Autor: Gerry Souter

Übersetzer: Dr. Martin Goch

Redaktion der deutschen Veröffentlichung: Klaus H. Carl

 

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Weltweit alle Rechte vorbehalten. Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten den jeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es aber nicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen. Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.

 

ISBN: 978-1-78310-678-3

Gerry Souter

 

 

 

Diego Rivera

Kunst und Leidenschaft

 

 

 

 

 

1. Diego Rivera, Das Erstellen eines Freskos, 1931.

Inhalt

 

 

Einleitung

Von der Lehre zum Meister der Kunst

Seine ersten Schritte

Auf Entdeckungsreise nach Europa

¡Vuelva a México!

Sein neues Exil in Europa oder seine künstlerische Suche

Die achtjährige Suche – 1911 bis 1919

Die Enthüllung der italienischen Wandgemälde – 1920 bis 1921

Zwischen Malerei und Politik

Die mexikanischen Wandmaler

Ruhm, Diego und Frida

Ein Kommunist bei den Amerikanern

Die letzten Jahre oder die Rückkehr ins Heimatland

Zurück in Mexiko

Adiós Frida, Vaya Con Dios Adiós Diego, Larga vida al artista de la gente

Adiós, Diego – Larga vida al artista de la gente

Index

Notes

2. Diego Rivera, Selbstporträt, 1916.

 

 

Einleitung

 

 

Ich kannte den mexikanischen Wandmaler Diego Rivera schon lange, bevor ich den vielen anderen „Diego Riveras“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnete. Als Fotojournalist und Absolvent des Chicago Art Institute nutzte ich auswärtige Aufträge, um mir bedeutende Kunstwerke anzusehen, wo immer es möglich war. In Paris gibt es die Schätze des Louvre und des Centre Pompidou. In Mexiko gibt es Diego Rivera, und zwar überall. Und zu Hause genieße ich den Vorteil, nur fünf Autostunden vom Detroit Institute of Arts und Riveras unglaublichen Wandgemälden für diese amerikanische Industriestadt entfernt zu wohnen.

Während seine Staffeleigemälde und Zeichnungen einen großen Teil seines Früh- und Spätwerks einnehmen, explodieren seine einzigartigen Wandgemälde in einer virtuosen Vorführung verblüffender Organisation geradezu von der Wand. Auf diesen Wänden gehen der Mann, seine Legende und sein Mythos, sein technisches Talent, sein narrativer Fokus und seine tiefen ideologischen Überzeugungen eine untrennbare Verbindung ein.

Bei der Recherche für mein Buch Frida Kahlo: Hinter dem Spiegel fand ich viele Fotografien Diegos, zuerst als lächelnder, erfolgreicher Künstler mit seiner kleinen Braut und am Ende als müder alter Mann hinter Fridas Sarg auf dem Weg zum Krematorium. Obwohl ihre Verbindung sehr eng war, konnte ich ihren Vollzug, sowohl körperlich als auch intellektuell, nicht akzeptieren, noch konnte ich verstehen, welche Anziehungskraft auf schöne Frauen und mächtige Männer eine solche watschelnde Karikatur ausüben konnte. Im Angesicht seiner von der Wand leuchtenden Bilder trat sein Reiz als überlebensgroße Person und Schöpfer jedoch rasch an die Stelle des ersten Eindrucks eines weichen Mannes.

Große, feuchte, weiche Froschaugen über einem einen Hang zum Genuss ausdrückenden Mund blicken erwartungsvoll unter schweren Lidern hervor und erinnern an ein Mondgesicht auf einem fleischigen, tränenförmigen Körper. Aber dieser große Mann, der Türen ausfüllte und Stühle unter sich ächzen ließ, hatte kleine, an Kinder erinnernde Hände. Er wirkte sanft und träge, arbeitete häufig aber 18 Stunden auf einem Gerüst an seinen Wandgemälden. Sein Privatleben war ein einziges Chaos aus Politik, Affären, Partys, Reisen, Ehen und der Arbeit an seinem eigenen Mythos. Aber an der Wand choreographierte er erfolgreich seine schöpferische Arbeit mit den zeitkritischen Erfordernissen der Wandmalerei.

