1.
NORDISCHE FREUNDE AUF SÜDKURS
Der Wind kam gleichmäßig und schneidend. Eine Reihe rotbeflaggter Markierungsstangen schlängelte sich parallel zur Reichsstraße bis ans Seeufer und schwenkte dann vor einer hölzernen Schranke in elegantem Bogen zurück ins Landesinnere. Hus Trollhem, privat väg war in Runen nachempfundenen Schriftzeichen in den hochgestellten Schlagbaum eingeritzt. Die Schneedecke hinter der Schranke war von Reifenspuren zerpflügt, die auf ein großflächig verglastes, riedgedecktes Haus zielten. Aus zwei schlanken Schornsteinen wehten Rauchfetzen in einen stahlblauen Januarhimmel.
Das Haus lag in einiger Entfernung zum Vänernsee. Mit seinen ausladenden Veranden schmiegte es sich an den Abhang der einzigen nennenswerten Anhöhe weit und breit: eine birkenbestandene Erhebung in Form einer gespreizten Bärentatze. Das letzte Licht einer silbrigen Sonnenscheibe beschien die weiße Fläche, die sich zwischen dem Haus und dem Ufersaum des Sees erstreckte wie ein sorgfältig geglättetes, schier endloses Tuch.
Der Pulk chromblitzender Limousinen parkte im Windschatten des Hügels. Die meisten Wagen hatten schwedische Kennzeichen, lediglich ein Horch und ein Adler-Coupé trugen deutsche Nummernschilder. Es waren zwei schwarze, sehr offiziell aussehende Fahrzeuge, denen man die Standartenhalterungen auf den vorderen Kotflügeln abmontiert hatte. Statt dessen steckten Gummistöpsel in der Wagenfarbe in den Öffnungen.
Das Haus war ein langgestrecktes Gebäude im nüchternen Landhausstil Västergötlands und im Besitz der Göteborg Industri Kreditanstalt. Die GIK war eine neugegründete Tochtergesellschaft der Stockholm Enskilda Bank, dem Kernstück des mächtigen Wallenberg-Imperiums.
Direktor Per Wilhelm Holtsen, der Gastgeber in Hus Trollhem und oberster Repräsentant der schwedischen GIK-Interessen im Deutschen Reich, hatte die Tafel aufgehoben und geleitete seine Gäste zum Raucherzimmer auf der Veranda. Es waren nur Männer.
»Bis wir das Vergnügen haben, dem Vortrag unseres geschätzten Ehrengastes lauschen zu dürfen, wollen wir uns noch für ein halbes Stündchen entspannen.« Holtsen machte eine leichte Verbeugung in die Richtung des weltberühmten Asienforschers Sven Hedin, der sich gerade angeregt mit einem Mitglied der Stockholmer Akademie der Wissenschaften unterhielt, und öffnete die schwere Eichentür zum Rauchersalon.
›Die Deutschen lieben diese kulturellen Veranstaltungen über alles, um ihre Verhandlungen zu tarnen‹, dachte Holtsen. ›Franzosen oder Italiener hätten sich bei einem Bordellbesuch mit mir besprochen, aber nicht hier – bei einem Vortrag über die Karawanenstraßen der Wüste Gobi!‹ Er lächelte in sich hinein. ›Diese intellektuellen Oberarier! Halten sich überall und fortwährend für das einzige Volk der Dichter und Denker auf der Welt. – Selbst ihre gestandensten Militaristen kriegen Tränen in die Augen, wenn jemand ‚Über allen Wäldern ist Ruh‘ getragen deklamiert oder die ‚Lorelei‘ mit kiloweise triefendem Pathos summt.‹ Sein Blick fiel auf den Horch mit der größten Massierung von imposanten Zusatzscheinwerfern auf der vorderen Stoßstange, die er jemals gesehen hatte. ›Sogar ihre Autos haben etwas von Götterdämmerung und Nibelungenwürde.‹
Per Wilhelm Holtsen hatte nichts gegen Deutsche, wenn sie einem lukrativen Geschäft zuträglich waren, nur fand er die meisten Verhandlungspartner, mit denen er in letzter Zeit zu tun gehabt hatte, eine Spur zu witzlos, wenn nicht sogar zu bieder. Aber das mochte daran liegen, daß sie fast ausschließlich Vertreter der Hitler-Partei waren, die es sich nicht nehmen lassen wollten, als geleckte Vorzeige-Deutsche aufzutreten: sauber, ernst und ehrlich. Eben die guten Deutschen im Gegensatz zu den Roten und den Juden, kurzum, den Bolschewisten in allen ihren Spielarten.
