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Sonderveröffentlichungen der
Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte
Herausgegeben von Jürgen Jensen
Band 91

Thomas Hill

Hansestadt Kiel

Von Händlern & Ratsherren,
von Grafen & Piraten

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Für Philine, den kleinen Engel

Vorsatz: Die älteste Ansicht Kiels aus dem Jahr 1588, Kupferstich von Georg Braun und Franz Hogenberg (Stadtarchiv Kiel).

Nachsatz: Die Ausdehnung des hansischen Handels (aus: Philippe Dollinger: Die Hanse, neu bearbeitet von Volker Henn und Nils Jörn, Stuttgart 62012, Karte 5).

1. Auflage 2019

www.wachholtz-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

1.Einleitung

2.Die Anfänge Kiels

2.1.Das frühe Kiel

2.2.Neugründung der Stadt um 1240

3.Was war die Hanse?

3.1.Eine mittelalterliche Definition: die Hanse ein Henkel?

3.2.Der hansische Handel

3.3.Organisation und Politik der Hanse

3.4.Zusammenfassung

4.Kiels Wirtschaftsbeziehungen im Mittelalter

4.1.Handwerkerstadt und regionaler Marktplatz

4.2.Kiels Handel im Ostseeraum

4.3.Kiel und der Nordseeraum

4.4.Kiels Teilhabe am hansischen Handel

4.5.Der Kieler Umschlag – eine neue wirtschaftliche Perspektive im 15. Jahrhundert?

4.6.Zusammenfassung

5.Kiel und die Städtehanse

5.1.Der Kieler Rat als Vertreter der Stadt nach außen

5.2.Kiel und die Entstehung der Städtehanse

5.3.Zur Teilnahme Kiels an den Kriegen gegen Waldemar IV.

5.4.Verhansung Kiels Ende des 14. Jahrhunderts?

5.5.»Piratennest« Kiel um 1420

5.6.Kiel auf Hansetagen im 15. Jahrhundert

5.7.Das Ende der Hansemitgliedschaft Kiels

5.8.Versuch einer Wiederaufnahme 1554

5.9.Kiel und die Hanse – eine Bilanz

6.Was bleibt? Eine Spurensuche im heutigen Kiel

7.Anhang

Endnoten

Zeittafel

Quellen- und Literaturverzeichnis

Danksagung

1. Einleitung

Heute ist Kiel eine Großstadt mit knapp 250 000 Einwohnern und Hauptstadt des Landes Schleswig-Holstein. Im Mittelalter sah das ganz anders aus. In Kiel lebte nie mehr als ungefähr ein Prozent der heutigen Einwohnerschaft, denn die Stadt hatte bis ins 16. Jahrhundert maximal 2500 Einwohner. Kiel war also eine Kleinstadt.1 Städte vergleichbarer Größe gab es damals auf dem Gebiet des heutigen Schleswig-Holsteins knapp ein Dutzend, zum Beispiel in der Nachbarschaft Kiels Rendsburg und Eckernförde. Das, was Kiel aber vor diesen Kleinstädten auszeichnete, war die Mitgliedschaft der Fördestadt in der Hanse. Bis 1518 lässt sich Kiel als Hansestadt nachweisen. Neben Lübeck, mit ca. 20 000 bis 30 000 Einwohnern eine der größten Städte des mittelalterlichen Reiches2 und »Königin der Hanse«, war Kiel die einzige schleswig-holsteinische Stadt, die zur Hanse gehörte!

Die Hanse war eine Gemeinschaft norddeutscher Kaufleute und Städte, die vom 13. bis ins 16. Jahrhundert Handel zwischen Ost- bzw. Nordeuropa und Westeuropa mit Ausläufern in den Süden betrieben. So reichte das hansische Handelsgebiet von Nordwestrussland und Skandinavien bis nach Flandern und England. Seit dem späten 14. Jahrhundert wurde der Handel zur französischen Westküste, nach Spanien, Portugal, Italien und bis nach Island ausgedehnt. Die Hansestädte sind heute über acht europäische Staaten verteilt und 25 der heute 45 europäischen Staaten wurden vom hansischen Handel erfasst. Und so wird aktuell die Hanse mitunter sogar als ein frühes Beispiel für das Zusammenwachsen und die Zusammengehörigkeit Europas gesehen, quasi als ein Vorläufer der Europäischen Union.3 Der Handel der Hanse erfolgte aber nicht nur europaweit, über Lemberg, Brügge und Venedig bezogen die niederdeutschen Kaufleute auch Waren aus Fernost und aus Afrika, seit dem späten 15. Jahrhundert über Antwerpen, Lissabon und Sevilla zudem Güter aus Süd- und Mittelamerika. So besaß die Hanse globale Züge.4 Was aber hatte die Kleinstadt Kiel in dieser wahrhaft internationalen Gemeinschaft »verloren«? Seit wann gehörte Kiel zur Hanse? Welche Interessen verfolgte Kiel in der Organisation? Was für Aktivitäten entfaltete die Stadt in der Hanse? Welche Handlungsspielräume besaß Kiel dabei als Kleinstadt? Aus anderer Perspektive gefragt: Hatte Kiel überhaupt eine Bedeutung für die Hanse? Und wenn ja, welche? Und schließlich: Warum endete Kiels Mitgliedschaft nach 1518?