3. Frida Kahlo, Xochítl, Blume des Lebens, 1938.

 

 

Seinen Memoiren zufolge lobte der sich mühende junge Künstler Rivera Picasso dafür in den Himmel, dass er die Maler aus der Umklammerung der Stagnation befreit hatte. Seinen Freunden gegenüber allerdings machte er Picasso den Vorwurf, Elemente seiner kubistischen Technik von ihm gestohlen zu haben, und Rivera kochte geradezu, als Picasso Erfolge feierte und er selbst sich in Paris immer noch ohne einen eigenen Stil abmühte. Rivera war zeitlebens ein Anhänger der Ideen des Kommunismus und stritt seine gnadenlose Realität zumeist ab. Wie konnte jemand die strenge Ideologie des Kommunismus propagieren und gleichzeitig für reiche Kapitalisten arbeiten? Während der unruhigen 1920er, 1930er und 1940er Jahre bewegten sich Riveras politische Einsichten auf dem Niveau, mit dem ihn die meisten seiner Zeitgenossen identifizierten – dem eines großen Kindes. Er schloss überall, in Mexiko, Spanien, Frankreich, Italien, Deutschland, Russland und den Vereinigten Staaten, Freundschaften, während die Eifersucht auf seinen Erfolg und kontroverse politische Andeutungen in seiner Kunst ihm gleichzeitig erbitterte Feinde einbrachten. Rivera trug viele Jahre lang einen großkalibrigen Colt bei sich, angeblich, um Anschläge auf sein Leben abzuwehren.

Diego Rivera spielte viele Rollen, einige besser als andere, aber tief in seinem Herzen trug er – auch wenn er dies erst nach etwa einem Drittel seines Lebens erkannte – Mexiko in sich, die Sprache seiner Gedanken, das Blut in seinen Adern, den azurblauen Himmel über seinem Zufluchtsort. Nachdem sich der Sturm und Drang eines quasi im Galopp gelebten Lebens gelegt hatten, er seine meisterliche Technik entwickelt hatte und sich endlich seinen schöpferischen Zielen widmete, war da Mexiko, seine Geschichte und seine Geschichten. Diese Geschichten und das Leben Diego Riveras vermischen sich so miteinander, wie ein Fluss die Erde in sich aufnimmt.

Gerry Souter

Arlington Heights, Illinois

4. Frida Kahlo, Selbstporträt, ca. 1938.

5. Diego Rivera, Landschaft, 1896-1897.

 

 

Von der Lehre zum Meister der Kunst

 

 

Seine ersten Schritte

 

Rivera gestaltete bewusst sein Leben so, dass selbst sein Geburtsdatum von Mythen umrankt ist. Seine Mutter María, seine Tante Cesárea und die standesamtlichen Dokumente nennen den 8. Dezember 1886 um 19.30 Uhr als sein Geburtsdatum, d.h. den Tag der Feier der Unbefleckten Empfängnis. In den Kirchendokumenten von Guanajuato ist den Unterlagen über seine Taufe allerdings zu entnehmen, dass der kleine Diego María Concepción Juan Nepomuceno Estanislao de la Rivera y Barrientos Acosta y Rodríguez tatsächlich am 13. Dezember das Licht der Welt erblickte.

Riveras eigene, Jahrzehnte später abgegebene Schilderung seiner Geburt beschreibt ein grandioses Melodram. Seine Mutter hatte bereits drei Totgeburten hinter sich. Nun erwartete sie Zwillinge. Nachdem sie Diego auf die Welt gebracht hatte, erlitt sie Blutungen. Diego war dürr und lethargisch und man gab ihm kaum Überlebenschancen. Doktor Arizmendi, ein Freund der Familie, warf ihn deshalb in einen in der Nähe stehenden Dungeimer und wandte sich dem zweiten Kind zu. Diegos Zwillingsbruder kam auf die Welt und schien der zerbrechlichen María, die nun ins Koma fiel, die letzte Kraft geraubt zu haben.

Verzweifelt weinte Don Diego Rivera über seiner leblosen Frau. Es mussten Vorbereitungen für ihre Aufbahrung getroffen werden. Die alte Matha, die Doña María stets geholfen hatte, wollte ihre kalte Stirn küssen. Plötzlich trat die alte Frau zurück. Marías „Leiche“ atmete! Der Arzt entzündete sofort ein Streichholz und hielt es unter Marías Ferse. Es bildete sich eine Brandblase. Doña María lebte tatsächlich noch. Und aus dem Dungeimer kamen Krächzer, die zeigten, dass der kleine Diego ebenfalls noch lebte, woraufhin man ihn aus dem Eimer holte.

