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HANNA SCHOTT

MONO

TASKING

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Ich habe seit etwa einem Jahr kein elektronisches Gerät mehr runtergefahren. Das soll ja auch besser für die Festplatte sein. Und Strom sparen. In den ersten Monaten habe ich abends zumindest am Laptop noch alle Programme geschlossen. Es gab mir das Gefühl, einen gewissen Abschluss zu schaffen, die Arbeit „schlafen zu legen“. Dann habe ich erst die Texte, an denen ich gerade arbeite, und schließlich auch die Internetseiten, auf denen ich zuletzt war, nicht mehr geschlossen. Ich mache da ja sowieso nach den paar Stunden Schlaf weiter.

Meine Antennen in die Welt hinein bleiben seitdem ausgefahren. Ich bin immer offen, empfangsbereit, weniger schlafend als im Stand-by-Modus schlummernd.

Vor einigen Monaten ist meine Tochter in die USA gezogen. Jetzt lohnt es sich, auch morgens ums sechs nach Mails zu schauen, und meistens finde ich da auch irgendeinen Gruß oder einen interessanten Link, auf der anderen Seite des Atlantiks losgeschickt, bevor sie dort zu Bett gegangen ist. Die „tote“ Zeit ist auf wenige Stunden geschrumpft.

Ich werde jetzt kein Lamento folgen lassen. Ich liebe nämlich dieses Leben und finde es zum Beispiel weit interessanter als das, was ich früher als Studentin geführt habe. Einsam in einer fremden Großstadt, ohne einen Menschen zu kennen. Es dauerte verregnete Winterwochen, ehe freundschaftliche Kontakte geknüpft waren. An Sonntagnachmittagen stand ich vor besetzten Telefonhäuschen, und wenn ich endlich dran war, fielen die blöden Zehnpfennigmünzen laut klappernd die Metallbahn hinab, statt eine Verbindung zu schaffen.

Jetzt sind alle immer mit allen verbunden. „Alles Liebe! Herzlich grüßt …“, schreibe ich von morgens bis in die Nacht unter meine Nachrichten. Zwei Telefone, ein Smartphone und ein Laptop spinnen Fäden, klingeln, vibrieren, imitieren Gitarrenklänge und das zarte Anstoßen eines Löffels an ein Glas. „Hallo, hier ist die Welt, ist alles okay? Ich mache gerade dies und denke über das nach.“ So viele nette, interessante, wichtige, tolle Leute treffe ich virtuell jeden Tag.

Das meine ich nicht ironisch. Sie sind nett, interessant, wichtig und toll. Und alle mit mir verbunden! Dabei bin ich noch nicht mal bei Facebook, habe keinen Blog und twittere nicht.

Im Multitasking war ich schon immer gut. Solange meine Halswirbelsäule es noch mitmachte, habe ich beim Bügeln telefoniert und beim Telefonieren die Spülmaschine ausgeräumt. Da ich keine ausgeprägte Rechts- oder Linkshänderin bin, sondern viele Dinge beidhändig erledigen kann, putze ich mit links, während ich telefonierend durch die Wohnung laufe und mir zwischendurch Notizen mache. Wenn der Gesprächspartner langsam formuliert oder langstielig erzählt, mache ich nebenbei Gymnastikübungen auf der Matte. Oder ich lese währenddessen meine Mails, manchmal schreibe ich auch welche, ganz leise tippend, versteht sich. Nur wenn ich mit einer blinden Freundin telefoniere, traue ich mich das nicht. Ich bilde mir ein, sie würde es sofort bemerken.

Ich habe kein Aufmerksamkeits-Defizit. Wenn ich irgendetwas Vergleichbares habe, dann ist es ein Aufmerksamkeits-Überschuss. (Und es würde mich nicht wundern, wenn das für viele der sogenannten ADS-Kinder auch gälte.) Meine Aufmerksamkeit vagabundiert, findet überall Interessantes, Attraktives, Unerhörtes, Dinge, denen sie unbedingt nachgehen möchte. Hast du das gelesen? Hast du das gesehen? Hättest du das gedacht? Wusstest du schon? – Nein, ist aber superinteressant. Müsste man mal vertiefen.

Genau: vertiefen.

Wie ging das noch mal? Bin ich früher irgendwie „eine Etage tiefer gekommen“ als heute?

