image

Rolf Schneider

Schonzeiten

Ein Leben in Deutschland

image

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Alle Rechte vorbehalten.

ebook im be.bra verlag, 2013

© der Originalausgabe:

www.bebraverlag.de

Die Geschichte meines Lebens aufzuschreiben ist eine morbide und entwürdigende Aufgabe.

GILBERT G. CHESTERTON

Die Schonzeit bezeichnet den Zeitraum, in dem Fang und Tötung von Wild durch das Jagdgesetz verboten sind. Für Tiere, die nicht dem Jagdgesetz unterstellt sind, gibt es keine Schonzeiten.

KONVERSATIONSLEXIKON

Jeder erlebt die Symbole seiner Zeit. Bloß werden sie ihm oft erst später verständlich.

ROBERT MUSIL

Contents

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

1

Vor dem Gerichtsgebäude warten sechs Überfallwagen der Berliner Polizei. Mehrere Beamte in Uniform schlendern über die Turmstraße, Walkie-Talkies in Händen und Wind im Gesicht. Der Seiteneingang unmittelbar neben dem Hauptportal ist von metallenen Absperrgittern flankiert. Die Tür wird nach dem Drücken eines Klingelknopfes geöffnet, ich darf einen Vorraum betreten, dessen andere Tür sich erst nach dem Schließen der ersten bewegt.

Ich stehe in einem kahlen Kontrollraum mit gekalkten Wänden und kahlen Lampen, mit Schließfächern, mit Kabinen für die Leibesvisitation. Ich muss meinen Personalausweis vorzeigen. Ich muss meinen Aktenkoffer abliefern. Ich muss sämtliche Gegenstände, die ich bei mir trage, auf die Tischplatte legen. Ich werde mit einem Metalldetektor abgesucht. Ich muss meinen Mantel und meine Jacke ausziehen, sie werden befühlt, während ein Beamter meinen Körper mit den Händen abtastet. Ich muss mich auf einen Stuhl setzen, meine Schuhe abstreifen, damit der Beamte auch meine Füße abtasten kann. Mein Aktenkoffer wird in ein Schließfach gestellt. Ich erhalte eine apfelsinenfarbene Papiermarke, als Beleg, man händigt mir außerdem eine grüne Papiermarke aus, die mir den Einlass ermöglichen soll.

Der Zuschauerraum des Verhandlungssaales 500 im Berliner Landgericht ist über eine steile Treppe zu erreichen. Der Justizbeamte an der Tür nimmt mir meine grüne Marke ab. Die Bänke sind kaum zur Hälfte besetzt, überwiegend von alten Leuten, sie sind weißhaarig, manche tragen ein Hörgerät. Auf den Pressebänken sitzen fünf Personen. Der Saal zeigt Stuck am Plafond und dunkles Paneel an den Wänden. Gläserne Sicherheitskabinen stehen links und rechts, aber sie bleiben leer, die Angeklagten und ihre Verteidiger sitzen an Tischen unmittelbar davor.

Es ist der 84. Verhandlungstag des Strafprozesses gegen Egon Krenz und andere. Von den ursprünglich sechs Angeklagten blieben nur mehr vier: Dohlus, Kleiber, Krenz, Schabowski, einstige Mitglieder des SED-Politbüros und in dieser Eigenschaft beschuldigt, für Tötungen und versuchte Tötungen an der innerdeutschen Grenze verantwortlich zu sein. Wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes wurden die ursprünglich mitangeklagten Hager und Mückenberger aus dem Prozess entlassen. Sie sind Greise von über achtzig. Auch die verbliebenen Angeklagten stehen alle im Rentenalter, die Richter und Beisitzer der 27. Großen Strafkammer könnten, dem Alter zufolge, ihre Enkel sein. Der Vorsitzende Josef Hoch war noch nicht geboren, als die Berliner Mauer entstand.

Als ich eintrete, ist Egon Krenz dabei, eine Erklärung zu verlesen. Es geht um die Schusswaffengebrauchsbestimmung, die für die Grenztruppen der DDR gültig war und die fast wortwörtlich übereinstimmte mit der Schusswaffengebrauchsbestimmung für den Bundesgrenzschutz. Egon Krenz liest, wie er schon früher vortrug: mit jenem hochpathetischen Ton, den er als langjähriger Jugendfunktionär erwarb. Der weißhaarige Mann, neben dem ich sitze, nickt dazu, unentwegt, als wolle er zustimmen, erst später bemerke ich, dass dieses Nicken weitergeht, auch als Krenz geendet hat, es handelt sich um einen nervösen Tremor.

In den folgenden Stunden erlebe ich eine für mich gespenstische Wiederkehr von Vergangenheit. Schon die Kontrollmaßnahmen am Eingang haben mich an die alte DDR erinnert: Sie schienen einzig den Zweck zu haben, mich einzustimmen. Die Greise, zwischen denen ich sitze, zeigen die verwelkten Physiognomien und das versteinerte Gebaren hoher SED-Funktionäre. Die Wörter, die aus den Lautsprechern fallen, heißen Klassenauftrag, Grenzregime, Nationaler Verteidigungsrat, Nomenklaturkader: Wortmüll eines verwehten Präteritums, das hier zu geisterhafter Auferstehung erwacht. Krenz blickt mich an. Seine Augen wirken leer. Es ist der Blick eines, der mit der Macht alles Selbstverständnis verlor, der nur noch taumeln kann zwischen Trostlosigkeit und Trotz. In der Pause werde ich gefragt werden, was ich beim Anblick dieser Angeklagten empfinde. Ich werde antworten: Ein Gefühl leisen Triumphes und zugleich ein Gefühl der Scham.

Ein Zeuge wird gerufen. Es tritt auf ein kleiner alter Mann mit dünnem Haar, er hält einen Hut in der Hand, den er auf den Zeugentisch legt, er trägt einen grauen Kunststoffanorak, den er über die Lehne des Zeugenstuhles hängt. Umständlich befestigt er ein Hörgerät an seinem linken Ohr. Der Justizbeamte neben dem Saaleingang lehnt gelangweilt den Kopf an die Wand.

Der kleine alte Mann arbeitete einst als Sektorenleiter in der Abteilung Sicherheit beim SED-Zentralkomitee, sein militärischer Rang war Generalmajor. Er berichtet, die Sekretariate des Zentralkomitees hätten Weisungsbefugnisse nur innerhalb der Partei besessen, während für den staatlichen Betrieb Regierungsstellen zuständig waren: im Bereich der Grenztruppen der Verteidigungsrat und das Verteidigungsministerium. Der kleine alte Mann beherrscht noch mühelos die untergegangene Sprache der SED-Nomenklatura, mit ihrer Verbarmut, mit ihren endlos fortwuchernden Genitiven, er redet von der Partei- und Staatsführung und vom Genossen Generalsekretär.

