Hellmann: Rätsel Sprache gelöst

„Ich glaube, Sprache gibt es nicht. Mir ist es bis heute nicht gelungen zu begreifen, was Sprache ist. Sprache ist für mich immer das, was in einer Situation passiert.“

Herta Müller (Literaturnobelpreis 2009) im Gespräch mit Ulrike Ackermann in der Zeitung „Die Welt“ am 23.06.2004

Hans-Dieter Hellmann

Rätsel Sprache

gelöst

Der Schlüssel zum
menschlichen Bewusstsein
und zur künstlichen Intelligenz

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel: Die biologische Sprachtheorie

2. Kapitel: Sprache, der Rote Faden durch das Labyrinth

3. Kapitel: Die Sprachentwicklung bis zum Schulalter

4. Kapitel: Antriebe, Problemlösungen und Ich-Identität

5. Kapitel: Sprachentwicklung bis zur Pubertät, der Weg zum Bewusstsein

6. Kapitel: Denken und Denken lassen, natürliche versus künstliche Intelligenz

7. Kapitel: Woher kommen wir, wer sind wir, wohin gehen wir?

8. Anmerkungen

9. Literaturverzeichnis

1. Kapitel: Die biologische Sprachtheorie

In dieser Schrift wird eine biologische Sprachtheorie vorgestellt, die durch konsequente Anwendung der Methoden der vergleichenden Verhaltensforschung (Ethologie) entstanden ist und einen grundsätzlich anderen und neuen Ansatz zur Sprachuntersuchung darstellt als bisher üblich.1

Die biologische Sprachtheorie ermöglicht es, Wahrnehmungs- und Kognitionsvorgänge so zu beschreiben, dass der Zusammenhang zwischen Sprache und Denken sowie die Entwicklung von Bewusstsein im Sinne von Selbstbeobachtung oder Selbstreflexion erläutert werden kann.

Wir leben in einer sonderbaren Zeit.

Auf der einen Seite wird unsere Welt in unglaublichem Maße von technischen Entwicklungen bestimmt. Von Geräten und Abläufen, die nach rationalen, naturwissenschaftlichen Prinzipien entstanden sind und dadurch gesteuert werden. Unsere Umwelt wird so nach physikalisch-chemischen Gesichtspunkten analysiert und manipuliert. Und auch wir selbst, unsere Körper, werden von Medizinern und Biologen nach eben diesen Aspekten immer genauer untersucht und beeinflusst.

Auf der anderen Seite ist der Glaube an übernatürliche, irrationale oder metaphysische Dinge fest in unseren Gesellschaften verwurzelt. Der Glaube an besondere geistige Kräfte, die vom Materiellen unabhängig sein sollen, ist weit verbreitet.

Dieser auf den ersten Blick kaum fassbare Gegensatz hat eine einfache Ursache: Das Erleben von geistigen Leistungen, das Fühlen eines Bewusstseins und die Erfahrung einer Ich-Identität sind so gewaltig, dass es sich zwangsläufig aufdrängt, etwas Besonders, Eigenständiges müsse den geistigen Fähigkeiten des Menschen zu Grunde liegen.

Tatsächlich greift hier ein uralter Mechanismus, der schon immer Menschen in ihrem Urteil bestimmt hat. Wenn etwas nicht erklärbar ist, dann müssen eben magische, übernatürliche Mächte im Spiel sein. So kam es zum Blitze schleudernden Zeus oder Thor und die Seele ist uns halt von göttlichem Odem eingehaucht worden.

Obwohl inzwischen zahlreiche geistige Leistungen und Verhaltensweisen hirnorganischen Abläufen zugeordnet werden konnten und neurophysiologische Zusammenhänge immer besser verstanden werden, lässt es sich nicht leugnen, dass der letzte Beweis, die schlüssige und allgemein akzeptierte rationale Theorie zu dem Komplex „Denken-Bewusstsein-Sprache“ fehlt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass selbst naturwissenschaftlich gebildete, ernsthafte Menschen dem Glauben an höhere Mächte anhängen.