Wer auf diese Fragen Antworten sucht, kann auf vorliegende Literatur zurückgreifen. Als Erster hat sich 1882 Christian Jessen in seinem Aufsatz »Kiel als Mitglied der deutschen Hanse« mit den Beziehungen Kiels zur Hanse befasst.5 Auf der Basis der ihm zugänglichen Quellen hat Jessen gründlich und methodisch verlässlich Kiels Rolle in der Hanse vom ausgehenden 13. bis zum Ende des 15. Jahrhunderts untersucht. Es dauerte dann mehr als ein halbes Jahrhundert, bis das Thema wieder behandelt wurde. 1948 betrachtete Edwin Pomsel in einem kurzen Artikel das Ende der Hansemitgliedschaft Kiels.6 Danach hat es lange Zeit keine weiteren eigenständigen Forschungsarbeiten zu Kiel als Hansestadt gegeben. Denn letztlich stützen sich die jüngeren wissenschaftlichen Arbeiten, die sich mit Kiel und der Hanse beschäftigen, alle auf die Untersuchungen von Jessen und Pomsel: die Promotion von Helmut Willert zum frühen Kiel aus dem Jahr 1990, der Beitrag von Helmut G. Walther zur mittelalterlichen Geschichte des Ortes, der 1991 in der »Geschichte der Stadt Kiel« erschienen ist, sowie die kleineren Arbeiten von Timo Erlenbusch und Stefan Inderwies aus den Jahren 2011 bzw. 2014.7 Allerdings war die Quellengrundlage für Jessens und Pomsels Untersuchungen mitunter nur bruchstückhaft und bei Weitem nicht vollständig, Jessen selbst beklagt dies.8 Auch hat die Hanseforschung seit den Studien Jessens und Pomsels große Fortschritte gemacht, sodass deren Bewertung Kiels als Hansestadt heute keine Gültigkeit mehr beanspruchen kann. Deshalb habe ich vor wenigen Jahren einen Neuansatz versucht und bin in einer kleinen Studie von den Erkenntnissen der modernen Forschung zum Wesen und Charakter der Hanse ausgegangen, um vor diesem Hintergrund die Rolle Kiels in der frühen Zeit der Städtegemeinschaft (ca. 1250 bis um 1400) zu beleuchten.9 An den Aufsatz knüpft dieses Buch an, das aber die Beziehungen Kiels zur Hanse in Gänze analysieren will.

Im Folgenden werden zunächst die Stadt Kiel und die Hanse gesondert vorgestellt, ehe die Beziehungen der beiden zueinander gründlicher untersucht werden. So wird im zweiten Kapitel auf die Anfänge Kiels im 12. Jahrhundert und die Neugründung der Stadt um 1240 eingegangen. Und im dritten Kapitel wird auf die Frage geantwortet: Was war die Hanse? Zu diesem Zweck wird die Hanse in wirtschaftlicher und politisch-organisatorischer Hinsicht betrachtet, denn zur Hanse gehörten immer zwei Seiten, zum einen der Handel der Kaufleute und zum anderen die Organisation der Hanse durch die Städte zum Schutz des Handels.