Die Strategie der Angeklagten besteht darin, die juristische Verantwortlichkeit der Partei und deren Führung für das Grenzgeschehen zu leugnen. Es scheint, das Gericht lässt sich darauf ein. Ein anderes Argument der Verteidigung, bei Grenzproblemen sei die Souveränität der DDR durch die Sowjets eingeschränkt gewesen, hat es bereits akzeptiert: am 80. Verhandlungstag, vor zwei Wochen. Es dürfte auf eine Strafminderung hinauslaufen. Gleichwohl bleibt es dabei, dass die SED in der DDR die entscheidende Kraft war, auch laut Verfassungstext; angesichts der durch das Bundesverfassungsgericht bestätigten Urteile gegen Todesschützen und deren militärische Vorgesetzte ist eine völlige Straffreiheit kaum zu erwarten.

Der Vorsitzende fragt höflich, und der Zeuge entgegnet. Manchmal versteht er die Frage nicht. Der Justizbeamte neben der Tür schläft, halboffenen Mundes. Lethargie hängt im Saal wie eine unsichtbare Wolke. Egon Krenz macht sich Notizen. Die drei anderen Angeklagten starren vor sich hin. Der Verteidiger Pfanneschwarz liest im Spiegel.

Die Angeklagten, das weiß man, da sie es öffentlich mitgeteilt haben, betrachten den Prozess als einen Akt von Siegerjustiz. Daran ist wahr, dass Unrechtshandlungen, die eine politische Macht beging, immer erst justiziabel werden nach deren Niedergang. Es stellt sich die Frage nach Sinn und Nutzen einer Strafverfolgung in diesem besonderen Fall. Geht es um Prävention? Die Angeklagten werden nie wieder Macht haben über ein Grenzgeschehen oder überhaupt politische Macht. Geht es um Vergeltung? Sie ist Urgrund aller Strafverfolgung, aber, gestehen wir es ein, sie ist zutiefst atavistisch, vormodern, kein Verbrechen lässt sich wirklich abgelten, die aufgeklärten Strafziele heißen Sicherung und Erziehung. Wovor sollte man diese Angeklagten bewahren und wozu erziehen? Prävention meint auch Abschreckung. Von der wissen wir, dass sie kaum greift, am wenigsten im Politischen: Die Aburteilung der Hauptkriegsverbrecher 1946 in Nürnberg hat eine Wiederholung der damals verhandelten Verbrechen anderswo in der Welt nicht verhindern können. Der einzige Grund, über politische Untaten zu richten, bleibt die Tatsache, dass nicht über sie zu richten noch unerträglicher wäre.

Die Schuld der DDR-Führung ist außerordentlich. Sie reicht von schweren Menschenrechtsverletzungen über Misswirtschaft, Begünstigung, Fälschung und Lüge bis zur völligen Pervertierung einer großen Emanzipationsidee. Egon Krenz wird nur für die indirekte Mitwirkung an Totschlag belangt. Ich fühle mich an Al Capone erinnert: Er hatte fürchterlichste Verbrechen begangen, aber er wurde verurteilt wegen Steuerbetrug.

Moralische und juristische Schuld sind zweierlei Ding, ebenso wie Gerechtigkeit und Recht. Günter Schabowski, intelligentester der vier Angeklagten, hat wenigstens seine moralische Schuld akzeptiert, die anderen haben nicht einmal das. Egon Krenz sieht den Vorsitzenden Richter als Erfüllungsgehilfen von Bundeskanzler Helmut Kohl. Er projiziert seine an der DDR gewonnene Vorstellung von abhängiger Justiz auf die 27. Strafkammer beim Berliner Landgericht.

Die ist formal völlig unabhängig, natürlich, unempfindlich gegenüber dem Zeitgeist ist sie kaum. Dass die allgemeine Stimmung gegen die frühere DDR-Führung sich gewandelt hat, nicht zur Nachsicht, doch zu Gleichgültigkeit und Desinteresse, wird ihr kaum entgehen. Vielleicht macht dies die Richter gelassener. Vielleicht macht es sie nachsichtiger. Ohnehin wirken Begriffe der alten DDR-Terminologie in ihren Mündern sonderbar befremdlich, fast ein wenig obszön.

Die Zeugenvernehmung wird unterbrochen, für eine Pause. Der Justizbeamte schließt die Tür auf. Das Treppenhaus ist für solchen Andrang zu schmal, die Greise murren, ein paar von ihnen hocken sich auf die Stufen. Ein dänischer Journalist tritt heran und fragt sie nach ihren Eindrücken. Sie straffen sich. Sie blühen förmlich auf. Sie wiederholen die Argumente der Verteidigung und wechseln unvermittelt ins Aktuelle: Hier würden Kommunisten verfolgt, und draußen auf den Straßen marschiere der Faschismus! Der Journalist notiert es gehorsam. Mein weißhaariger Nachbar von der Zuschauerbank nickt nachdrücklich.

2

Das Kind, das ich einmal war, wurde geboren und wuchs auf in der sächsischen Industriestadt Chemnitz. Unter den drei großen Kommunen des einstigen Königreichs und nunmehrigen Freistaates Sachsen spielte Chemnitz immerfort die Rolle des Aschenputtels. Das hatte mit der vergleichsweisen historischen Unerheblichkeit zu tun und mit der geopolitischen Lage unmittelbar am Eingang des Erzgebirges, das, seit der mittelalterliche Silberbergbau zum Erliegen und der darauf basierende Wohlstand abhanden gekommen waren, über Jahrhunderte zur Armenlandschaft herabsank, mit einer auffälligen Neigung zur religiösen Sektenbildung. Der ökonomische Aufstieg von Chemnitz begann im späten 19. Jahrhundert, durch eine bald prosperierende Textil- und Maschinenbauindustrie, ein Großteil aller deutschen Lokomotiven wurde hier hergestellt, man nannte die Stadt deutsches Manchester oder Rußchemnitz, was erschöpfende Auskunft erteilt über Funktionalität und Ästhetik.

Die Industrialisierung schuf ein Proletariat von beträchtlicher Zahl und mehrheitlich radikaler Gesinnung; Fritz Heckert, führendes Mitglied des Spartakusbundes und, später, der KPD, stammte aus Chemnitz. Dies alles würde nicht verhindern, dass Adolf Hitler, als er deutscher Reichskanzler war, seine erste Ehrenbürgerschaft in Chemnitz erhielt: Die Stadt habe keinen Charakter, hieß es bei Beobachtern, und dies verstehe sich in einem durchaus umfassenden Sinn.

Zu solchen düster eingefärbten zivilisatorischen Hintergründen will es wenig stimmen, dass die Stadt Chemnitz eine erstaunlich große Anzahl von bemerkenswerten Intellektuellen hervorgebracht hat: den Maler Karl Schmidt-Rottluff, Literaten wie Stefan Heym, Stephan Hermlin, Peter Härtling, Irmtraud Morgner, Kerstin Hensel und Barbara Köhler. Auch Walter Janka, gelernter Schriftsetzer, Emigrant, Spanienkämpfer, Verlagsleiter in Mexiko wie in Ostberlin, politischer Häftling unter zwei deutschen Diktaturen und gegen Ende seines Lebens ein viel gelesener Autor, stammte aus Chemnitz.

