottverdammte Immobilie, die in Belvedere zum Verkauf stand, bot atemberaubende Blicke auf die Brücke; wenn man Realtor.com Glauben schenkte, hatte seit Jahrzehnten keiner der zweitausend Einwohner dieses Städtchens mehr richtig Luft geholt. Auch verfügte jedes Haus in Belvedere über eine größere Zahl von Bädern als Zimmern, offenbar ein besonderes Phänomen unter Vermögenden, für das ihm Nora auf Nachfrage noch keine plausible Erklärung hatte liefern können. Das teuerste Angebot in Belvedere war dieses Haus nicht, aber die größte Immobilie, die dieses Jahr bei Sutton and Wainwright reingekommen war, und sie hatten sie Nora gegeben. Ein Riesengeschäft. Fünf Zimmer auf einem tausend Quadratmeter großen Grundstück. »Im Ernst?«, hatte Gabe gefragt. Auch wenn er sich inzwischen als Kalifornier betrachtete und es ihm in seiner neuen Heimat gefiel, kam er längst noch nicht damit klar, was man hier für sein Geld nicht bekam. Der gesamte Staat Wyoming, wo Gabe aufgewachsen war, wäre vermutlich für weniger als acht Millionen über den Tisch gegangen. »Acht Millionen?« Worauf Nora ihn korrigiert hatte: »Acht Komma acht. Aber es ist ein echter Cooper-Sudecki-Bau.« Letzteres hatte sie mit leiser Ehrfurcht und in einer Weise gesagt, als wären mit der Nennung dieses Namens alle Fragen geklärt.

Einmal, das war noch vor den Kindern, hatten sie fantastischen Sex gehabt: auf dem Küchenboden von Noras erstem Auftrag, einer Zwei-Zimmer-Wohnung in Sausalito. Die Wohnung stand seit längerem leer, weshalb ihr Tun und Treiben vielleicht nicht ganz so daneben war, aber Nora war anschließend ausgeflippt: Und wenn die Leute hier Überwachungskameras hatten? Wenn sie nun ihren Job verlieren würde? Ihre Zulassung? Und wenn sie nun den unerschütterlichen, unenttäuschbaren Arthur Sutton doch enttäuscht hätte, diesen Arthur Sutton, der so vernarrt in Nora war?

Leise Stimmen am Empfang, und da kam wenigstens Angela. Sie nahm neben Gabe Platz und ließ einen riesigen Rucksack von ihrer Schulter rutschen. (Warum so groß? War nicht alles inzwischen digital?) Ihre Augen waren genauso blau wie Noras, nur größer und runder.

»Hi«, sagte sie. »Hallo, Daddy.«

Angela wirkte müde. »Alles okay, Süße?«

»Klar«, sagte sie. Angela und Maya hatten Noras rotblonde Haare und den irischen Teint geerbt, während Cecily, die irische Tänzerin, eher wie ein syrisches Flüchtlingsmädchen aussah – vielleicht ein spätes Durchschlagen indianischen Bluts, das sich die Familie nie eingestanden hatte, Stichwort Genpool, Generationen überspringendes Merkmal? Ihm fiel auf, dass Angelas Fingernägel total heruntergekaut waren – eine neue Angewohnheit? Er war sich nicht sicher – und dass sie sie trotzdem schwarz-violett lackiert hatte. »Wo ist Mom?«, fragte Angela, schon wieder mit einem ihrer Nägel befasst, wobei Gabe sich beim besten Willen nicht vorstellen konnte, was es da noch zu kauen gab.

Siebzehn Jahre alt, und noch immer nannte sie ihn Daddy. Er liebte das, es sollte immer so bleiben. Er wollte, dass ihn alle seine Mädchen Daddy nannten, für immer und ewig. Er wollte, dass Angela ihn Daddy nannte, wenn er sie zum Altar führen würde (hoffentlich erst in einigen Jahren), und er wollte, dass sie ihn Daddy nannte, wenn sie ihn seinem ersten Enkelkind vorstellen würde.