Anschließend folgen die zwei zentralen Untersuchungen dieses Werks. Im vierten Kapitel geht es um die wirtschaftlichen Außenbeziehungen Kiels im Mittelalter. Damit wird bestimmt, inwieweit Kiel in den hansischen Handel integriert war. Es ist unerlässlich diese Frage zu klären, denn nur so können die ökonomischen Interessen Kiels erfasst werden, die wiederum für das Engagement der Stadt innerhalb der Hanse als politischer Organisation bestimmend waren. Darauf wird im fünften Kapitel eingegangen. Außer nach den wirtschaftlichen Interessen der Stadt ist bei der Betrachtung ihrer Aktivitäten innerhalb der hansischen Gemeinschaft stets nach dem Handlungsspielraum, über den Kiel verfügte, zu fragen. Kiel war eine Kleinstadt in der Grafschaft Holstein, die bei ihrer hansischen Politik nicht nur die Hanse und deren Interessen berücksichtigen musste, sondern auch und gerade beachten musste, was ihr Stadtherr wünschte. Ohne zu viel vorwegzunehmen, kann jetzt schon gesagt werden, dass Kiels Handlungsspielraum im Mittelalter des Öfteren gering war und die Stadt aus Rücksicht auf die Belange ihrer Stadtherrschaft in Auseinandersetzungen mit Lübeck und den Hansestädten geriet.

In einem abschließenden Kapitel wird unter der Überschrift »Was bleibt? Eine Spurensuche im heutigen Kiel« ein großer Zeitsprung vollzogen: Ausgehend von der Ergebnissen zur Rolle Kiels in der mittelalterlichen Hanse wird der Bogen in die Gegenwart geschlagen, um zu sehen, welchen Stellenwert die Erinnerung an die Hanse und an die Hansemitgliedschaft Kiels im heutigen Kiel hat.

Wie sieht die Materialgrundlage dieser Untersuchung aus? Die folgenden beiden Kapitel zur frühen Geschichte Kiels im 12. und 13. Jahrhundert und zur Hanse allgemein stützen sich in hohem Maße auf eine Auswertung der relevanten stadtgeschichtlichen Arbeiten (Kapitel 2)10 und einer Reihe sehr guter Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Hanse, die in den letzten Jahren erschienen sind (Kapitel 3).11

Im vierten und fünften Kapitel wird eine intensivere Quellenarbeit betrieben. Im Kieler Stadtarchiv sind zur Hanse und zu Kiels hansischen Verbindungen nur vergleichsweise wenige Bestände erhalten. Diese Quellen – bzw. deren Inhalt – sind auch bereits in verschiedenen Editionen veröffentlicht.12 Für die Betrachtung des Kieler Handels kann die Überlieferung anderer Städte oder der hansischen Niederlassungen im Ausland herangezogen werden. Allerdings ist es nicht möglich, den mittelalterlichen Fernhandel der Fördestadt detailliert zu rekonstruieren oder gar Konjunkturverläufe nachzeichnen zu können. Man muss sich leider mit recht allgemeinen Aussagen zum Handelsraum der Kieler Schiffer und Kaufleute zufriedengeben.

Hinsichtlich der politischen Beziehungen Kiels zur Hanse sind die 28 dickleibigen Bände der »Hanserezesse« herangezogen und ausgewertet worden. In Rezessen wurden die Ergebnisse der hansischen Städteversammlungen, der Tagfahrten bzw. Hansetage, in einer Art Protokoll festgehalten. Hansegeschichte kann ohne die Rezesse nicht geschrieben werden. Sie sind der »Kern hansischer Geschichtsforschung« (Behrmann).13 Seit 1870 wurden diese Rezesse nebst zugehörigen »Akten« für die Zeit bis 1537 vom Hansischen Geschichtsverein herausgegeben. Jedoch ist die Arbeit mit den Hanserezessen nicht unproblematisch. Denn deren Edition ist »als Kompilation von Schriftgut aus verschiedenen Provenienzen und Kontexten in den letzten Jahren vermehrt in die Kritik geraten« (Huang).14 Die Hanserezesse, so ein Vorwurf, würden durch die Auswahl und Erläuterung der herausgegebenen Quellen eine bestimmte Sicht der Hanse konstruieren, statt die Geschichte der Hanse zu dokumentieren. Eine methodische Forderung, die sich daher stelle, lautet: »Die Nutzung der Edition sollte sich demnach auf die gezielte Bearbeitung einzelner Stücke beschränken« (Huang, Kypta).15 Das ist auch der Ansatz, wie die Hanserezesse in dieser Untersuchung benutzt werden. Es wird von den einzelnen Quellen zu Kiel, die in den Hanserezessen herausgegeben sind, ausgegangen und dieses Material wird dann ausgewertet. So sind für diese Studie die Hanserezesse ausgesprochen hilfreich. Denn gerade die Bearbeitung der in den Hanserezessen erfassten und veröffentlichten Quellen zu Kiel aus zahlreichen hansestädtischen Archiven ermöglicht es doch, ein einigermaßen klares Bild der Rolle Kiels in der Hanse zu gewinnen, das nur mit dem Quellenmaterial Kieler Provenienz nicht zu erlangen wäre.