Für den Kunstsinn gab es eine zentrale Adresse. Sie trägt den Namen Kaßberg. Nicht alle in der Stadt beheimateten Künstler lassen sich auf diesen Stadtteil beziehen, aber sie werden durch ihn begreiflich. Das Viertel mit seinem etymologisch schwer erklärbaren Namen liegt westlich der Altstadt, am linken Ufer des Chemnitzflusses. Es existierte ein deutliches Sozialgefälle der Einwohnerschaft von Süden nach Norden, äußerlich ablesbar schon an den Architekturen. Die Häuser südlich der Weststraße waren die eleganteren, und hier lebte ein Gutteil der Chemnitzer Bourgeoisie.

Das Kind, das ich war, wuchs auf im nördlichen Teil. Die Straße hieß nach dem Ort einer eher unbedeutenden Schlacht im deutschfranzösischen Krieg von 1870/71. Es gab ein Lebensmittelgeschäft und an der Ecke eine Bäckerei. Die Fahrbahn hatte glatten Asphalt, man konnte auf ihr Rollschuh laufen, was ich getan habe, um immer wieder zu fallen und mir die Knie blutig zu schlagen und einmal das Kinn.

Wir wohnten im Erdgeschoss einer mehrstöckigen Mietskaserne. Die Räume waren dämmerig und die Wände in einem der zur Straße gehenden Zimmer etwas feucht. Es gab keine Innentoiletten. Der familiäre Ort für die Notdurft befand sich auf halber Treppe und war ein Anlass für kindliches Ekelgefühl, im Sommer wurde er bewohnt von Schmeißfliegen und stechendem Geruch, im Winter, wenn Frost herrschte, gerann die Feuchtigkeit im Abfallrohr zu widerlichen grünbraunen Stalaktiten.

Dass man auch anders leben konnte, erfuhr ich durch einen Spielkameraden, der auf derselben Straße wohnte, in einem Eckhaus, das über deutlich komfortablere Unterkünfte gebot. Der Vater des Jungen war Rechtsanwalt und offenbar ein erfolgreicher. In seiner Wohnung gab es ein Klavier, und es gab im Korridor, eigens installiert für den Sohn, eine Schaukel, befestigt am hohen Plafond und begabt, in langen ruhigen Schwüngen zu pendeln, und bei alledem blieb Platz genug, dass man sich auch gehend hier bewegen konnte. Ich genoss das Schaukeln, wenn ich auf dem Brett Platz nehmen durfte, ich genoss es sehr, mit einem wohligem Gefühl im Zwerchfell, und viel mehr noch als das Klavier, das ich immer nur unbenutzt erlebte, schien dem Gemüt des Kindes, das ich war, die Schaukel als ein Gipfel von Wohlleben und Luxus.

Den hatten wir nicht. Das Kind, das ich war, begriff frühzeitig, dass es Unterschiede in den Lebensbedingungen gab, und vermutlich waren es Bemerkungen meines Vaters, die dies als ein korrigierbares Unrecht benannten. Ihn hatte dergleichen frühzeitig in die Gefolgschaft von Menschen und Organisationen geführt, denen es programmatisch um eine Aufhebung der materiellen Ungleichheit ging.

Er stammte aus Leipzig. Er war der Sohn eines Zigarrenmachers, bei dem, so sagte die Familienlegende (der ich misstraue), gelegentlich der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete August Bebel eingekehrt sei. Ich habe meinen Großvater niemals kennengelernt, denn die Familie war da schon heillos zerstritten; der alte Herr war verwitwet eine zweite Ehe eingegangen, in die zwei Söhne eingebracht wurden, die ihr Stiefbruder ablehnte, da sie, Bebel hin oder her, eingeschriebene und engagierte Hitler-Anhänger waren.

Mein Vater hatte den Beruf eines Metallformers erlernt und war, als der Erste Weltkrieg begann, eingezogen worden zur kaiserlichen Kriegsmarine. Er diente als Matrose auf einem Kreuzer, der erst den Namen Breslau und dann den Namen Midilli trug, denn er wurde mitsamt seiner Mannschaft von Deutschland an die kriegsverbündete Türkei ausgeliehen, für die er dann im östlichen Mittelmeer schipperte. Irgendwann lief er auf eine britische Mine und explodierte. Die deutschen Matrosen sprangen ins Wasser und wurden, sofern sie nicht ertranken, von einem Schiff der Royal Navy aufgefischt, das sie anschließend als Kriegsgefangene in die Festung Valetta auf der Insel Malta verbrachte. Es muss dort, darf ich den Schilderungen meines Vaters glauben, überwiegend langweilig zugegangen sein. Möglicherweise hat der revolutionäre Virus, der 1917 Mannschaften der deutschen Kriegsmarine in Kiel heimsuchte, auch Insassen der Festung Valetta befallen. Jedenfalls geschah es, dass mein Vater, als er im Jahre 1919 in sein Geburtsland zurückkehren durfte und der Putsch der roten Matrosen Albin Köbis und Max Reichpietsch bereits niedergeschlagen war, sich seinerseits einem revolutionären Geschehen anschloss.

Dessen Anführer hieß Max Hoelz. Er befehligte mehrere mitteldeutsche Aufstände, und mein Vater wurde sein Gefolgsmann. Mein Vater wurde, was mich an der Vernunft jener politischen Erhebung immer etwas zweifeln ließ, Mitglied im Musikkorps von Max Hoelz, wobei nicht bloß zu fragen wäre, ob denn eine revolutionäre Arbeiterarmee unbedingt einer Militärkapelle bedürfe, hinzu kam, dass mein Vater, was ich wusste, herzlich unmusikalisch war.

Nach dem letzten der Hoelz-Aufstände, er ereignete sich im Vogtland, wurde der Anführer verhaftet und zu einer längeren Freiheitsstrafe verurteilt. Meinem Vater gelang es, in die Tschechoslowakei zu fliehen, wo er sich einen fremden Pass zulegte, um unter falschem Namen nach Sachsen zurückzukehren. Für die kleinen Revoluzzer der deutschen Inflationsjahre gab es später eine Amnestie, mein Vater konnte seinen Geburtsnamen wieder führen, er arbeitete wieder in seinem erlernten Beruf und trat der Kommunistischen Partei bei.