Doña María erholte sich, beschäftigte sich später mit der Geburtsheilkunde und wurde schließlich eine professionelle Hebamme. Diegos Zwillingsbruder Carlos starb eineinhalb Jahre später, während der unter Rachitis und schlechter Gesundheit leidende Diego unter die Obhut seiner in den Bergen der Sierra lebenden indianischen Kinderfrau Antonia gestellt wurde. Diego zufolge verabreichte sie ihm dort Kräutermedizin und praktizierte heilige Rituale, während er Ziegenmilch frisch aus dem Euter trank und mit allen möglichen Tieren wild in den Wäldern lebte.

Aber was immer auch die Wahrheit über seine Geburt und frühe Kindheit sein mag, die mexikanischen, spanischen, indianischen, afrikanischen, italienischen, jüdischen, russischen und portugiesischen Wurzeln Diegos statteten ihn mit einem klaren analytischen Intellekt aus. Sein Vater, Don Diego, brachte ihm das Lesen „…nach der Froebel-Methode bei“.[1]

Friedrich Froebel (1782 bis 1856) gilt als der „Vater des modernen Kindergartens“. Dieser deutsche Pädagoge schuf im Jahr 1839 überhaupt erst diesen Begriff. Froebel wandte sich gegen die Idee, Kinder als kleine Erwachsene zu behandeln und trat für ihr Recht ein, die Kindheit zu genießen, spielen zu können und sich mit Kunst, Musik und dem Schreiben zu beschäftigen. Die Erklärung der Moral einer Geschichte ermöglichte es Froebel zufolge den Kindern z.B. nicht, ihre eigenen Schlüsse aus dem Gelesenen zu ziehen. Es ist auffällig, dass spätere nicht gegenständlich und unabhängig denkende europäische Künstler wie Georges Braque (1882 bis 1963), Wassilij Kandinsky (1866 bis 1944), Paul Klee (1879 bis 1940) und Piet Mondrian (1872 bis 1944) häufig ebenfalls nach Froebels Konzepten arbeitende Kindergärten besucht hatten.[2]

Diego Rivera wurde in eine durch eine auf Abstammung und politische Verbindungen gegründete Klassengesellschaft hineingeboren. Die Epoche wurde nach der Regierung des autokratischen Präsidenten Don Porfirio Díaz (1830 bis 1915) Porfiriato genannt. Diegos Vater war ein gebildeter Mann, ein Lehrer und politischer Liberaler, der bei der herrschenden politischen Partei als Unruhestifter galt. Er war darüber hinaus ein criollo, ein mexikanischer Bürger von privilegierter, „reiner“ europäischer Abstammung. Sein Dienst in der mexikanischen Armee, die die französische Herrschaft unter Maximilian beendet hatte, verschaffte ihm ebenfalls eine quasi kugelsichere Position innerhalb von Díaz’ „loyaler“ Opposition.

Der allgemein verehrte Präsident Benito Juárez (1806 bis 1872) hatte Mexiko mit Díaz an seiner Seite von der französischen Herrschaft befreit. Nach Juárez’ Tod entriss Díaz dem unfähigen gewählten Führer Sebastián Lerdo (1823 bis 1889) im Jahr 1876 die Herrschaft. Juárez’ die Bauern begünstigende Landreformen wurden im Verlauf der Zeit einkassiert und Díaz ging ein Bündnis mit reichen ausländischen Investoren und konservativen, wohlhabenden mexikanischen Familien ein. Er modernisierte Mexiko mit Hilfe der Elektrizität, der Eisenbahn und durch Handelsabkommen und glich den mexikanischen Haushalt unter internationalem Beifall aus. Die obere Schicht der mexikanischen Gesellschaft nahm französische Sitten, die französische Küche, Unterhaltung und Sprache an. Die mexikanischen Landarbeiter am unteren Ende der Pyramide wurden sich selbst und ihrem kargen Dasein überlassen.

Um seine finanzielle Lage zu verbessern, investierte Diegos Vater in die Erzförderung aus den eigentlich längst erschöpften Silberminen in der Umgebung von Guanajuato. Diese einst blühende Industrie konnte aufgrund versiegender Vorkommen jedoch nicht wiederbelebt werden, und die Familie Rivera häufte nur Schulden an.

Diegos Mutter María verkaufte daraufhin das Mobiliar der Familie, die nun in eine ärmliche Wohnung in Mexiko-Stadt ziehen und von neuem beginnen musste. María war eine kleine und zerbrechliche Mestizin mit europäischem und indianischem Blut. Sie verfügte aber über eine gute Ausbildung, die es ihr ermöglichte, ihre medizinischen Studien zu betreiben und eine professionelle Hebamme zu werden.

