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Kompendium Behindertenpädagogik

 

Hrsg. von Heinrich Greving

Sven Jennessen/Reinhard Lelgemann

Körper Behinderung Pädagogik

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023950-0

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-024083-4

epub:    ISBN 978-3-17-024084-1

mobi:    ISBN 978-3-17-024085-8

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Vorwort des Herausgebers

Es existieren zurzeit relativ unterschiedlich strukturierte und gestaltete Lehrwerke zu den verschiedenen Ausprägungen der sog. Behindertenpädagogik, diese sind jedoch häufig recht kategorial orientiert und nehmen aktuelle disziplin- und professionsbezogene Diskurse auf den Feldern der Behindertenhilfe kaum einmal auf. Zudem konzentrieren sich viele dieser Lehrwerke auf das Handlungsfeld der Schule: in diesem und von diesem ausgehend scheint somit ein Großteil der Behindertenpädagogiken stattzufinden.

Die Bände mit dem Reihentitel „Kompendium Behindertenpädagogik“ versuchen dieser Situation Abhilfe zu schaffen, da in jeder der geplanten Publikationen alle Ausprägungen einer je spezifischen behindertenpädagogischen Grundlegung sowohl durch die Perspektiven der Disziplin und Profession als auch durch eine organisations- und handlungsfeldbezogene Lebenslauforientierung beschrieben, analysiert und konzeptuell verortet werden. Auf diesem Hintergrund ist auch die Gliederungslogik aller Bände zu verstehen, in welcher die Autorinnen und Autoren ihre Inhalte durch die Perspektiven dieser drei größeren Kapitel (Disziplin – Profession – Organisationen/Handlungsfelder) fokussieren und darstellen.

Im Hinblick auf die Beschreibung der Disziplin wird es jeweils darum gehen, die theoretischen Begründungsmuster einer je spezifischen Behindertenpädagogik darzulegen, diese historisch zu verorten, die begründenden Leitideen und Modelle vorzustellen sowie Aussagen zu jeweiligen ethischen Positionierungen im Kontext dieser Pädagogik einzunehmen bzw. zu formulieren. Auch wenn der Begriff der „Behinderung“ zurzeit intensiv diskutiert wird, er zudem nicht in allen Punkten kohärent ist, erscheint er im Rahmen der Gesamtdarstellung der hier zu bearbeiteten Themen als Brücke zwischen den einzelnen Teilbereichen und Problemen nutzbar zu sein. Dennoch wird er in den unterschiedlichen Bänden dieser Reihe, im Hinblick auf die jeweilige Thematik, konkret beschrieben, analysiert und gegebenenfalls kritisiert und modifiziert werden. Die Aussagen der einzelnen Bände stellen folglich auch eine kritische Differenzierung und Weiterentwicklung des Begriffes der „Behinderung“ dar. Im Rahmen der Professionsorientierung, also dem zweiten größeren Kapitel des jeweiligen Bandes, werden dann Konzepte, Methoden und Handlungsansätze dargelegt, so wie sie sich im Rahmen dieser Pädagogik, für die jeweils entsprechende Organisation als zielführend erwiesen haben bzw. als relevant erweisen können. In einem letzten größeren Kapitel wird dann die institutionelle Begründung und organisatorische Differenzierung einer je spezifischen Pädagogik erläutert. Hierbei wird auf die lebenslauforientierte Darstellung des pädagogischen Ansatz eingegangen, so dass dieser nicht nur für den Bildungsbereich, sondern auch für weitere behindertenpädagogische Handlungsfelder beschrieben wird. Hierbei unterscheidet die Differenziertheit der Lebenslaufperspektive die verschiedenen pädagogischen Disziplinen, d. h. dass diese in jenen höchst unterschiedlich ausgeprägt ist, wahrgenommen wird und (strukturelle wie inhaltliche) Konsequenzen erforderlich macht.

Einen zentralen weiteren Inhalt bildet der, auch kritisch zu führende, Inklusionsdiskurs: dieser stellt das Querschnittsthema dar, welches in allen drei Unterkapiteln bearbeitet wird – eine innovativ, diffizil und kritisch differenziert dargelegte Positionierung der Inklusion ist folglich das Netz bzw. das Referenzsystem aller Kapitel und Aussagenkomplexe der jeweiligen Bände. Hierbei wird es jedoch, je nach Autorin und Autor und konkretem Thema zu unterschiedlichen Gewichtungen kommen. In der wechselseitigen Durchdringung einer inklusiven Perspektive mit den Themen der Disziplinorientierung, der Professionsbezogenheit und der hierbei relevanten Organisationen und Handlungsfelder leistet demzufolge jeder Band dieser Reihe eine in sich schlüssige und kohärente Gesamtdarstellung des jeweiligen Themenfeldes.

Heinrich Greving

 