Max Hoelz, der später in die Sowjetunion emigrieren und von Stalins Leuten umgebracht werden sollte, war ein deutscher Anarchist. Mein Vater war es auch. Er hatte, denke ich, weder Stirner noch Bakunin noch Malatesta gelesen, wahrscheinlich kannte er nicht einmal diese Namen, sein Anarchismus war eher eine Sache der Nerven, aber es gab ihn unzweifelhaft, und er äußerte sich auch im Alltag, als eine anhaltende Respekt- und Disziplinlosigkeit gegenüber Autoritäten jeglicher Art. Dies machte, dass er immerfort den Arbeitsplatz wechseln musste, quer durch allerlei Städte in Mittel- und Norddeutschland. Er fand stets eine neue Stellung, da er geschickt und arbeitsam war und sogar die Schulung zum Formermeister erfolgreich durchlaufen hatte; die Belegschaften kürten ihn gerne zum Betriebsrat, aber immer wieder zerstritt er sich mit seinen Vorgesetzten, die ihn hernach verstießen, und auch die KPD verstieß ihn, eben weil er ein Anarchist war.

Zur Zeit meiner Geburt arbeitete er in Chemnitz bei einer Fabrik, die Lokomotiven produzierte. Er hatte meine Mutter geheiratet, eine ängstliche, zu Krankheiten neigende und etwas wehleidige Person, zu deren Pflichten neben den täglichen Hausfrauentätigkeiten es gehörte, die gelegentlichen Konflikte zwischen dem Vater und seinem einzigen Kind auszugleichen. Sie war, frühzeitig eine Vollwaise geworden, dem Beruf einer Näherin nachgegangen, in einer kleinen sächsischen Puppenfabrik, und sie hatte von ihrem Vater, einem an der Schwindsucht gestorbenen Maurerpolier, eine völlig überschuldete Mietskaserne geerbt, was ihr immerhin den stolzen Status einer Hausbesitzerin verlieh. Die Sache blieb virtuell, die Mietskaserne warf so gut wie keine Beträge ab; wir lebten von den Einkünften meines Vaters, und da meine Mutter so sparsam war, dass es die Grenzen des Geizes erreichte, war jedenfalls immer Geld im Haus.

Es war eine Existenz am untersten Rand der Kleinbürgerlichkeit. Natürlich waren wir in Wahrheit eine Proletarierfamilie, doch meine Eltern, meine Mutter voran, wollten eine solche nicht sein, und das übliche Kleinbürgerbedürfnis, die Miserabilitäten der eigenen Existenz mit Geschick, Anstrengung und Fortüne hinter sich zu lassen, irgendwann, wenn nicht selber, dann wenigstens bei der Folgegeneration, bestimmte die Fantasien meiner Eltern. Mein Vater konnte dies in seinen sozial-anarchistischen Vorstellungen unterbringen; die sowohl von Karl Marx als auch von W. I. Lenin geäußerte Ansicht, der Anarchismus sei eine Kleinbürgerkrankheit, hat vermutlich seine Berechtigung. Aber verhält es sich mit dem klassenbewussten Proletariat sehr viel anders? Was, außer seiner Bürgerkriegsmilitanz (die es mit den Anarchisten teilt), unterscheidet es kulturell von einer petite bourgeoisie? Die proletarische Kultur ist die Erfindung oder Behauptung von Intellektuellen, die in ihrer Mehrzahl abgefallene Bürgerkinder waren; wenn sie dem Proletariat entstammten, wie Maxim Gorki oder Otto Nagel, strebten sie danach, sich möglichst rasch in bourgeoise Lebensumstände zu begeben.

image

Chemnitz, Kaßberg. Ansichtspostkarte vom Beginn des 20. Jahrhunderts

Das Kulturelle betreffend hatten meine Eltern bescheidene ästhetische Neigungen. Mein Vater war irgendwann in seiner umtriebigen Berufsexistenz Abendschüler eines Kunstmalkurses gewesen. Die Resultate waren ein paar Kohlezeichnungen auf gelblichem Papier, Porträts von bärtigen Billigmodellen, und eine gewisse Fertigkeit im Umgang mit Staffelei, Palette und Ölfarbe. Er kopierte nach Vorlagen, es waren bayerische Bergpanoramen aus der Hand namenloser Konfektionäre, es konnte auch Van Gogh sein und Paul Cézanne. Dergleichen hing dann an den Wänden unseres Wohnzimmers, das selten benutzt wurde, da die Außenmauer dort feucht war und das gewöhnliche Alltagsleben in der Küche ablief.

Meine Kinderwelt war klein und ziemlich schäbig. Im Hinterhof sandte ein Waschhaus mehrmals die Woche weißliche Wrasen aus, die nach billiger Seife schmeckten. Der Hausverwalter, der im dritten Stockwerk wohnte, war ein dürrer Mensch mit kahlem Geierkopf, er hasste Hunde, Kinder und Katzen und war ihnen mit schriller Stimme hinterdrein. In den Rinnsteinen sammelte sich trockener Straßenstaub, den der Regen in dunkelgrauen Schlamm verwandelte, den manche Kinder zu kleinen Hügeln schichteten. An einer Straßenecke stand eine Bierschwemme, deren Tür beim Öffnen und Schließen sauren Zigarettenqualm entsandte. Ein debiler Junge rannte in kurzen Stotterschritten um das Viertel, in den Fingern eine Wäscheklammer, die er hin und her schnellen ließ, wobei er mit den Lippen das Geräusch eines Benzinmotors nachahmte.

An trockenen Sommertagen öffneten sich die Fenster. Frauen legten vor sich hin auf den Sims ein Kissen und stützten die nackten Ellenbogen darauf. In dieser Haltung blickten sie gierig hinab auf die Straße, um zu registrieren, was dort stattfand. Manchmal spielten wir Murmeln, ein paar andere Kinder und ich, oder wir sprangen Himmel und Hölle, indem wir ein aus mehreren Sicherheitsnadeln bestehendes Kettchen von uns warfen, um ihm dann einbeinig hinterher zu hüpfen, in allerlei Felder, die mit Kreide auf die Granitplatten des Gehwegs gezeichnet waren.

Ein knappes Jahr nach meiner Geburt begann die politische Herrschaft des Diktators Adolf Hitler. Mein Vater ist nie sein Anhänger gewesen, was sich mit seiner linken Vergangenheit und seinen autoritätsfeindlichen Neigungen erklären lässt, und meine Mutter mochte ihn nicht, da sie den uniformierten Lärm der braunen Bürgerkrieger nicht ertrug, auch das immer dramatischer werdende Schicksal von Juden schien sie zu verwirren.