Er hob eine Hand. »Hab gerade eine SMS bekommen. Sie muss jemandem das Watkins-Haus zeigen.«

Angelas Augen wurden noch größer, als sie ohnehin schon waren. Diese Augen, jedes so groß und so rund wie ein ins Gesicht eingelassener Mond. »Echt? Das ist toll. Hoffentlich wird es DIE Besichtigung.« Sie wusste – wie alle Menschen außer Arthur Sutton –, dass der Auftrag Ende November auslaufen würde. Fünf Prozent von 8,8 Millionen, das waren 440 000 Dollar. Geteilt durch zwei – eine Hälfte für den Makler des Käufers, die andere für Sutton and Wainwright –, blieben 220 000 Dollar. Selbst wenn Arthur Sutton seinen Anteil bekommen hatte (von dem Gabe nicht genau wusste, wie hoch er eigentlich war), würde noch ein hübsches Sümmchen für die Hawthornes übrig bleiben, genau zur richtigen Zeit, bevor die ersten Studiengebühren fällig wären. »Aber trotzdem«, fuhr Angela fort. »Ich wünschte, sie wäre hier. Sie hat doch alles organisiert. Ich habe die Studienberaterin ja letztes Jahr schon gesehen. Und ich verpasse übrigens Englisch. Wir arbeiten gerade an unseren Bewerbungsessays.«

Gabe war auf einer Ranch außerhalb von Laramie aufgewachsen, wo der Himmel unflätig blau und das nächste McDonald’s fünfundvierzig Autominuten entfernt war. Als er sich fürs College bewarb, handelte sein Essay von einem Kälbchen, mitten im Schneesturm tot geboren. Eine wahre Geschichte! Es war ein grauenhaftes Erlebnis, und bei den drei Geburten seiner Töchter, die er später an Noras Seite im Kreißsaal miterlebte, spukten ihm Bilder durch den Kopf, die er einfach nicht loswurde: das Blut, die rollenden Augen der Mutterkuh, der Geruch nach Tod und Geburt, »eins geworden in dieser tiefschwarzen Winternacht«, wie er in seinem Essay geschrieben hatte. Mit Sprache konnte er schon immer umgehen: Das half ihm, auch in seinem Job bei Elpis. Mit Menschen konnte er sowieso umgehen. Er fragte sich, worüber Angela schreiben würde. Den Anblick einer gebärenden Kuh hatten er und Nora ihr erspart. Ob sie ihr damit etwas vorenthalten hatten? Er war eigentlich schon der Meinung, dass sie Angela in jeder erdenklichen Weise gefördert hatten, angefangen mit der Vorschule. Montessori. Wie hieß noch mal der Junge, den sie von der Rutsche geschubst hatte? Tim Maloney. (Nachdem Sie mit den Maloneys offenbar Einigung erzielt haben, was die Übernahme von Timothys Behandlungskosten betrifft, sind wir bereit, nach vorn zu blicken und freuen uns auf ein bereicherndes Restjahr hier im »Kleinen Pfiffikus«, hieß es in dem Brief an Nora und ihn. »Ich wollte als Erste oben sein«, hatte Angela geschluchzt.) Dann kamen die Schwimmkurse, das Flötespielen, Tanzen, Skifahren, Laufen, die Französisch- und Italienischkurse. Aber das mit der Kuh hatten sie vergessen. Keiner aus seiner Familie lebte noch in der Nähe einer Ranch, seit seine Eltern gestorben und beide Brüder nach Vancouver und South Carolina ausgeschwärmt waren. Nach so vielen Jahren im Binnenland hatten auch sie nach Wasser gelechzt. »Der Essay!«, sagte er. »Das ist der beste Teil der Bewerbung. Was hältst du von –«

In diesem Moment öffnete sich die Tür neben ihnen, und ein Junge mit Haaren wie ein Wischmopp kam heraus, die Eltern im Schlepptau. Der Mann war eine ältere, schlaffere Version des Sohns, die Frau eine noch schlaffere Version des Mannes. Die Luft, die mit ihnen dem Büro entwich, war vor lauter Stress zum Schneiden dick. Gern hätte Gabe seiner Tochter das zugeflüstert, aber er wusste, es klang wie ein Klischee, und Klischees waren an der Oakville Highschool tabu, insbesondere unter den Klassenbesten.

»Das ist Jacob Boyd«, raunte Angela, als das Trio um die Ecke gebogen war. »Er liegt so auf Platz fünfzehn. Ist nicht schlecht. Geht wahrscheinlich aufs Occidental College oder so.«

Wäre Nora jetzt dagewesen, hätte sie irgendeinen munteren, freundlichen Kommentar zu Jacob Boyd abgegeben, »Occidental – ein wunderbares College« oder so.

