Der Bergpfarrer 388 – Am seidenen Faden …

Der Bergpfarrer –388–

Am seidenen Faden …

Sophie Tappert kommt aus dem Urlaub zurück!

Roman von Toni Waidacher

Der gute Hirte von St. Johann saß in der alten Jagdhütte am Tisch und lauschte auf die Geräusche, die von draußen hereindrangen. Sebastian hatte das Gefühl, dass an diesem Morgen etwas anders war, als an den Tagen zuvor. Zwar hatte es auch heute ein Frühstück gegeben, doch bisher waren die Reste und das Geschirr von seinen Entführern noch nicht abgeräumt worden, die Entführer schienen mit etwas anderem beschäftigt zu sein und keine Zeit zu haben, sich um ihn zu kümmern.

Draußen waren Stimmen laut geworden, hektische Schritte waren zu hören, dann der Motor eines Autos. Das Klappen der Autotür war deutlich zu vernehmen, als der Fahrer ausstieg. Schritte näherten sich der Hütte, und zwei Männer schienen davorzustehen und redeten miteinander.

Was genau gesprochen wurde, konnte der Bergpfarrer nicht verstehen aber er war sicher, dass die Hektik, die entstanden war, etwas mit ihm zu tun haben müsse. Nach einer kurzen Weile wurden die Stimmen leiser, und Schritte, die sich entfernten, zeigten an, dass die beiden Männer fort gingen.

Sebastian stand auf und trat an die Tür. Er versuchte, durch die Ritzen zu blinzeln und zu erkennen, was da draußen vor sich ging. Indes mehr als ein paar Schatten konnte er nicht sehen.

Der Geistliche ging an den Tisch zurück und wollte sich gerade setzen, als die Tür aufgestoßen wurde. Erstaunt blickte Sebastian auf den Mann, der die Hütte betrat, ein Gewehr in den Händen.

»George, sind Sie es wirklich?«, fragte er überrascht, als er den Amerikaner erkannte.

George Whitaker machte ein grimmiges Gesicht.

Sebastian Trenker, der eben noch geglaubt hatte, der Milliardär wäre gekommen, um ihn zu befreien, erkannte im selben Moment, dass er sich geirrt hatte.

»George«, sagte er, leicht verwirrt, »Sie …?«

Die Erkenntnis, dass der Mann, der sich mehrfach als großzügiger Mäzen gezeigt hatte, offenbar hinter der Entführung steckte und jetzt gekommen war, um ihn zu töten, traf den guten Hirten von St. Johann mit solch einer Wucht, dass er einen Moment schwankte.

»Warum?«

Der Amerikaner, der bisher geschwiegen hatte, sagte auch jetzt kein Wort, er hob das Gewehr und legte auf Sebastian an.

Wie in einem Zeitraffer lief sein ganzes Leben noch einmal vor ihm ab. Sebastian sah Stationen der Vergangenheit, Menschen, mit denen er zu tun gehabt hatte, Begebenheiten und Erlebnisse.

War es das, überlegte er, sollte sein Leben in dieser Berghütte enden?

Wenn es stimmte, dass ein Mensch angesichts des Todes noch einmal das alles sah, was er erlebt hatte, dann hatte wohl die letzte Stunde Pfarrer Trenkers geschlagen.

Eine unerträgliche Spannung lag in der Luft.

Whitaker hatte den Geistlichen anvisiert, das linke Auge geschlossen, den Zeigefinger der rechten Hand um den Abzugshebel gekrümmt, kaum mehr als zwei Schritte trennten die beiden Männer voneinander. Eine seltsame Ruhe überkam Sebastian, während er seinen Gegner, von dem er geglaubt hatte, er wäre ein Freund, anschaute.

Nein, sterben wollte er nicht!

Nicht in dieser armseligen Hütte und unter diesen Umständen. Und ganz gewiss hatte George Whitaker nicht das Recht, ihm das Leben zu nehmen.