In dem Lebensmittelladen nebenan durfte die Butter, oder jedenfalls die sogenannte gute Butter, bald nicht mehr in beliebiger Menge eingekauft werden. Die Begründung war im Radio zu hören, vielleicht wurde sie auch auf Plakaten und in der Zeitung gedruckt, aber ich konnte sie damals noch nicht lesen. Kanonen statt Butter. Der Geschäftsinhaber war ein klein gewachsener Mensch, der während seiner Arbeit einen gestärkten weißen Baumwollkittel trug, auf dem Rücken einen schmalen Stoffriegel an zwei Knöpfen. Der Mann hinterließ einen ähnlichen Eindruck wie der Hausverwalter, seine Beflissenheit, schien es, maskierte die lauernde Bereitschaft zum Terror. In Böhmen waren die dort lebenden Deutschen zu Deutschland gekommen, mitsamt dem Gebiet, das sie bewohnten und das Sudetenland hieß. Dafür bringe man doch mal gern ein Opfer, sagte der Geschäftsinhaber. Die Butter entnahm er einem auf dem Fußboden seines Ladens stehenden Eichenfass, mit Hilfe eines hölzernen Spachtels, den er hernach auf einem Blatt Pergamentpapier abstrich. Genaue Mengen ergaben sich entsprechend der Anzeige auf der Lebensmittelwaage, sie wurden als Zahlen in ein Notizheft eingetragen. Bevor er zu schreiben anfing, benetzte der Geschäftsinhaber die Spitze seines Kopierstiftes mit der Zunge. Wenn ein Kunde sein Geschäft betrat oder es wieder verließ, grüßte er deutlich mit Heilhitler.

Am 10. November 1938, dem Tag nach jenem dann euphemistisch Reichskristallnacht benannten Pogrom, ging ich an der Hand meiner Mutter durch die Chemnitzer Innenstadt. Hier standen die großen Warenhäuser von Salman Schocken und Hermann Tietz, die wir manchmal, früher, aufgesucht hatten. Jetzt waren die riesigen Schaufensterscheiben alle zerschlagen und die Auslagen geplündert. Ich sah armlose nackte Kleiderpuppen, zerfetztes Papier, Dreck, Steine, viele Menschen standen gaffend oder feixend umher, der Himmel war grau, und die Luft war feucht, meine Mutter zog mich weiter, mit verstörter Miene, ich spürte das Knirschen von Glassplittern unter meinen Schuhsohlen.

Ich wurde Erstklässler in der nahe unserer Wohnung gelegenen Andréschule. Zu diesem Anlass erhielt ich eine mit Naschwerk gefüllte Papptüte, deren Leimgeruch stärker war als das billige Pfefferminz- und Erdbeeraroma des in der Tüte enthaltenen Zuckerzeugs. Nach welchem der zahlreichen Andrés französischer oder hessischer Herkunft die Schule ihren Namen trug, weiß ich nicht. Das Schulgebäude stand an einer Straße, die gleichfalls nach André hieß, und nahe einer im Stil der Neuen Sachlichkeit errichteten Kirche.

Das Schulgebäude war riesig, kahl, wirkte abweisend und verfügte über ein ausgedehntes Hofgelände, das durch einen Drahtgitterzaun begrenzt wurde. Der Klassenlehrer war ein ausgemergelter Mann mit gelbem Wolfgebiss. Er gebot über ein breites Sortiment an Rohrstöcken, die er manchmal zum Einsatz brachte. Seine Herrschaft war der Schrecken. Bei ihm lernte ich das Lesen und Schreiben. In den Pausen auf dem Schulhof lernte ich die ersten obszönen Verse. Damals geschah auch schon, dass bestimmte Nahrungsmittel bloß noch auf Zuteilung erhältlich waren. Es war der Vorgriff auf die völlige Rationierung und also die Vorbereitung auf den Krieg.

Ich ging das zweite Jahr zur Schule, als er ausbrach. Jedes Kind musste ein sogenanntes Kriegstagebuch führen, das waren großformatige Hefte, in die wir die Schlagzeilen der Tagespresse einzutragen hatten, wozu die ausgeschnittenen Pressefotografien von lachenden Soldaten und rollenden Panzerfahrzeugen eingeklebt wurden. An einer Wand des Klassenzimmers hing eine Europakarte, auf der kleine bunte Papierfähnchen den wechselnden Frontverlauf markierten. Beim Heimweg waren überall in den Straßen aus geöffneten Fenstern jene Fanfaren zu hören, mit denen der Großdeutsche Rundfunk die Sondermeldung von siegreichen Ereignissen anzukündigen pflegte.

Ich wurde durch die Kriegseuphorie kaum infiziert. Solange ich zurückdenken kann, empfand ich gegenüber jeglicher Gewaltanwendung einen tiefen Widerwillen. Den Stolz, mit dem manche Klassenkameraden davon berichteten, ihr Vater sei Frontsoldat, blieb mir fremd. Mein Vater wurde für ein paar Monate zur Marine eingezogen und bald wieder zurückbeordert, da er in seinem Metallberuf für die deutsche Kriegswirtschaft als unverzichtbar galt.

Sobald ich die nötige Fertigkeit besaß, begann ich mich auf Bücher zu stürzen. Ich las, wann immer ich die Zeit und die Möglichkeiten dazu hatte. Ich las Märchen und Abenteuergeschichten, auch Gereimtes, ich las einzelne Bücher mehrmals, wenn es keinen Nachschub gab, ich lieh mir Bücher von anderen, ich erhielt Bücher als Geschenk zu den üblichen Anlässen, Geburtstag und Weihnachten. Ich erlas mir Fluchtwelten, fantastische und komische, deren Koordinaten sich allesamt weit jenseits der Straße befanden, an der wir wohnten. Auch sonst verließ ich sie jetzt immer öfter und auf immer längeren Wegen, den Kaßberg hinauf und hinunter, unter Ulmen und Linden, vorbei an einzelnen Häusern in tiefen Gärten, hin zu Aveniden, wo Kinos und Theater standen und geheimnisvolle Veranstaltungsunternehmungen mit Namen wie Kristallpalast.

Die letzte Erinnerung an das Chemnitz meiner Kindheit sind jene an mondgelbe Straßenbahnen, die sich kreischend eine Kaßbergauffahrt hinan bewegen, sind abgedunkelte Fensterscheiben, sind die hinter Glas befestigten Spielfilmbilder eines Kinotheaters an der Zwickauer Straße. Chemnitz war eine dreckige und düstere, aber noch intakte Stadt.

3

Meine Eltern verzogen nach Wernigerode. Mein Vater hatte eine neue Arbeitsstelle erhalten, bei einer Gießerei, die Leichtmetallteile für Adolf Hitlers Luftwaffe produzierte und für die geheimnisvollen V-Waffen, die in einem Bergwerksstollen des nahen Südharzes, bei Nordhausen, durch aus dem Konzentrationslager Buchenwald herbeigeschaffte Arbeitskräfte montiert wurden. Die Gießerei gehörte einem Metallurgieunternehmen, das eigentlich im Rheinland beheimatet war. Die Wernigeröder Filiale lag vergleichsweise geschützt und war bald so mächtig geworden, dass der Besitzer im Ortsteil Hasserode als seinen Wohnsitz eine prächtige Villa mit einem ausgedehnten Parkgarten erwarb.

Wernigerode war, und ist immer noch, eine reizende Stadt. Ich liebe sie, bis heute, ich liebe sie innig, obschon sie mich manchmal gepeinigt hat und ich mich ihr niemals ganz zugehörig fühlen konnte. Das war schon durch unsere Wohnung bedingt. Der rheinische Metallfabrikant hatte am Ortsrand, wo die Stadt sich in flaches Land verlor, eine Siedlung aus drei Wohnblöcken errichten lassen, für einen Teil des in seinem Betrieb tätigen Personals. Das mehr als schmucklose Quartier befand sich in der Nähe eines kleinen Teiches und am Rand einer Süßkirschenplantage. Nahebei stand eine große schwarze Holzscheune, in der eine blökende Schafherde nächtigte.