Kann sein. Ich erinnere mich an Situationen, in denen ich völlig die Zeit vergessen habe. So tief war ich in eine Sache versunken. In ein Buch, in ein Gespräch, ins Schreiben einer Geschichte. An einem Vormittag schrieb ich für ein Kinderbuch eine längere Szene: ein Gespräch am Mittagstisch. Leipzig, im Oktober 1989. Eine Familie muss entscheiden, ob sie an den Montagsdemonstrationen teilnimmt oder nicht. Gegen 14 Uhr (in meiner Welt) schaute ich auf die Uhr: Meine fiktive Familie war mit dem Essen fertig. Aber hatte ich selbst eigentlich auch schon etwas gegessen? Ich konnte mich partout nicht erinnern und musste in die Küche gehen, um nach Indizien zu suchen: War da ein Topf, ein gebrauchter Teller, der auf eine Mahlzeit hinwies?

Das Ergebnis habe ich vergessen, aber ich weiß noch genau: Es war ein glücklicher Tag.

Ich schreibe dieses Buch für mich. Wie sagte schon der Apostel Paulus? „Ich will nicht anderen predigen und selbst verwerflich werden.“ In den letzten Monaten hat sich nämlich eine gewisse Unzufriedenheit mit meinem „Ich-bin-immer-und-überall-aufmerksam-und-erreichbar“-Lebensstil eingeschlichen. Wenn ich in den Spiegel schaue, wundere ich mich, dass ich nicht eine völlig zerzauste Frisur habe. Auf meinem übervollen Kopf müsste eigentlich ein wirrer Wuschel sprießen.

Zeit für einen Selbstversuch. Mit dem Verlag habe ich abgesprochen, dass ich so viel Zeit habe, wie ich brauche. Kein Abgabetermin, keine Deadline (was für ein schauriges Wort!). Irgendwann wird es fertig sein. Wenn es dann gut ist, kann es erscheinen. Und vielleicht irgendjemandem Anregung für eigene Erfahrungen geben.

Ich habe kein Burn-out. Aber ich will auch gar nicht erst dahinkommen. Ich kann mir keine „Auszeit“ oder gar ein Sabbatjahr erlauben; als Selbstständige muss ich mir jeden Tag neu die Butter aufs Brot verdienen. Aber ich möchte dennoch „runterfahren“. Wenigstens stundenweise oder auch mal tageweise. Mich freuen, dass die Welt sich weiterdreht, während ich selbst gerade nichts dazu beitrage, das Rad in Schwung zu halten.

Vielleicht sehe und erlebe ich ja weniger, wenn ich den „Modus“ ändere. Dann möchte ich das mal eine Weile aushalten. Vielleicht sehe und erlebe ich aber auch mehr? Es könnte ja sein, dass ich Dinge entdecke, die vor meiner Nase liegen, über die ich aber bisher – immer multibeschäftigt – einfach hinweggestiefelt bin.

Was mir vorschwebt, ist kein Aussteigerprogramm im Stil von Melken lernen auf der Alm statt Multitasking im Großraumbüro. Geschichten vom kalten Entzug haben natürlich ihren besonderen Reiz. Leider bleibt am Ende meist unklar, wie es im normalen Leben weitergehen soll. Mein Ziel ist weitaus bescheidener, eigentlich nur ein schlichter Wunsch: Ich möchte lernen, eine Sache zu machen, ganz, konzentriert, mit all meiner Aufmerksamkeit, ohne Nebengedanken und ohne schlechtes Gewissen. Und dabei Dinge verpassen, ohne es zu bedauern.

Ob das geht? Und wie das funktionieren soll? Ich will dazu eine alte Methode ausprobieren, die in den letzten Jahrzehnten aus der Mode gekommen ist: die Übung.

Ich weiß nicht, warum, aber das Wort Übung hat irgendwann einen negativen Klang bekommen. Üben muss nur, wem eine Sache nicht gleich gelingt. Wer also ein bisschen minderbegabt ist oder zumindest begriffsstutzig. Helle Köpfe können alles auf Anhieb, weniger helle müssen üben. Egal ob Mathe oder Klavieretüden.

Ich möchte mit dem Wort Übung gerne wieder Positives verbinden: Was mir schwerfällt – zum Beispiel die Konzentration auf eine einzige Sache –, möchte ich durch häufige Wiederholung zu etwas machen, das mir tatsächlich gelingt. Vielleicht eines Tages sogar mühelos und leicht.