Wann er sterben sollte, würde ganz allein der Herrgott entscheiden, und kein anderer!

Das alles ging dem Bergpfarrer in Bruchteilen von Sekunden durch den Kopf, während der Amerikaner durchzog und abdrückte.

Im selben Moment, als sich der Schuss löste, hatte sich Sebastian nach vorne geworfen und war gegen Whitaker geprallt. Der verriss die Waffe, sodass die Kugel ihr Ziel verfehlte und irgendwo in die Hüttenwand einschlug.

Die beiden Männer rangen miteinander. Sebastian Trenker war durchtrainiert und ganz gewiss kein Schwächling, doch auch der Amerikaner verfügte über erstaunliche Kräfte. Der Geistliche hatte den Lauf des Gewehrs gepackt und drückte ihn nach oben, während Whitaker versuchte, erneut auf ihn zu schießen.

Draußen wurden Stimmen laut, die durcheinanderschrien. »Halt, Polizei!«

»Hände hoch!«

Dann wurde geschossen. Überrascht hatte Whitaker den Kopf nach hinten gewandt, um zu sehen, was dort draußen vor sich ging. Sebastian nutzte die Chance seinen rechten Fuß hinter das linke Bein seines Gegners zu haken und ihn so zu Fall zu bringen. Sie stürzten beide, und Whitaker drehte das Gewehr im Fallen, sodass es auf ihn selbst gerichtet war. In derselben Sekunde musste der Amerikaner noch einmal abgedrückt haben, der Schuss war ohrenbetäubend.

Sebastian und sein Kontrahent lagen übereinander auf dem Boden, und der Bergpfarrer fühlte etwas Warmes, Klebriges an seiner Brust.

»Sebastian!«, hörte er seinen Bruder rufen.

*

Während Andreas Bogner sich im Hintergrund hielt, waren Max, ›Big Tom‹ und die beiden Polizeibeamten losgerannt, als der erste Schuss zu hören war.

Vor der Hütte sahen sie drei Männer stehen.

Max warf sich in die Deckung eines Felsvorsprungs und richtete seine Dienstwaffe auf sie.

»Halt, Polizei!«, rief er und gab einen Warnschuss ab.

»Hände hoch!«, befahl Wolfgang Lorenz.

Der Mann, der sich Oberhofer nannte, streckte als Erster die Hände in die Höhe. Die beiden anderen Männer folgten seinem Beispiel.

In der Hütte fiel erneut ein Schuss.

»Kümmert euch um sie«, rief der Polizeibeamte und rannte weiter zur Hütte, den Namen seines Bruders auf den Lippen. »Sebastian!«

Die Dienstpistole im Anschlag, sprang er durch die Tür und sah die beiden Männer auf dem Boden liegen.

»Sebastian?«, rief er noch einmal, angsterfüllt.

Max bückte sich und legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter, er schluckte schwer, und seine Augen wurden blind vor Tränen.

»Sebastian«, wiederholte er und keuchte erleichtert, als der Bergpfarrer ihn ansah und lächelte. »Du lebst? Gott sei Dank!«

Im nächsten Moment sah er den Blutfleck auf dessen Hemd.

»Bist du verletzt?«, rief er entsetzt.

Der gute Hirte von St. Johann schüttelte den Kopf.

»Das ist net mein Blut«, antwortete er und deutete auf den Amerikaner.

Er richtete sich auf, und Max erkannte, dass es George Whitaker war, der aus einer Wunde in der Brust blutete. Er atmete nur schwach und hatte bereits viel Blut verloren. Offenbar war ihm die Kugel, die Sebastian gegolten hatte, während des Gerangels in die Brust gedrungen.

»Ich bin in Ordnung«, setzte der Geistliche hinzu, »aber wir brauchen einen Arzt!«

Der Polizist hatte bereits sein Handy gezückt und wählte die Nummer der Bergrettung. Im Helikopter war auch immer ein Arzt an Bord, der den Verletzten versorgen würde.