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort des Herausgebers
  2. Einleitung
  3. Körper – Behinderung – Pädagogik – eine Einführung
  4. Sven Jennessen/Reinhard Lelgemann
  5. I Disziplin
  6. 1 Lebenssituationen von Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen in Gegenwart und Zukunft gestalten – in Kenntnis der historischen Entwicklungen
  7. Reinhard Lelgemann
  8. Vorbemerkung
  9. 1.1 Geschichte in Spannungsfeldern
  10. 1.2 Zur Sicherung des Bildungsangebotes
  11. Heterogenität des Personenkreises und Spannungen zwischen den unterschiedlich beeinträchtigten Gruppen
  12. Eingeschränkte Partizipationsmöglichkeiten in den Lebensbereichen Arbeiten und Wohnen
  13. Öffentliche Wahrnehmung körperbehinderter Menschen
  14. Fokussierung auf Hilfsmittel und Technik
  15. Unterschiedliche Sozialleistungen für Menschen mit einer erworbenen Schädigung
  16. Politische Partizipation körperbehinderter Menschen
  17. Vermeidung menschlichen Lebens mit einer Beeinträchtigung
  18. 1.3 Perspektiven
  19. 2 Diversity- und Disability-Studies als Bezugspunkte der Körperbehindertenpädagogik
  20. Sven Jennessen
  21. 3 Der Körper in der Körperbehindertenpädagogik
  22. Sven Jennessen
  23. 3.1 Körper und Leib
  24. 3.2 Der differente Körper als Produkt der Gesellschaft
  25. 3.3 Der Körper als Produzent von Gesellschaft
  26. 3.4 Geschlechtlicher Körper
  27. Einwurf: Gesundheit und Krankheit in der Körperbehindertenpädagogik
  28. Christian Walter-Klose
  29. Herausforderungen im Verhältnis von Medizin und Pädagogik
  30. Krankheitsmodelle und pädagogische Handlungsmöglichkeiten
  31. Gesundheitsmodelle und pädagogische Handlungsmöglichkeiten
  32. Zusammenfassung und Überblick über pädagogische Handlungsmöglichkeiten
  33. Einwurf: „Weil nicht (mehr) sein kann, was nicht sein darf“ – Erfahrung von Behinderung trotz inklusiver Zeiten?!
  34. Philipp Singer/Dorothee Kienle
  35. Problemskizze
  36. Inklusion und die Erfahrung des (Körper-)Behindert-Seins
  37. Inklusion und intersubjektive Erfahrungen mit Behinderten
  38. Fazit und Ausblick
  39. 4 Ethik und Körperbehindertenpädagogik
  40. Sven Jennessen
  41. 4.1 Ethik und (Sonder-)Pädagogik
  42. 4.2 Selbstbestimmung – Inklusion – Ethik – Körperbehinderung
  43. 4.3 Anerkennung – Care – Körperbehinderung
  44. 4.4 Technik – Orthesen – Körperbehinderung
  45. 4.5 Körperbehinderung – Lebensanfang – Lebensende
  46. Einwurf: Ethische Fragen am Lebensanfang
  47. Martina Schlüter
  48. Vorbemerkung
  49. Zusammenfassung der Erkenntnisse für den Themenbereich Pränataldiagnostik und Ethik
  50. 5 Aufträge und Perspektiven für die Wissenschaft
  51. Sven Jennessen
  52. 5.1 Leiblichkeit und Sozialität des Körpers
  53. 5.2 Interdisziplinarität
  54. 5.3 Heterogenität der Personengruppe
  55. 5.4 Spezifität im Inklusionsdiskurs
  56. II Profession
  57. Einwurf: Professionalisierung in der Sonderpädagogik. Koordinatensysteme (sonder-)pädagogischer Professionalisierung
  58. Andrea Dlugosch
  59. 1 Zur Bedeutung der Professionalität in der Körperbehindertenpädagogik
  60. Reinhard Lelgemann
  61. 1.1 Zum Selbstverständnis der in der Körperbehindertenpädagogik Tätigen
  62. 1.2 Zum Gedanken der „Anwaltschaft für“ Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen
  63. 1.3 Selbsthilfebewegung und professionelles Selbstverständnis
  64. 1.4 Sorge und Fürsorge – Elemente eines professionellen Selbstverständnisses?
  65. 1.5 Beteiligung am gesellschaftlichen Diskurs
  66. 2 Handlungsfelder und Tätigkeitsprofile
  67. Reinhard Lelgemann
  68. 2.1 Pädagogische Einrichtungen
  69. 2.2 Wohnen
  70. 2.3 Arbeitsbereiche
  71. 3 Spezifische Kompetenzen und Fachwissen
  72. Reinhard Lelgemann
  73. Einwurf: Pädagogische Kompetenzen im Umgang mit schwer und mehrfach beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen
  74. Andreas Fröhlich
  75. Haltung, Kompetenz, Technik in der Pädagogik – eine unzertrennbare Einheit
  76. Kompetenzen
  77. Haltung, Kompetenz, Technik
  78. Einwurf: Veränderte Perspektiven durch sich verändernde Krankheitsverläufe bei Muskeldystrophie Duchenne – Konsequenzen für die Körperbehindertenpädagogik
  79. Volker Daut
  80. Veränderungen im Leben und in den Krankheitsverläufen von Menschen mit Muskeldystrophie Duchenne
  81. Mögliche Belastungen
  82. Konsequenzen und Forderungen
  83. 4 Perspektiven für Wissenschaft und Praxis
  84. Reinhard Lelgemann
  85. III Lebensphasen und Lebenssituationen
  86. 1 Institutionen und De-Institutionalisierung
  87. Sven Jennessen
  88. 2 Lebensphase Kindheit
  89. Sven Jennessen
  90. 2.1 Personale und familiäre Situation
  91. 2.2 Frühförderung
  92. 2.3 Inklusion und frühe Förderung
  93. Einwurf: Erfahrungen mit Institutionen und Hilfen
  94. Nicole Nordlohne
  95. Einwurf: Die Zeit der Einschulung
  96. Petra Stuttkewitz
  97. 3 Kinder und Jugendliche mit einer körperlichen oder mehrfachen Beeinträchtigung – zwischen exkludierenden, exklusiven und inklusiven Lebenssituationen
  98. Reinhard Lelgemann
  99. 3.1 Zur schulischen Situation
  100. 3.2 Zur Bedeutung der Eltern
  101. 3.3 Freizeitangebote
  102. 3.4 Möglichkeiten der Mit- oder auch Selbstbestimmung
  103. 3.5 Leben in einer Gemeinde
  104. 3.6 Zur Bedeutung kommunikativer Aspekte
  105. 3.7 Weitere Aspekte
  106. Fazit
  107. Einwurf: Sexualität – eine lebenslange Lernaufgabe
  108. Barbara Ortland
  109. Sexualität bei Menschen mit Behinderung als Tabu?
  110. Behinderungsspezifische Themen
  111. Eigene Attraktivität/Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung
  112. Einfinden in Geschlechterrolle/Liebeserfahrungen
  113. Pflege
  114. Abschluss
  115. 4 Das eigene Leben gestalten – Erwachsensein
  116. Reinhard Lelgemann
  117. 4.1 Wohnen
  118. 4.2 Universelles Design
  119. 4.3 Soziales Leben
  120. 4.4 Erfahrungen im medizinischen Bereich
  121. 4.5 Arbeit und Beschäftigung, Ausbildung und Studium
  122. 4.6 Perspektiven
  123. Einwurf: Persönliches Budget
  124. Karl-Josef Faßbender
  125. Einwurf: Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen im Alltag begleiten – selbstbestimmt leben mit Behinderung in Hamburg
  126. Mathias Westecker
  127. Einwurf: Das Alter(n) als Lebensphase erleben und gestalten
  128. Sabine Schäper
  129. Altern mit einer körperlichen Beeinträchtigung: Chancen und Herausforderungen einer neuen Lebensphase
  130. Gesundheitsrisiken und medizinische Versorgung
  131. Biographische und psychosoziale Aspekte
  132. Sozialrechtliche Rahmungen für die Sicherstellung von Teilhabechancen bis zum Lebensende
  133. Von der Förderplanung zur Teilhabeplanung: Anforderungen an die professionelle Begleitung von Menschen mit Behinderungen im Alter
  134. 5 Palliative Care für Menschen mit Körperbehinderung
  135. Sven Jennessen
  136. 5.1 Palliative Care
  137. 5.2 Palliative Care für Kinder und Jugendliche
  138. 5.3 Pädiatrische Palliativversorgung
  139. 5.4 Kinder- und Jugendhospizarbeit
  140. 5.5 Palliative Care für Erwachsene
  141. 6 Perspektiven für Wissenschaft und Praxis
  142. Reinhard Lelgemann
  143. AutorInnenverzeichnis

