Jörg Maurer
Unterholz
Alpenkrimi
FISCHER E-Books
Jörg Maurer stammt aus Garmisch-Partenkirchen. Er studierte Germanistik, Anglistik, Theaterwissenschaften und Philosophie und ist nun nicht nur Krimiautor, sondern auch Musikkabarettist. Eine feste Größe in der süddeutschen Kabarettszene, leitete er jahrelang ein Theater in München und wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kabarettpreis der Stadt München (2005), dem Agatha-Christie-Krimi-Preis (2006 und 2007), dem Ernst-Hoferichter-Preis (2012) und dem Publikumskrimipreis MIMI (2012). Sein Krimi-Kabarettprogramm ist Kult.
Weitere Bücher von Jörg Maurer:
›Föhnlage‹
›Hochsaison‹
›Niedertracht‹
›Oberwasser‹
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© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Covergestaltung: bürosüd°, München
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ISBN 978-3-10-402074-7
Als Unterholz bezeichnet man in der Forstwirtschaft den Bewuchs unterhalb der Baumkronen, der aus Sträuchern oder kleinen Bäumen besteht.
Der dünne Stahldraht um seinen Hals zog sich ruckartig zusammen. Jennerwein schrie auf vor Schmerzen. Er hatte versucht, den Kopf zu heben, dabei war der empfindliche Ruhezustand der straff gespannten Drähte, mit denen er fixiert war, aus dem Gleichgewicht geraten. Der Druck auf seine Kehle nahm zu. Jennerwein würgte und hustete. Nur mit großer Mühe konnte er Luft holen, denn jede noch so kleine Bewegung steigerte seine Schmerzen ins Unerträgliche. Er lag auf dem Bauch. Direkt vor seinen Augen konnte er moosigen Waldboden erkennen, der mit Wurzelwerk durchsetzt war. Der Boden war leicht abschüssig. Die Erde roch scharf und unverschämt wohltuend nach Bergwald und Pilzen. Die Erinnerung kam langsam zurück. Er war angegriffen worden. Für einen Sekundenbruchteil war er nicht bei der Sache gewesen. Und alles um ihn herum war schwarz geworden.
Kommissar Jennerwein konzentrierte sich. Er versuchte sich ein Bild von seiner momentanen Lage zu machen. Eine Drahtschlinge riss an seinem Hals, eine weitere Schlinge schnitt in seine Handgelenke, die hinter dem Rücken gefesselt waren. Zwei weitere solche Befestigungen spürte er an den Fußgelenken. Seine Beine und sein Kopf wurden nach oben gezogen, vermutlich lag er unter einem Baum, und alle vier Drähte waren hoch über seinem Rücken an einem Ast zusammengebunden. Wenn er ein Körperteil bewegte, um sich etwas Linderung zu verschaffen, spürte er die Einschnitte an den anderen Stellen umso schmerzhafter. Vermutlich liefen die Drähte dort oben durch eine Rolle, die leise knarzend im Wind schaukelte. Es klang so, und es fühlte sich so an. Wie war er bloß in diese Situation geraten? Schon wieder hatte er eine unbedachte Bewegung gemacht. Die Schmerzen fraßen sich fest wie wütende Hunde. Er begriff langsam, dass ein Entkommen unmöglich war. Diese Konstruktion war unter dem Namen Die Schweinefessel bekannt. Mitglieder der Fremdenlegion verwendeten sie, um Gefangene ruhigzustellen oder zu foltern.
Jennerwein versuchte, wenigstens den Kopf etwas zur Seite zu drehen, um sich zu orientieren, doch auch bei dieser winzigen Drehung fuhr ihm ein solch scharfer Schmerz durch den Körper, dass er es aufgab. Regungslos hing er im Netz. Auf die berüchtigte Schweinefessel deutete auch der Klavierdraht hin, der ihn gefangen hielt. Ein Stückchen davon hing in sein Gesichtsfeld, vielleicht war das Absicht, wie um ihm zu zeigen, dass er es nicht mit Dilettanten zu tun hatte. Kupferumwickelte Klaviersaiten waren rutsch- und reißfest. Sie hatten an beiden Enden vorgefertigte kleine Schlaufen, mit denen man die Drähte gut und schnell verbinden konnte, ohne komplizierte Knoten knüpfen zu müssen. Eine solche Klaviersaite war zudem leicht zu beschaffen, auf jedem Schrottplatz stand ein alter Klimperkasten, den man ausweiden konnte. Am geeignetsten waren die mittleren Klaviersaiten aus Gussstahldraht, sie waren hauchdünn, trotzdem stabil. Wo oben auf den Elfenbeintasten die Läufe und Arpeggios von Mozart und Beethoven endeten, begannen unter dem Holz die besten Saitenstärken für eine Fesselung. Der Hustenreiz wurde langsam unerträglich. Jennerwein versuchte zu husten, ohne sich zu bewegen. Es war nicht möglich. Wer hatte ihn in diese Lage gebracht? Und wo waren die anderen Mitglieder seines Polizeiteams?
Seine Gedanken gingen ein paar Tage zurück. Wie hatte er sich gefreut, seine Kollegen nach einem halben Jahr Pause wiederzusehen! Er hatte in dieser Zeit nur unspektakuläre Schreibtischfälle zu bearbeiten gehabt. Dann aber hatte er einen überraschenden Anruf aus dem idyllisch gelegenen alpenländischen Kurort erhalten. Polizeiobermeister Ostler war dran.
»Entschuldigen Sie die frühe Störung, Chef.«
»Guten Morgen. Was gibts?«
»Eine weibliche Leiche. Todesursache ungeklärt. Nicht natürlich. Ich hole Sie mit dem Jeep ab.«
»Kann ich nicht selbst –«
»Der Tatort ist unzugänglich gelegen, auf sechzehnhundert Meter Höhe.«
Jennerwein hatte gewusst, dass er sie alle bald wieder um sich haben würde, die beiden ortskundigen Polizeiobermeister Johann Ostler und Franz Hölleisen, den knorzigen Allgäuer Ludwig Stengele, die kriminalistisch hochbegabte Nicole Schwattke und vor allem – die Psychologin Maria Schmalfuß. Was für ein angenehm warmes Gefühl war in ihm aufgestiegen, als er gehört hatte, dass sie auch mit dabei war!
Jetzt lag er bewegungsunfähig auf dem Bauch. Sechzehnhundert Meter Höhe? Er überlegte. Natürlich! Er befand sich irgendwo in der Nähe dieser verdammten Wolzmüller-Alm, hoch am Berg, über dem Talkessel. Er drehte die Augen nach rechts, ohne den Kopf zu bewegen. Er blinzelte ungläubig. Einen halben Meter vor ihm bewegte sich etwas. Ein dunkler Schatten, der sich auf der Erde vorwärtsschob. Was war das? Eine Maus? Ein Ast im Wind? Ein Schuh? Schließlich sah er die klumpige Masse aus den Augenwinkeln. Es war eine Ansammlung von zwei, drei Dutzend Käfern. Sie bildeten eine breite Front, und von hinten drängten weitere heran. Beim näheren Hinsehen konnte Jennerwein die schwarze Panzerung und das dunkelrote Halsschild erkennen. Ein paar Zentimeter vor seinem Gesicht hielt die seltsame Prozession an. Die Insekten bewegten sich nicht weiter. Ihre kolbenartigen Fühler drehten sich ruckartig in alle Richtungen, ihre sechs plumpen Beinchen zitterten, und die schwarzen klebrigen Deckflügel wölbten sich über der starren Brustpanzerung. Jennerwein konnte sogar die feinen goldenen Haare erkennen, die den roten Halsschild der Käfer bedeckten. Entsetzen packte ihn. Es waren Aaskäfer. Und sie schienen auf etwas zu warten.