Sebastian hatte derweil sein Hemd ausgezogen und zu einem Knäuel zusammengelegt, das er jetzt auf Whitakers Brust presste, um die Blutung zu stoppen.

Vor der Hütte waren die Komplizen von Oberhofer festgenommen worden, mit auf dem Rücken gefesselten Händen, standen sie da und schienen noch gar nicht realisiert zu haben, was mit ihnen geschehen war.

›Big Tom‹ und Andreas Bogner, der sich inzwischen dem Schauplatz genähert hatte, betraten die Jagdhütte.

»Lassen S’ mich das mal machen«, sagte der Münchner Privatdetektiv und hockte sich neben den Verwundeten.

Sebastian nickte ihm lächelnd zu und erhob sich.

Max hatte sein Mobiltelefon eingesteckt, und endlich fielen sich die Brüder in die Arme.

»Ich kann dir gar net sagen, wie froh ich bin!«, sagte der Polizist, mit erstickter Stimme. Dabei liefen ihm dicke Tränen über die Wangen, für die er sich nicht schämte.

»Und ich erst!«, erwiderte Sebastian und presste ihn an sich.

So standen sie eine Weile da, bis draußen der Helikopter der Bergrettung landete. Zwei Männer und der Notarzt sprangen heraus und liefen zur Jagdhütte.

»Da drinnen«, hatte Wolfgang Lorenz sie eingewiesen.

Thomas Bergmeister richtete sich auf, als der Arzt neben dem Verletzten kniete.

»Komm, ich muss hier raus«, sagte der Geistliche und zog seinen Bruder zur Tür.

Draußen blieb er stehen, breitete die Arme aus und atmete tief durch. Er reichte ›Big Tom‹, Andreas und den beiden Kollegen seines Bruders die Hand und bedankte sich für ihre Hilfe.

»Du glaubst net, wie sehr ich diesen Moment herbeigesehnt hab!«, sagte er an Max gewandt.

Dem gelang es endlich, nachdem die Anspannung von ihm abgefallen war, befreit zu lachen. »Ich auch, mein Lieber, ich auch!«

Franz Angerer, der andere Polizeibeamte, hatte inzwischen eine Decke aus dem Streifenwagen geholt, Max nahm sie ihm ab und legte sie seinem Bruder um die Schultern.

»Herr im Himmel«, rief er aus, »ich muss ja unbedingt Claudia anrufen!«

Er griff in seine Tasche, um das Handy hervorzuziehen, doch Sebastian streckte die Hand aus.

»Dass mich das machen«, bat er lächelnd.

Mit einem Schmunzeln und immer noch feuchten Augen reichte Max ihm das Mobiltelefon, und Sebastian wählte die Nummer des Pfarrhauses.

»Max? Ist alles in Ordnung?«, vernahm er im nächsten Moment die aufgeregte Stimme seiner Schwägerin.

»Hallo, Claudia«, sagte er, »ja, es ist alles in Ordnung.«

»Sebastian!«

Es war ein erleichterter Aufschrei, den die Journalisten ausstieß, dann hörte der Geistliche nur noch ein Schluchzen.

»Es …, es tut mir leid«, stammelte Claudia, »aber ich kann net anders, ich muss weinen.«

»Beruhig dich«, sagte er, »wir sind bald wieder daheim.«

Der Notarzt und die beiden Männer der Bergrettung hatten George Whitaker unterdessen auf eine Trage gelegt und brachten ihn zum Helikopter.

»Wir fliegen ihn in die Bergklinik«, erklärte der Arzt und schaute den Bergpfarrer prüfend an. »Was ist mit Ihnen?«

Während der Amerikaner notärztlich versorgt worden war, hatten die beiden Detektive den drei Männern erklärt, was überhaupt vorgefallen war. Dr. Willinger hielt es daher für seine Pflicht, sich nach dem Gesundheitszustand des Geistlichen zu erkundigen.