 

 

 

 

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Einleitung

Dieses Buch ist unserer Freundin und ehemaligen Kollegin, Frau Dr. Martina Schlüter, gewidmet. Sie starb im Spätsommer 2013, mitten in den vorbereitenden Gesprächen zu diesem Buch, plötzlich, für uns alle unerwartet und nur schwer begreifbar. In unseren Planungsgesprächen hatte sie nachdrücklich darauf bestanden, dass dieses Buch grundsätzliche Fragen ansprechen muss, die über die traditionellen Reflexionen und medizinorientierten Zugänge innerhalb der Körperbehindertenpädagogik hinausgehen sollten. Gerade Martina hat in ihrer über mehr als zwei Jahrzehnte dauernden Tätigkeit für die Fachrichtung Körperbehindertenpädagogik an der Universität zu Köln immer wieder gefordert, dass diese es auch als ihren pädagogischen Auftrag zu begreifen habe, politisch zu denken und politisch zu agieren. Ihre eigenen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit gesellschaftlichen und ethischen Fragestellungen spiegeln diese Position wider, die innerhalb des Faches durchaus umstritten war und immer noch ist.

In Bezug auf das nun vorliegende Buch waren wir uns einig, dass wir, ähnlich unserem 2010 erschienenen Buch „Leben mit Körperbehinderung. Perspektiven der Inklusion“, Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftlern, ebenso aber Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung und deren Angehörigen ein Publikationsforum bieten wollen. Reflektiert werden sollten Themen, die sich mit den eher traditionellen (körperbehinderten-)pädagogischen Aufgabenfeldern, aber auch darüber hinaus mit den aktuellen Themen der sonderpädagogischen Diskussion beschäftigen und dabei dezidiert auch aus der Sicht von Menschen mit einer körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigung betrachtet werden sollten, auch und gerade wenn diese in den fachrichtungsspezifischen Diskussionen bisher nicht aufgegriffen wurden. Das Ergebnis liegt nun vor Ihnen und ist Martina, Frau Dr. Martina Schlüter, gewidmet.

Wer sie kannte, kann sich vorstellen, dass unsere Diskussionen auch Gespräche unter Freunden waren, in persönlichem Rahmen bei Kaffee und Brötchen, vor allem aber Wein und Zigaretten, geraucht auf dem Balkon. Martina hat ein intensives Leben gelebt, mutig, fordernd und genießend. Martina war eine beeindruckende Persönlichkeit mit einem sehr eigenen Kopf und häufig kompromissloser Haltung – die Deutlichkeit ihrer Aussagen ging manchmal sehr nahe – und doch eine gute Freundin und eine Begleiterin vieler Studierender, die mit ihr eine mütterliche und gleichzeitig fordernde Dozentin verloren haben. Martina hat mit ihrer Beeinträchtigung – und in früheren Zeiten hätte man gesagt, trotz ihrer Beeinträchtigung – ein erfülltes Leben geführt: ein Leben mit ihrem Partner, sehr verbunden mit ihrer Heimatgemeinde und ihren Eltern, ein Leben mit den Kollegen und ihren Studierenden, in ihrem Veedel (wer an sie denkt, sieht sie auf dem dreirädrigen Fahrrad, mit dem sie zur Uni fuhr und im Stadtteil unterwegs war) und mit ihren Freundinnen und Freunden, denen sie langjährig und intensiv verbunden war. Martina, wir denken an Dich und bedauern, dass Du viel zu früh sterben musstest.

Dieses Buch folgt dem Aufbau der Reihe, wie sie Prof. Dr. Heinrich Greving als Reihenherausgeber entwickelt hat, differenziert dies aber doch anders aus. Durch die Turbulenzen, die der Tod unserer Mitautorin bewirkte, und durch weitere erschwerende Entwicklungen auf Seiten der beiden Herausgeber verschob sich der ursprünglich geplante Erscheinungstermin leider gravierend. Das nun vorliegende Buch konnte nur publiziert werden, weil wir auf die Unterstützung zahlreicher Autorinnen und Autoren bauen konnten, die uns frühzeitig und verbindlich die hier vorliegenden Artikel zur Verfügung stellten. Hierfür und für die Bereitschaft des Reihenherausgebers, in diesem Band ein wenig von der Systematik der Reihe abzuweichen, bedanken wir uns herzlich.

Unser Buch diskutiert, wie bereits angesprochen, aktuelle Fragen der Körperbehindertenpädagogik in den Teilgebieten Disziplin, Profession sowie Lebensphasen und Lebenssituationen. Neben grundlegenden Artikeln der beiden herausgebenden Autoren finden sich Beiträge von Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftlern, persönliche und fachliche Einwürfe von Menschen mit einer körperlichen Beeinträchtigung sowie Angehörigen im Feld der Körperbehindertenpädagogik, die aktuelle Perspektiven diskutieren und thematisch vertiefen oder derzeit noch neue, eher ungewöhnliche Themenfelder ansprechen. Der hier publizierte Text mit Auszügen aus von Martina Schlüter veröffentlichten Schriften, insb. ihrem Entwurf für eine Habilitationsschrift, wurde von Sven Jennessen zusammengestellt.

Der Leserin wird vielleicht auffallen, dass der schulische Bereich in dieser Publikation in thematisch umfassenderen Erörterungen einbezogen wird. Diese Entscheidung hat auch uns im Vorfeld beschäftigt, doch wir haben uns aus zwei Gründen für diese Vorgehensweise entschieden:

•  Einerseits liegen zum schulischen Bereich, der traditionell den Schwerpunkt der meisten Publikationen in der Körperbehindertenpädagogik ausmacht, zahlreiche Schriften vor, die auch aktuelle Entwicklungen diskutieren (verwiesen sei hier auf Lelgemann 2010; Haupt 2013; Bergeest, Boenisch & Daut 2015; Lelgemann, Singer & Walter-Klose 2015).

•  Andererseits möchten wir mit diesem Buch den Fokus ganz bewusst erweitern. Dies haben wir sowohl im Sinne einer zahlreiche Lebensphasen und Lebensperspektiven umfassenden als auch in einer Sichtweise, die grundlegende Fragen der Disziplin und des professionellen Verständnisses in allen Tätigkeitsfeldern aufgreift, umzusetzen versucht.