Per Wilhelm Holtsen war eine gewichtige Persönlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes, ein Drei-Zentner-Koloß mit einer fröhlichen Gesichtsfarbe, einem akkurat gestutzten Kinnbart und auffällig sorgsam polierten Fingernägeln. Bereits seine physische Masse strahlte Würde und Vertrauen aus. Ein Mann, dem man es abnahm, daß er die Annehmlichkeiten des Lebens zu schätzen wußte, jemand, dem man ohne weiteres zutraute, daß er von morgens bis abends gemütlich auf einem bequemen Sofa herumlag und es sich gutgehen ließ. Ein bedächtiger, gesetzter, ein stattlicher Mann mit einer warmen Tenorstimme, der dem Anschein nach jegliche Bewegungsexzesse verabscheute. Aber weit gefehlt. Wer einmal Per Wilhelm Holtsen bei der Herbstjagd beobachtet hatte oder mit ihm im Fjell auf Skiwanderung gewesen war, hatte einen völlig anderen Holtsen kennengelernt, einen, der wie ein Nashorn oder Nilpferd durchaus in der Lage war, sich bei Bedarf überraschend geschmeidig und ausdauernd zu bewegen. In seiner Heimatstadt Laholm gewann er mit großer Regelmäßigkeit den jährlichen Holzfällerwettbewerb. Ein Foto, Holtsen mit einem hochgekrempelten karierten Wollhemd und in einer derben Arbeitshose zeigend, hing für die, die sehen wollten, deutlich hinter seinem Schreibtischsessel in der Göteborger GIK-Zentrale. Der Fleischberg Holtsen war von beachtlichen Muskeln durchsetzt.
Der Bankier P. W. Holtsen trug einen bequem geschnittenen Flanellanzug bester Londoner Provenienz in dezentem Grau. Das Hemd, modischer weicher Kragen, war lindgrün und von feinen marineblauen Nadelstreifen durchbrochen. Die Krawatte mit dem aufgestickten Wappen verriet, daß ihr Träger an einer renommierten britischen Universität studiert haben mochte, zumindest aber signalisierte sie, daß er anglophil war.
Die Unterhaltung im Raucherzimmer von Hus Trollhem wurde von allen Anwesenden auf deutsch geführt.
»Meine Herren!« Holtsen ließ sich vorsichtig auf ein zierliches zweisitziges Sofa nieder und füllte es vollständig aus. »Bitte, bedienen Sie sich doch!« Seine Hände machten eine einladende Geste, deuteten auf die wohlbestallte Hausbar mit den geschliffenen Karaffen im Hintergrund. Auf einem niedrigen Glastisch neben dem Sofa stand ein Humidor. »Ich glaube, es wird für jeden etwas dabeisein. – Tron-Herman? Var så god!«
Ein livrierter Hausdiener eilte herbei und reichte die Zigarrenbox auf einem Tablett aus Massivsilber herum. Die Herrenrunde teilte sich in Gruppen auf. Zwei Männer nahmen Holtsen gegenüber Platz. Der Ältere, Hans-Joachim Galgon, hatte sportlich kurz geschnittenes Haar. Die Art, wie er sich in dem lederbezogenen Clubsessel geradehielt, wie er quasi strammsaß, ließ unschwer auf seine Profession schließen. Überdies machte er einen durchtrainierten Eindruck, durchtrainierter zumindest als sein jüngerer, kettenrauchender Begleiter mit dem markigen bayrischen Akzent und dem glänzenden Oberlippenbart.