Als Unterholz wird beim Klavierbau der Teil des hölzernen Stimmstocks bezeichnet, in den die Wirbel eingeschlagen werden, die die Klaviersaiten halten. Jazzpianisten bevorzugen weiches Unterholz aus Pappel und Linde, klassische Pianisten hartes aus Buche und Eiche. Elton John verwendet Kirsch- oder Walnussholz.
Um die Wolzmüller-Alm rankten sich viele Spekulationen und Gerüchte. Sie war nicht leicht zugänglich, lag vom Kurort drei bis vier Fußstunden entfernt, und besonders das letzte Stück des Weges war ein mühevoller Schlauch, der sich den Berg hinaufwand. Das alles verstärkte das Geheimnis um die Alm nur. Zum Mythos wird immer nur das nicht ganz Zugängliche. Nur das Verschattete und Halbseidene, das Verfluchte und Abschüssige ist auf Dauer von Interesse. Und gerade diese Wolzmüller-Alm hatte in der Tat eine wechselvolle Geschichte. In den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts lief sie noch einigermaßen gut. Regelmäßig rückten Tiroler Landarbeiter an, die das Gras in mühevoller Handarbeit mit der Sense mähten, die Butter stampften, die Bäume für die Holzwirtschaft fällten und die gereiften Käselaibe mit Kraxen ins Tal hinuntertrugen. Auch eine Leitung hatten sie gebaut, mit der die frisch gemolkene Ziegenmilch sprudelnd in den Kurort rauschte. Damals, vor dreißig Jahren, gab es noch einen leibhaftigen Almbauern, den Wolzmüller Andreas. Natürlich kamen auch Kurgäste. Die schwer zugängliche Alm war ein Geheimtipp.
»Ja, was treibst denn dann du den ganzen Tag?«, fragte der Wolzmüller Andreas einen dieser Kurgäste, nachdem der sich in seinem kleinen Gästezimmer häuslich eingerichtet hatte.
»Das siehst du doch. Ich bin Maler.«
»Gibts das heute auch noch? Es kommt doch alles im Fernsehen.«
»Es werden schon noch richtige Bilder gemalt.«
»Richtige Bilder? Das habe ich nicht gewusst.«
Der Wolzmüller-Bauer war ein grobschlächtiges Mannsbild, ein herumfliegender Dreschflegel hatte ihm ein Auge herausgehauen, fast zwei Meter groß war er, und einen Sohn hatte er, der nichts taugte. So viel wusste der Maler, der sich mit Frank Möbius vorgestellt hatte.
»Wie viel Bilder malt man dann so?«, fasste der alte Wolzmüller nach.
»Eines in der Woche schon.«
»Und da verdienst du so viel, dass du dir bei mir heroben auf der Alm eine Stube leisten kannst?«
Vorsicht!, dachte Möbius, nicht sagen, dass es sehr billig ist hier auf der Alm. Und dass er sein Zimmer in der Stadt gut vermietet hatte. An einen Malerkollegen, der ebenfalls eine Schulbibel illustrierte, eine evangelische allerdings. Er erhöht womöglich den Preis. Laut sagte Möbius:
»Ja, mal sehen, wie lange ich mir das leisten kann.«
»Weißt du was, Maler: Du kriegst das Zimmer umsonst, wenn du meinem Buben das Handwerk lernst.«
»Welches Handwerk?«
»Deines. Er will nix arbeiten. In der Landwirtschaft ist er unbrauchbar. Zwei linke Hände hat er. Mit lauter Daumen dran. Ich habe ihn hinunter ins Dorf geschickt, aber dort will er auch nichts lernen. Da ist doch die Malerei grade recht.«
Wie erklärt man das jetzt einem hinterwäldlerischen Almbauern, dachte Möbius, ohne ihn zu beleidigen?
»Das geht nicht so leicht«, begann er vorsichtig.
»Aha, so ist das! Fürchtest du die Konkurrenz?«
»Ist er überhaupt interessiert, dein Michl?«
»Interessiert? Am Nichtstun ist der schon interessiert. Der Handel ist der: Du lernst ihm jeden Tag was, dann hast du freie Kost und Logis.«
Der Wolzmüller hielt seine Riesenpratzen hin. Frank Möbius war eigentlich Buchillustrator. Er hatte einen Auftrag an Land gezogen, der war in drei Wochen abzuliefern. Er sollte eine katholische Schulbibel bebildern, möglichst plastisch, möglichst eingängig, mit einem kleinen Schuss Humor, wie der Verleger gesagt hatte. Bisher hatte er erst eine einzige Illustration fertiggestellt: Adam wartete draußen vor dem Garten Eden, Eva packte drinnen noch ihre Sachen zusammen. Der Abgabetermin drohte. In drei Wochen musste er die dreißig Zeichnungen fertig haben, das ganze Alte Testament rauf und runter.
Der Sohn des Almbauern, der Wolzmüller Michl, war ein maulfauler Geselle, der mit seinen zwanzig Jahren keinen Bock zu gar nichts hatte. Seine Augen glotzten blöde und trübe, als er Möbius vorgestellt wurde. Widerwillig gab er ihm die Hand.
»Wann hast du denn Zeit?«, fragte Möbius.
Keine Antwort. Schulterzucken.
»Hast du schon einmal etwas gemalt?«
Wieder keine Antwort. Ein schwieriges Stück Fleisch, dieser Wolzmüller Michl, dachte Möbius.
»Schaust du gern Bilder an?«
Dann, nach furchtbar langer Zeit:
»Wenn es gute sind, schon.«
»Willst du einmal ein Bild von mir sehen?«
Schulterzucken. Möbius zeigte ihm seinen Entwurf zum Buch Jona eins bis vier.
»Was soll das sein?«, murmelte der Michl.
»Jonas und der Wal.«
»Ich sehe nichts.«
Möbius deutete mit dem Bleistift auf die Figuren.
»Das ist Jonas, und das ist der Wal.«
Michl Wolzmüller schüttelte den Kopf.
»So schaut keiner aus, der gerade ins Meer geworfen worden ist und der Angst hat. So schaut auch kein Wal aus.«
»Ich habe es natürlich etwas überspitzt –«
Und dann nahm der Michl ein Stück Papier und einen stumpfen dicken Zimmermannsbleistift und malte auf dem unebenen Holztisch, der in der Almhüttenstube stand, seine Interpretation des Buches Jona eins bis vier. Er kritzelte ein paar Striche und Kurven. Und es war Jonas. Und es war der Wal. Und es waren auf einem fernen Schiff im Hintergrund die Männer, die Jonas ins Meer geworfen hatten. Und es war die Angst von Jonas vor dem Wal, und der skeptische Blick des Wals angesichts dieses unverdaulichen Brockens.
»Ninive könnte man auch noch hinzeichnen«, nuschelte der Wolzmüller Michl. »Im Hintergrund.«
Möbius wusste, dass er diesem Schüler nichts beibringen konnte. Der beherrschte es bereits. Ganz intuitiv. Der war nicht dumm, der war bloß faul. Und in Möbius’ Kopf reifte ein Plan.