Wir würden uns freuen, wenn wir mit diesem Band unser Fachgebiet, die Körperbehindertenpädagogik, stärken, indem wir grundlegende Fragen der Theorie und Praxis aus unterschiedlichen, teilweise auch gegensätzlichen Perspektiven erörtern. Hierzu dienen auch und vor allem die unterschiedlichen „Einwürfe“ einzelner AutorInnen, die einleitend, ergänzend, erweiternd oder auch anderen Aussagen des Buches widersprechend gestaltet sind. Nur im Rahmen einer kritischen Diskussion und Weiterentwicklung in Wissenschaft, Lehre und Praxis kann unser Fachgebiet einen Beitrag zur Entwicklung immer vielfältigerer Lebensperspektiven leisten, die zunehmend mehr Wahlmöglichkeiten eröffnen und gleichzeitig beste persönliche Entwicklungsmöglichkeiten dauerhaft sichern.

Landau und Würzburg im August 2016

Prof. Dr. Sven Jennessen und Prof. Dr. Reinhard Lelgemann

Universität Koblenz-Landau und Universität Würzburg

 

KÖRPER – BEHINDERUNG – PÄDAGOGIK – EINE EINFÜHRUNG

Sven Jennessen/Reinhard Lelgemann

Körperbehindertenpädagogik als pädagogische Disziplin befindet sich in einem kontinuierlichen Wandel, der von ihrer Entstehung bis zu ihrer aktuellen Situation unterschiedliche Phasen und (Dis-)Kontinuitäten beinhaltet (vgl. hierzu den nachfolgenden Beitrag von Lelgemann). Die derzeit eher prekäre universitäre Situation des Faches durch die Abstufung und Umwidmung von Professuren an bundesdeutschen Universitäten geht einher mit aktuellen bildungspolitischen Diskussionen und Entwicklungen, die als Herausforderungen verstanden werden sollten, über Fragen der Weiterentwicklung des Fachgebiets in Theorie, Forschung und Praxis nachzudenken (vgl. Lelgemann 2015, 623). Letztendlich steht die Disziplin somit vor einer originär wissenschaftlichen Aufgabe: der reflexiven Selbstverständigung des Faches in Abhängigkeit von historisch und gesellschaftlich relevanten Kontextfaktoren. Diese Kontextfaktoren sind derzeit stark geprägt von der rechtlich verankerten politischen Forderung nach Inklusion. „Die Erziehungswissenschaft als Forschungs- und Ausbildungsdisziplin steht angesichts dieser Situation vor der Aufgaben, Stellung zu den bildungspolitischen, konzeptionellen und praktischen Fragen zu beziehen, die sich im Kontext von Inklusion stellen. Andererseits ist die Forderung nach Inklusion in die erziehungswissenschaftliche Fachdebatte einzuordnen […]“ (Hascher & Kessl 2015, 5). Ohne die Begriffsdiskussion an dieser Stelle führen zu können, sei lediglich auf die kontroverse und diffuse Verwendung des Inklusionsterminus verwiesen und nachfolgend von einem weiten Inklusionsverständnis auszugehen, das sich nicht nur auf Kinder mit Förderbedarf bezieht, sondern Menschen aller Altersstufen und unterschiedlichster Heterogenitätsdimensionen impliziert. Den genannten, mit dem Inklusionsanspruch konnotierten Aufgaben sind auch sämtliche erziehungswissenschaftliche Teildisziplinen verpflichtet. In der Sonderpädagogik wird in der Diskussion um die wissenschaftliche Einordnung des Inklusionsanspruches häufig auf die Aspekte der De- und Umkategorisierung Bezug genommen. Hierbei geht es letztlich immer um die Frage einer adäquaten Berücksichtigung von Spezifik in einer Pädagogik, die die Heterogenität ihrer AdressatInnen als grundlegende Tatsache begreift und – und hier ist Erziehungswissenschaft immer auch normativ – eben diesen Sachverhalt als Bereicherung für Lehr-, Lern-, aber auch Lebensprozesse interpretiert.

In Anlehnung an Ainscow und Miles (2009) benennen Lindmeier und Lütje-Klose (2015) neben weiteren Schlüsselelementen für Inklusion die „partikuläre Hervorhebung derjenigen Gruppen von Lernenden, für die Exklusion, Marginalisierung und Unterachievement ein besonderes Risiko darstellen“ (ebd., 10), als Bestandteil dieses Prozesses. „Es geht darum, Verantwortung und Aufmerksamkeit für diese Lernenden sicherzustellen, um ihre Präsenz, ihre Partizipation und ihren Erfolg im allgemeinen Erziehungssystem zu gewährleisten“ (ebd.). Dieses für die Schulpädagogik formulierte Postulat behält für sämtliche menschlichen Lebensbereiche und Lebensphasen seine Gültigkeit. Sind Menschen von besonderen Exklusionsrisiken bedroht, bedarf es einer genauen Analyse ihrer individuellen Ausgangsbedingungen und der exkludierenden Praktiken und Barrieren. Inklusion und die Benennung besonderer Bedürfnisse stellen deshalb keinen Widerspruch dar. Im Gegenteil: Erst durch die Identifikation individueller Ausgangslagen in der Wechselwirkung mit interpersonellen, gesellschaftlichen und institutionellen Barrieren können Bedingungen für Teilhabe an wirklich allen gesellschaftlichen Vollzügen geschaffen werden. Prengel (2007, 56) weist auf die Notwendigkeit der Präzisierung eines Tertium Comparationis im Kontext von Verschiedenheit hin, da ohne diesen sämtliche Gleichheits- und Differenzaussagen über humane Beziehungen pauschal und unsinnig werden. Für die hier diskutierte Dimension Körperbehinderung bedeutet dies beispielsweise, „spezifische Bedingungen inklusiven schulischen Lernens körperbehinderter Kinder und Jugendlicher zu konkretisieren, um daraus gleiche und verschiedene Anforderungen an schulische Lebens- und Lernprozesse abzuleiten“ (Jennessen 2010, 123). Das Wissen um spezifische Bedingungen des Lernens und Lebens von Menschen mit Körperbehinderungen ist originär körperbehindertenpädagogisch und somit fundamental für die Disziplin Körperbehindertenpädagogik. Eine kooperierende und unterstützende Haltung gegenüber körperbehinderten Menschen sowie die Fähigkeit, aus diesem Wissen adäquates pädagogisches Handeln abzuleiten, sind Kennzeichen körperbehindertenpädagogischer Kompetenz.