Der Weg zur Stadt führte an einem schäumenden Flüsschen entlang. Manchmal wehte vom anderen Ufer fauliger Geruch herüber, von der dort befindlichen Lederfabrik. Das Flüsschen wurde von einer kleinen Steinbrücke überspannt. Rechts von ihr, im Schlachthof, quiekten die zum Tod verurteilten Schweine. Jenseits der Brücke begann die eigentliche Stadt.

Sie bestand aus Häusern, die rote Ziegeldächer hatten, und Mauern, die von dunkelbraunem Fachwerk gehalten wurden. Die Ziegel zwischen den Balken, sorgfältig mit roter und weißer Farbe bestrichen, fügten sich zu Mustern. Man konnte Runensymbole herauslesen, heidnische Überlieferung; ein fleißiger Mittelschullehrer, beeindruckt von der Germanenseligkeit damaliger Machthaber, las dergleichen und verfasste ein bebildertes Büchlein dazu.

image

Wernigerode

Wernigerode, lernte ich später, besaß das Stadtrecht seit siebenhundert Jahren, war Marktzentrum gewesen und Zankapfel konkurrierender Raubritter. Deren einer hatte sich eine Burg errichtet über der Stadt. Seinen Erbfolgern brannte sie nieder, dass sie aufs Neue bauen mussten. Aus der Burg wurde ein Schloss. Ein Flügel war noch schönes niederdeutsches Spätbarock, der renommierteste Aristokrat der Sippe, Feldherr des ersten Hohenzollernkaisers, baute dann viel Gründerprotz um den Flügel herum und gab damit Wernigerode seine heutige Silhouette.

Gleichsam als Antwort darauf wucherten aus der Stadt stillos Häuser mit Fachwerk und Schiefertürmchen die Hügelhänge hinan, Imitate des Schlosses, an dem selber schon viel Talmi war. In den Gärten sprossen Magnolien, Buchsbaum und Immergrün. Hier ließ es sich sparsamer und somit länger von Renten leben, was viele Grauköpfe anzog, die ihre noch vorhandenen Kräfte in Vergnügungen ihres Geschmacks einbrachten, Chorgemeinschaften zum Beispiel und Wandervereine.

Die Häuser mit den Schiefertürmchen hängten sich Schilder übers Tor: Fremdenpension. Da war schon der Erste Weltkrieg vorbei. Matt und sehr verspätet hatte die Industrialisierung Wernigerode erreicht und fügte sich vollkommen ins Gegebene: Eine pharmazeutische Fabrik sowie eine Fabrik zur Herstellung von Schokolade und Süßigkeiten entstanden, Dienstleistungen fürs komfortable Altwerden. Exzentrischster unter den reichen Leuten der Stadt war ein Hotelier, Besitzer einer aufwändigen Fremdenherberge, seiner Tochter hielt er mehrere Pferde, und die Tochter ritt auf ihnen allmorgendlich, zum Verdruss der Anrainer.

Am Stadtrand mit den Mietblöcken, in deren einem wir daheim waren, begann das Ackerland. Es war überaus fruchtbar und ließ aufs prächtigste die Zuckerrübe gedeihen, wodurch Gründerwohlstand eingezogen war auch in die Höfe von Klein- und Mittelbauern. Der meiste Boden gehörte ein paar Domänen, darauf saßen Adelsgeschlechter von unbestimmter Geschichtlichkeit. Sie fühlten aufs Ganze preußisch, da die Provinz preußisch war, hatten aber auch welfische Neigungen, denn ethnisch war hier bereits Niedersachsen.

Dem Zuschnitt seiner Bevölkerungsmehrheit nach war Wernigerode eine bürgerliche Stadt. Dem Nationalsozialismus des Adolf Hitler hatte sie sich eher widerwillig geöffnet. Für den aus Magermilch hergestellten, mit Kümmel versetzten, in Taler- oder Stangenform gepressten Harzer Käse gab es einen erfolgreichen Wernigeröder Produzenten: Benno Russo, verheiratet mit einer ehemaligen Opernsängerin, Clara, geborene Jaffe. Beide Eheleute waren von jüdischer Herkunft. Ihre Fabrik wurde arisiert. Die Russos verloren ihre Villa und mussten den gelben Stern tragen. Im Winter 1942 wurden sie in das Ghetto Theresienstadt gebracht, wo Benno Russo verstarb, seine Frau wurde weiter deportiert, nach Auschwitz, und kam dort um.

Die anderen Klein- und Handwerksbetriebe pflegten ein patriarchalisches Ordnungsgefüge, das an den Zunftbetrieb erinnerte zu Zeiten des Meistersingers Hans Sachs. Es gab daneben so etwas wie ein Plebejat. Die Frauen quetschten herzerquickende Kräutersäfte aus einjährigen Digitalisstauden oder packten Schokoladenpralinen in Stanniol, die Männer zogen auf den Berghängen Schrotsägen durch Fichtenstämme, trugen den Geruch jungen Holzes in Haar und Kleidern, rauchten bitteren Krüll in ihren Pfeifen, waren gebräunt und mager und tranken wasserhelle Schnäpse. Sie wirkten überwiegend finster. Ihre Finsternis, aller Logik zum Trotz, verbarg keinerlei revolutionäre Gesinnung, sie war wortlose Klage über einen Zustand, der benachteiligte, doch unumstößlich war.

Die staatspolitisch vorgeschriebenen Pflichtübungen versah man eher lax. Ein jugendliches Lieblingswort jener Jahre war »lässig« und meinte im Inhalt das, was sechzig Jahre später cool heißen würde. Ich glaube, nirgendwo außer im katholischsten Oberbayern wurde etwa der Dienst bei Adolf Hitlers Jungvolk so nachlässig gehandhabt wie in Wernigerode. In Chemnitz war das ein blutiges Ritual gewesen. In Wernigerode war nichts weniger erstrebenswert als ein Rang dortselbst. Nach der ersten sinnlosen Rauferei mit Namen Geländespiel schloss ich mich dem allgemein geübten Brauche an, persönliche Anwesenheit durch elterliche Entschuldigungszettel zu ersetzen; die konnte man gleich im Dutzend beibringen. Niemand fand etwas dabei. Als dann doch jemand etwas dabei fand, ließ ich mich bei einer Spielschar anheuern, wo ich mittat im preußischen Durchhalteschauspiel Kadetten des Bühnendichters Lützkendorf. Ich gab darin einen Flöte spielenden Offiziersschüler und hatte gerade zwei Sätze Text. Aufgeführt wurde das Ganze in einem Theatersaal, den der Herr der Leichtmetallfabrik, sozialer Gesinnung folgend, auf seinem Betriebsgelände hatte errichten lassen.