»Mir geht es gut«, antwortete Sebastian und deutete zum Helikopter. »Aber wie geht es ihm? Wird er durchkommen?«

Der Notarzt machte ein skeptisches Gesicht.

»Das ist schwer zu sagen«, erwiderte er. »Der Zustand des Patienten ist durchaus kritisch, er hat sehr viel Blut verloren.«

Sebastian nickte verstehend.

»Dann verlieren Sie keine Zeit«, sagte er und zog die Decke enger um sich.

*

Während der Helikopter startete, fuhr ein Kleinbus der Polizei den Weg herauf. Franz Angerer hatte im Präsidium der Kreisstadt angerufen und um Unterstützung gebeten. Die beiden Beamten, die ausgestiegen waren, verfrachteten Oberhofer und seine beiden Helfer in den Kleinbus. Max ging zu seinen Kollegen und erklärte noch einmal die Situation.

»Die Kollegen von der Spurensicherung sind ebenfalls auf dem Weg hierher«, bemerkte Tobias Holtmeyer.

»Sie werden sicher jeden Moment eintreffen«, nickte der Bruder des Bergpfarrers, »wir warten, bis sie hier sind, und ich weise sie ein.«

Nur wenige Minuten, nachdem der Kleinbus mit den Festgenommenen abgefahren war, waren auch die Kollegen der KTU zur Stelle. Max unterrichtete sie, über das, was vorgefallen war, und die Experten machen sich an die Arbeit, die Spuren zu sichern.

»So, jetzt aber endlich heim!«, sagte Sebastian und stieg in das Auto seines Bruders.

Wie er diese Fahrt ins Tal genoss!

Auch wenn der gute Hirte von St. Johann ein passionierter Fußgänger und Wanderer war, so nahm er die Fahrt mit dem Auto doch als etwas ganz Wunderbares wahr.

Er war frei! Endlich frei!

Noch vor kaum einer halben Stunde hatte sein Leben am seidenen Faden gehangen, und er registrierte dankbar, dass es ihm noch einmal geschenkt worden war.

Glücklicherweise war auf der Straße niemand zu sehen, als Max unten am Kiesweg hielt. Es fehlte gerade noch, dass jemand Pfarrer Trenker mit der umgelegten Decke gesehen hätte. Die Gerüchteküche würde ohnehin noch hochbrodeln, wenn erst bekannt wurde, was sich in der alten Jagdhütte am Teglerjoch ereignet hatte.

Rasch eilten sie zum Pfarrhaus hinauf.

Claudia stand in der offenen Tür und erwartete sie, vermutlich hatte sie schon die ganze Zeit aus dem Fenster geschaut. Die Journalistin umarmte ihren Schwager, mit Tränen der Freude und Erleichterung in den Augen, und Sebastian betrat glücklich sein Heim.

In der Zeit seiner Entführung, hatte der Geistliche nie daran angezweifelt, dass er eines Tages hierher zurückkehren würde. Heute Vormittag allerdings, als er dem Tod ins Auge geblickt hatte, war diese Zuversicht doch ins Wanken geraten.

Claudia hatte Kaffee gekocht und eine Suppe aus dem Vorrat in der Gefriertruhe heiß gemacht. Allerdings hatte Sebastian zuerst ein anderes Bedürfnis, als zu essen oder zu trinken.

»Die Hygiene ist in den letzten zwei Tagen ein bissel zu kurz gekommen«, lächelte er, holte sich saubere Sachen aus dem Schlafzimmer und ging ins Bad.

Die anderen setzten sich.

»Danke, für eure Hilfe«, sagte Max zu den beiden Detektiven, die in den vergangenen Tagen zu echten Freunden geworden waren.

Tom und Andreas schüttelten die Köpfe.

»Dafür musst’ dich net bedanken«, erwiderte der Münchner. »Das war doch selbstverständlich.«