Für die Spezifizierung des Kriteriums „körperliche Differenz“ bleibt jedoch zu konstatieren, dass dieses als Merkmal für Exklusionsprozesse in Interdependenz und Wechselwirkung mit anderen Heterogenitätsdimensionen betrachtet und analysiert werden muss, um seine potentiellen Auswirkungen auf den Grad der individuellen Teilhabe zu erfassen (Intersektionalität). So sind Menschen mit Körperbehinderung beispielsweise immer auch Männer und Frauen, haben ein bestimmtes Alter, einen spezifischen sozio-ökonomischen und Bildungsstatus und eine bestimmte Ethnizität. Eine analytische Auseinandersetzung mit Ungleichheits- und Marginalisierungsprozessen bei differenter Körperlichkeit sollte immer auch diese Dimensionen in den Blick nehmen, wobei sowohl der soziale Status (vgl. z. B. Jennessen, Kastirke & Kotthaus 2012) als auch die Visibilität und die Schwere der Behinderung (vgl. z. B. Lelgemann et al. 2012) als Auslöser für Exklusionspraktiken gelten, die sich im Bezug auf Frauen mit Behinderung noch verschärfen (vgl. BMBF 2012).

Aus den bisherigen Ausführungen ist abzuleiten, dass sich die Körperbehindertenpädagogik in ihrem disziplinären Kern an einem aktuellen Verständnis von Körperbehinderung zu orientieren hat, das die unterschiedlichen in der Internationalen Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) (DIMDI 2005) benannten Ebenen berücksichtigt:

Zum einen ist die körperlich-motorische Grundbedingung des Individuums zu beachten. Relevant im Kontext von Behinderung ist diese dann, wenn die Körperfunktionen und Körperstrukturen nicht einer – lediglich informell festgelegten, tradierten – Norm entsprechen. Auch wenn alle Menschen im Hinblick auf ihre Körperlichkeit unterschiedlich sind, ist das Maß der gesellschaftlich geduldeten Verschiedenheit genormt. „Die Menschen, die außerhalb dieser Norm liegen, werden, oftmals mit einer differenzierten Ursache belegbar, als ‚geschädigt‘, gerne auch als ‚krank‘ bezeichnet“ (Schlüter 2010, 15). Hierbei ist unter Zuhilfenahme des salutogenetischen Konzeptes Antonovskys von einem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum auszugehen (vgl. Antonovsky 1997; vgl. auch den Beitrag von Walter-Klose in diesem Band). So ist kein Mensch jemals nur gesund und selbst sterbende Menschen verfügen noch über gesunde Körperfunktionen. Dementsprechend scheint die rein individuelle Ebene nicht ausreichend, um den Marker zu benennen, der letztendlich den Unterschied zwischen Körperbehinderung und Norm ausmacht. Dennoch sind auf der Ebene des Individuums sowohl die Prozesse der Selbstwahrnehmung (vgl. hierzu auch den Beitrag von Kienle und Singer in diesem Band) als auch der Fremdwahrnehmung sowie die Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen relevant. So kann ein Mensch sich durchaus in seiner körperlichen Verfasstheit und seinem körperlichen Erleben als different und im Vergleich zu seinen Mitmenschen als eingeschränkt oder behindert erleben und dieses Erleben im Spiegel der anderen wieder und bestärkt finden. Andere körperbehinderte Menschen empfinden ihre Differenz als Teil ihrer Identität, ohne dass diese negativ konnotiert sei.

Diese Perspektive muss demnach um die in der ICF benannten Ebenen der gesellschaftlichen Dimensionen und Strukturen erweitert werden, die die Möglichkeiten der Aktivität und Partizipation fokussieren. In einem sozialwissenschaftlichen Verständnis von Behinderung wird davon ausgegangen, dass diese in Interaktionen verortet ist: „Behinderungen können situativ oder kontinuierlich auftreten. Überdauernde Formen, die wiederholt zu Ausschluss – häufig der gleichen Personen(gruppen) – führen, können sich zu Erfahrungen verdichten, die wiederum weiteren Handlungen zugrunde liegen. Behinderung wird dabei in Relation zu kontextuellen Erwartungen […] verstanden“ (Sturm 2015, 26). Diese kontextuellen Erwartungen lassen sich beispielsweise im Bildungssektor an der Norm des Leistungsprinzips festmachen. Für sämtliche außerschulischen, gesellschaftlich relevanten Bereiche kann diese Erwartung sich darin zeigen, alle zur Verfügung stehenden Strukturen nutzen zu können, die für Menschen, deren körperliche Verfasstheit auf dem Kontinuum nahe an der Norm der Gesundheit angesiedelt ist, (scheinbar) problemlos zugänglich sind. Hinzu kommen historisch gewachsene und kulturell geprägte Bilder von Körpern und ihren Abweichungen und die mit diesen einhergehenden interaktiven Marginalisierungsprozesse. Die Ausgestaltung der gesellschaftlichen Bedingungen ist neben den eher auf der sozialpsychologischen Ebene angesiedelten interpersonellen Exklusionspraktiken ausschlaggebend für die Behinderung und die Teilhabe körperlich differenter Menschen. Konkret:

„Dies können Bordsteine sein, die das Leben schwer oder leicht machen, wenn sie abgeflacht sind, die (Nicht-)Zugänglichkeit öffentlicher Verkehrsmittel, das Vorhandensein und die Akzeptanz bzw. Nutzung unterstützter Kommunikationsmittel, das Vorhandensein notwendiger therapeutischer Angebote, die gesetzlichen Rahmenbedingungen oder die Struktur der Bildungsangebote einer Gesellschaft.“ (Lelgemann 2015, 624)

Auf der Grundlage dieses sowohl die individuellen als auch die interpersonellen und gesellschaftlichen Bedingungen berücksichtigenden Verständnisses von Behinderung und Körper soll in Anlehnung an die Definitionen von Leyendecker (2005) und Lelgemann (2015) Körperbehinderung wie folgt definiert werden:

Körperbehinderung bezeichnet ein komplexes Phänomen, bei dem die Wechselwirkungen zwischen der individuellen körperlich-motorischen Verfasstheit eines Menschen, seinen anderen personalen sowie interpersonellen, institutionellen und gesellschaftlichen Bedingungen die Durchführung von Aktivitäten und Partizipation an sämtlichen gesellschaftlichen Bezügen erschweren.