Das Gymnasium, das ich besuchte, war ein graues Gebäude mit neugotischem Zierrat. Es stand neben einem mittelalterlichen Stadttor und war benannt nach dem Feldherrn des ersten Hohenzollernkaisers. Es gab einen ausgedehnten Pausenhof, wo, vor einem Findling mit dem Wappen derer von Stolberg-Wernigerode, alljährlich die Schülerschaft Aufstellung nahm, um ihre Abiturienten zu verabschieden, durch den Chorgesang von Gaudeamus igitur.

Die Lehrerschaft bestand aus ein paar ältlichen Frauen und vielen alten Männern, einige jenseits des Pensionsalters, manche etwas kauzig; ihre jüngeren Amtsbrüder trugen längst soldatische Uniformen und kämpften an Adolf Hitlers Fronten. Einer unserer Studienräte, er unterrichtete Latein, hob, wenn er den zu Unterrichtsbeginn vorgeschriebenen deutschen Gruß vollführte, seinen rechten Arm, der in einen braunen Lederstumpf auslief, die Hand hatte er im Ersten Weltkrieg verloren. Das war fast eine Denunziation, doch eine unfreiwillige. Der Mann trug das runde NSDAP-Abzeichen am Revers. Nach 1945 trat an seiner Stelle seine Ehefrau eine steile Karriere an als DDR-Vorzeigepädagogin.

Die Gegenwart des Krieges wurde, je weiter er fortschritt, immer unübersehbarer und auch unüberhörbarer. Die örtlichen Fremdenpensionen hatten sich in Lazarette verwandelt. Bei warmem Wetter hockten hinter den geöffneten Fenstern Verwundete, mit bandagierten Köpfen, oder sie hielten Armstümpfe ins Licht. In der örtlichen Zeitung häuften sich Traueranzeigen mit abgebildetem Eisernen Kreuz und der Formel »In stolzer Trauer«. Die auf Lebensmittelmarken erhältlichen Rationen schrumpften. Die Gymnasialklassen schwollen an, Kinder aus bombenbedrohten Regionen wurden hierher evakuiert und wollten weiter unterrichtet werden. Jetzt gab es an unserer Anstalt auch ein paar weibliche Schüler, sie luden das träge Klima des Hauses mit etwas Erotik auf.

Das Radio lieferte die ölige Stimme des Sprechers Heinz Goedecke mit der Durchhaltesendung Wunschkonzert. Zunehmend häufiger gab es ein anhaltendes Schweigen, alle paar Sekunden unterbrochen durch vier Paukenschläge in zwei Tonhöhen, dazu eine männliche Stimme mit einer Luftlagemeldung: das Eindringen feindlicher Bombengeschwader, ihre wahrscheinliche Flugroute. Dies war die elektroakustische Begleitung von Fliegeralarm, der uns in Schutzkeller schickte, wo wir einem möglichen Bombardement zu entgehen hofften. Wernigerode blieb davon verschont bis auf ein einziges, eher zufälliges, das ein paar Häuser vernichtete und mehrere Menschenleben.

Die Fronten rückten näher. Ein paarmal begegnete ich am Ortsrand Gruppen von Männern in blau-weiß gestreiften Häftlingsanzügen, sie hatten Straßenarbeiten auszuführen, unter strenger Bewachung. Das örtliche Jungvolk warb für die Ausbildung an der Waffe Panzerfaust. Ein Junge aus der Nachbarschaft nahm begeistert daran teil. Das Sirenengeheul mit dem Signal für Panzeralarm schickte uns auf zwölf Stunden in die Schutzkeller, zwischendurch stürzten Leute auf die Straße, sie wollten einen auf dem Güterbahnhof abgestellten deutschen Versorgungszug plündern. Über die Dächer flogen pfeifend Artilleriegeschosse. Auf dem Brockenberg verteidigte sich eine Einheit der Waffen-SS gegen die vorrückende US-Army. In den Radioapparaten war jetzt nur mehr knisterndes Schweigen. Schließlich hielt vor den Häusern unserer Siedlung ein amerikanischer Panzer, weißer Stern auf olivgrünem Grund, im geöffneten Turm der Oberkörper eines farbigen GI. Er lachte mit großen weißen Zähnen und warf den Kindern Kaugummibriefchen zu.

4

Das Wetter war sonnig, schon seit Tagen, schon seit der Zeit vor dem amerikanischen Einmarsch. Die Obstbäume trugen an ihren Zweigen kleine grünbraune Knoten. Im Schlachthof schrien keine vom Tod bedrohten Tiere, auf dem Platz davor würde sich nie mehr braun uniformiertes Jungvolk versammeln.

Ich fühlte ein unbestimmtes Gefühl der Leichtigkeit. Mit jedem Schritt, den ich ging, schien es mich weiter auszufüllen. Die Eisenbahn war nicht in Betrieb, die Schlagbäume am Bahnübergang wiesen höhnisch und rot-weiß in die Höhe. Der Himmel war ohne Wolken und hatte als Farbe ein wasserhelles Blau. Hinter den Schienen stand ein Jeep mit zwei Amerikanern, beide waren weißhäutig, sie rauchten, sie lasen jeder in einer Zeitung namens Stars & Stripes und beachteten den vorbeigehenden Jungen nicht.

Die Lazarette hatten Rot-Kreuz-Fahnen gesetzt. Die Fenster waren geschlossen, kein Mensch, kein Verwundeter ließ sich erkennen hinter den dunklen Scheiben. Ich fühlte, dass bestimmte Zwänge und Ängste, die ich gewohnt gewesen war, seit ich denken konnte, und die ich wie selbstverständlich genommen hatte, sich nun nicht mehr einstellen würden. Nie mehr. Sie waren untergegangen. Sie waren fortgezogen mit den letzten deutschen Soldaten in ihren steingrauen Uniformen. Es gab bloß noch leere Straßen, es gab gelangweilte Amerikaner in ihrem Jeep, die Stars & Stripes lasen, es gab etwas, wofür ich noch keinen Namen wusste, wofür ich später, wenn ich mich daran erinnerte, das Wort Freiheit verwenden würde, in diesen Augenblicken erfüllte es mich mit einem namenlosen Gefühl der Erleichterung, so stark und so überwältigend, dass ich am liebsten aufgeschrien hätte.

Was danach begann, war der Sommer einer kleinstädtischen Anarchie. Wernigerode erlebte nach den amerikanischen Besatzungstruppen zunächst, für ein paar Wochen, britische Militäreinheiten, danach sowjetische. Die Rote Armee requirierte einen Hügel, umgab ihn mit einem dunkelgrünen Zaun, setzte einen roten Stern obenauf und ließ aus Lautsprechern blecherne Marschmusik erschallen. Auf dem Hof des Gymnasiums häuften sich aussortierte Bücher aus der Schulbibliothek, Stempel auf den Vorsatzblättern zeigten den Adler mit dem Hakenkreuz, die Verfassernamen lauteten Scherzinger oder Jelusich oder Blunck. Krankheiten liefen um, und vorsichtig etablierte sich ein Schwarzer Markt. Im Herbst begann wieder der Schulunterricht. Er begann mit übervollen Klassen, winters im Schichtbetrieb, da zu wenige geheizte Räume existierten, manchmal mit neuen Lehrbüchern, das waren auf graues Papier gedruckte Broschüren. Die Pädagogen blieben die alten.