Es ist überfällig zusammenzufassen, was inzwischen an gesicherten Fakten zu diesem Komplex gesammelt wurde. Es geht dabei eigentlich um die uralten Fragen nach dem: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?

Zugegeben, diese Fragen klingen ein wenig pathetisch:

Aber diese Fragen werden immer wieder aufs Neue gestellt, denn die Antworten – nein, der Glaube, Antworten darauf zu haben – bestimmen unser Handeln und unsere Meinung über die Menschen und die Welt, in der wir leben. Wie wir miteinander umgehen, ist untrennbar mit der Beantwortung dieser Fragen verbunden, – zumindest dann, wenn Menschen sich die Mühe machen, ihr Handeln und ihre Meinung über die Welt und sich selbst zu reflektieren.

Je nach der herrschenden Religion, Kultur oder Ideologie lauten die Antworten auf diese Fragen höchst unterschiedlich. Bekanntlich werden in manchen Regionen gleichzeitig die verschiedensten Meinungen dazu verbreitet. Es wird all zu oft erbittert darüber gestritten.

Diese Ebenen der Religion oder Ideologie zu berücksichtigen, kann nicht unsere Aufgabe sein. Wir halten es sogar für überflüssig und irreführend, sich mit diesen Bereichen zu beschäftigen, wenn man den Aufbau und die Funktionsweise des Menschen verstehen will. Ebenso werden wir uns nicht mit philosophischen Ansätzen auseinandersetzen, auch wenn die Eingangsfragen traditionell von diesem Fach behandelt werden. Aber wir sehen in der Arbeitsweise und den Gedankengebäuden der Philosophie keinen hilfreichen Weg.2

In dieser Schrift interessiert uns eine grundsätzlich andere Sicht:

Wir wollen die Eingangsfragen in erster Linie entsprechend der Methodik und den Ergebnissen der Naturwissenschaften beantworten. Das heißt hier, wir stellen und beantworten die Fragen vor allem aus biologischer Sicht. Damit setzen wir voraus, dass Menschen allein nach physikalischen und chemischen Prinzipien aufgebaut sind und funktionieren. Das Verhalten eines Menschen und seine Meinungen über seine Psyche sind die Folge des überaus komplexen und komplizierten Zusammenspiels von einfachen Grundbausteinen. (Damit folgen wir dem Konsens, der seit einigen Jahrzehnten in den biologischen Fächern unbestritten ist.)3

Dies ist also der Maßstab dieser Schrift und kennzeichnet gleichzeitig die grundsätzliche Aufgabenstellung: Lässt sich mit diesem Ansatz der Mensch tatsächlich erfassen oder bleiben zwangsläufig Lücken?

Die Frage nach der anscheinend besonderen und einzigartigen Natur des Menschen (nur er kann Fragen wie die eingangs gestellten formulieren) zielen auf seinen Geist, sein Denken, sein Bewusstsein und – dies wird meist völlig unterbewertet – auf seine Sprachfähigkeit. Die Sprachfähigkeit, die nur den Menschen unter allen Lebewesen auszeichnet, ist gleichzeitig das Mittel, um diese besonderen Denk- und Reflexionsmöglichkeiten beim Erwachsenen überhaupt erst zu konstatieren, zu beschreiben und dann die individuellen Beobachtungen auch an andere weiter zu geben.

Die Sprachfähigkeit stellt offensichtlich den Schlüssel zum Geist, zum Bewusstsein des Menschen dar. Erst die Sprache erlaubt es, die Fragen nach dem „Woher“, „Wer sind wir“ und dem „Wohin“ zu formulieren.