„Nur für Geübte“ habe ich neulich auf einem Schild am Wanderweg gelesen. Ein steiler Pfad führte zu einem Joch am „Wilden Kaiser“ in Tirol. Kein Mensch käme auf die Idee, dass nur Minderbegabte für diesen Steig Übung nötig hätten.

Ich fange einfach mal an. Es ist jetzt Mitte Oktober, für Menschen, die wie ich in der Buchbranche tätig sind, die stressigste Zeit des Jahres. Wenn ich irgendwann Konzentration, Gelassenheit und tägliches „Runterfahren“ nötig habe, dann jetzt. Wie wäre es, wenn ich Weihnachten als Zielpunkt meines Versuchs ins Auge fasse? Neben dem dienstlichen also auch den privaten Stresshöhepunkt des Jahres mit hineinnehme? Ein Blick in den Kalender: Das wären ja volle zehn Wochen! Wenn ich die Zeit bis Silvester noch dazunehme, genau 80 Tage. Illusorisch, oder?

Wenn Sie dieses Buch in Händen halten, wissen Sie mehr.

Ich habe übrigens neulich den „Flugmodus“ meines Smartphones entdeckt: Das Gerät ist an, ich kann verschiedene Funktionen wie den Wecker benutzen, aber es nimmt keine Anrufe und Mails entgegen und strahlt auch nicht. Vielleicht sollte das ein Lebensgefühl werden, das ich mir ab jetzt immer mal wieder erlaube? „Wechsele jetzt in den Flugmodus. Bis zum Herabgleiten grüßt …“

Hanna Schott

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TAG 1

Multitasking geht ins Auge

Gestern war ich auf der Buchmesse in Frankfurt, heute rauschen mir noch die Ohren. Der ideale Tag, um mit dem Runterfahren und Monotasken zu beginnen. Außerdem ist Samstag. Den muss der Christenmensch ja nicht heiligen, jedenfalls ist ihm das nicht ausdrücklich geboten, aber er darf ihn heiligen. Oder irgendwie semi-heilig halten. Das ist meine Option.

Also vormittags Mails, Restposten der Arbeitswoche, rund um den Schreibtisch aufräumen, Altpapier runterbringen, einkaufen. Dann: Kür. Ich rufe eine Freundin an und frage, ob sie Lust auf Kürbissuppe hat. Ein großer Kürbis schaut mich nämlich seit Wochen durch die Terrassentür zunehmend traurig, fast schon vorwurfsvoll an.

Ja, sehr gern, sagt die Freundin.

Ich schlachte den Kürbis, entscheide mich – denk an Monotasking! – dagegen, das Radio einzuschalten, und werkele friedlich vor mich hin. Zwiebel, Linsen, Ingwer, Chili … Vom Laptop nebenan (er hat sich ja nicht für Monotasking entschieden, ich will ihn auch nicht bevormunden, und deshalb döst er mit allerhand offenen Fenstern vor sich hin) ertönt ein Pling. Mit Radio nebenbei hätte ich das gar nicht gehört. Entdecke ich etwa schon den ersten Nachteil des Monotaskings? Prompt laufe ich hin, nur mal gucken, wer da wohl mailt. Ach, tatsächlich, das ist nun wirklich etwas extrem Wichtiges. Aus vier Varianten eines Buchcovers muss heute noch die eine, die beste ausgewählt werden. Am Montag wird gedruckt. Mit von der Chilischote leicht geröteten Fingern haue ich schnell meine Kommentare zu den Covern in die Tasten. Am linken Auge juckt mich was, ich führe den Zeigefinger zum Auge … Es folgt eine beschauliche halbe Stunde, oder viel eher eine halbe Stunde, in der ich gar nicht schaue, jedenfalls nicht mit dem linken, tränenden und höllisch brennenden Auge. Stattdessen warte ich einfach ab, versuche mich abzulenken, rühre ein bisschen in der Suppe … pures Monotasking.

Dass mir das gerade am ersten Tag bei meinem ersten „Vergehen“ passiert, klingt unwirklich, ist es aber nicht.

Wie viele winzige Chiliteilchen kleben wohl noch an der Tastatur? Sie halten Mahnwache, vermute ich.