Aber Nora war nicht da, sie machte gerade eine 8,8-Millionen-Dollar-Besichtigung in Belvedere, und überhaupt wartete die terminlich so ausgebuchte Ms Vogel schon auf Angela und ihn. Sie hatte ein tief gebräuntes, von tiefen Falten durchzogenes Gesicht, drahtige, abstehende Haare, einen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit selbstgestrickten Pullover und einen Händedruck, der für Gabes Geschmack etwas zu weich war. »Kommen Sie rein«, sagte sie. »Mr Hawthorne, Angela. Mein nächster Termin ist um vierzehn Uhr zwanzig, und ich weiß, dass wir viele Felder zu beackern haben. Mr Hawthorne? Sie sehen ein bisschen nervös aus. Seien Sie unbesorgt. Ich habe schon seit einem Jahr keine Eltern mehr gebissen.«

4

CECILY

»Hast du ein Glück«, sagte Cecily. »Ich wünschte, mein Dad würde auch für Apple arbeiten.« Ehrfürchtig hielt sie Pinkies iPhone 5s in der Hand, genauso ehrfürchtig wie sonst Pinkies Zwerghamster Mouse, wobei sie das iPhone noch lieber in der Hand hielt, weil Mouse ihr immer auf den Pullover kackte.

Sie lagen auf Pinkies Doppelbett und drückten sich vor den Hausaufgaben. Pinkies Zimmer war riesig, mit eigenem Marmorbad und einer Dusche mit vier Duschköpfen, die sich bei Bedarf alle gleichzeitig aufdrehen ließen.

Pinkie war Einzelkind. Cecily teilte sich das Zimmer mit Maya und das Bad mit ihren beiden Schwestern, was okay war, nur vergaß Maya immer, das Becken auszuspülen, wenn sie ihre Zahnpasta ausgespuckt hatte. Angela wiederum okkupierte, obwohl sie ja nur ein Drittel der Hawthorne-Mädchen ausmachte, deutlich mehr als die Hälfte des Badezimmers – sie hatte sogar ein Vorhängeschloss an ihrem Schrank angebracht –, und jedes Mal, wenn Cecily bei ihrer Mutter Beschwerde einlegte, kam irgendeine vage, unbefriedigende Antwort, von wegen Angela habe es derzeit nicht leicht und warum sie nicht alle ein kleines bisschen geduldiger sein könnten.

Als Erstes probierten sie ein Video aus, in Zeitlupe. Cecily tanzte einen Teil ihres Solos, und Pinkie machte einen Handstand.

»Voll gut, dass du’s in Gold genommen hast«, sagte Cecily, als sie sich wieder aufs Bett legten, um das Video zu begutachten. »Ich hätt’s auch in Gold genommen.«

Einen Moment lang schwiegen die beiden und betrachteten voller Bewunderung das Gerät. Cecilys Vater arbeitete für ein Consulting-Unternehmen, da gab es nichts, was er seiner Tochter hätte mitbringen können. Als sie noch kleiner war, hatte sie ihn einmal gefragt, was er bei der Arbeit eigentlich machte. »Ideen haben«, hatte er geantwortet. Gähn.

»Wir könnten uns ein eigenes Rainbow-Loom-Armband ausdenken«, schlug Pinkie vor. »Und dann ein Video machen und bei YouTube hochladen.«

»Ja«, sagte Cecily und dachte an die Mädchen, die das YouTube-berühmte Sternenarmband-Video gemacht hatten. »Aber ich hab meinen Webrahmen nicht mit.«

Also spielten sie Akzente nachmachen. Pinkie konnte britisch, aber beim irischen Akzent war Cecily deutlich besser, weil sie so viel Zeit mit Seamus O’Malley verbrachte. Den australischen konnten beide – wegen Mako – einfach Meerjungfrau, das sie auf Netflix guckten, wobei es bei Pinkie etwas echter klang. Wahrscheinlich, weil Pinikie mal in Australien gewesen war.

»Okay, nimm mich mal auf«, befahl Cecily ihrer Freundin. »Und dann rätst du, wer ich bin.«

Sie holte tief Luft, schloss die Augen und sagte: »Alle herhören, Essen ist fertig!«

»Oh mein Gott«, sagte Pinkie. »Du hörst dich genauso an wie deine Mutter. Haargenau!«

»Ich weiß«, sagte Cecily bescheiden und irgendwie auch nicht, denn es gab nur wenige Dinge, die sie konnte und Pinkie nicht. »Ja, wirklich, oder? Ich hab das geübt. Ich kann meinen Vater voll reinlegen, wenn ich aus einem anderen Zimmer nach ihm rufe.«

»Das ist unfassbar!«, sagte Pinkie. »Hammer! Ich wünschte, ich könnte das auch.«

»Das kannst du«, sagte Cecily. »Nimm einfach die Stimme deiner Mom auf, wenn sie redet, und hör sie dir immer wieder an. Dann kriegst du’s auch hin.«

»Los, ich nehme dich jetzt auf«, sagte Pinkie. »Das ist so unfassbar, du hörst dich genauso an wie sie. Okay, bist du bereit? Ja? Auf die Plätze, fertig, los