Insgesamt wird mit dieser Untersuchung nicht nur eine Lücke in der Kieler Stadtgeschichte geschlossen. Auch für die Hanseforschung dürfte diese Arbeit ein Gewinn sein. Durch die Jahrhunderte gehörten ca. 200 Städte der Hanse an.16 Die meisten waren kleinere, oftmals auch im Binnenland gelegene Städte, deren Beitrag zur Hansegeschichte zu großen Teilen noch nicht erforscht ist.17 Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Hansestädte konzentriert sich doch meist noch auf die größeren Städte, vorneweg Lübeck. Diese Studie will hingegen helfen, die Stellung kleiner Städte innerhalb der Hanse am Beispiel Kiels besser zu verstehen.

2. Die Anfänge Kiels

2.1. Das frühe Kiel

2017 feierte die Stadt Kiel das 775-jährige Stadtjubiläum stolz mit einem großen Festakt in der Nikolai-Kirche und einer Ausstellung im Stadtmuseum. Gemeinhin nämlich gilt das Jahr 1242 als das Gründungsjahr Kiels. Denn in diesem Jahr verlieh Graf Johann I. von Holstein aus dem Haus der Schauenburger (ca. 1229–63) in einer Urkunde dem Ort das Lübische Stadtrecht.18 Allerdings ist die Urkunde Graf Johanns I. nicht im Original erhalten, sondern nur in einer Abschrift aus dem 18. Jahrhundert. Und Zweifel an ihrer Echtheit sind immer wieder geäußert worden. Zwar hat der Historiker Helmut G. Walther in der großen Stadtgeschichte, die 1991 aus Anlass des 750-jährigen Stadtjubiläums aufgelegt worden ist, das Dokument noch einmal gründlich untersucht und ist zu dem Schluss gelangt, dass die Urkunde echt sei.19 Aber 2008 wurden wieder Zweifel an der Authentizität der Stadtrechtsverleihung wach, als Stefan Eick in seiner Doktorarbeit zum Urkundenwesen der holsteinischen Grafen im 13. Jahrhundert feststellte, dass die Quelle in formaler Hinsicht nicht im Jahre 1242 entstanden sein könne, sondern erst nach 1291 verfasst worden sein dürfte.20

Auch in anderer Hinsicht kann der Aussagewert der Urkunde Johanns I. in Zweifel gezogen werden. Denn Kiel ist älter als 1242. Archäologische Grabungen in den Jahren 1989 bis 1991 im Bereich der Kieler Altstadt, die im Mittelalter noch eine Halbinsel in der Kieler Förde war, haben ergeben, dass es hier schon im 12. Jahrhundert eine Siedlung gegeben hat. Sowohl im Zentrum der Stadt als auch am nordwestlichen Rand konnten zahlreiche Besiedlungsreste aus dem 12. Jahrhundert aufgedeckt werden. Gerberei sowie Leder und Metallverarbeitung und damit die Existenz von Handwerk konnten nachgewiesen werden. In großen Mengen wurden einheimische Keramik und Keramikimporte aus dem Rheinland und dem niederländischen Raum gefunden. Über eine Kirche hat diese Siedlung wohl auch schon verfügt. Denn eine Quelle aus der Mitte des 13. Jahrhunderts, das älteste Stadtbuch Kiels aus dem Jahre 1264, erwähnt eine »alte Kirche« (»ecclesia antiqua«) als Vorläuferin der damaligen Pfarrkirche St. Nikolai. Die Archäologin Anke Feiler fasst die Erkenntnisse zum frühen Kiel folgendermaßen zusammen: »Die Vorgängersiedlung des 12. Jahrhunderts besaß bis auf das Stadtrecht bereits alle Elemente einer vollentwickelten Stadt. Es finden sich direkte oder indirekte Hinweise auf einen städtischen Charakter. So waren Handwerk und Handel durch Befunde und Funde direkt nachzuweisen. Hieraus kann ein Markt indirekt erschlossen werden. Eine künstliche Befestigung wurde bisher nicht gefunden. Doch spricht die Wahl der Halbinsel als Siedlungsort dafür, daß hier die natürliche Schutzlage, die Befestigungscharakter besitzt, bewusst gewählt wurde. In den Schriftquellen finden sich Hinweise auf eine frühe Kaufmannskirche, die ›ecclesia antuiqua‹. Wahrscheinlich ist im Umfeld der Kirche in Ufernähe der Förde auch gesiedelt worden; für die Anlage eines Hafens oder Schiffslandeplatzes wäre diese Stelle ebenfalls günstig gewesen. Es kann somit angenommen werden, daß auch die Vorgängersiedlung bereits mit einem Hafen und einer Kaufmannskirche ausgestattet war.«21