Schon nach zwei Wochen schickte er dreißig Zeichnungen in die Stadt. Eine besser als die andere: Erschaffung der Tiere, Sintflut, Heuschreckenplage, das übliche fundamentalistische AT-Programm. Der Bibelverlag war begeistert.
»Und, wie läuft es mit dem Michl?«, fragte der alte Wolzmüller.
»Das ist ein harter Brocken«, sagte Frank Möbius. »Er hat ein kleines bisschen Talent, einen Hauch davon, aber man müsste viel arbeiten mit ihm. Es fehlt an der Technik und überhaupt an allen Ecken und Enden. Er müsste schon noch sehr viel lernen.«
Wenn er es geschickt anstellte, hatte er in nächster Zeit eine todsichere Einkunftsquelle.
Und mit diesem ungleichen Trio begann damals, vor dreißig Jahren, der Aufstieg, aber auch der Niedergang der Wolzmüller-Alm.
Die alten Griechen bezeichneten die Gedärme als pankreas (wörtlich: »alles Untere«), also das Unterholz des Leibes. Der heilige Pankratius ist folgerichtig Schutzheiliger der Bauchspeicheldrüse. Man ruft ihn bei allen pankreatischen Beschwerden an, bei Bauchgrimmen, Seitenstechen, Gallenkoliken, Nierenentzündungen, Leibdrücken und ähnlichen unbehaglichen Zuständen.
Jetzt aber schmorte das Loisachtal unter der stechenden Sommersonne. In den Vorgärten stiegen Hunderte von kleinen Grillfeuerrauchwölkchen auf. Die beiden Wanderer waren nach viereinhalb Stunden auf dem Gipfel der Kramerspitze angekommen, und von Ferne sah der Kurort aus wie ein rauchender Trümmerhaufen. Sie stießen kleine Schreie des Entzückens aus und warfen ihre Rucksäcke auf den Boden. Der Kramer, ein knapper Zweitausender, ein freistehender Klotz von einem Berg, war technisch nicht allzu schwer zu erklimmen, aber durchaus schweißtreibend. Sie ließen sich, etwas abseits vom Gipfelkreuz, an einer windgeschützten Stelle nieder, die durch einige Moose und farnige Bodendecker ein gewisses Mehr an Bequemlichkeit bot.
»Acrodermatitis, sagst du?«
»Ja, sogar chronica.«
»Atrophicans?«
»Herxheimer. Ohne jede Therapiemöglichkeit.«
»Das hast du ihm so ins Gesicht gesagt?«
»Schwere Lyme-Arthritis mit Neuroborreliose, das war meine Diagnose.«
»Und das alles durch einen Zeckenbiss! Zieh deine Wadlstrümpfe hoch. Hier am Kramergebirge soll es wimmeln von den Viechern. Und wie hat dein Patient darauf reagiert?«
»Ziemlich gefasst. Als ich ihm allerdings die durchschnittliche Lebenserwartung in solchen Fällen geschildert habe –«
Unten im Tal schwoll das Zwölfuhrläuten der St.-Martins-Kirche an, das war der perfekte Zeitpunkt zum Obenankommen und Herrjessas-wie-schön-Rufen. Die beiden Bergsteiger unterbrachen ihren medizinischen Diskurs. Obwohl sie schon ein paarmal auf der Ausblicksbank unter dem prächtigen Gipfelkreuz gesessen hatten, starrten sie abermals gebannt auf das pompöse Panorama. Gegenüber, auf der anderen Seite des Talkessels, lag das Karwendelgebirge, und aus der Wettersteinwand richteten sich die drei würdigen kulissenartigen Wahrzeichen auf: die Alpspitze, die Waxensteine, das Zugspitzmassiv. Unten im Kessel glitzerte und brodelte der Kurort, und ganz hinten, wie ein schräg in den Sand gesteckter Schuhlöffel, protzte die sündhaft teure Skischanze. Die beiden Mediziner legten sich auf den Rücken und blickten entspannt ins föhnige Azur, umschmeichelt von Gustl, Hias, Blasi und Naaz – so nannte der Volksmund die vier rastlosen Lokalwinde. Einer Sage nach waren dies einst Loisachtaler Holzknechte gewesen, die sich bei einem Maitanz zu gotteslästerlichen Flüchen verstiegen hatten. Es ging damals um die schöne, reiche, kluge und kugelrunde Theresia (de kuglerte Resl), die den hässlichen, armen, dummen und ausgemergelten Burschen einen Stampfwalzer verwehrt hatte. Die Burschen gaben nun so gotteslästerliche Verwünschungen von sich, dass sie diese bis in alle Ewigkeit zu büßen hatten. Man kann sich allerdings Schlimmeres vorstellen, als in einen Lokalwind mit überschaubarem Einsatzgebiet reinkarniert zu werden.
»Normalerweise führt eine Borreliose doch nicht zum Tod, oder?«
»In diesem Fall aber ist sie zu spät entdeckt worden. Die Borrelien haben sich in der äußeren Hirnrinde eingenistet.«
»Hast du ihm gesagt, was das bedeutet?«
»Natürlich. Die seltene Art der borrelia metschnikowi führt dazu, dass das Gehirn innerhalb weniger Monate nur noch ein nutzloser Zellhaufen ist. Und dass er damit noch Jahrzehnte leben kann. Das weiß er jetzt.«
Das Bergsteigerpärchen, ein stämmiger Mann und eine drahtige Frau, deren Wadeln die knallroten Bergsteigerstrümpfe fast sprengten, waren keine Einheimischen, sondern Zugereiste. Der Mann konnte auch nach zwanzig Jahren das Sächseln nicht ganz unterdrücken, die Frau hatte einen leicht küstennahen Akzent behalten, damit pries sie jetzt die klare Luft, die Ruhe, den sensationell weit reichenden Blick Richtung Norden.
»Wenn die Erdkrümmung nicht wäre, dann könnte man von hier aus sogar den Hamburger Fischmarkt erkennen.«
Er hingegen blickte in die entgegengesetzte Richtung. Er bewunderte die rostroten Wolken im Süden, die dicken marokkanischen Saharastaub-Ansammlungen, die sich schlierig und mit mediterraner Grandezza übereinanderschoben.
»Manche Frühlingsschwalben sollen diese Scirocco-Wolken als Gefährt benutzen, um sich so ein paar tausend Kilometer Flug zu ersparen.«
Die beiden öffneten die Rucksäcke, redeten noch eine Weile über frische Nordseekrabben, flügellahme Schwalben und die Spätfolgen von unbehandelter Borreliose.
»Was ist denn das?«
»Ein echtes Fernglas aus den Beständen der DDR.«
»Eigentum der Nationalen Volksarmee?«
»Ja, das berühmte Einheitsdoppelfernrohr EDF 7 × 40 mit radioaktiver Strichplattenbeleuchtung, hergestellt von Carl Zeiss Jena.«
»Darf ich mal? – Toller Blick. Wo hast du das her?«
»Vom Flohmarkt.«
Von wegen Flohmarkt! Sammler zahlen ein paar Tausender für das historische Siebenmalvierziger. Leichte Gebrauchsspuren machen es noch wertvoller. Da muss man schon einen DDR-Grenzer in der Familie gehabt haben.
»Das musst du dir einmal anschauen«, sagte der, dessen Wurzeln an den Ufern der Saale lagen. »Da, nimm das Glas. Zwischen der Ziegspitz-Scharte und der oberen Stepberg-Wiese.«
»Ah, jetzt sehe ich sie auch: Eine Alm! Da arbeitet einer mit einer richtigen Sense. Aber so hoch droben?«
»Wenn ich mich nicht täusche, ist das die Wolzmüller-Alm. Liegt auf sechzehnhundert Meter Höhe.«
»Dass man auf solch einer steilen Wiese überhaupt noch mähen kann, unglaublich!«
Erneuter Wechsel des Einheitsdoppelfernrohrs, dazwischen Einheitsdoppelfernrohrlinsenputzen.
»Almwirtschaft, klingt romantisch.«
»Klingt so, ist es aber nicht. Ist eher anstrengend.«
»Das glaube ich auch. Aber: Wolzmüller-Alm? Den Namen habe ich schon öfter gehört.«
»Das wundert mich nicht, um die Alm gibt es jede Menge Gerüchte. Der alte Wolzmüller soll in den Achtzigern plötzlich stinkreich geworden sein, kein Mensch hat gewusst, wo er das viele Geld auf einmal herhatte. Später hat er die Alm allerdings verkommen lassen. Es sollen wilde Partys stattgefunden haben, bei einer davon soll er angeblich umgekommen sein.«
»Unsaubere Geschäfte?«
»Wahrscheinlich. Der neue Pächter, ein gewisser Ganshagel, bemüht sich sehr. Er bewirtschaftet sie aber nicht mehr klassisch. Da finden jetzt Manager-Seminare und so Schmarrn statt. Es liegt irgendwie ein Schatten auf der Alm.«
»Vielleicht ist der Sensenmann da drüben dieser Ganshagel.«
»Möglich. Der arme Mensch muss alles alleine machen.«
Alle Wolkentypen dieser Welt durchquerten gerade den Himmel, der dunstige Zirkus dort oben hätte mehr als einen Blick verdient. Ein Steinadlerpärchen kreiste, ein Murmeltier pfiff, die Berggeister schnatterten in den würzig duftenden Latschen. Nach einem Stündchen Geplauder trugen sich die beiden Mediziner mit knappen Worten ins Gipfelbuch ein: Schön hier oben! Sie blätterten die Seiten zurück. Andere hatten sich mehr Mühe gegeben. Feindselig, wildzerrissen steigt die Felswand. Das Auge schrickt zurück, bang sucht es, wo es hafte. Meyer. Dann packten die beiden Mediziner ihre Rucksäcke wieder zusammen und machten sich an den Abstieg.
»Was wurde eigentlich aus dieser Theresia? Wurde die auch in irgendetwas reinkarniert?«
»Natürlich, schau mal da rüber, zwischen dem Kreuzeck und dem Schwarzenkopf, der kleine, kompakte Berg, das ist die Kuglerte Resl.«
»Sie ist zu Stein geworden?«
»Ja, so sagt man. Auch Stolz wird bestraft.«
»Weißt du was: Da könnten wir doch nächste Woche raufgehen!«
»Gute Idee. Von der Kuglerten Resl müsste man eine bessere Sicht auf die Wolzmüller-Alm haben als hier von der Kramerspitze.«
»Vielleicht sehen wir mal richtige Almarbeit. Mit Buttern, Käsen und Kühe melken.«
»Ja, klar, mit Heidi, dem Geißenpeter und dem Alpöhi, oder?«
Lachend machten sie sich an den Abstieg. Sie sollten auch in der kommenden Woche keine richtige Almarbeit sehen. Vom Geißenpeter ganz zu schweigen.
Im Finnischen gibt es den Begriff kesken puu, das ist der Platz unter dem tiefsten Holzbrett in der Sauna, also ganz tief unten, nicht mehr unterbietbar, unter aller Kanone, das absolute No-Go, der letzte Wagen der Geisterbahn.
Wie sieht jemand aus, der einen Auftragskiller sucht? Hat er dicht beieinanderliegende Augen? Ist sein Blick gehetzt, verschlagen, lauernd? Schleicht er in den Industrievierteln der Vorstädte herum und umklammert mit schweißnassen Händen das Blutgeld, das aus einem prallen Bündel schmutziger Scheine besteht? Geht sein Atem unruhig und rasselnd, zieht er die Mundwinkel menschenverachtend nach unten? Entstellt, verwahrlost, so lahm und ungeziemend, dass Hunde bellen, hinkt er wo vorbei …? Nein, er sieht eher so aus wie Marlene Schultheiss. Die sitzt gerade in der kleinen Wohnküche am Esstisch und schiebt den leeren Teller langsam von sich weg. Ihr Mann hockt ihr geistesabwesend gegenüber, sie wirft ihm einen kleinen, böse blitzenden Blick zu. Peter Schultheiss ist mit dem Essen noch nicht fertig, er scharrt und kratzt mit der Gabel auf dem Porzellan herum, sie schließt die Augen und formuliert einen lautlosen, obszönen Fluch. Sie wünscht ihn zur Hölle. Er hat die Zeitung neben den Teller gelegt und blättert darin herum. Er tut so, als ob er liest. Denn auch ihm scheint ihr Anblick unerträglich zu sein. Sie fragt ihn erst gar nicht, ob es ihm geschmeckt hat. Sie haben schon seit Wochen nicht mehr als das Nötigste miteinander geredet. Wozu auch. Es gibt schon lange kein gemeinsames Thema mehr. Es gibt nur noch Dutzende von Gründen, den anderen inbrünstig zu verachten. Sie leben völlig isoliert, sie sind auf sich allein gestellt, sie sind ganz auf ihren Hass konzentriert. Er hat beim Zeitunglesen die lästige Angewohnheit, die Lippen langsam zu spitzen und sie mit einem kleinen, widerlichen Schmatzgeräusch zu öffnen. Alle paar Sekunden. Und das ist nur eine von vielen ekelhaften Angewohnheiten. Er scheint inzwischen nur noch aus solchen kleinen Scheußlichkeiten zu bestehen, er lässt sich immer mehr treiben, er wird von Woche zu Woche unerträglicher. Wieder dieses Schmatzgeräusch. Eine Welle ohnmächtiger Wut brandet in ihr auf. Aber sofort ein bitterer Gegenstrom: Sie schämt sich dafür, in dieser Routine gefangen zu sein. Sie steht auf und trägt ihren Teller schweigend zum Spülbecken. Dort liegt ein großes, schweres Fleischmesser, an dem noch Bratenreste kleben. Eine Fliege hat sich darauf niedergelassen. Angewidert öffnet sie den Wasserhahn und spült das Messer langsam und sorgfältig ab. Sie lässt das Wasser über die Klinge laufen. Sie dreht das Messer hin und her. Dann hört sie ein Geräusch hinter sich. Ihr Mann ist ins Wohnzimmer gegangen und hat den Fernsehapparat angestellt. Sie spült den Rest des Geschirrs ab, geht dann in die Diele und streift den Mantel über. Die ganze Situation ist so festgefahren, dass sich wohl nur mit einem radikalen Akt etwas ändern lässt.
»Du gehst noch weg?«, fragt er, und es klingt alles andere als interessiert. Es klingt nicht einmal vorwurfsvoll oder beleidigt. Es klingt mechanisch dahingesagt. Das ist das Schlimmste an dieser siechen Ehe: diese mechanische, desinteressierte Höflichkeit, die jeder noch mühsam aufrechterhält. Sie öffnet die Tür.
»Ich gehe noch ein bisschen frische Luft schnappen«, sagt sie leise. Sie sagt es so leise, dass er es wahrscheinlich gar nicht hört.
Solche Ehepaare gibt es. Sie leben unter uns. Wir kennen sie, und wir laden sie zu Grillpartys und Bergtouren ein. Man hört keinen Streit und keine gewalttätigen Auseinandersetzungen, man weiß nicht, warum der Hass so groß und die Situation so aussichtslos ist. Es steckt auch kein dunkles Geheimnis dahinter, keine große Lebenslüge, kein gemeiner Betrug, keine brutale Behandlung, es ist die Ehe selbst, die zu der verzweifelten Lage geführt hat. In den anonymen Betonhöhlen der Städte gibt es mehr solche Ehepaare, als man vermutet. Sie denken nicht an Trennung. Sie denken nicht an Therapie. Sie denken nicht daran, sich von Freunden Rat zu holen. Wenn sie nachts wach liegen, wenn sie tagsüber aus dem Fenster starren, wenn sie ein Kapitel eines Buches immer und immer wieder von vorne beginnen, dann träumen sie von einer endgültigeren Lösung.
»Herr Richter, ich wollte gar nicht töten«, sagen sie später, »ich wollte nur, dass endlich Ruhe einkehrt.«
Marlene Schultheiss trat ins Freie. Es hatte gerade aufgehört, zu regnen, der Asphalt der Stadt glitzerte ölig. Der Geruch von altem Frittenfett lag in der Luft, in einem Hauseingang prügelten ein paar Jugendliche auf einen Einzelnen ein, der am Boden lag. Als sie Marlene näher kommen sahen, hielten sie kurz inne und sahen sie herausfordernd an. Sie zog die Mütze ins Gesicht und ging weiter. Keiner der Jugendlichen rannte ihr nach. Wer sich wie Marlene Schultheiss endgültig zu etwas Wichtigem entschlossen hat, strahlt oft eine furchtbare Kraft und Ruhe aus, die schier unangreifbar macht. Marlene Schultheiss hatte die Entscheidung gefällt, ihren Mann auf professionelle Weise aus dem Leben nehmen zu lassen. Professionell – das war sie ihm schuldig. Sie war keine Mörderin, die selbst Hand anlegte, sie hatte vor, Fachleute zu engagieren. Es sollte schnell gehen, Peter durfte nichts spüren. Das wollte sie sich auch etwas kosten lassen. Vermutlich gingen ihre halben Ersparnisse dabei drauf. Sie hatte gehört, dass so eine Sache zwanzigtausend kostete. Aber das war eine Investition in eine freie Zukunft.
»Wohin gehst du?«, hatte er aus dem Wohnzimmer gerufen. Das machte er doch sonst nie. Ahnte er etwas? Marlene gelangte bald ins Bahnhofsviertel der Stadt. Ampeln blinkten grell, auf den Kanaldeckeln tanzten die Nebelgeister der städtischen Wasserwerke, aus der Bingo-Bar torkelten Betrunkene. Es wimmelte hier von zwielichtigen Gestalten und wackligen Existenzen: offensichtliche Junkies, die dringend Nachschub brauchten. Bettler, Tagediebe, finstere Figuren, die für Geld vermutlich alles machten. Sie waren alle da, und einer von ihnen würde es machen, da war sich Marlene sicher.
Sie ging zum Bahnhof. Sie betrat die lärmende Riesenhalle und stieg die Treppe zur Bahnhofstoilette hinunter. Sie schloss die Kabinentür hinter sich, nahm ihre Nagelschere aus dem Etui und ritzte ihr Anliegen, das sie schon lange mit sich herumtrug, zwischen die üblichen Klosprüche. Als sie wieder im Toilettenvorraum stand, wurde ihr leicht schwindlig. Sie musste sich mit einer Hand an der Wand abstützen. Sie blickte in den Spiegel. Sah so eine Gattenmörderin aus? Oder noch schlimmer: eine, die einen anderen mit einer solchen Tat beauftragte? Sie befeuchtete das Gesicht mit kaltem Wasser. Als sie wieder aufblickte, erschrak sie. Neben ihr war eine zwergenhafte Figur aufgetaucht, deren Gesicht fast vollständig von einem schmutzigen Schal verhüllt war. Der Zwerg streckte ihr im Schein der flackernden Neonbeleuchtung wortlos drei Plastiktütchen mit verschiedenfarbigen Inhalten entgegen. Eines war klebrig braun, eines gekräuselt schwarz, eines schneeweiß.
»Kein Interesse«, sagte Marlene.
Ihre Stimme hörte sich kratzig und rau an. Der Zwerg nickte und verschwand. Marlene war in der richtigen Szene, aber sie wusste nicht so recht, wie es jetzt weitergehen sollte. Sie verließ das Bahnhofsgelände wieder. Hätte sie dem Zwerg eine Andeutung machen sollen, was sie wirklich wollte? Und wenn es ein verdeckt arbeitender Polizist war? Sie hatte allerdings gehört, dass Scheinverkäufer und Lockspitzel in Deutschland nicht erlaubt waren. Marlene ging eine Nebenstraße entlang. Sie war sich nun doch nicht mehr so sicher, ob sie hier an der richtigen Stelle suchte.
Im Film war alles ganz einfach. Sie hatte mal eine Schwarzweißpistole mit Jean Gabin gesehen. Der war ins Bahnhofsviertel von Marseille gegangen, hatte einen Tausend-Franc-Schein zu Boden flattern lassen und einen Fuß so darauf gestellt, dass noch ein winziges Stückchen des Lappens zu sehen war. Das bedeutete im Marseille der vierziger Jahre: Auftragskiller gesucht. Innerhalb einer Minute war Jean-Paul Belmondo dagestanden und hatte seine Dienste angeboten. So einfach ging es hier nicht, aber Marlene war nicht naiv. Sie schritt nun zielstrebig die Klävemannstraße entlang. Sie wusste, dass es hier ein Elektronikgeschäft gab, in dessen Auslage auch Anscheinwaffen ausgestellt waren. Sie betrat den Laden und deutete auf ein Ausstellungsstück.
»Dazu brauchen Sie einen Waffenschein«, sagte der junge türkische Verkäufer, ohne aufzublicken. Sie trat näher.
»Hören Sie –«
»Ja?«
»Ich brauche eigentlich keine Waffe.«
»Sondern?«
»Eher jemand, der eine Waffe bedient.«
»Habe ich Sie eben richtig verstanden?«
»Ich denke schon.«
»Verlassen Sie bitte sofort meinen Laden«, sagte der Türke langsam und drohend.
Noch ein Fehlschlag. Sie wusste, dass sie Spuren hinterließ, viel zu viele Spuren. Heftige Angstschauer durchjagten sie. Marlene fuhr die Rolltreppe zur U-Bahn hinunter. Man stand eng. In der Mitte der Rolltreppe schlug ihr jemand von hinten leicht auf die Schulter. Sie zuckte zusammen. Ob es Absicht war oder ein versehentlicher Rempler, konnte sie nicht mit absoluter Bestimmtheit sagen. Sie drehte sich um, der Mann murmelte eine Entschuldigung. Wahrscheinlich war der Rempler reiner Zufall. Trotzdem. Sie konnte die Angst nicht mehr abschütteln. Vielleicht war das alles ein paar Nummern zu groß für sie. Marlene sah sich gelegentlich um. Unauffällig, wie sie meinte. Folgte ihr jemand? Es hatte wieder zu regnen begonnen. Sie steckte ihre Hände in die Manteltaschen, dabei stieß sie mit den Fingern auf ein Stück Papier. Es war der Prospekt einer Spelunke in der Kaiserstraße. Philomena-Bar – täglich wechselndes Programm! Irgendjemand musste ihr den Zettel in die Tasche gesteckt haben. Der Zwerg? Der Rempler? Der Waffenhändler? Marlene betrachtete den Prospekt. Jetzt war schon alles egal. Es war eine echte Kaschemme, in der es penetrant nach Desinfektionsmittel und verschüttetem Bier stank. Sie setzte sich an einen Tisch. Niemand sprach sie an. Sie wartete eine Stunde, und sie wusste nicht, auf wen oder was eigentlich. Alles an diesem Raum war schäbig und abgetakelt. Sie dachte darüber nach, ob es nicht vielleicht doch der falsche Ort war, an dem sie wartete.
»Sie brauchen also jemanden, der eine Waffe bedient«, sagte ein Mann, der plötzlich aus dem gegenüberliegenden Polster gewachsen war. Marlene blickte ihn erschrocken an. Sie hatte diesen Mann noch nie gesehen. Die Beleuchtung war diffus, aber so viel konnte sie erkennen, dass ihr Gegenüber gut gekleidet war. Die Turnschuhe des Mannes waren jedoch schmutzig und abgelatscht. Oben und unten passte überhaupt nicht zusammen. Ein paar Minuten lang starrten sie sich wortlos an und atmeten den Geruch von Desinfektionsmittel und verschüttetem Bier ein, der eine kühl und beobachtend, die andere unsicher und die Angst nur mühsam im Zaum haltend. Beide bestellten Mineralwasser, ließen jedoch die Gläser unberührt vor sich stehen. Der gutgekleidete Mann mit den schmutzigen Schuhen nickte schließlich.
»Ich bräuchte schon ein paar Details«, sagte er. »Wer? Wie? Wo? Beginnen wir mit dem Wer.«
Na also. So einfach war das. Marlene griff in die Innentasche ihres Mantels und holte eine postkartengroße Fotografie heraus. Sie schob sie über den Tisch, ihre Hände zitterten. Der Saubere mit den schmutzigen Schuhen sah sich im Raum um. Niemand achtete auf die beiden. Dann erst betrachtete er das Foto.
»Ihr Ehemann?«
Marlene nickte unmerklich. Der Mann nahm das Foto und steckte es ein.
»Sie wollen es also machen?«, fragte sie mit einem Kloß im Hals.
Der Mann fixierte sie regungslos. Wieder stieg ein Angstschauer in ihr auf. Trotzdem wagte sie sich vor.
»Wie kann ich sicher sein, dass Sie nicht von der Polizei sind?« Keine Antwort. »Und wie darf ich Sie nennen?«, setzte sie hinzu.
Der Mann zog die Augenbrauen hoch und machte ein mitleidiges Gesicht, als wären das zwei sehr, sehr dumme Fragen gewesen. Eine dümmer als die andere. Dann zischte er fast unhörbar:
»Eines sollten Sie wissen: Wenn Sie irgendein krummes Ding mit mir vorhaben, dann sind Sie tot.«
Marlene Schultheiss schluckte. Ihr wurde wieder schwindlig. Sie spürte, dass es kein Zurück gab.
»Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann«, sagte der Mann plötzlich. »Kommen Sie in drei Stunden wieder hierher. Betreten Sie das Lokal nicht. Bleiben Sie draußen auf der Straße stehen, bis Sie angesprochen werden. Wenn niemand kommt, gehen Sie wieder.«
»Kommen Sie selbst?«
»Nein. Und jetzt keine Fragen mehr.«
Ein Kloß im Hals, ein Angstschauer. Marlene zahlte und verließ die Philomena-Bar. Die Nacht schlich sich ins Bahnhofsviertel der Stadt wie ein böser Gedanke in eine harmlose Plauderei. Zwei geleckte Konzertbesucher winkten einem Taxi. Als sie die Türen öffneten, kam ein Schwall Marschmusik der untersten Kategorie heraus.
»Stellen Sie bitte diese Musik aus«, sagte die Frau in einem Kleid mit Zebramuster, das trotzdem sicher sehr teuer gewesen sein musste.
»Nehmen Sie halt das nächste Taxi«, schrie der Fahrer und brauste davon.
»Canaille!«, schrie die Frau.
Marlene machte sich auf den Heimweg.
Der Mann mit den schmutzigen Schuhen zückte das Mobiltelefon und wählte eine Nummer. Er musste nicht lange warten.
»Ich bin es«, sagte er leise ins Telefon. »Ich weiß nicht, ob du Interesse hast. Eine Frau will ihren Mann loswerden. Es ist niemand aus der Szene.«
»Was hast du für einen Eindruck von ihr?«
»Es ist eine, die sich vor Angst in die Hose macht.«
»Habt ihr schon über Geld geredet?«
»Überhaupt nicht. Ich habe sie nochmals herbestellt. Um elf kommt sie vor die Philomena-Bar. Da kannst du sie dir ansehen.«
»Ich bin da.«
Er legte auf. Er löschte die Nummer, die er gewählt hatte, aus der Liste der Anrufe. Dann nahm er die Karte aus dem Mobiltelefon. Er ging auf die Toilette und spülte sie hinunter.
»Hallo«, rief Marlene tonlos, als sie das Zimmer betrat, in dem Peter vor dem Fernseher saß und irgendeine Reality-Show guckte.
»Wo warst du?«, fragte er, ohne aufzusehen. Er fragte es genauso tonlos. Er fragte, weil das nun einmal der übliche Satz war, der immer dann fiel, wenn jemand zur Tür hereingekommen war.
»Spazieren«, antwortete Marlene.
Erst als dieses Wort im Raum verklungen war, wurde ihr so richtig bewusst, was sie eigentlich vorhatte. Sie setzte sich. Sie sah auf die Uhr. In zwei Stunden war es so weit. Aber sollte sie wirklich nochmals hingehen? Sollte sie den Auftrag geben? Oder war das Ganze nicht sowieso schon längst ins Rollen gebracht? Sie starrte auf den Bildschirm. Sie bekam nicht so richtig mit, um was es in dieser Reality-Show ging. Was würde geschehen, wenn sie vor der Philomena-Bar in der Kaiserstraße erschien? Sie bereute jetzt, dass sie das Foto von Peter so schnell aus der Hand gegeben hatte. Marlene zitterte vor Angst und Müdigkeit. Im Fernsehen lief jetzt Werbung. Sie versuchte, sich auf die Produkte zu konzentrieren, die angepriesen wurden. Sie schaffte es nicht. Eine Welle von heißer Wut durchlief sie. Ihre eigene Unentschlossenheit machte sie rasend.
So sieht jemand aus, der einen Auftragskiller sucht.
Manchmal stellt dich das Leben vor eine Kreuzung. Ein Wegweiser zeigt hinüber ins liebliche Tal, der andere ins Unterholz. Nimm nicht den erstbesten Weg.
Indisches Sprichwort
In ganz Westindien blühte der Senf, auch in Mumbai, das früher Bombay hieß. Auf der Straße schepperten Eselskarren, die mit Heu und Stoffballen vollgestopft waren. Fauchende Trockennasen-Affen verfolgten harmlose Bananenkäufer, während die Sonne hinter der Stadt unterging. Irgendwo meditierte ein weißbärtiger Yogi. Mächtige Elefanten liefen durchs Bild, sie waren die untrüglichen Vorboten einer indischen Hochzeit: Frauen in kostbar aussehenden Saris sangen Lieder von Glück und reiner Liebe, selig lächelnde Männer umtanzten einen Schimmel, auf dem der bärtige Bräutigam saß. Aus einem der bunten Häuser schlingerten Laute, als ob jemand Sitar übte: Tschoingtaschatschoinasiriiischauauau! Wie gesagt: In ganz Westindien blühte der Senf. Trotzdem gab es etwas durch und durch Werdenfelserisches dort in Mumbai, denn in einem der bunten Häuschen lag eine Karte des Loisachtals im Maßstab 1 : 10000 ausgebreitet auf dem billigen Plastiktisch. Sie war über und über mit Notizen und Zeichen vollgeschmiert. Viele kleine Nebenwege waren markiert – und der Wolzmüller-Hof war sogar mehrmals eingekringelt. Drei Männer beugten sich darüber, sie fuhren Seitenstraßen und Trampelpfade mit den Fingern ab: den Stangensteig, den Schrottelkopfweg und die Bölserhöhe. Milchkaffeehäutig waren die Männer, sie hießen Pratap Prakash, Dilip Advani und Raj Narajan, und alle drei waren hochgradig reisefiebrig. Die Koffer waren gepackt, morgen früh ging der Flieger, ihr erstes Ziel war die bayrische Landeshauptstadt, dann sollte es weitergehen nach Süden, ins Werdenfelser Land. Noch aber saßen sie in dem kleinen Häuschen in einem der vielen Vororte von Mumbai, bissen in ihre dreieckigen Samosas und tranken Mango-Lassi dazu. Andere hätten vor solch einem Trip Champagner getrunken, aber man weiß vielleicht, dass indischer Champagner im Ländervergleich nicht ganz oben steht.
»Weiterbildung!«, hatte ihr Chef gesagt. »Weiterbildung ist heutzutage wichtiger als alles andere.«
Der Chef war ein mächtiger Mann. Wenn der Chef eine solche Einladung aussprach, dann befolgte man sie. Sofort. Seine Wahl war auf Europa gefallen. Ziemlich in der geographischen Mitte von Europa gab es einen Alpen-Kurort mit unaussprechbarem Namen, dort fand ein Seminar mit international bedeutenden Referenten statt. Und da sie dann schon mal in Europa und in Deutschland wären, sollten sie auch gleich einen bestimmten Auftrag dort erledigen.
»Da seht her, Kat – zen – kopf – höl – zl«, buchstabierte Pratap Prakash, und Dilip Advani versuchte ebenfalls, einige fremde Namen zu entziffern.
»Freunde«, sagte Pratap Prakash feierlich, »der Flug morgen führt uns in ein unbekanntes Land. Ich freue mich auf die vielen neuen Eindrücke, aber wir dürfen nicht vergessen, dass wir auch ein Projekt durchzuführen haben. Ein ehrenvolles Projekt. Und ein wichtiges Projekt. Wir dürfen nicht versagen. Wir dürfen unseren Chef nicht so enttäuschen wie Mohit Bannerjee, der leider nicht mehr unter uns weilt.«
»Da hast du etwas ganz und gar Richtiges in gute Worte gefasst«, sagte Dilip Advani. »Wir haben einen Auftrag. Aber die vielen fremden Gebräuche, die es dort gibt! Ich habe im Reiseführer etwas gelesen vom Jodeln, vom Schuhplatteln, von Weißwürsten, die über die geraniengeschmückten Balkone geworfen werden, um die bösen Geister zu vertreiben.«
Unglaublich, was in indischen Reiseführern über Europa im Allgemeinen und das Werdenfelser Land im Besonderen so alles steht. Raj Narajan, der bisher geschwiegen hatte, schwieg auch weiterhin. Er wurde Der Stumme genannt, kein Mensch wusste mehr, ob er aus religiöser Inbrunst schwieg, wegen eines geleisteten Schwures oder gar wegen eines körperlichen Mangels, zum Beispiel einer fehlenden Zunge. Raj Narajan, der Stumme, nahm einen Zettel und kritzelte etwas darauf.
»Madhva sagt«, so schrieb er, »dass man bei jeder guten Reise folgende neun Dinge erleben sollte: Liebe, Heldentum, Ekel, Komik, Schrecken, Wundersames, Wut, Pathos und Friedvolles.«
Raj Narajan zeigte seinen Freunden den Zettel.
»Er wieder mit seinem Madhva«, sagte Pratap Prakash augenrollend.
»Habt ihr die Pässe?«, fragte Dilip Advani.
Alle nickten und befingerten ihre nagelneuen Reisepapiere. Gute Arbeit. Mit einem tadellosen Pass und mit einem freundlichen Gesicht kam man überall auf der Welt durch.
»Hat sich jeder sämtliche Daten eingeprägt?«
Wieder nickten alle, warfen noch einen letzten Blick auf den Plan. Sie hatten alles besprochen. Sie hatten alles im Kopf.
»Dann auf eine gute Reise!«
Pratap Prakash nahm die Wanderkarte, hielt sie bedeutungsvoll hoch, zerriss sie und warf sie in das offene Feuer des rauchenden alten Ofens, der neben dem Tisch stand. Nachdenklich betrachteten die drei Männer aus Mumbai den Untergang des Werdenfelser Landes im Maßstab 1 : 10000.
In der n’koga-Sprache gibt es etwa sechzig verschiedene Bedeutungen für das Wort Unterholz. T’t’k’har kann Gehölz bedeuten, aber auch Erde, Zunge, Mann, Frau, Zweitgeborener, Hölle, Löffel, das Unbekannte, Vorfreude, Erschöpfung, Föhn, Beilage, Stipendium, Entfleischung, Kiste, Windröschen – um nur die wichtigsten zu nennen.
»Ich glaube, wir sollten jetzt langsam über das Finanzielle reden.«
»Ja, das denke ich auch.«
»Also, was stellen Sie sich vor?
»Ich habe mal was von zwanzigtausend gehört.«
»Zwanzigtausend, das klingt spannend.«
»Was ist denn Ihr Vorschlag?«
»Sag ich doch: Zwanzigtausend klingt spannend.«
»Eines muss aber klar sein: Mehr als zwanzigtausend kann ich nicht zahlen.«
Marlene Schultheiss war gestern weisungsgemäß Punkt elf Uhr nachts nochmals vor der Philomena-Bar in der Kaiserstraße erschienen, dort war ihr wieder ein Zettel in die Tasche gesteckt worden, ohne dass sie es bemerkt hatte. Es war ein Computerausdruck. Sie war für den nächsten Tag in die Massageabteilung eines Fitnesscenters bestellt worden, sie sollte eine Reisetasche mit dem Nötigsten mitbringen, denn vielleicht wäre es erforderlich, eine Nacht wegzubleiben. Kein Wort zu Dritten, sonst würde alles sehr ungünstig für sie ausgehen. Wenn sie sich alles eingeprägt hätte, sollte sie das Blatt zerknüllen und es in einen bestimmten Papierkorb in der Kaiserstraße werfen.
Jetzt, einen Tag später, lag Marlene Schultheiss bäuchlings auf der Massagebank, über ihren Kopf war ein großes weißes Handtuch ausgebreitet. Am Anfang hatten sie knochige, beherzt zupackende Hände massiert, dann auf einmal waren es andere Hände gewesen. Und es war eine andere Stimme gewesen. Eine geflüsterte Stimme. Marlene wusste nicht, ob sie zu einer Frau oder einem Mann gehörte, ob die Stimme alt oder jung war, nicht einmal die Nationalität konnte sie bei dem Flüstern ausmachen. Bei dem letzten Satz hatte sie unwillkürlich den Kopf gehoben.
»Scht!«, fauchte die Flüsterstimme, und sie spürte einen Zangengriff im Genick. »Bloß, dass wir uns richtig verstehen. Machen Sie keinen Unsinn. Bleiben Sie so liegen, wie Sie sind. Lassen Sie das Tuch, wo es ist, versuchen Sie keine Tricks. Wenn unser Gespräch – mit welchem Ergebnis auch immer – beendet ist, wird Xu-Zhimo wieder übernehmen. Sie werden liegen bleiben, solange Sie der Chinese massiert. Dann werden Sie noch weiter liegen bleiben, Sie werden bis tausend zählen, dann erst werden Sie aufstehen und den Raum verlassen. Wenn Sie irgendwelche Dummheiten machen, sind Sie tot.«
Die Hand, die zu der Stimme gehörte, umkreiste ihren Hals, sie griff ihr von vorne an die Kehle, nicht unsanft, nein, das nicht, aber jetzt kam die andere Hand und drückte an eine bestimmte Stelle am Hals.
»Das ist die berühmte Carotis«, wisperte die Stimme, jetzt ganz nahe an ihrem Ohr. »Und Ihre Carotis finde ich überall, ob Sie nun auf der Straße gehen oder ob Sie auf die S-Bahn warten. Ich bin immer hinter Ihnen, merken Sie sich das.«
»Ja, ist schon gut. Sie machen es also? Für zwanzigtausend?«
»Sie wollen es kurz und schmerzlos haben?«
In Marlenes Ekel vor ihrem Mann mischte sich plötzlich eine unangenehm warme Strömung Mitleid.
»Ja, kurz und schmerzlos. Peter soll nicht leiden. Ich will ihn nur nicht mehr sehen.«
Die Flüsterstimme lachte auf. Das lautlose Lachen war gruselig anzuhören. Es folgten einige Massagegriffe. Einige Klopfer auf die Schulterblätter. Einige Walker und Kneter den Rücken hinunter, alles durchaus professionell – der Chinese war allerdings besser gewesen.
»So lobe ich mir die brave Ehefrau. Denkt bis zum Schluss an ihren armen Peter. Peter heißt er also. Kurz und schmerzlos, das macht dreitausend, nebenbei gesagt.«
»Nur dreitausend?«
»So ist es.«
»Und er soll natürlich spurlos verschwinden. Man darf ihn nicht finden.«
»Das macht dann wieder zwanzigtausend. Töten ist einfach. Leichenverschwindenlassen, das ist immer das Problem.«
»Ist das ein Ja?«
»Noch ein paar Fragen. Ihr Name, Ihre Adresse. Wie Sie leben, was Sie so treiben. Da bräuchte ich ein paar Informationen.«
Marlene antwortete auf jede der Fragen so ausführlich wie möglich. Manchmal zögerte sie. Aber jetzt steckte sie schon so tief in der Sache drin, ein Rückzug war vermutlich gar nicht mehr möglich.
»Warum haben Sie sich dazu entschlossen?«, sagte die Stimme langsam und eindringlich.
Das war eine seltsame Frage. Eine Frage, die sie gar nicht so richtig beantworten konnte.
»Ich muss das wissen«, beharrte die eindringliche Stimme. »Ich muss wissen, ob es Ihnen ernst mit Ihrem Auftrag ist.«
»Manchmal schaut er mich so an. Da habe ich mir schon oft gedacht: Wenn er nicht zu feige dazu wäre, dann würde er mich jetzt umbringen.«
»Hm. Haben Sie die Kohle dabei?«
»Sehen Sie in meiner Tasche nach.«
Die Stimme kam wieder ganz nah an ihr Ohr.
»Noch was: In den Zwanzigtausend inbegriffen ist Ihr Alibi. Ich konstruiere Ihnen ein absolut wasserdichtes Alibi. Und eine falsche Spur, die von Ihnen wegführt. Das gehört sozusagen zum Service. Sie übernachten heute in einem Hotel, Sie bleiben in Ihrem Zimmer, gehen keinesfalls raus. Wenn Sie rausgehen, sind Sie tot. Wenn Sie versuchen, irgendwo anzurufen, sind Sie tot. Und zwar nicht kurz und schmerzlos. Sie werden morgen um Punkt halb sechs Uhr geweckt. Ich organisiere für Sie einen kleinen Ausflug, bei dem Sie von vielen Leuten gesehen werden.«
»Ein Ausflug? Warum kann ich mir das Alibi nicht selbst verschaffen?«
»Wie stellen Sie sich das vor? Bei einer Freundin? In der Stammkneipe? Viel zu riskant. Ich verschaffe Ihnen ein zweihundertprozentiges Alibi.«
»Ich werde meinen Mann nie wiedersehen?«
»So ist es. Nur zu Ihrer Information: Ich habe dieses Gespräch aufgezeichnet.«
»Was haben Sie gemacht?«, keuchte Marlene, und sie hätte sich fast wieder umgedreht.
»Regen Sie sich ab. Nur, damit Sie auf keine dummen Gedanken kommen.«
Marlene Schultheiss hörte ihre eigene Stimme:
»Sie machen es also? Für zwanzigtausend?«
»Sie wollen es kurz und schmerzlos haben?«
»Ja, kurz und schmerzlos. Peter soll nicht leiden. Ich will ihn nur nicht mehr sehen.«
Dann hatte Marlene Schultheiss wieder die anderen Hände gespürt, die Hände von diesem Chinesen, die Hände von Xu-Zhimo. Sie konnte sich aber nicht entspannen. Auch im Hotelzimmer lag sie die ganze Nacht wach. Mehrmals war sie kurz davor, die ganze Sache wieder abzublasen. Aber ging das überhaupt? Eine Welle von Angst und Scham durchflutete sie. Einmal hatte sie schon den Telefonhörer in der Hand, dann legte sie wieder auf. Das hatte wohl keinen Sinn. Sie schaltete den Fernsehapparat ein und starrte auf die bunten Bilder. Sie bekam nichts davon mit. Sie hatte einen Auftragskiller angeheuert. Und es war alles so furchtbar leicht gegangen.
Nist’ im Unterholz der Star
wer’n die Sommernächte klar.
Brüt’ im Unterholz die Eule,
frierst im Sommer du dir Beule.
Alte Bauernweisheit
»Ja, siehst du, ich hab dirs gesagt: Die Kuglerte Resl ist der einzige Berg, von dem aus man die Wolzmüller-Alm einigermaßen gut einsehen kann.«
»Zumindest mit einem Zeiss’schen Einheitsdoppelfernrohr.«