Durch all diese Schwierigkeiten hindurch wurde der junge Diego jedoch verhätschelt. Er konnte schon mit vier Jahren lesen und hatte damit begonnen, Wände zu bemalen. Der Umzug nach Mexiko-Stadt eröffnete ihm eine völlig neue Welt. Die Stadt erhob sich auf einem Hochplateau oberhalb eines alten Seebettes am Fuße zweier schneebedeckter Vulkane, des Iztacchuatl und des Popocatépetl. Nach den staubigen Landstraßen und den Häusern von Guanajuato mit ihren flachen Dächern die gepflasterten Straßen der Hauptstadt mit ihrer eleganten französischen Architektur und der mit den schönsten Boulevards Europas konkurrierende Paseo de Reforma – Diego war überwältigt.

Diego hatte mittlerweile eine jüngere Schwester, María del Pilar, aber sein in Mexiko-Stadt geborener Bruder Alfonso war schon eine Woche nach der Geburt gestorben. Das Leben in den ärmeren Stadtvierteln war hart, und etwa die Hälfte der Neugeborenen starb innerhalb der ersten Woche nach der Geburt. Aufgrund der schlechten hygienischen Verhältnisse, des Fehlens fließenden Wassers und der Überbevölkerung waren Typhus, Pocken und Diphterie weit verbreitet.

Diego litt ebenfalls unter Typhus, Scharlach und Diphterie, aber seine hartnäckige Konstitution und Marías medizinische Ausbildung sorgten dafür, dass er überlebte.

6. Diego Rivera, Beginisches Kloster
in Brügge oder Sonnenuntergang in Brügge, 1909.

7. Camille Pissarro, Weidelandschaft, Pontoise, 1868.

8. Diego Rivera, Landschaft mit einem See, ca. 1900.

9. Gustave-Courbet, Das Mühlwehr, 1866.

 

 

Diegos Vater schluckte, um für seine Familie sorgen zu können, seine moralische Entrüstung über die Korruption der Regierung herunter und nahm einen Posten als Büroangestellter im Gesundheitsministerium an. Er hatte eine für jede sich den Anliegen der unteren Gesellschaftsschichten widmende revolutionäre Bewegung bittere Wahrheit erkannt: die Veröffentlichung von Artikeln, die den Armen helfen sollten, wurde durch den weit verbreiteten Analphabetismus behindert – sie konnten schlicht nicht lesen.

María fand auch immer mehr Arbeit als Hebamme, und sie konnten bald aus ihrem Armenviertel in eine bessere Unterkunft wechseln. Sie landeten schließlich in einer Wohnung im zweiten Stockwerk an der Calle de la Merced („Marktstraße“). Dieses Viertel gruppierte sich um zwei große Märkte. Ihre Farbenpracht, das vielfältige Warenangebot, der Trubel und die Menschenmenge aus Indios, Landarbeitern und Kunden aus allen Gesellschaftsschichten boten ein reiches Bild, das Diego bis ins hohe Alter begleitete. Für den Jungen bedeutete dieser gesellschaftliche Aufstieg, dass er nun ohne Unterbrechungen zur Schule gehen konnte. Er trat mit acht Jahren in das Colegio del Padre Antonio ein. „Diese kirchliche Schule war die Wahl meiner Mutter, die unter den Einfluss ihrer frommen Schwester und Tante geraten war.“[3] Er blieb drei Monate lang, versuchte es dann im Colegio Católico Carpentier – wo er heruntergestuft wurde, weil er nicht häufig genug badete – ein leider sein gesamtes Leben hindurch anhaltendes hygienisches Problem – und ging schließlich auf das Liceo Católico Hispano-Mexicano. „Hier bekam ich sowohl Essen als auch freien Unterricht, Bücher, verschiedene Werkzeuge und andere Dinge. Ich wurde in die dritte Klasse gesteckt, aber da ich durch meinen Vater gut vorbereitet worden war, wurde ich bald in die sechste Klasse versetzt.“[4]

10. Diego Rivera, Landschaft mit einer Mühle,
Landschaft von Damme, 1909. Öl auf Leinwand, 50 x 60,5 cm.

 

 

Die Schulform Lyceum war, wie von Präsident Díaz gewünscht, direkt französischen Modellen entlehnt. Nachdem er die Franzosen 1867 aus Frankreich vertrieben hatte, verbrachte Díaz die folgenden sechs Jahre seiner Regierung damit, die von Benito Juárez etablierte Demokratie aufzulösen und die französische und internationale Kultur wieder als Modell für Fortschritt und Zivilisation zu propagieren. Die Kehrseite dieser Politik bestand in der Verunglimpfung der einheimischen Gesellschaft, Kunst, Sprache und politischen Kultur. Er überließ die Armen ihrem Schicksal, während die Reichen hofiert wurden, weil sie über Geld verfügten und es schätzten, wenn sie es behalten konnten. Der Wille der herrschenden Klasse wurde den Armen mit Hilfe von nützlichen „wissenschaftlichen“ Prinzipien aufoktroyiert, die von einem los Científicos genannten Kreis aus Pseudo-Sozialwissenschaftlern entwickelt worden waren. Es handelte sich um lupenreinen Sozialdarwinismus.