Die Versorgung mit Nahrungsmitteln fiel in Wernigerode etwas besser aus als in den großen Städten. Gute Verbindungen zu den Dörfern erbrachten Tauschgeschäfte mit den Bauern, und von abgeernteten Feldern dort ließen sich reichlich Überreste auflesen. In den Wäldern wüteten Schädlinge. Davon befallene Bäume durften abgeholzt und für Heizzwecke verwendet werden. Im Radio spielten die durch die Besatzungsmächte eingerichteten Sender Swingmusik.

In der Folgezeit begaben sich dann, sehr allmählich, drei für meine Zukunft erhebliche Dinge: die fortschreitende Teilung Deutschlands, die fortschreitende Herrschaft des Marxismus-Leninismus und mein fortschreitendes Interesse für Künste, voran die schöne Literatur.

Über Premieren in Berlin las ich sehnsüchtig Berichte der Zeitschrift Theater der Zeit. Ich saß in Gastspielen der kleinen Quedlinburg Bühne, die Arthur Millers Alle meine Söhne spielte, einer der Darsteller wurde später prominent, Herbert Baumann. Ich kaufte Zeitschriften, die Roland von Berlin hießen, athena und Lancelot. Sie waren auf miserablem Papier gedruckt. Ich las darin über moderne Malerei und literarische Avantgarde, empfand viel Ehrfurcht und verstand bloß wenig. Ich las von Hadschi Halef Omar, Winnetou und Old Surehand, ein Schulkamerad besaß über sechzig Bände der großen grünen Karl-May-Ausgabe. Ich saß im Kino und erlebte die ersten deutschen Nachkriegsfilme.

Irgendwann geriet mir ein Auswahlband von Rilke-Dichtungen in die Hände. Ich wurde überwältigt von ihrem Ton, das sollte lange nachhalten.

Dabei war es nicht der Cornet, jener aus Adelspomp, Frauenliebe und Heldentod gemachte Text, der mich ergriff; pazifistisch gestimmt, solange ich denken konnte, blieb mir solche Haltung verdächtig. Ich mochte Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, die Neuen Gedichte, manches aus dem Stundenbuch und den Sonetten an Orpheus.

Die Bäume in Rilkes Dichtung, erkannte ich, wuchsen nicht in Wäldern, sondern in Alleen, Gärten, Friedhöfen und Parks. Bei allen Pflanzen bevorzugte er die gestaltete Natur, die Blumen waren bloß ausnahmsweise Wild- und Wiesengewächse, viel häufiger Züchtungen, die man in Gartenbeete pflanzt, Hortensien und Syringen. Auch Mohn war bei ihm nicht die Wildblume, sondern die Kulturpflanze, Spenderin des berauschenden Opiats. Diese Symbiose aus Natur und Künstlichkeit beschäftigte mich. Vor allem aber waren es die hohe Musikalität und Biegsamkeit seiner Sprache, der souveräne Umgang mit Vers und Reim, die außerordentliche Empfänglichkeit für optische Eindrücke, die mich beeindruckten.

Was mich irritierte, war Rilkes Neigung zur Spiritualität. Den Ton der Duineser Elegien bestaunte ich, ihre Inhalte begriff ich nicht. Offenbar ging es um Mitteilungen einer privaten Mythologie, die ebenso mehrdeutig wie geheimnisvoll war. Bestimmte Grundmuster und -motive kehrten ständig wieder: die Engel, die Liebenden, ein vager Gottesbegriff, die Einsamkeit, der Tod.

Ich begann nach Zeugnissen von Rilkes Leben zu suchen. Ich las seine Briefe. Ich las die Beschreibungen und Urteile anderer. Ich erfuhr, der private Rilke sei eigensüchtig, humorlos, eitel gewesen und anhänglich vor allem denen, die ihm materielle Unterstützung gewährten. Da die meiste Zeit seines Lebens seine Einkünfte mäßig ausfielen, seine Ansprüche an dieses Leben aber gehoben waren, blieb er angewiesen auf Mäzene, und da er fast sein gesamtes Leben hindurch einem Adelstick anhing, suchte er sich diese Unterstützung bevorzugt bei betuchten Edelleuten und am besten solchen weiblichen Geschlechts.

Für seine Exegeten blieb er eine Art Halbgott, dem man sich nur gebückt nähern durfte. Ich mochte mich nicht gerne bücken. Ich fing zu begreifen an, dass zwischen dem Geist einer Dichtung und der Haltung ihres Verfassers schmerzhafte Unterschiede bestehen können. Bald sollte ich erfahren, dass dergleichen die Regel ist.

5

Durch Wernigerode floss ein kleines Gewässer mit Namen Holtemme. Manchmal hockte ich dort am Ufer, ein Buch auf den nackten Knien, in der Ferne war das Blöken weidender Schafe. Ich starrte in strudelndes Wasser, das sich blassgelb verfärbte und nach den galligen Flüssigkeiten der nahe gelegenen Gerberei stank. Für Sekunden trat der Gestank zurück und gab Raum für süßlichen Parfümgeruch. Ich hob den Kopf und erblickte eine weibliche Person, die, unmittelbar hinter mir, vorbeiging in Richtung Stadtinneres. Die weibliche Person trug eine Sonnenbrille und beachtete mich nicht. Ich hörte, in das Rauschen des Baches hinein, ein leichtes sinnliches Klatschen von Sandalensohlen gegen nackte Fersen, das sich rasch entfernte.

Am nächsten Tag gab es abermals eine Begegnung, fast zur gleichen Zeit und fast an der gleichen Stelle. Eine schmale Gestalt mit anmutigem Gang bewegte sich zwischen den schwarzen Stämmen der Kirschbäume. Sie kam langsam näher, bis sie sich mit mir auf gleicher Höhe befand. Das leise Klatschen von Sandalensohlen gegen nackte Fersen war nicht zu hören, denn die weibliche Person trug geschlossene Schuhe.

Am nächsten Morgen, in der Schule, war ich etwas zerstreut. Nach dem Unterricht, auf dem Rückweg, erwartete ich ein neuerliches Zusammentreffen. Es blieb aus. Ich kehrte heim, warf meine Schulmappe von mir und schaltete das Radio ein. Im Hamburger Sender sang ein flüsternder Bariton You belong to my heart.

Ich traf sie wieder am nächsten Tag. Diesmal trug sie erneut die Sandalen, deren Sohlen leise klatschend gegen ihre nackten Fersen schlugen.