Images Literatur

Ainscow, M./Miles, S. (2009): Developing inclusive education systems: How can we move policies forward? URL: http://www.ibe.unesco.org/fileadmin/user_upload/COPs/News_documents/2009/0907Beirut/DevelopingInclusive_education_Systems.pdf (Letzter Zugriff: 07.01.2016)

Antonovsky, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung von Gesundheit. Tübingen.

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.) (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. Meckenheim.

DIMDI (2005): ICF – Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Neu-Isenburg.

Hascher, T./Kessl, F. (2015): Inklusion – eine erziehungswissenschaftliche Perspektive. In: Erziehungswissenschaft 51, 26. Jg., 5–6.

Jennessen, S. (2010): Spezifik in einer Pädagogik der Vielfalt – Schulische Inklusion körperbehinderter Kinder und Jugendlicher. In: Jennessen, S./Lelgemann, R./Ortland, B./Schlüter, M. (Hrsg.): Leben mit Körperbehinderung – Perspektiven der Inklusion. Stuttgart. 120–134.

Jennessen, S./Kastirke, N./Kotthaus, J. (2012): Diskriminierung im Bildungsbereich. Eine Bestandsaufnahme unter besonderer Berücksichtigung der Merkmale des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). Expertise im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Berlin.

Lelgemann, R. et al. (2012): Qualitätsbedingungen schulischer Inklusion für Kinder und Jugendliche mit dem Förderschwerpunkt Körperliche und motorische Entwicklung. URL: http://www.uni-wuerzburg.de/fileadmin/06040400/downloads/Forschung/Zusammenfassung_Forschungsprojekt_schulische_Inklusion.pdf (Letzter Zugriff: 06.10.2015)

Lelgemann, R. (2015): Körperbehindertenpädagogik – Vorschläge für eine Weiterentwicklung in Theorie und Praxis. In: Zeitschrift für Heilpädagogik 66, 2015, 623–634.

Leyendecker, C. (2005): Motorische Behinderungen. Grundlagen, Zusammenhänge und Förderungsmöglichkeiten. Stuttgart.

Lindmeier, C./Lütje-Klose, B. (2015): Inklusion als Querschnittsaufgabe in der Erziehungswissenschaft. In: Erziehungswissenschaft 51, 26. Jg., 7–16.

Prengel, A. (2007): Diversity Education – Grundlagen und Probleme der Pädagogik der Vielfalt. In: Krell, G./Riedmüller, B./Sieben, B./Vinz, D. (Hrsg.): Diversity Studies. Frankfurt a. M. 49–68.

Schlüter, M. (2010): Körperbehinderung und Inklusion im Speziellen. In: Jennessen, S./Lelgemann, R./Ortland, B./Schlüter, M. (Hrsg.): Leben mit Körperbehinderung – Perspektiven der Inklusion. Stuttgart. 15–32.

Sturm, T. (2015): Inklusion: Kritik und Herausforderung des schulischen Leistungsprinzips. In: Erziehungswissenschaft 51, 26. Jg., 25–32.

 

I           DISZIPLIN

 

1          LEBENSSITUATIONEN VON MENSCHEN MIT KÖRPERLICHEN UND MEHRFACHEN BEEINTRÄCHTIGUNGEN IN GEGENWART UND ZUKUNFT GESTALTEN – IN KENNTNIS DER HISTORISCHEN ENTWICKLUNGEN

Reinhard Lelgemann

Vorbemerkung

In einer Zeit, in der ohne Unterbrechung hunderte von Informationen auf uns einwirken und ebenso rasch vergessen werden, stellt sich durchaus die Frage, welche Bedeutung die Kenntnis historischer Entwicklungen für die Gegenwart der eigenen professionellen Tätigkeit haben kann; weitergehend für die Gestaltung von Handlungsmöglichkeiten von Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen. Derartige Reflexionen können sich dabei sowohl aus einem spezifischen, ebenso aber häufig wohl aus einem eher allgemeinen Interesse ergeben. Ein spezifisches Interesse liegt dann vor, wenn historischen Reflexionen Bedeutung für Fragestellungen im professionellen Kontext gegeben wird, die für die Gegenwart bzw. die nahe Zukunft relevant sind. Beispiele hierfür sind z. B. konzeptionelle Überlegungen zur Gestaltung der pädagogischen Zusammenarbeit mit Schülern mit sehr schweren Beeinträchtigungen oder Planungen zur Weiterentwicklung eines Einrichtungsträgers von Angeboten für Menschen mit Beeinträchtigungen (vgl. Schmuhl & Winkler 2010). Wesentlich häufiger aber wird es ein eher unspezifisches Interesse im Rahmen der eigenen Ausbildung sein, welches z. B. der beruflichen Selbstvergewisserung dient.

Sicherlich wäre es vermessen, durch die Beschäftigung mit historischen Entwicklungen konkrete Entscheidungshilfen für aktuelle Anliegen zu erwarten. Doch hofft der Autor, dass historische Reflexionen für die historischen Hintergründe weitergehender Entwicklungen und möglicher Strategien, in die Professionelle als Handelnde eingebunden sind, sensibilisieren. Dies ist vermeintlich wenig, doch aus Sicht des Autors genug, um einen erneuten Versuch zu wagen, einige Stränge der Geschichte der Körperbehindertenpädagogik zu verfolgen. Die Darstellung stellt angesichts der Kürze des Beitrages eine durchaus subjektive Auswahl der Fragestellungen dar, die dennoch anstrebt, wesentliche und aktuell relevante Kernthemen zu reflektieren. Der Artikel orientiert sich im ersten Teil am 1999 erschienenen Beitrag von Hans Weiß zu zentralen Aspekten einer Geschichte der Körperbehindertenpädagogik. Bergeest in der ersten Auflage seines Kompendiums zur Körperbehindertenpädagogik (2000), vor allem aber Stadler und Wilken (2003) gebührt das Verdienst, die großen Leitlinien einer Geschichte der Körperbehindertenpädagogik in den letzten Jahren differenziert und kenntnisreich dargestellt zu haben. Zudem liegen inzwischen einzelne Studien zu Teilaspekten des Fachgebietes und naheliegender Gebiete vor, auf die hier nur verwiesen werden kann (z. B. Bösl 2009; Fuchs 2001; Musenberg 2003).