In demselben Jahr, in dem Díaz und Juárez die Franzosen aus Mexiko vertrieben, erschien der erste Band von Karl Marx’ Das Kapital: Kritik der Politischen Ökonomie. Dieses Ergebnis eines lebenslangen wissenschaftlichen Studiums der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse ersetzte die üblichen, die grundlegenden Prinzipien des Sozialismus begründenden populistischen Aufrufe an die unterdrückten Arbeiter durch klare Schlussfolgerungen. Wenn es jemals eine autokratische Regierung gegeben hat, die für einen starken, von intellektuellen Säulen der sozialistischen Ideologie gestützten Untergrund reif war, so handelte es sich um Mexiko. Die kulturelle und ökonomische Philosophie der Regierung Díaz fokussierte sich auf das Konzept, zunächst Reichtum zu schaffen, bevor man sich den Interessen der Armen widmete, die zum Leidwesen der die Politik bestimmenden mexikanischen Cientificos im Vergleich zu ihrer Geburtenrate nicht rasch genug starben.

11. William Turner, Wolverhampton, Staffordshire, 1796.

 

 

Mitten hinein in diese die Landarbeiter und campesinos (Kleinbauern) unterdrückende Verschwörung zugunsten der die Taschen der Reichen füllenden internationalen Investoren im Gegenzug für Handelsprivilegien und mit der Bereitstellung sehr billiger Arbeitskräfte und der durch die Gleichgültigkeit der katholischen Kirche gestützten mexikanischen Regierung trat der junge Diego Rivera. Sein Vater nutzte unterdessen auf Kosten seiner persönlichen politischen Überzeugungen seine gute Bildung, um in der Verwaltung eine bessere Position als Gesundheitsinspektor zu bekommen. Das Wachstum der Stadtbevölkerung hatte es María del Pilar gleichzeitig ermöglicht, ihre Praxis als Hebamme auszuweiten und sogar eine gynäkologische Klinik zu eröffnen. Zum ersten Mal nach dem Debakel mit der Silbermine in Guanajuato hatten die Riveras wieder Alternativen.

Im Alter von zehn Jahren hatte Diego die Auswirkungen der mexikanischen Autokratie bereits am eigenen Leib erfahren, aber er sollte sich diesem Thema erst später zuwenden. Seinen Eltern war nun vor allem daran gelegen, das Beste aus seinem Zeichentalent zu machen. Sie suchten nach praktischen Anwendungen für seine Hobbys. Diego malte gerne Soldaten, weshalb sein Vater an eine Karriere beim Militär dachte, aber der Junge verbrachte auch viel Zeit am Bahnhof mit dem Malen von Zügen – wie wäre es also mit einem Job als Lokomotivführer? Diegos Mutter stellte sich aber dem Wunsch seines Vaters, dass Diego in das Colegio Militar eintreten möge, in den Weg und schickte ihn stattdessen in Abendkurse der Academia San Carlos.

12. Diego Rivera, Notre-Dame, Paris, 1909.

13. Diego Rivera, Landschaft bei Mittag, 1918.

 

 

Diese Kunstschule lag nur einen Häuserblock vom Zócalo entfernt, dem großen zentralen Platz von Mexiko-Stadt, und Diego ging auf seinem Weg zur Schule häufig über seine Oberfläche aus festgetretener Erde und Spuren von Eselskarren und wich daherrumpelnden Pferdewagen voller Waren aus. Das Klappern einer Druckerpresse in einer der unmittelbar angrenzenden Straßen muss eine weitere Ablenkung dargestellt haben. Die Druckerei in der Hausnummer 5 der Straße Santa Inés gehörte José Guadalupe Posada, einem Lithographen und Graveur, dessen narrative Drucke die Karikaturen und Fotografien seiner Zeit waren.