Da aber das Ziel selbst – die Bewusstseinsfähigkeit des Menschen zu erklären – hier am Anfang dieser Schrift zwangsläufig noch unklar ist, muss dieser Begriff vorweg etwas genauer beschrieben werden:

Unter Bewusstsein wird hier die Selbstbeobachtung (Selbstreflexion) verstanden. Damit ist die Beobachtung gemeint, dass anscheinend eine innere Ebene in uns existiert, auf der wir Probleme, Erlebnisse (Wahrnehmungen, Kognitionsvorgänge), kurz alles Gespeicherte, aber auch nur Vorgestelltes „in Gedanken“, was immer das an dieser Stelle noch sein mag, reflektieren.

In der Literatur gibt es je nach Lehrmeinung die unterschiedlichsten Einteilungen und Definition des Begriffs Bewusstsein. Da aber bisher eine exakte Erfassung des Phänomens aussteht, die hier erst geleistet werden soll, bleibt nichts anderes übrig, als sich dem Komplex umgangssprachlich, also vorverständlich zu nähern. Sobald wie möglich müssen dann exakte Definitionen, Beschreibungen und Begriffe an die Stelle dieser ersten Formulierungen treten.

Die Erläuterung dieses Problemkreises beinhaltet zwei Aspekte. Einmal den ganz pragmatischen: die Funktionsweise der menschlichen Sprache, des Denkens und Bewusstseins in Form eines Modells zu beschreiben.

Der zweite Aspekt entsteht dadurch, dass wir als Menschen uns selbst nur schwer wertneutral untersuchen und beschreiben können. Wir sind eingebunden in gesellschaftliche Strukturen, in überkommene Ordnungs- und Glaubenssysteme. Zwangsläufig schwingt dies mehr oder weniger deutlich in jeder Beschreibung unseres Selbst mit, denn wir sind gleichzeitig Objekt und Beschreibender dieses Objektes. So werden wir immer wieder innehalten und unsere Aussagen in dieser Hinsicht reflektieren müssen.

Der erste, pragmatische Aspekt steht natürlich im Vordergrund. Dazu soll hier eine Lösung, also eine beschreibende theoretische Erklärung für den Komplex Sprache-Denken-Bewusstsein entwickelt werden. Diese Lösung wird in Form eines Modells angeboten, das darauf ausgerichtet ist, in die Praxis umgesetzt zu werden.

Mit anderen Worten: Die einzelnen Bausteine des vorgeschlagenen Modells, der Theorie, könnten auch in einem künstlichen Gebilde zusammengesetzt werden. Dabei würden an die Stelle der natürlichen Sinnesorgane künstliche Sensoren und statt des Nervengewebes Bauteile mit Rechner- und Speicherfähigkeit treten. Wenn diese Maschine auch entsprechend der vorgeschlagenen Theorie programmiert würde, dann müsste dort die Leistung, die bisher nur dem Menschen möglich zu sein scheint – über Bewusstsein zu verfügen – beobachtbar sein.4

Dieser Ansatz versucht, akzeptierte (gesicherte) Erkenntnisse aus der Natur- und Geisteswissenschaft zu bündeln. Wobei natürlich nur solche Daten aus den Geisteswissenschaften herangezogen werden, die aus der Sicht naturwissenschaftlicher Methodik Bestand haben. Statt nur von einem Fachgebiet auszugehen, werden Materialien vor allem aus vier, teilweise recht unterschiedlichen Gebieten miteinander zu einer einheitlichen Theorie verknüpft:

Es handelt sich dabei um die allgemeine Sprachwissenschaft, Verhaltensbiologie (Ethologie), Entwicklungspsychologie und Aspekte der Künstlichen Intelligenz (Informatik/Computerwissenschaften). Natürlich müssen darüber hinaus Daten und Methoden aus der Evolutionstheorie nach Darwin, der Wissenschaftsgeschichte und anderer Fachgebiete mehr (z. B. der Neurophysiologie) berücksichtigt werden.5

Diese Aufzählung mag gewaltig klingen und ein enzyklopädisches Wissen verlangen. Doch das ist durchaus nicht erforderlich. Der rote Faden „Sprachfähigkeit“ erlaubt es, gezielt die notwendigen Materialien zu sammeln, zu bündeln und zu einem Modell zusammen zu bauen.