›Er hat ihn gewachst‹, dachte Holtsen, ›will seinem Chef nacheifern. Sollte dann auch Abstinenzler werden.‹
Der jüngere Mann war zwar ebenfalls schlank und hochgewachsen, aber seinen Augenlidern konnte man ansehen, daß er einen regelmäßigen Tropfen nicht verachtete, ihn sich häufiger gönnte, als es ihm zuträglich war. Ihm fehlte völlig das Asketische, das der Ältere ausstrahlte – dennoch schien er von beiden das Sagen zu haben, jedenfalls richtete Holtsen das Wort zuerst an ihn: »Tron-Herman hat vorhin den Anruf entgegengenommen, während wir zu Tisch saßen. Die Antwort war, wie auch nicht anders zu erwarten, natürlich durch und durch positiv. Die Stockholm Enskilda Bank und, im Vertrauen gesagt, die Gebrüder Wallenberg höchstpersönlich haben ab sofort grünes Licht für unsere diversen Unternehmungen gegeben, Herr Doktor.«
»Wunderbar!« sagte Doktor Bruno Randhuber und schlug sich auf die Schenkel. Die Asche seiner Zigarette bepuderte den Teppich um ihn herum. Er bemerkte es nicht. »Das ist ja grandios! Darauf müssen wir unbedingt gleich anstoßen!«
»Grandios!« wiederholte Galgon. »Einfach grandios!«
›Es fehlt nicht viel, und sie führen ein Freudentänzchen auf‹, dachte Holtsen amüsiert.
»Der Führer«, sagte Randhuber feierlich und strich sich mit einem nikotingelben Zeigefinger über den Oberlippenbart, »wenn der Führer erst an der Macht ist, werden wir nicht vergessen, wer von unseren germanischen Brüdern uns in den bitteren Zeiten der Not geholfen hat. Seien Sie dessen versichert, mein lieber Direktor Holtsen!«
Doktor jur. Bruno Randhuber hatte die Angewohnheit, an der goldumrandeten Swastikaplakette im Knopfloch herumzuspielen, während er sprach. Er trug das Haar geringfügig länger als sein älterer Begleiter. Ein messerscharfer Seitenscheitel, auch darin erinnerte er an sein Idol, verlängerte die blasse Mensurnarbe auf der Stirn. Randhuber unterstrich seine Worte gestenreich und hatte eine geschulte, weittragende Stimme. Bevor er als Anwalt für Internationales Wirtschaftsrecht Parteikarriere gemacht hatte, war er in seiner Freizeit begeisterter Laiendarsteller einer Münchner Theatergruppe gewesen, die sich auf völkisch-germanische Stücke schwülstigen Inhalts spezialisiert hatte. Bei einer Aufführung in Nürnberg anläßlich des Reichsparteitags war Goebbels auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn in der Garderobe besucht. Am nächsten Tag war Randhuber in die NSDAP eingetreten, und eine steile Karriere hatte ihren Anfang genommen.
Holtsen schnappte mit den Fingern. Tron-Herman eilte wieder wie durch einen Zauber augenblicklich herbei, kredenzte Champagner und stellte die angebrochene Flasche in einen mit Eissplittern gefüllten Sektkühler auf den Glastisch.
»Auf den Führer!« toastete Holtsen und erhob sich, um anzustoßen.
»Heil Hitler!« prostete Randhuber und erhob sich ebenfalls.
»Zum Wohl!« sagte Galgon, sprang auf und schaffte es, dabei die Hacken zusammenzuschlagen. »Und auch ein Hoch auf all die schwedischen Freunde, die es dem Reich durch ihre unbürokratische Hilfe erlauben, eine würdige Luftwaffe aufzubauen.«
Sven Hedin trat zu Holtsen und den Deutschen, in der Hand einen Stoß beschriebener Notizzettel, zusammengehalten von einer überdimensionalen Heftklammer.
»Und natürlich auch ein Hoch auf all diejenigen, die dem deutschen Volk von jeher in tiefster Freundschaft verbunden sind.« Holtsen schob dem berühmten Mann sanft seine Pranke auf die Schulter, und Tron-Herman brachte eine Champagnerflöte.