1.1       Geschichte in Spannungsfeldern Geschichte in Spannungsfeldern

Weiß hat in seinem 1999 erschienenen Artikel Spannungsfelder einer historischen Betrachtung innerhalb des Fachgebietes benannt, die auch noch heute, fast 20 Jahre später, von Bedeutung sind. Als solche benennt er:

•  die Herausforderung der Entwicklung und Ausgestaltung institutionell-professioneller Angebote

•  die Diskussion und konkrete Entwicklung von Heim- und Tagesschulen

•  das Verhältnis „separater“ und „integrativer“ Formen der Erziehung und Bildung von Schülerinnen und Schülern mit Körperbehinderungen

•  die Frage der Kooperation mit den Eltern der Schülerinnen und Schüler

•  die Herausforderung der uneingeschränkten Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern mit sehr schweren, mehrfachen und sog. schwersten Behinderungen in schulische Bildungsprozesse als permanent zu sichernde Aufgabe

•  die didaktische Herausforderung der Verbindung von Unterricht, Pflege und Therapie

•  die kritische Auseinandersetzung mit utilitaristischem Denken

•  die Frage der Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern mit weiteren Beeinträchtigungen (Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf im Bereich Lernen oder kognitive Entwicklung, Sehen und Hören)

•  das Verhältnis von Medizin (Therapie) und Pädagogik, Didaktik und Erziehung

Auch wenn seine Systematik stark am schulischen Bereich orientiert ist, so erscheint dies berechtigt, denn Körperbehindertenpädagogik hat sich im historischen Kontext immer deutlich über dieses Aufgabenfeld definiert. Viele der hier zu Grunde liegenden Herausforderungen sind auch für die Gegenwart relevant und zudem eng miteinander verknüpft. Die Ausgestaltung der konkreten pädagogisch-strukturellen Angebote steht z. B. gegenwärtig in direkter Beziehung zur Frage der weiteren Entwicklung integrativer bzw. inklusiver oder spezialisierter Bildungsangebote. Gerade in diesem Kontext stellt sich erneut die Frage der Bedeutung bzw. Sicherung therapeutischer und pflegerischer Elemente für ein unterstützendes Bildungsangebot oder die Frage der Einbeziehung von Schülerinnen und Schülern mit sehr schweren Beeinträchtigungen in die weiteren bildungspolitischen Entwicklungen.

1.2       Zur Sicherung des Bildungsangebotes

Die hier durch die Impulse von Weiß angesprochenen Aspekte der historischen Entwicklung können an dieser Stelle nicht vertieft behandelt werden. Hier muss auf die bereits genannten Publikationen sowie aktuelle Veröffentlichungen im didaktisch-methodischen Kontext verwiesen werden (z. B. Bergeest, Boenisch & Daut 2015; Lelgemann 2010).

Grundlegend lassen sich die hier nur grob skizzierten historischen Entwicklungen überdies aus gerechtigkeitsphilosophischer Perspektive reflektieren. Insbesondere Philosophinnen wie Martha Nussbaum (2010), noch deutlicher aber Eva Kittay (2006), stellen die Frage, ob die starke Orientierung der Gerechtigkeitsphilosophie und vieler staatlicher Verfassungen am unausgesprochenen Grundgedanken fähiger, nicht gesundheitlich eingeschränkter Menschen, wie sie sich im ersten Entwurf von Rawls (1979) findet, nicht dazu führt, dass weniger begabte, gesundheitlich eingeschränkte Menschen und ihre Angehörigen, vor allem also die Mütter, in solch einer Gesellschaft strukturell benachteiligt werden. Auf der Basis ihrer kritischen Anfragen entwickeln sie ein Gerechtigkeitsmodell, welches staatlichen Strukturen die Verantwortung dafür gibt, Voraussetzungen zu schaffen, auf deren Basis ein möglichst gutes Leben aller Menschen möglich wird. Hierbei soll insbesondere berücksichtigt werden, dass alle Menschen als hilflose, zu pflegende Wesen geboren werden, alle Menschen Abhängigkeitssituationen auch in ihrem weiteren Leben zeitlich begrenzt erfahren, manche auch ein Leben lang, und zudem alle Menschen im hohen Alter erneut fürsorge- und pflegebedürftig sein werden und pflegender Angehöriger bedürfen. Auf der Grundlage der von Weiß vorgeschlagenen Themenfelder und mit Hilfe der Überlegungen von Nussbaum und Kittay lassen sich so Kriterien ableiten, mit denen historische und aktuelle Entwicklungen der Körperbehindertenpädagogik systematisch analysiert und kritisch betrachtet werden können.

Mit Bezug auf die Entstehung und Gestaltung von Bildungsangeboten für Schülerinnen und Schüler mit körperlichen oder mehrfachen bzw. schwersten Beeinträchtigungen können z. B. folgende Leitfragen untersucht werden:

•  Hatte und hat der Staat eine Verpflichtung, Menschen mit einer Beeinträchtigung ein Bildungsangebot zu ermöglichen oder sollte er dies privaten Initiativen oder den Familienangehörigen überlassen?

•  Reicht es, wenn diese Schülergruppe formal dem allgemeinen Bildungssystem angehört, oder sind spezifische Unterstützungsleistungen notwendig?

•  Sollen in dieses Angebot auch Personengruppen einbezogen werden, die absehbar keinen produktiven Beitrag leisten können?

Diese ethischen Fragestellungen sind gleichermaßen für die Gegenwart als auch historisch bedeutsam. Im 19. und 20. Jahrhundert sahen staatliche Strukturen und deren Institutionenvertreter ihre zentrale Aufgabe in der Sicherung der Funktionsfähigkeit des nationalen Staatengebildes. Hierzu gehörte die Sicherung der Produktivität und der Leistungsfähigkeit des eigenen Staates, seiner Verteidigungsfähigkeit und damit der nationalen Souveränität. Entscheidungen in vielen anderen Handlungsbereichen, seien dies die Gesundheitsfürsorge, die öffentlichen Verkehrswege, ebenso aber das komplette Bildungswesen, waren diesen Grundaufgaben untergeordnet und wurden erst im Verlaufe der historischen Entwicklung als bedeutsam erachtet. Es bestand ein breites bürgerliches Grundverständnis, dass trotz aller praktischen Erschwernisse die Familien als Fundament der Gesellschaft galten und für ihr eigenes Wohlergehen und damit auch das Wohl der Kinder selbst verantwortlich waren. Kaum jemanden interessierte, wenn in der Produktion im 18. und 19. Jahrhundert zunehmend Kinder eingesetzt wurden, solange nicht die staatliche Verteidigungsfähigkeit eingeschränkt war. Ebenso interessierten Krankheit und damit auch Behinderung der arbeitenden Bevölkerung erst, als ihre Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der Verteidigung und schließlich der Wirtschaft begriffen wurde. Bildung sollte, sobald ihre Bedeutung überhaupt anerkannt wurde, Produktivität sichern und war damit in den konkreten städtischen und dörflichen Lebenssituationen weit entfernt von einem humboldtschen Bildungsverständnis.