Diese »Frühe Stadt« (Feiler) des 12. Jahrhunderts besaß also offensichtlich einen Hafen an der Förde, die in die Ostsee führte, sodass weiträumige Handelsverbindungen in den Ostseeraum möglich waren. Spätestens im Laufe des ersten Drittels des 13. Jahrhunderts kam eine Verbindung zur Nordsee hinzu. Denn ca. zehn Kilometer im Westen Kiels liegt an der Eider der Ort Flemhude. Der Name bedeutet »flämische Schiffslände«. Da für das 13. Jahrhundert flandrischer Eigenhandel im Nord- und Ostseeraum vielfältig belegt ist, lässt sich folgern, dass die Flamen im 13. Jahrhundert auch nach Kiel gelangten. Höchstwahrscheinlich fuhren sie dabei, von Westen auf der Nordsee kommend, die Eider hinauf, luden in Flemhude ihre Waren in Wagen und brachten diese über Land nach Kiel, um sie dort zu verkaufen bzw. sie von dort aus weiter gen Osten zu verschiffen.22

2.2. Neugründung der Stadt um 1240

Um 1230 war Kiel also im damaligen Sinne eine Stadt mit einer dichteren Besiedlung und eigenen Kirche, einem durchaus differenzierten Handwerk und überregionalen Handelsverbindungen. Lediglich ein eigenes Stadtrecht fehlte. In den folgenden Jahren kam es aber zu einer Überformung der Stadt: Häuser wurden niedergerissen, Straßen verlegt, Gruben und Uferzonen zugeschüttet. Eine neue Kirche wurde errichtet und ein regelmäßiges Straßennetz angelegt. Diese Maßnahmen bedeuteten für Kiel eine Modernisierung und einen nachhaltigen Entwicklungsschub, sodass man auch von einer Neugründung sprechen kann: eine Stadt im Take-off!23

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Stadtgrundriss Kiels im Mittelalter (aus: Geschichte der Stadt Kiel, hrsg. von Jürgen Jensen und Peter Wulf, Neumünster 1991, S. 26).

Wie kam es dazu? 1201 hatten der Schauenburger Adolf III. (ca. 1158–1225) die Herrschaft über Holstein an den dänischen König abtreten müssen. Erst nach der Schlacht von Bornhöved 1227 konnte sein Sohn Adolf IV. (vor 1205–61) die Grafschaft zurückerlangen. Er verlieh ab 1235 insgesamt zehn Ortschaften in seinem Herrschaftsbereich das Stadtrecht, wie 1235 Oldenburg oder ein Jahr später Plön, ja, er überzog seine Grafschaft geradezu mit einem Städtenetz, um sein wiedergewonnenes Territorium zu erschließen und zu sichern. Eine besondere Rolle sollte dabei Kiel als Hauptort der Grafschaft spielen. Die Siedlung erhielt nun bezeichnenderweise den Namen »Holstenstadt« (»civitas Holsatorum«) und wurde im Norden von einer starken landesherrlichen Burg geschützt. Zunächst umschloss eine Graben-Wall-Palisaden-Konstruktion die im Durchmesser ca. 500 Meter große Stadtanlage, die später von einer Ringmauer mit fünf Stadttoren abgelöst wurde. Die Gründung eines Franziskanerklosters innerhalb der Stadt, in das Adolf IV. dann 1239 als einfacher Mönch eintrat, diente auch dazu, Kiels besondere Stellung als eine Art Hauptstadt bzw. Vorort der Grafschaft Holstein zu unterstreichen. Zudem wurde die Bebauung der Siedlung vollständig überplant. Die Kieler Altstadt ist heute noch als eine typische Gründungsstadt des 13. Jahrhunderts zu erkennen, in deren Zentrum ein rechtwinkliger Markplatz liegt, der heutige Alte Markt, von dessen vier Seiten im rechten Winkel jeweils zwei Straßen abgehen, die damals das gesamte Stadtgebiet erschlossen. Direkt am Markt entstand die städtische Pfarrkirche St. Nikolai. Im Osten vor dem Schuhmachertor lag der kleine Hafen.