»Hochgeschätzter Doktor Hedin«, Holtsen machte einen Schritt zur Seite und ließ Sven Hedin in den Kreis. »Darf ich Ihnen die Herren Doktor Randhuber und Hauptmann Galgon vorstellen? Sie sind in einer diskreten Mission für Herrn Hitler bei mir zu Gast gewesen.«
Sven Hedin legte die Notizblätter auf den Glastisch, schüttelte Hände und erhob sein Glas. »Skål, die Herren! Hocherfreut!« Er nickte wohlwollend. »Ich bin sehr optimistisch, den Führer noch in Bälde persönlich zu treffen. Einladungen seitens Doktor Goebbels und von Herrn Göring liegen mir schon seit geraumer Zeit vor. – Ja, meine Herren, und wir haben wirklich Glück, daß wir uns hier in Hus Trollhem noch begegnet sind. Dieser Vortragsabend wird für längere Zeit nämlich mein letzter auf schwedischem Boden sein. Ich bin quasi en route zu einem Sinologentreffen in Berlin – dort werde ich auch endlich die Herren Goebbels und Göring beehren –, und dann geht es für einige Monate weiter in die Neue Welt.«
Randhuber machte eine zackige Verbeugung, Golgons Hacken klackten.
»Aber, ich denke …«, Sven Hedin schaute auf die Armbanduhr und nahm seine Aufzeichnungen wieder an sich, »so langsam sollten wir uns doch …« Er wedelte mit seinen Zetteln.
»Natürlich, stante pede, mit dem größten Vergnügen, Herr Doktor«, beeilte sich Holtsen zu versichern, »im Konferenzzimmer ist alles für den, äh, Höhepunkt des Abends vorbereitet – hoffentlich zu Ihrer Zufriedenheit. Sollte dennoch etwas fehlen, bitte scheuen Sie sich nicht, meine Wenigkeit oder Tron-Herman zu bemühen.« Er wandte sich seinen deutschen Gästen zu. »Heute ist es ein bißchen ungünstig, ausgiebig mit Doktor Hedin zu plaudern, aber wir alle werden vielleicht in der nächsten Woche eine bessere Gelegenheit dazu haben.«
»So?« Sven Hedin zog die Augenbrauen hoch.
»Mit Verlaub«, sagte Holtsen. »Doktor Randhuber, Hauptmann Galgon und ich reisen ebenfalls nach Berlin.«
»Ach«, sagte Sven Hedin, »wohnen Sie zufällig im Kaiserhof? Dort werde ich nämlich mein Quartier aufschlagen.«
»Der Führer steigt auch im Kaiserhof ab, wenn er in Berlin ist«, sagte Randhuber. »Der Kaiserhof ist, mit Verlaub, das beste Haus, das die Reichshauptstadt zu bieten hat.«
Holtsen musterte Randhuber eine Weile, dann flog über sein Gesicht ein mildes Lächeln. »Mein hochgeschätzter Doktor Randhuber. Wir mögen in vielen Dingen durchaus einer Meinung sein, politisch, weltanschaulich – was Sie wollen! Aber was das beste Hotel in Berlin angeht, da muß ich Ihnen doch vehementestens widersprechen. Ich wohne, wenn ich in Berlin bin, selbstredend immer nur Unter den Linden im Adlon. – Wo denn sonst!«
Randhuber gab das Lächeln mit einer angedeuteten Verbeugung zurück. »Ganz wie Sie meinen, lieber Herr Direktor. Die Partei hat natürlich auch im Adlon Hotel eine würdige Vertrauensperson. Ein gewisser Kassner ist unser Mann, Otto Kassner, Assistent des Kellermeisters und ein Pg. der ersten Stunde. Wir werden – bei Glatteis – über ihn an Sie herantreten.« Randhuber machte ein ernstes Gesicht. Glatteis war das vereinbarte Code-Wort, wenn etwas nicht nach Plan zu laufen drohte.
»Gut«, sagte Holtsen. »Kassner. – Ich werde mir diesen Namen merken.«
Tron-Herman stand an der Eichentür und schlug mit einem wattierten Klöppel an eine bronzene Klangscheibe. Sven Hedin ging als erster.
»Aha, es ist soweit!« sagte Holtsen. »Lassen wir uns von dem Herrn Doktor in die entlegensten Regionen Tibets entführen.« Er ließ Randhuber und Galgon den Vortritt. Randhuber benutzte den von Tron-Herman dargebotenen Aschenbecher und drückte seine Zigarette aus.