TAG 2

Tatort und Teresa

Es ist Sonntag, und mein heiliger Tag spannt sich ganz traditionell vom Gottesdienst bis zum Tatort. Was soll da schon gegen Monotasking sprechen? Selbst bei stocklangweiligen Predigten habe ich noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, „heimlich“ SMS zu schreiben. Eher schon gehe ich gedanklich ein bisschen spazieren, aber das soll an geweihter Stätte ja schon einige auf so manche gute Idee gebracht haben. Der Geist weht, wo er will. Mal mehr auf der Kanzel, mal mehr zwischen den Bankreihen.

Für den Abend greife ich zu einem Trick, um das Monotasking einfacher zu machen: Ich schaue den Tatort nicht vor dem eigenen Fernseher, wo Telefon, Kühlschrank und andere Verführer nur darauf warten, mir Nebenbei-Beschäftigungen aufzudrängen, sondern laufe eine Viertelstunde durch den Regen, um die Sendung gemeinsam mit einem Freund zu schauen. Das ist ohnehin unterhaltsamer und beschert mir nach einer anregenden Fallanalyse noch etwas Bewegung. So spannend wird es dann nicht, deshalb können mich auf dem Rückweg auch die leeren, dunklen Straßen nicht schrecken. Im Tatort werden ja gern Menschen ermordet, die in großzügigen Bungalows mit riesigen Glasfenstern wohnen, durch die sie noch kurz vor dem Mord gedankenverloren auf den nahen See geschaut haben. Das Haus, in dem ich wohne, steht zwar am Waldrand, ist aber ansonsten tatortunverdächtig, befinde ich auf dem Nachhauseweg. Ungerührt steige ich die steile Treppe zu meiner Dachwohnung hinauf.

Die „Predigt“, die mich heute erreicht hat, habe ich nicht in der Kirche gehört, sondern im Radio. Ein Porträt der heiligen Teresa von Ávila hat mich so gefesselt, dass ich meine Rückenübungen am Morgen ganz, ganz langsam und ausführlich gemacht habe, während ich fasziniert lauschte. Diese Art von Bitasking werde ich mir erlauben, habe ich heute beschlossen. Je besser das Radioprogramm, desto gestärkter meine Wirbelsäule. Das kann doch nur gut sein.

Teresa von Ávila muss bei aller Heiligkeit und bei allem, was mir fremd ist oder einfach unerreichbar erscheint, einen besonderen Humor gehabt haben. „Gott, bewahre mich vor Leuten, die so übergeistlich sind, dass sie aus allem vollkommene Kontemplation machen!“, schrieb sie gegen Ende ihres Lebens. Da war sie selbst längst eine Meisterin der Kontemplation. Wie mag ihr das gelungen sein, wenn sie nicht nur 15.000 (!) Briefe verfasste, sondern auch unzählige geistliche Werke schrieb, weite Reisen machte – und das alles vor der Erfindung des Diktiergeräts und des ICEs?

War sie vielleicht – ich wage es nicht zu denken – einfach extrem gut im Multitasking?

Ich muss das herausbekommen. Für heute notiere ich mir einen Satz der Sendung: „Man soll auf den verstreuten Verstand nicht mehr geben, als wäre er ein Verrückter, und man soll ihm seine Schrullen lassen, denn die kann ihm nur Gott nehmen.“

Amen.

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TAG 3

Montag: die Härte

Die Tatsache, dass ich an einem Wochenende mit meinem Selbstversuch begonnen habe, hat mir einen sanften, geradezu harmlosen Einstieg beschert. Heute wird es ernst, dieser Montag wird meinen Willen zum Monotasking auf die Probe stellen. Ich weiß das schon vor dem Frühstück, denn heute Nacht um vier Uhr ist mir alles eingefallen, was das wuselige Buchmesse-Leben und das fröhliche Wochenende überdeckt hatten: To-dos über To-dos, mündliche Versprechen, mit orangefarbigen „Noch-zu-bearbeiten!“-Fähnchen versehene Mails, eine Telefonkonferenz in einer etwas heiklen Angelegenheit, vier Geburtstage allein in dieser Woche, zu denen ich mich in irgendeiner Form mit fröhlicher und origineller Post melden sollte, eine ganztägige Sitzung in einer entfernten Stadt, auf die ich mich vorbereiten will … Und dann natürlich das Buch, an dem ich eigentlich schreibe. Ganz abgesehen von den Notizen für dieses Monotasking-Projekt, von dem ich noch nicht weiß, ob es einmal ein Buch werden wird.