Posada erzählte mit Hilfe von schwarz-weißen Linienzeichnungen und ehrgeiziger Farbgebung alltägliche Geschichten, außergewöhnliche Ereignisse, bizarre, satirische und tragische Geschehnisse, die in den von ihren Lesern hoias volantes („fliegende Blätter“) genannten Zeitungen von Antonio Vanegas Arroyo abgedruckt wurden, dessen Laden neben der San Carlos-Kunstschule lag. Die Druckerpresse arbeitete den ganzen Tag und häufig auch die ganze Nacht hindurch, während sie die Folklore und das tägliche Leben in Mexiko-Stadt in einem lebhaften Stil wiedergab, dessen Einfluss Rivera, Orozco, Siqueiros und die anderen mexikanischen Wandmaler ausdrücklich anerkannten.

Diego mühte sich ein ganzes Jahr lang damit ab, morgens die normale Schule und abends die Kunstakademie zu besuchen, bis er im Alter von elf Jahren ein Stipendium erhielt, um sich voll und ganz der Kunstschule widmen zu können. Während San Carlos als die beste Mexikos galt, war ihr Curriculum tatsächlich von den staubigen europäischen künstlerischen Dogmen geprägt, die in den Machenschaften der der Regierung dienenden und in allen Lebensbereichen den Sieg des Stärkeren propagierenden Científicos begründet waren. Die Kunstschule verlangte, dass neben Kursen in Perspektive und Figurenzeichnung auch Physik, Mathematik, Chemie und Naturgeschichte gelernt wurden.

Die Professoren waren Spanier, die die Praktiken der französischen akademischen Maler lehrten und nichts von der Avantgarde des Impressionismus und Post-Impressionismus wissen wollten. Diego, der jüngste Schüler, erinnerte sich am besten an Professor Don Félix Parra, der eine ungewöhnliche Liebe für die präkolumbianische indianische Kunst empfand, dessen Werke selbst jedoch höchst konventionell waren, sowie an José M. Velasco, den berühmten Landschaftsmaler, der Perspektive lehrte. Santiago Rebull war der Schulleiter und unterrichtete Proportionen und Komposition. Rebull hatte selbst in Paris unter dem als einer der größten Künstler aller Zeiten geltenden Jean Auguste Dominique Ingres studiert. Er zeigte Ingres’ Zeichnungen seinen Studenten denn auch als Modelle der Perfektion. Das um dieses Vorbild angelegte Curriculum war eine einzige Schufterei, die aus zwei Jahren des Kopierens von Reproduktionen von Studien von Ingres bestand, die von zwei Jahren des Malens nach Gipsabgüssen gefolgt wurden, bevor es an das Malen lebender Modelle ging.

14. Paul Cézanne, Aquädukt, 1885-1887.

15. Diego Rivera, Ansicht von Arcueil.

16. Diego Rivera, Umgebung von Paris, 1918.

 

 

Rebull wählte Diego als besonders talentiert aus und gab ihm Unterricht im so genannten Goldenen Schnitt, einem in der griechischen Antike entwickelten mathematischen System der Komposition, das ein harmonisches Verhältnis zwischen zwei ungleichen Teilen etablieren sollte. Diese Prinzipien fanden großen Niederschlag in Luca Paciolis 1509 veröffentlichtem dreibändigem Werk Divina Proportione. In seinen Elementen hatte Euklid von Alexandria (ca. 300 v. Chr.) aus einer Unterteilung einer Strecke eine ideale, harmonische Proportion definiert. Die Definition lautet:

Eine Strecke ist im Verhältnis des Goldenen Schnitts geteilt, wenn sich die größere Strecke so zur kleineren Strecke verhält, wie sich die Gesamtstrecke zur größeren verhält.

In einem Diagramm teilt der Punkt C die Strecke A-B also derart, dass das Verhältnis von A-C zu C-B identisch ist mit dem Verhältnis von A-B zu A-C. Algebraische Grundkenntnisse zeigen, dass in diesem Beispiel das Verhältnis von A-C zu B-C die irrationale Zahl 1,618 aufweist (exakt die Hälfte der Summe aus 1 und der Wurzel aus 5).

Diese auf die Kunst angewandte mathematische Formel übte großen Reiz auf den Ingenieur in Diego Rivera aus, der große Freude an mechanischen Gegenständen wie Zügen und Maschinen hatte und häufig sein Spielzeug auseinander genommen hatte, um seine Funktionsweise zu untersuchen. Die Anwendung des Goldenen Schnitts leistete ihm später, als er seine großen Wandgemälde auf Wände von ganz unterschiedlichen Maßen aufbrachte, gute Dienste. Seine akademische Ausbildung umfasste ferner die Anwendung der Farboptik mit Hilfe von „hervortretenden“ (warmen) und „zurücktretenden“ (kalten) Farben und den Einsatz von Linien, um auf einer zweidimensionalen Oberfläche Tiefe zu erzeugen. Sie sollte Diego für seine späteren großformatigen Bildern wichtige Werkzeuge in die Hand geben.