Diese Welt erschien vermutlich den meisten Menschen gerecht, war aber noch weit davon entfernt, eine Gerechtigkeitsstruktur zu realisieren, wie sie Rawls (1979 und revidiert 2006) in seiner gerechtigkeitsphilosophischen Konzeption in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte. Er beschrieb das Modell einer gerechten Welt, die so gestaltet sein sollte, dass es gleichgültig wäre, in welcher Familie ein Mensch geboren würde. Staatliche Strukturen sollten es gleich geborenen, wenn auch sehr individuellen Personen ermöglichen, ihr Glück zu finden. Die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts führte in vielen industrialisierten Staaten für viele Bürger durchaus zu einer derartigen Lebenssituation. Doch war auch diese Entwicklung keine „natürlich“ vorgegebene, sondern eine, die durch starke gesellschaftliche Veränderungen, nicht zuletzt die Demokratisierung und eine deutliche Stärkung der Arbeitnehmerrechte, erzwungen wurde und auch aktuell immer wieder neu ausgehandelt werden muss.

So können die zunehmend bessere Bildung in städtischen und ländlichen Bereichen, die Stärkung der Frauenrechte und ihre Einbeziehung in alle Bildungsbereiche als Beispiele für solch eine deutlich gerechtere Entwicklung bezeichnet werden. Staatliche Bildungsangebote für Menschen mit Beeinträchtigungen entwickelten sich allerdings erst viel später, da ihr Nutzen lange bezweifelt wurde. Nicht zuletzt kann durch eine derart knappe historische Skizze nur angedeutet werden, welche besondere Leistung in diesen historischen Kontexten die Einrichtung von Bildungsangeboten darstellte, die im damaligen gesellschaftlichen Grundverständnis eigentlich nicht notwendig erschienen und von Seiten des Staates oftmals nicht unterstützt wurden. Dies gilt für die erste arbeitsorientierte Einrichtung eines Edlen von Kurz in München ebenso wie für zahlreiche weitere Gründungen im neunzehnten und beginnenden zwanzigsten Jahrhundert, wie z. B. das Potsdamer Oberlinhaus, welches als erste Einrichtung nicht nur männliche Schüler mit Beeinträchtigungen aufnahm, bei denen eine spätere produktive Tätigkeit zu erwarten war, sondern auch Mädchen ein Bildungsangebot eröffnete sowie ebenso jungen Menschen mit schwereren Beeinträchtigungen. Auf diesem Hintergrund erscheint auch die Entwicklung des Oskar-Helene-Heims als herausragende Leistung, übernahm hier doch erstmalig der preußische Staat von Anfang an Verantwortung für die Errichtung und fortlaufende Finanzierung der Einrichtung. Die Entwicklung des Förderschulwesens allgemein und in diesem Rahmen auch die Entwicklung schulischer Bildungsangebote für körperbehinderte Schülerinnen und Schüler galten in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts europaweit als mustergültig. Nicht einbezogen wurden aber, bis auf wenige Ausnahmen, Menschen mit sehr schweren Beeinträchtigungen, wozu in der damaligen Zeit auch durchaus Personen mit einer schweren Tetraspastik gehörten.

Wie wenig gesichert diese bescheidenen Angebote waren, zeigte sich nicht zuletzt im Nationalsozialismus, in dem Förderschulen und Heime für körperbehinderte junge und ältere Menschen geschlossen wurden, bestehende Einrichtungen oftmals ein ausgeprägt utilitaristisches und deshalb reduktionistisches pädagogisches Verständnis entwickelten und sich Mitglieder einer Behindertengruppe gegenüber stärker beeinträchtigten Personen abgrenzten bzw. sich von diesen distanzierten, indem sie auf die eigene Nützlichkeit verwiesen (vgl. Wilken 2004b). Die Entwicklung von Bildungsangeboten für Menschen mit körperlichen und mehrfachen Beeinträchtigungen war zudem in beiden deutschen Staaten der Nachkriegszeit keine Selbstverständlichkeit. Diesseits und jenseits der Grenze entstanden Schulen für körperlich beeinträchtigte Schülerinnen und Schüler erst zum Ende der fünfziger Jahre, also zehn bis fünfzehn Jahre nach Kriegsende, in der Bundesrepublik Deutschland überdies zumeist auf Elterninitiative. In beiden Staaten wurden selbst körperlich beeinträchtigte Schüler mit stärkeren Lernproblemen nur in geringem Umfang aufgenommen. Sehr schwer beeinträchtigte Schüler wurden in der DDR als nicht bildungsfähig angesehen und den Eltern oder christlichen Einrichtungen überlassen. In der Bundesrepublik setzte sich erst Ende der siebziger Jahre die Erkenntnis durch, dass auch Schüler mit komplexen Beeinträchtigungen ein Bildungsrecht haben und nicht dauerhaft vom Schulbesuch befreit werden dürfen. Allerdings galten in beiden Bildungssystemen Angebote der Therapie und der Pflege als selbstverständliche unterstützende Elemente des Bildungsangebotes in Schulen für Körperbehinderte, auch wenn diese im Einzelnen unterschiedlich realisiert wurden (vgl. Hardt et al. 2008).

Die Entwicklung des Bildungsangebotes für Menschen mit einer körperlichen oder mehrfachen Beeinträchtigung kann historisch und für einige Regionen der Welt als gelungener Prozess der Eröffnung von Bildungschancen betrachtet werden; ebenso aber auch als Prozess, der in seiner aktuellen Entwicklung immer wieder neu kritisch reflektiert werden muss. Hier ergeben sich z. B. Fragen danach, wie das Bildungsrecht mehrfachbehinderter und besonders beeinträchtigter Schülerinnen und Schüler gesichert wird, welche Aufgaben das Bildungssystem übernimmt und welche es an Eltern delegiert, insbesondere auch in den Bereichen Therapie, Pflege und Mobilität.

Eine historische Betrachtung der Situation körper- und mehrfachbehinderter Menschen würde aber zu kurz greifen, wäre sie vor allem am schulischen Bildungsbereich orientiert. So hatte bereits der Perl-Bund, der wohl erste Selbsthilfeverband körperbehinderter Menschen, seinen Mitgliedern eine berufsvorbereitende Beratung ermöglicht (vgl. Wilken 2004b, 264), eigene Betriebe gegründet und sich in die damaligen gesellschaftlichen Debatten eingebracht (vgl. ebd., 265). Historische Reflexionen erfordern zudem, die jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklungen einzubeziehen. Wiederum in Thesen, die anschließend erläutert werden, soll dies hier in einigen Bereichen geschehen: