Helen Fox

SCHLAFWAGENGEFLÜSTER

 

 

 

© 2015 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

 

Umschlaggestaltung: Helen Fox


ISBN – 978-3-95869-172-8


Alle Rechte vorbehalten

 

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Die in diesem Roman geschilderten Ereignisse sind rein fiktiv. Alle beschriebenen Personen sind volljährig.

Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Begebenheiten, mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig und unbeabsichtigt.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

 

 


 

 

 

KAPITEL I
Die sündige Andromeda

 

Sie war spät dran. Heute schienen sich ihre Pariser Mitbürger besonders gegen sie verschworen zu haben: Trotz der quälenden Augusthitze waren viel zu viele gut gelaunte Menschen unterwegs und standen mit Vorliebe in Zoes Weg. Sie keuchte bereits unter ihrer prall gefüllten Sporttasche, ihr dünnes Top und die zerrissene Jeans klebten an ihrer gebräunten Haut. Eigentlich war sie gut trainiert, doch die doppelte Anstrengung griff auch ihre Ausdauer an.

Wer rannte auch schon am frühen Abend durch den gare de l'est und das noch mit genug Kleidung, um eine halbe Tanztruppe für eine Woche auszurüsten? Innerlich fluchte sie heftig vor sich hin. Wo sie sonst die gemächliche laissez-faire-Lebensart der Franzosen zu schätzen gelernt hatte, ging sie ihr heute einfach nur auf die Nerven. Denn der Zug würde nicht auf Zoe warten. Wenn sie den City Night Line nach Berlin verpasste, wäre das der Höhepunkt aller unschönen Erlebnisse, die in den letzten Tagen über sie hereingebrochen waren.

»Aus dem Weg, ich muss hier durch!«, rief sie einem Pärchen entgegen, das mitten im Weg gegenseitig ausgiebig die vorhandene Zuneigung bekunden musste. Paris, die Stadt der Liebe, dachte Zoe wütend. In diesem Moment wäre ihr eine Stadt der langweiligen Sofahocker, die sich niemals aus ihren vier Wänden heraus bewegten, lieber gewesen.

Als sie die durch das runde Kuppelfenster im Bahnhofsdach erhellten métro-Rolltreppen verließ, musste sie sich durch die nächste Menschentraube wühlen. Acht Rolltreppen, und auf jeder waren nur Leute unterwegs, deren neuestes Hobby anscheinend im sinnlosen Herumstehen bestand!

Die Riemen der Sporttasche schnitten in ihre Schultern. Sie hatte die Tasche wie einen Rucksack auf den Rücken geschwungen. Nun zog sie das Gewicht nach unten. Zoe wischte sich mit einer Hand die Schweißtropfen von der Stirn. Ihre dünnen schwarzen Ponyfransen klebten inzwischen genau so an ihrer Haut wie die Kleidung. Dass dieser ganze Mist auch unbedingt jetzt passiert war! Wieder fluchte sie: auf ihre Eltern, ihren plötzlich verstorbenen Patenonkel und die deswegen anstehende, brandeilige Erbschaftssache. Sie fluchte auf überhaupt jeden, der nun daran schuld war, dass sie die Proben frühzeitig abbrechen musste.

Für eine Tänzerin waren versäumte Proben ein Todesurteil. Vor fünf Tagen hatte sie es endlich zu einem regulären Platz in der renommierten Truppe von Madame Lacroix geschafft, und nun sollte sie das alles aufs Spiel setzen? Doch die Nachricht ihrer Eltern war unmissverständlich gewesen: Sie musste sofort nach Hause kommen. Alles, wofür sie in den letzten Wochen und Monaten geschuftet hatte, konnte mit einem Mal verloren gehen. Und wofür? Für etwas, von dem sie nicht einmal genau wusste, was es sein würde.

Zoe zwängte sich durch eine im Weg stehende Gruppe Touristen hindurch, die eine üble Geruchsglocke umgab. Es schien fast, als liefe sie gegen eine Wand aus säuerlichem Schweiß und billigem Parfum, was ihren leeren Magen rebellieren ließ. Sie schluckte eilig, um das saure Aufstoßen abzuwürgen. Schnell orientierte sich Zoe über ihr Ziel auf einem der Flachbildmonitore mit Ankunfts- und Abfahrtszeiten. Natürlich lag das Gleis, an dem ihr Zug abfahren würde, ganz weit hinten. Murphy's Gesetz war heute wieder ihr bester Freund.

An jedem anderen Tag hätten ihr die glasüberdachte Haupthalle und der prunkvolle Baustil gefallen. An diesem speziellen Tag aber staute sich die Hitze darunter zusätzlich, und jeder weitere Mensch darin machte den Sommer und seine Begleiterscheinungen noch unerträglicher. Dass man für sie keinen Flug gebucht hatte, lag ganz sicher nur daran, dass keiner mehr zu bekommen gewesen war: Niemand, der es nicht unbedingt verhindern konnte, verbrachte den Sommer in der Stadt.

Wer flüchten konnte, tat dies, egal ob im Bus, Flugzeug oder Auto. Paris, das im Frühling wunderschön und selbst im Herbst noch romantisch war, verwandelte sich im Sommer zu einer vor Hitze starrenden Betonwüste, in der Zoe sich mehr als einmal gewünscht hatte, eine Runde in der Seine schwimmen zu können.

Stattdessen mussten es eine Dusche nach den Proben, eine nach dem Aufstehen und eine vor dem Schlafengehen tun. Sie wühlte im Laufen den Zettel mit der Reservierung heraus, um nachzusehen, in welchen Waggon sie einsteigen musste. Sie verschwendete einen kurzen Gedanken an ihr appartement im Künstlerviertel Montmartre, das sie sich mit zwei anderen Tänzerinnen teilte, die genau wie Zoe knapp bei Kasse waren. Es lag direkt unter dem Dach und die Aussicht war toll, doch im Sommer kam man wegen der Hitze fast um.

Endlich hatte sie das Gleis erreicht und rannte an den Waggons entlang. Der City Night Line war noch da, zum Einsteigen blieben ihr nur noch zwei Minuten. Natürlich war ihr Waggon ganz hinten. In einem Kopfbahnhof wie dem gare de l'est waren am Gleisbeginn meistens die Waggons der ersten Klasse zu finden. Wer Holzklasse fahren musste, durfte laufen. Auch an diesem Gleis ließen sich die Leute Zeit oder verbrachten die Momente vor der Abfahrt damit, bereits eingestiegene Freunde zu verabschieden.

»Zut alors! Ich muss hier vorbei!« Als der Tänzerin dann doch ein hörbarer Fluch entschlüpfte, folgte Zoe der missbilligende Blick einer älteren Dame. Mit einem Gesichtsausdruck, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen, ging die ältere Dame Zoe schließlich im Schneckentempo aus dem Weg. war sie nicht daran gewöhnt, junge Frauen fluchen zu hören. Zoe hastete voran und atmete auf, als sie endlich ihren Waggon erspähte. Schnell stieg sie die Stufen hinauf und verharrte einige Momente lang schnell atmend. Geschafft! Zoe fühlte sich, als hätte sie mindestens drei Kilo allein durch den aus allen Poren rinnenden Schweiß abgenommen. Gerade hatte sie die übervolle Sporttasche abgeladen und streckte sich im Stehen, als sie ein heftiger Stoß in den Rücken traf und nach vorn stolpern ließ.

»Pass doch auf!«, schnappte sie dem Mann entgegen, der ihr soeben eine Sporttasche in den Rücken gerammt hatte, die mindestens so groß war wie ihre.

»Dann steh' hier nicht im Weg herum, andere wollen auch noch einsteigen!« Tiefgrüne Augen funkelten sie an. Der hochgewachsene und braun gebrannte junge Mann schob sich ungerührt hinter ihr in den Waggon und bugsierte seine Sporttasche an ihr vorbei.

»Du kannst ja auch einfach die Augen aufmachen und schauen, ob vor dir jemand steht!«, gab Zoe giftig zurück und griff nach ihrem Gepäck. Dass beide gleichzeitig versuchten, in den schmalen Korridor des Waggons zu gehen, machte die Sache auch nicht einfacher.

»Du könntest dir auch einfach einen anderen Ort zum Herumstehen suchen,« konterte der Fremde und drängelte sich ungeniert vor, was Zoe für einen Moment in eine Duftwolke aus einem moschuslastigen Parfum und Leder hüllte. Trotz Lederjacke schien der unverschämte Kerl nicht zu schwitzen, während sie selbst sich fühlte, als wäre sie drei Tage durch die Wüste gewandert. Manchen wurde auch wirklich alles geschenkt!

»Leck' mich,« knurrte Zoe leise und trottete ihm notgedrungen in das Großraumabteil hinterher. Dass ihre Eltern ihr für die Fahrt nicht einmal einen Platz in einem Liegewagen spendiert hatten, war wieder so typisch für sie. Überall musste gespart werden, und wenn es keinen billigen Flug gab, dann eben einen billigen Sitzplatz im Zug.

Das Großmaul wuchtete seine Sporttasche in die Gepäckablage über Sitz 32 und ließ sich in seinen Ruhesessel fallen, die langen Beine ausstreckend. Mit jähem Entsetzen registrierte Zoe, dass auf ihrem Reservierungszettel Platz 33 angeschrieben stand. Sie würde die ganze Strecke neben diesem Kerl sitzen müssen? Das war der eindeutige Tiefpunkt des Tages. Wahrscheinlich würde er sich bei ihrem Glück im Schlaf noch breit machen und laut schnarchen!

Zoe stemmte ihr Gepäck nach oben. Natürlich bot er ihr keine Hilfe an. Was konnte man von solchen Typen auch erwarten? Da sollte noch mal jemand behaupten, Franzosen seien charmant! Dieses Exemplar von Mann war ganz sicher ein Austauschstudent aus irgendeinem anderen, unhöflichen Land. Zoe warf ihm einen vernichtenden Blick zu und wühlte in der Seitentasche nach ihrem iPod.

Dass er über das ganze Gesicht grinste und sie herausfordernd anblickte, setzte dem Ganzen die Krone auf. Widerstrebend ließ sie sich neben ihm in ihren Ruhesessel sinken und drehte sich so, dass sie ihn nicht sehen musste. Der blaue Sitzbezug war schon etwas abgegriffen, aber recht bequem. Wenn sie den Sitz später kippte, würde sie vielleicht sogar schlafen können. Der Waggon war gut gefüllt, anscheinend wollten heute Nacht viele Leute nach Berlin reisen. Oder einfach nur aus Paris flüchten. Schnell blendete sie den Geräuschpegel um sie herum durch die White Stripes in extralaut aus.

Der Zug setzte sich langsam in Bewegung, und Zoe beobachtete das Zurückgleiten des Bahnsteiges durch das Fenster gegenüber. Es war keine angenehme Rückkehr. Ihre Eltern waren gegen alles gewesen: ihre Liebe zum Tanzen und die privaten Ballettstunden, die Verweigerung eines Studiums nach dem Abitur, ihr Durchbrennen von Zuhause. Monatelang hatte sie sich mit miesen Kellnerjobs in Paris durchgeschlagen, bis sie bei einem der vielen Vortanz-Termine endlich ihr erstes Engagement bekommen hatte. Umso erstaunlicher war es, dass sie nun so eilig nach Hause fahren sollte.

Monsieur Lederjacke mit dem unmöglichen Benehmen hatte ein Tablet hervorgeholt und schien im Web zu surfen, sodass sie sich von ihren trüben Gedanken ablenken konnte. Zoe beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Ohne sein blödes Grinsen war er ausgesprochen attraktiv. Groß, gebräunt, gut gebaut, dunkle Haare und diese berückenden grünen Augen. Was unter seiner Jeans und der Lederjacke lauern mochte, konnte sie nicht genau sagen, aber ihre Phantasie erledigte zuverlässig den Rest. So, wie der dunkle Denim-Stoff über seinen Oberschenkeln spannte, war er gut trainiert, vorhin hatte sie auch einen knackigen Po erspähen können. Wahrscheinlich ging er regelmäßig ins Fitnessstudio und stemmte Gewichte.

Wäre er nicht so unverschämt gewesen, hätte sie bestimmt mit ihm geflirtet. Das hätte die kommenden Stunden zumindest angenehmer überbrückt. Ein leises Gurgeln ihres Magens erinnerte sie daran, dass es auch noch andere Bedürfnisse in ihrem Leben gab. Bei ihrem überstürzten Aufbruch hatte sie keine Zeit gehabt, sich noch mit Essbarem einzudecken, das rächte sich jetzt.

Monsieur Lederjacke hatte das Gurgeln anscheinend auch gehört. Er schob sich in die Höhe und wühlte im Außenfach seiner Sporttasche, um sich dann mit einer Tüte in der Hand wieder auf seinen Sitz fallen zu lassen. Der verlockende Duft, der daraus empor stieg, hinterließ ein schmerzhaftes Echo in Zoes Magen: Ofenfrische Croissants! Wegen des kalorienreichen Blätterteigs absolutes Gift für Tänzer, aber verteufelt lecker.

Er wühlte genüsslich in der Tüte – allein das Knistern des Papiers zerrte schon an Zoes Nerven – und zog eines der Croissants heraus, in das er genüsslich biss. Immer mit einem Seitenblick zu ihr kaute er sein Backwerk. Das war genug! Bevor sie ihm noch mit den Kopfhörerkabeln ihres iPods erwürgen würde, entschloss sich Zoe lieber dafür, nach dem Bordrestaurant zu suchen. Mit einem Schnauben erhob sie sich und wandte dem Croissants knuspernden Kerl den Rücken zu. Sollte er doch daran ersticken! Leider tat er ihr nicht den Gefallen.

 

 

Seine Langsamkeit zerrte an ihren Nerven. Konnte sich ein Mensch wirklich so dumm anstellen? Während ihr Mann noch versuchte, die großen Hartschalenkoffer durch den Korridor zu bugsieren, stöckelte Vivienne genervt hinter diesem und dem ausgesprochen servilen Schaffner her. Alles an ihm schien heute besonders falsch zu sein. Sein altmodischer Anzug, sein sich langsam lichtendes Haar, der beginnende Bauchansatz und sein Schwitzen. Überhaupt das Schwitzen! Die glänzenden Schweißperlen auf seiner hohen Stirn mit den Geheimratsecken schrien den unsportlichen Bürohengst geradezu heraus. Wann hatte er sich nur von dem charmanten, jungen Herrn, der sich so um sie bemüht hatte, in einen langweiligen, alten Mann verwandelt?

Vivienne selbst fühlte sich noch lange nicht alt. Seit sie in diesem Jahr ihren vierzigsten Geburtstag gefeiert hatte – ihren Freundinnen hatte sie erzählt, sie sei erst sechsunddreißig – fühlte sie sich mehr und mehr gefangen. In dieser ausgelutschten Ehe mit einem lustlosen Mann, in den gesellschaftlichen Verpflichtungen einer wohlhabenden Managergattin, bei der Erziehung der Kinder. Selbst ihre ausgedehnten Shoppingtouren hatten den Reiz verloren. Es war so mühsam gewesen, Adolphe zu dieser Reise nach Berlin zu überreden, doch nach drei Tagen hatte sie ihren Willen durchgesetzt. Ihn mit Missachtung zu strafen half schon lange nicht mehr, doch ihm anzudrohen, dass sie sich sonst das neue Jaguar-Cabrio kaufen würde, hatte ihn aufgerüttelt. Diesem Mann konnte man nur noch über Geld beikommen. So traurig es auch war, blieb ihr wenigstens dieses Mittel noch.

Endlich hatte Adolphe die Koffer in das richtige Deluxe-Abteil gewuchtet. Sie ließen die erklärenden Worte des viel zu jungen Schaffners über sich ergehen, die unweigerlich zu einem Erste-Klasse-Abteil gehörten. Ein Trinkgeld ließ den Schaffner alsbald verschwinden, dem Vivienne keinen zweiten Blick gönnte. Jung, höflich, servil – so mussten ihrer Ansicht nach Bedienstete sein. Und, im Stillen ergänzt, austauschbar. Solange diese Menschen ihre Arbeit ohne Makel erledigten, gönnte ihnen die reiche Dame der Gesellschaft keinen zweiten Blick. Warum sollte sie auch? Sie war daran gewöhnt, von allem nur das Beste zu erhalten, und das so schnell und viel sie wollte.

»Das nächste Mal fliegen wir wieder,« schnaufte Adolphe und ließ sich auf das untere Bett sinken. Er wischte sich mit einer fleischigen Hand den Schweiß von der Stirn, sein Gesicht war rot angelaufen. Ihm setzte die Hitze deutlich zu, was seiner äußeren Erscheinung nicht besonders guttat. Langsam schlüpfte er aus seinem Jackett und fächelte sich Luft zu.

»Es sollte etwas Besonderes sein, Liebling,« gurrte Vivienne und schlüpfte mit ihrem Kosmetikkoffer in das kleine Bad des gemeinsamen Abteils. Sie ließ kaltes Wasser auf ihre Handgelenke laufen und entspannte sich langsam dabei. Alles war blitzblank geputzt, sogar Handtücher und in Portionspaketen verpackte Seifen konnte sie entdecken.

»Dennoch wäre fliegen komfortabler gewesen. Und es hätte nicht so lange gedauert,« hörte sie ihren Ehemann nörgeln. Zu dieser Stunde hätte er längst zu Hause in der Villa gesessen, auf dem neuen, riesigen Flachbildschirm irgendeine langweilige Sportsendung geschaut und sie gekonnt ignoriert. Er wurde nicht gerne aus seiner Routine gerissen, das wusste sie, und genau deswegen hatte es ihr Spaß gemacht.

»Das nächste Mal fliegen wir wieder, ganz bestimmt. Ich verspreche es dir!«, flötete Vivienne mit eben jener Stimme, die sie immer dann benutzte, wenn sie ihren Willen durchgesetzt hatte und darüber zufrieden war.

Sie betrachtete sich im Spiegel des kleinen Bads. Rötlich blondes, gewelltes Haar, perfektes Make-up mit etwas dramatisch umrandeten blauen Augen, ein sündig-roter Mund. Sie war ein Geschenk an die Männer dieser Welt, und ihr eigener Mann merkte davon gar nichts. Bestens verpackt in ein Chanel-Etuikleid, müsste es nur noch neugierige Hände geben, die genau wussten, was sie wollten. Die sie auspacken wollten … Vivienne formte einen Kussmund mit den Lippen und lächelte sich geheimnisvoll zu. Für diese Reise hatte sie sich vorgenommen, ihren Mann auf kunstvolle Art und Weise zu betrügen. Direkt vor seiner Nase.

Es war schließlich keine Herausforderung, das in einen Zeitraum zu verlegen, an dem er nicht zu Hause war. Seine Arbeit hielt ihn lange genug aus der Villa fern. Seit sie von seinen kleinen Vergnügungen erfahren hatte, hielt sich Vivienne auch nicht mehr zurück. Im Grunde war es erstaunlich genug, dass sie noch immer verheiratet waren. In Adolphes Alter wandten sich seine Kollegen meist einem jüngeren Ehefrauen-Modell zu. Doch für sein Geschäftsfeld, in dem auf konservative Normen extrem viel Wert gelegt wurde, brauchte er Vivienne.

Langsam rückte sie ihr Kleid zurecht und kontrollierte den richtigen Sitz ihrer Oberknee-Strümpfe, die mit Strapsen an einem kleinen Gürtel oberhalb ihres Slips befestigt waren. Das seidige Reiben erfüllte sie mit Vorfreude. Die meisten Männer mochten eine geschickte Verpackung bei einer Frau, doch sie trug diese aufreizende Wäsche, weil sie ihr gefiel. Es verlieh ihr ein Gefühl von Exklusivität. Nur sie wusste, was sich unter dem matt schimmernden Stoff ihres Kleides befand, nur sie konnte dieses Geheimnis verraten. Zwar hatte sie sich zur Tür gewandt, doch hielt sie noch für einen Moment inne und schlüpfte aus ihrem Slip, den sie im Kosmetikkoffer versteckte. Die kühle, klimatisierte Luft schlug an ihre nackte Haut und ließ ihr einen leisen Schauer über den Rücken laufen. Sie war bereit für ihr kleines Abenteuer und Adolphe würde sie nicht daran hindern können.

Als sie in das Abteil zurückkehrte, lag er auf dem oberen Bett und schien eingeschlafen. Eine Haarsträhne klebte undekorativ an seiner feuchten, leicht geröteten Haut. Dass es tatsächlich eine junge Frau gab, die sich seinen über die letzten Jahre hinweg aufgeschwemmten Körper freiwillig antat, erstaunte Vivienne immer wieder. Doch für ein großzügiges Taschengeld waren viele Menschen bereit, ihre Moral beiseite zu schieben. An Adolphe gab es für sie seit Langem nichts Anziehendes mehr und sie war froh, dass ihr andere Frauen die lästige Pflicht seiner Befriedigung abnahmen.

Ein Schnarchen drang über seine Lippen. Vivienne setzte sich an den kleinen Tisch vor das Panoramafenster und betrachtete die entschwindenden Vororte von Paris. Auf ihrem iPhone kontrollierte sie die eingegangenen Nachrichten ihrer Freundinnen. Einigen hatte sie von ihrem Plan berichtet, den meisten ging es ähnlich wie ihr. An Männer gefesselt, die zwar noch ihre Verpflichtungen wahrnahmen, aber sich nur noch um eigene Interessen kümmerten, hatten sie sogar gewettet, welche von ihnen die erste sein würde, der es gelingen würde, sich ein Abenteuer direkt unter der Nase ihres Mannes zu angeln. Vivienne war fest entschlossen, die Gewinnerin zu sein. Sorgfältig bürstete sie ihr Haar aus und gönnte sich eine neue Lage des roten Lippenstiftes, bis sie mit ihrem Aussehen zufrieden war. Jetzt würde sie das Material sichten gehen. Mit einem leichten Lächeln auf den vollen, geschwungenen Lippen trat sie auf den Gang hinaus.

 

 

Ausgerechnet er. Charles konnte es immer noch nicht ganz fassen, doch die Einladung, gedruckt auf teurem Büttenpapier, war echt. Ein renommierter Verleger hatte ihn nach Berlin eingeladen, um über eine Neuauflage seines Erstlingswerkes zu verhandeln. Üblicherweise ging derlei über den Tisch seines Agenten, doch hatte der Verleger, ein exzentrischer Herr älteren Semesters und noch älterer Schule, darauf bestanden, seinen neuen Autor persönlich kennenzulernen.

So sei er, das hatte Charles' Agent ihm versichert, schon lange ein Bewunderer seines œuvre. Außerdem übernahm der Verlag die Reisekosten, da konnte man schlecht ›Nein!‹ sagen. Das Klima von Paris im Sommer war so deplorabel, dass Charles die Gelegenheit gerne nutzte, um der Hitze und den unvermeidlichen amerikanischen Touristen zu entkommen.