Diego Rivera trat 1905 im Alter von 18 Jahren in seine letzten beiden Jahre in der Academia San Carlos ein. Er hatte sich seit seinen Anfängen als elfjähriger, folgsamer, schäbiger, dicker Junge mit kurzen Hosen und rosafarbenen Strümpfen, der damals, 1898, hin und wieder geschwänzt hatte, um in den übel riechenden Kanälen zu angeln, stark verändert. Während er früher in schlampiger Anonymität herumlief, kleidete er sich nun wie ein junger Gentleman in Jackett und Hemd mit Eckenkragen und Krawatte. Sein Haar war nicht länger ein Vogelnest, sondern mit Pomade zurückgekämmt. Auf seiner Oberlippe spross ein spärlicher Schnurrbart, um den jüngsten Studenten im Kurs erwachsener wirken zu lassen. Er hatte in einem Zeichenwettbewerb des Erziehungsministeriums eine Medaille und ein Stipendium von 20 Pesos pro Monat gewonnen und erreichte damit seine Unabhängigkeit.

Im Jahr 1906 hatte Rivera acht Jahre des Studiums in San Carlos hinter sich gebracht und mit Auszeichnung abgeschlossen. Er war in seiner letzten Ausstellung von Studenten der Kunstschule mit 26 Arbeiten vertreten gewesen. Seine Mühen hatten ihm bei den Regierungsvertretern, die er beeindrucken musste, um weiterhin Stipendien zu bekommen, einen ausgezeichneten Ruf eingebracht. Das Geld für Studien in Europa ließ jedoch sechs Monate auf sich warten, was es dem jungen Diego ermöglichte, inmitten seiner Schulfreunde das Leben eines unkonventionellen Künstlers zu führen.

17. Paul Cézanne, Château Noir, 1903-1904.

18. Diego Rivera, Umgebung von Paris, 1918.

 

 

Diese Gruppe aus Künstlern, Architekten und Intellektuellen – El Grupo Bohemio –, die sich für ihren Abschluss hatte anstrengen müssen, arbeitete nun hart an einem zügellosen Lebenswandel. Der Charakter dieser unkonventionellen Existenz kommt gut in Riveras fantasievoller Geschichte Ein Experiment im Kannibalismus in seinen Memoiren zum Ausdruck, in der er und seine Freunde ihr Geld zusammenwerfen, um Leichen aus dem Leichenschauhaus zu kaufen. Er hatte eine Geschichte über einen Wahnsinnigen gelesen, der Katzenfleisch an andere Katzen verfüttert hatte, die man wegen ihres Fells häuten wollte und deren Fell daraufhin sehr dicht und glänzend geworden war. Würde der Verzehr von menschlichem Fleisch die Gesundheit von Menschen verbessern? Diego behauptete, diese Diät zwei Wochen lang erprobt, sich aber nicht besser gefühlt zu haben. Besonders „… schmeckten ihm die panierten Rippchen junger Frauen“. Das angebliche Experiment endete weniger aus Ekel, sondern weil sie Angst vor sozialen Repressalien hatten.[5]

In dieser Zeit machte Rivera die Bekanntschaft des kuriosen Gerardo Murillo, eines Mitglieds des Lehrkörpers und anarchistischen politischen Agitators gegen Díaz. Murillo benutzte in Mexiko den Namen „Dr. Atl“. Atl ist in einem bestimmten indianischen Dialekt der Name der vierten Sonne – Nahui Atl – und bedeutet Sonne des Wassers, tatsächlich jedoch war Murillo ein criollo – wie der Rest der herrschenden Klasse.

Dr. Atl hatte schon Europa besucht und pries gegenüber El Grupo Bohemio in langen Diskussionen in ihren Lieblingskneipen bei vielen Gläsern pulque (ein indianischer Schnaps aus vergorenem Kakteensaft) und Bier die Vorzüge des Post-Impressionismus und solcher Rebellen wie Paul Gauguin und Paul Cézanne. Aber Atls Predigten erzeugten bestenfalls einen undurchdringlichen Nebel intellektueller Rhetorik und keine revolutionären Taten oder Aufmärsche in den Straßen.