Wie anhand der städtischen Topographie unschwer zu erkennen ist, sollte die Stadt als zentraler Marktort für Kiels Hinterland dienen, in dem die Bauern und Adligen der Umgebung und das ca. 15 Kilometer südöstlich Kiels gelegene Benediktinerinnenkloster Preetz ihre Erzeugnisse absetzen konnten und in dem Produkte des in Kiel ansässigen Handwerks sowie Güter aus entfernteren Gebieten erworben werden konnten. Die Archäologin A. Feiler führt dazu aus: »Die Stadt begann sich als eigenständiger Siedlungsraum gegen ihr Umland abzugrenzen und verstärkt zur Versorgungsquelle sowie zum Absatzmarkt für ihr ländliches Umland zu werden.«24 Für einen Fernhandel besaß die Stadt ja zum einen einen eigenen Hafen an der Förde und damit einen Zugang zur Ostsee. Zum anderen konnte, wie gerade erwähnt, über Flemhude die Eider und auf dieser die Nordsee erreicht werden. Ein Hinweis dafür, dass diese Route von flämischen Händlern weiterhin genutzt wurde, ist wohl im Kieler Straßennamen »Flämische Straße« zu sehen. Diese Straße, deren Name im 13. Jahrhundert »Straße der Flamen« lautete, führte vom Markt in östlicher Richtung zum Hafen. Zudem lassen sich im ersten Kieler Stadtbuch zwei Flamen nachweisen, die keine Bürger der Stadt waren, sondern Gläubiger Kieler Bürger: Nikolaus von Gent und Hinricus Flamingus.25

Adolf IV. wollte aber eine weitere Handelsroute nach Flandern etablieren, und zwar über das im Südwesten Holsteins gelegene Itzehoe. In Itzehoe, das über die damals schiffbare Stör mit der Elbe verbunden ist, wurde an der alten landesherrlichen Burg um einen rechteckigen Marktplatz eine Kaufleutesiedlung angelegt und 1238 mit dem Lübecker Recht versehen.26 Marianne Hofmann27 hat in ihrer Untersuchung zur Frühgeschichte Itzehoes plausibel machen können, dass Zollprivilegien Adolfs IV. – ebenfalls aus dem Jahre 1238 – für Stade und das flandrische Aardenburg wohl darauf zielten, die Kaufleute dieser Städte nach Itzehoe zu locken.28 Zudem befreite der Graf Itzehoe im Stadtrechtsprivileg vom Zoll in seiner gesamten Grafschaft. Er gab damit zu verstehen, dass sich der Handel der jungen Stadt nicht nur auf die nähere Umgebung, die Elbmarschen, beschränken sollte, sondern die Itzehoer Kaufleute sich in ganz Holstein betätigen und damit auch bis zur Ostseeküste vorstoßen konnten. Nach Lage der Dinge – die Stör war bis weit in den mittelholsteinischen Raum schiffbar – war das Ziel des geplanten Itzehoer Handels die Kieler Förde.

Schließlich wurde Kiel mit einem eigenen Stadtrecht, dem Lübischen Recht, versehen. Das Lübische Recht sah unter anderem ein Selbstverwaltungsgremium für eine Stadt vor, den Rat. Dieser ist für Kiel zum ersten Mal 1259 als funktionierende Institution, die die Bürgerschaft der Stadt vertritt, überliefert.29 Warum Adolf IV. das Lübische Recht nicht selbst der »Holstenstadt« übertrug, sondern offensichtlich sein Sohn und Nachfolger Johann I. um 1242 dem Ort dieses Recht verlieh, ist letztlich unklar.

Wie die Verleihung des Lübischen Rechts an Kiel zeigt, war Lübeck das Vorbild für den Um- und Ausbau der »Holstenstadt«. Damit war Kiel nicht allein. Insgesamt rund 100 Städte übernahmen das Lübische Recht, zum ersten Mal 1188 die Hamburger Neustadt. Das Verbreitungsgebiet des Lübischen Rechts reichte von Tondern im Westen bis Narwa im Osten und umfasste somit hauptsächlich die Regionen an der südlichen Ostseeküste.30

Auch für Kiels rechtwinklige Stadtanlage mit zentralem Markt war sicherlich ebenfalls Lübeck Vorbild. Dort war es im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts zur Anlage eines zentralen Marktplatzes gekommen und damit ein Muster entwickelt worden, das bei weiteren Neugründungen im Ostseeraum – wie das Lübische Recht – übernommen wurde und seitdem als wichtiges topographisches Charakteristikum einer Stadt galt.31

Das 1143 gegründete Lübeck erlangte solche normative Kraft aufgrund seiner ökonomischen Entwicklung. Nach der Anlage der Hamburger Neustadt 1188 hatte sich bald, im Verlaufe der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, die Verbindung zwischen den beiden Städten, von denen Lübeck über die Trave mit der Ostsee und Hamburg über die Elbe mit der Nordsee verbunden sind, als die zentrale Achse im Handelsverkehr zwischen Nord- und Ostseeraum herausgebildet. Lübecker Kaufleute verkehrten damals in Dänemark, Schweden, auf Gotland und in Russland, ebenso waren sie in Flandern und England anzutreffen. Aber auch Kaufleute aus westfälischen oder niedersächsischen Städten reisten über Lübeck in den Ostseeraum und weiter nach Russland, während die Händler aus den Städten der südlichen Ostseeküste, wie Rostock oder Stralsund, über Lübeck und Hamburg nach Westeuropa fuhren. Die Bedeutung der »Hamburgischen Straße« (»platea hamburgensis«) zwischen Lübeck und Hamburg wird in dem berühmten, 1241 geschlossenen Vertrag deutlich, in welchem Lübeck und Hamburg sich zum Schutz der Straße auf gemeinsame Kosten gegen die Wegelagerei verpflichteten; der Ächtung eines Übeltäters durch die eine Stadt sollte sich auch die andere anschließen. Damit war die Basis für eine Entwicklung gelegt, die letztendlich zur Hanse führte.32

Man sieht, Kiel orientierte sich an Lübeck in verschiedener Hinsicht. Kiel also ein Klein-Lübeck unter schauenburgischer Herrschaft? Das wissen wir nicht sicher. In jedem Fall hatte Adolf IV. hochfliegende Pläne bei der Neugründung Kiels. Und die geplante Handelsverbindung Kiel–Itzehoe war gewiss auch als Konkurrenz zur Achse Lübeck–Hamburg gedacht. Denn Lübeck war 1143 von Adolfs IV. Großvater Adolf II. (gest. 1164) angelegt worden, aber ca. 15 Jahre später musste der holsteinische Graf die Stadt an den sächsischen Herzog Heinrich den Löwen (um 1130–95) abtreten. Und nach dem Sturz des Herzogs 1180/81 konnte sich Adolf III. seit 1191 nur kurz der Hoheit über die Travestadt erfreuen, ehe er 1201 die Stadtherrschaft zusammen mit seiner Grafschaft an den dänischen König verlor. Seit 1226 war Lübeck reichsfrei.33 Auch die Hamburger Neustadt war eine schauenburgische Gründung, aber die von Adolf III. im Jahr 1188 errichtete Stadt, die schnell mit der Altstadt zusammenwuchs, nahm ab dem zweiten Viertel des 13. Jahrhunderts ihre Geschicke zunehmend selbst in die Hand.34 So hoffte Graf Adolf IV. vermutlich, einen Teil des über Lübeck und Hamburg geführten Handels auf die Route Kiel–Itzehoe umleiten zu können.

Fazit: Die Neugründung Kiels um 1240 durch Adolf IV. brachte die Stadt aufgrund der großen handelspolitischen Pläne des Grafen in eine Beziehung zu Lübeck, Hamburg und der sich entwickelnden Hanse, wenn diese auch negativer Art war. Das war aber erst der Anfang, denn die Hanse sollte von nun an für mehr als 250 Jahre von Bedeutung für Kiel sein. In den folgenden Kapiteln sollen die Beziehungen Kiels zur Hanse bis zum beginnenden 16. Jahrhundert untersucht werden. Ehe darauf eingegangen werden kann, sollen Wesen und Geschichte der Hanse skizziert werden.