Vorweg ein paar Worte zum weiteren Ablauf des Unternehmens – also wie die folgenden Kapitel aufgebaut sind:

Es ist zuerst nötig im nächsten 2. Kapitel „Sprache, der Rote Faden durch das Labyrinth“ die methodischen Prinzipien, nach denen hier vorgegangen wird, genauer als bis jetzt beschrieben, zu erläutern. Das ist wichtig, weil wir versuchen, Menschen aus unterschiedlichen Bildungsgruppen anzusprechen: Naturwissenschaftler stehen geisteswissenschaftlichen Ansätzen oft etwas ratlos gegenüber und Geisteswissenschaftler haben häufig Schwierigkeiten mit naturwissenschaftlichen Ansätzen. Leider kann man den Problemkreis Bewusstsein aber nur dann verstehen, wenn man von beiden Disziplinen die Arbeitsweisen versteht. Also wird hier versucht, einem unvoreingenommen Leser etwas zu vermitteln – auf die Gefahr hin von Fall zu Fall sowohl den naturwissenschaftlich wie den geisteswissenschaftlichen Leser zu langweilen.

Vor allem geht es in diesem 2. Kapitel darum, das Handwerkszeug zu beschreiben, mit dem gearbeitet wird. Dabei wird geschildert, wie im Laufe der Evolution (Stammesgeschichte) höhere Lebewesen und Menschen entstanden. Dies muss dann zu der Persönlichkeitsentwicklung (von der Eizelle zum Erwachsenen) in Bezug gesetzt werden, denn während dieser beiden Entwicklungen sind unsere Denk- und Bewusstseinsmöglichkeiten entstanden.

Nach diesem methodischen Ansatz entsteht eine Art „Ablaufplan“. Es werden in den weiteren Kapiteln „Bausteine“ gesammelt, die in ihrem Zusammenspiel beim älteren Jugendlichen und dem erwachsenen Menschen zum Phänomen Bewusstsein führen. Der Spracherwerb und die Sprachentwicklung des Menschen ist die Richtschnur, an Hand derer Daten zusammengestellt werden. Es handelt sich um die Zeit ab dem dem ersten und zweiten Lebensjahr bis hin zur Pubertät. (3. bis 5. Kapitel)

Wir beschreiben damit die genetische und kulturelle Programmierung des Menschen und bieten so gleichzeitig die Bausteine für eine mögliche Umsetzung in Form eines künstlichen Modells des menschlichen Geistes an. Ein solches Modell des Menschen würde die hier vorgestellte Theorie überprüfbar machen, denn ein entsprechend aufgebauter, mit Sensoren ausgestatteter Rechner müsste Leistungen und Verhaltensweisen vergleichbar den menschlichen zeigen. (6. Kapitel)

Dies wird die Frage beantworten, wieweit Maschinen menschenähnliche Intelligenz/Bewusstsein zeigen können. Dabei erlauben wir uns eine Art „Gedankenexperiment“. Es dreht sich um die Frage, ob natürliche oder künstliche Geschöpfe6 eines Tages intelligenter als heutige Menschen sein könnten, beispielsweise neue Denkfähigkeiten oder Bewusstseinsebenen erreichen könnten.

Zum Schluss (im letzten 7. Kapitel) kommen wir wieder auf die Eingangsfragen zurück: Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? Dabei geht es im Grunde genommen um eine sogenannte Technikfolgenabschätzung. Dies bedeutet zu beschreiben, welche gesellschaftliche Folgen eine systematische Analyse menschlicher Funktionen und ihres Nachbaus haben könnten.