Diego hatte wichtigere Pläne als den Sturz einer Regierung. Er wollte einen Wettbewerb gewinnen, dessen Hauptpreis in einem Stipendium in Höhe von 300 Pesos pro Monat bestand, um in Europa zu leben und zu malen. Sein Rivale war Roberto Montenegro, ein wohlerzogener, attraktiver Dandy mit guter Maltechnik. Er war elegant und raffiniert, wo Diego plump und voller Suppenflecken war. Diego war dagegen aufgrund seiner Lebenserfahrungen und seines Eklektizismus weltlicher als der urbane Gentleman in seinem Anzug nach französischem Schnitt. Als die Stimmen gezählt wurden, war Montenegro jedoch der Gewinner, der mit Hilfe des Stipendiums nach Paris ging, um Pablo Picassos Bekanntschaft zu machen, Absinth mit Juan Gris zu nippen und die Stadt des Lichts zu erkunden.

Diego akzeptierte die Entscheidung und wandte sich an seinen Vater, der sich zum Wohl seiner Familie mit dem verachteten Díaz-Regime arrangiert hatte. Nun konnte er seinem Sohn helfen, indem er an einigen Strippen zog. Der Gouverneur der Provinz Veracruz, Teodoro Dehesa, ein liberales Mitglied der Regierung Díaz, hatte schon vorher 30 Pesos pro Monat für Diegos künstlerische Ausbildung zur Verfügung gestellt. Nun war aus dem Jungen ein junger Mann geworden, dessen Gemälde und Zeichnungen einmal mehr seinem Wohltäter vorgeführt wurden. Diese Demonstration von Diegos Fähigkeiten und Potenzial machte ein Reisestipendium von 300 Pesos pro Monat locker.

Diego war konservativer als Roberto Montenegro und beschloss, sein europäisches Abenteuer in Spanien zu beginnen. Um nach Madrid zu gelangen, benötigte er jedoch Geld für die Überfahrt. Eine von Dr. Atls nützlicheren Funktionen bestand darin, den Studenten bei der Organisation von Ausstellungen ihrer eigenen Werke zu helfen, um ihre Stipendien aufzubessern. Er selbst erhielt eine Provision. Atl brachte nun einige von Riveras Ölgemälden und Skizzen in einer Ausstellung unter, und die Verkäufe ermöglichten Diego den Kauf einer einfachen Fahrkarte nach Spanien. Dr. Atl gab Diego ferner ein Empfehlungsschreiben an den spanischen Maler Eduardo Chicharro y Agüera mit, der über viele reiche und berühmte Kunden verfügte. Atl wurde zu einer schattenartigen Figur, die während der folgenden Jahrzehnte immer wieder in dem vulkanischen Durcheinander der mexikanischen Politik und Kunst auftauchte und auch in Diegos Leben immer wieder eine Rolle spielen sollte.

19. Diego Rivera, Die Alten, 1912.

20. Diego Rivera, Porträt eines Spaniers (Hermán Alsina), 1912.

 

 

Auf Entdeckungsreise nach Europa

 

Diego Rivera war zwanzig Jahre alt, als er am 6. Januar 1907 an Bord eines Dampfschiffes im spanischen Santander eintraf. Er muss enttäuscht gewesen sein. Die ihn von der Mole ansehenden Gesichter sahen genau so aus wie jene, die er weit weg in einem anderen Leben hinter sich gelassen hatte. Auch ihre Sprache war fast dieselbe – die Madrilenen lispelten lediglich den Buchstaben d und verwandelten ihn auf die elegante katalanische Weise in einen dem englischen th ähnelnden Laut. Im Zug aus Santander sollte er die die seltsamen griechisch-lateinischen Wendungen des Portugiesischen aufweisende galizische Sprache und das von den Touristen aus Barcelona gesprochene Katalanisch hören. Zwei Männer rauchten und tranken abwechselnd aus einer Korbflasche, während sie sich in der tiefen, kehligen Sprache der Basken unterhielten. Als Diego später seine Staffelei im Atelier von Chicharro y Agüera aufstellte, erhielt er den Spitznamen „der Mexikaner“.

Diego musste in Madrid nur seinen Mund aufmachen, und er war wieder der Junge vom Land. Er versteckte sich hinter einem ungepflegten Bart, aber er konnte seine sanften, froschähnlichen Augen und die abfallenden Schultern, die daran gewöhnt waren, sich klein zu machen, um in einer Menschenmenge nicht aufzufallen, nicht verbergen. Er konnte auch seinen etwa 1,80 m großen Körper nicht verstecken, auf dem sein großer Kopf saß, der nur unter einem großen Sombrero Platz fand, da ihm andere Hüte zu klein waren.

Prado