3. Was war die Hanse?

3.1. Eine mittelalterliche Definition: die Hanse ein Henkel?

Was war die Hanse? Diese Frage zu beantworten, ist kein leichtes Unterfangen, war die Hanse doch eine äußerst vielschichtige Gemeinschaft norddeutscher Kaufleute und Städte, die sich aus verschiedenen, geographisch entfernt liegenden Kristallisationskernen entwickelte, sodass sich ihre Struktur und Rechtsnatur schon den Zeitgenossen nur schwer erschloss. Ein Beispiel: Im Jahre 1469 erläuterte die Hanse dem englischen Kronrat in einem berühmten, oft zitierten Schreiben den Charakter der Hanse. Sie sei weder eine Gesellschaft noch eine Genossenschaft, sondern ein »festes Bündnis von vielen Städten, Orten und Gemeinschaften zu dem Zweck, dass die Handelsunternehmungen zu Wasser und zu Lande den erwünschten und günstigen Erfolg haben und dass ein wirksamer Schutz gegen Seeräuber und Wegelagerer geleistet werde, damit nicht durch deren Nachstellungen die Kaufleute ihrer Güter und ihrer Werte beraubt werden.« Allerdings unterstünden die Städte Fürsten und verfügten über keine gemeinsamen Institutionen, nicht einmal ein eigenes Siegel habe die Gemeinschaft.35 Zwar wird der Zweck der Hanse, den Handel ihrer Kaufleute und Städte zu schützen und zu fördern, zutreffend benannt, aber darüber hinaus lässt das Schreiben mehr offen, als dass es zur Klärung der Wesensmerkmale der Hanse beiträgt. Auch die etymologisch falsche Deutung des Wortes »Hanse« hilft da wenig. »Hanse« bedeutet ganz allgemein »Schar« oder »Gemeinschaft«, seit dem 12. Jahrhundert die Gemeinschaft reisender Kaufleute bzw. die Abgabe, die man für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe zu entrichten hatte, oder deren Recht. Der Begriff »Hanse« wird aber in der Denkschrift auf das lateinische Wort »ansa« (»Henkel«) zurückgeführt. Und weiter wird behauptet, diese Etymologie des Wortes »Hanse« passe gut für die Gemeinschaft der Städte, denn wie der fest am Krug haftende Henkel denselben vor dem Fall bewahre, so schütze die Verbindung der Städte ihren Handel vor Schaden.

Diese Unklarheit lag durchaus im Interesse der Hanse. Denn in England waren ein Jahr zuvor deutsche Kaufleute verhaftet worden, weil die Hanse angeblich die Beschlagnahmung englischer Schiffe unterstützt hatte. Der englische Kronrat begründete diese Maßnahme mit der kollektiven Verantwortlichkeit der Hansen. Die Hanse konnte mit ihrem Memorandum diese Begründung jedoch zurückweisen. Dennoch verdeutlicht der Streitfall, dass die Hanse eine lockere und eine auch zu ihrer Zeit offenbar nur schwer greifbare Organisation war.

Auch die moderne Forschung hat immer wieder gefragt: Was war die Hanse? Abschließend ist diese Frage noch nicht beantwortet. Aber die vorliegenden Erkenntnisse zum hansischen Handel und zu ihrer Organisation und Politik können helfen, den Charakter der mittelalterlichen Hanse zu erfassen. Diese beiden Aspekte der Hanse werden daher nun überblicksartig vorgestellt.

3.2. Der hansische Handel

Der Schwerpunkt des hansischen Handels lag vom 13. bis zum 16. Jahrhundert im Transit zwischen dem Ostsee- und Nordseeraum mit Ausläufern in den Norden und Süden. Kaufleute aus rund 200 Städten Niederdeutschlands nahmen am hansischen Handel teil, vom Niederrhein bis ins Baltikum. Die westlichste Hansestad war Zaltbommel an der Rheinmündung, die östlichste Dorpat im heutigen Estland, die nördlichste Visby auf Gotland bzw. Stockholm in Schweden, im Süden gehörten Köln und sogar Breslau und Krakau zur Hanse. Wie im vorigen Kapitel erwähnt, war für den hansischen Handel der Transit über die Landstrecke zwischen Lübeck und Hamburg von zentraler Bedeutung. Zwar setzte noch vor 1250 die sog. Umlandfahrt ein, die gefährliche Umschiffung der Nordspitze Jütlands.36 Aber Lübeck und Hamburg haben sich immer darum bemüht, den Transfer über die cimbrische Halbinsel zu monopolisieren.

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