cover
Titelseite

Houston,
bitte kommen

So hatten sich Hanna und Lucy ihren ersten Ferienabend bei Oma nicht vorgestellt. Hier saßen sie nun und sahen sich wie in der Schule eine Doku an statt das Modelcasting, das sie viel brennender interessierte. Und die DVD mit der neuesten Staffel von Grey’s Anatomy lag auch noch unberührt da. Aber es half alles nichts, Oma wollte unbedingt zum hundertsten Mal die Mondlandung sehen!

Lustlos hockten Hanna und Lucy in Chillhosen auf dem gemütlichen Sofa im Wohnzimmer ihrer Großmutter, die es sich in ihrem eleganten Ohrensessel bequem gemacht hatte. Auf der Mattscheibe des alten Röhrenfernsehers flimmerte eine Dokumentation über die Mondlandung im Juli 1969.

»Wahnsinn – es ist schon fünfundvierzig Jahre her, dass die Besatzung der Apollo 11 auf dem Mond gelandet ist. Mir kommt es vor, als sei es erst gestern gewesen«, sagte Oma und nippte an ihrem Eistee. Hinter ihrem Rücken gähnte Lucy demonstrativ, um ihrer Schwester anzudeuten, wie öde sie das Ganze fand. Als Antwort verdrehte Hanna die Augen.

Höchste Zeit, den Abend ein bisschen spannender zu gestalten, fand Lucy …

Jetzt endlich werden Originalaufnahmen der Mondlandefähre Eagle gezeigt. Das interessiert Lucy dann doch. Sie beugt sich vor und schaut auf den Fernsehschirm, auf dem nun Aufnahmen zu sehen sind, die Lucy noch nicht auf YouTube entdeckt hat. Eben erklärt der Kommentator, dass das Mutterschiff, die Apollo 11, nicht zur Landung auf dem Mond geeignet ist, dass es aber auch nicht alleine in der Umlaufbahn des Erdtrabanten zurückgelassen werden darf. Deshalb muss einer der drei Astronauten, Michael Collins, darin zurückbleiben, während Neil Armstrong und Buzz Aldrin in die kleinere Mondlandefähre umsteigen. Lucy versucht sich vorzustellen, wie einsam sich dieser Michael Collins gefühlt haben muss, so ganz allein in einer NASA-Rakete. Ob er sich wohl geärgert hat, dass er als Einziger nicht auf dem Mond spazieren darf? Hatten die drei ausgelost, wer im Mutterschiff bleiben muss? Oder hatte der Präsident höchstpersönlich oder irgendein General entschieden, wer der Glückliche sein würde, der als Erster den Mond betritt?

Der Ton wird nun gedämpfter, es rauscht etwas, und jemand verkündet auf Englisch: »Houston, Tranquility Base here. The Eagle has landed.« Der Adler ist gelandet. Faszinierend – die historische Tonaufnahme von Neil Armstrong verursacht immer wieder eine Gänsehaut! Tranquility Base, damit ist das »Meer der Ruhe« gemeint – eine ebene Stelle auf der Mondoberfläche, die zur Landung ausgewählt worden war. Neil Armstrong hat die Landefähre, wie vorhin im Bericht erklärt, manuell dorthin gesteuert, weg von dem felsigen Krater, wohin der Bordcomputer sie um ein Haar gebracht hätte. Er hat dabei die Ingenieure im Kontrollzentrum Houston kräftig ins Schwitzen gebracht. Damals war die Technik wohl noch nicht so weit, denkt Lucy, sonst hätte es keine derart gefährlichen Kursabweichungen gegeben. Andererseits war man im Jahr 1969 zugleich auch unglaublich fortschrittlich: Weniger als siebzig Jahre nach Erfindung des Flugzeugs hat die Menschheit damals die Reise zum Mond geschafft. Eigentlich unvorstellbar!

»Was sitzt ihr hier herum? Los jetzt, an die Arbeit!«, unterbricht eine herrische Frauenstimme Lucys Gedanken. Sie klingt klarer und näher als die rauschenden Aufnahmen der Astronauten und auch als die ruhige Kommentatorenstimme des Off-Sprechers. Überrascht schaut Lucy auf – und blickt geradewegs in das empörte Gesicht einer eleganten Dame, die sie noch nie zuvor gesehen hat. Ihr halblanges rotbraunes Haar ist mithilfe eines Reifens nach hinten frisiert und wurde am Hinterkopf leicht auftoupiert. Sie trägt ein gerade geschnittenes, ärmelloses Minikleid, dessen groß gemustertes Design in knalligem Pink, strahlendem Gelb und leuchtendem Mintgrün nicht gerade als unauffällig bezeichnet werden kann. Es erinnert Lucy vage an eine altmodische Tapete, so wie Oma sie früher in ihrer Wohnung hatte. Im Moment hat Lucy allerdings kaum Zeit, sich über das Outfit der Fremden Gedanken zu machen, denn die Minikleid-Dame blitzt sie wütend aus erstaunlich hellblauen Augen an, die dick mit schwarzem Kajal umrahmt sind. »Ihr werdet nicht fürs Rumtrödeln und Fernsehglotzen bezahlt«, zischt sie die Schwestern wütend an und Lucy weicht unwillkürlich ein Stück zurück. So viel Energie hätte sie einer so zierlichen Frau gar nicht zugetraut. Aber wer ist das? Was meint sie mit »an die Arbeit« – und wofür »bezahlt« sie Hanna und Lucy?

Plötzlich springt Hanna auf und fängt an, sich wortreich zu entschuldigen. Auch Lucy erhebt sich und starrt ihre Schwester verblüfft an. Wie sieht Hanna denn aus? Auch deren Augen sind dunkel geschminkt, sodass sie irgendwie völlig übernächtigt wirkt. Dagegen wirken Smokey-Eyes geradezu unauffällig. Vor allem aber ist sie höchst merkwürdig gekleidet: Sie trägt ein kurzes schwarzes Kleid und darüber eine weiße Schürze, fast wie ein Hausmädchen-Faschingskostüm. Ihre langen Haare hat sie zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Hatte sie nicht eben noch eine gemütliche Jogginghose und ein bequemes T-Shirt an?

Ein Griff an den eigenen Hinterkopf bestätigt Lucy, dass auch ihre Frisur sich verändert hat. Ihre Haare sind zu zwei Zöpfen geflochten, so wie bei einem kleinen Mädchen. Oder einem Indianerinnen-Kostüm. Sie schaut an sich hinunter. Tatsächlich, sie ist ebenso seltsam gekleidet wie ihre Schwester. Und ein Blick durch den Raum bestätigt, was sie schon vermutet hat: Sie sind nicht länger in Omas Wohnzimmer, sondern …

Ja, wo eigentlich? Wohin sind sie diesmal gereist?

Der Raum ist voller Menschen und wirkt dennoch nicht überfüllt, was an seiner beeindruckenden Größe liegt. Omas Wohnzimmer würde locker fünfmal hineinpassen! Und auch was die Einrichtung betrifft, könnte der Unterschied kaum größer sein: Während Omas Haus gemütlich dekoriert und ein bisschen altmodisch ausgestattet ist, wirkt hier alles elegant und kühl. Die Möbel sind aus Plexiglas, blitzendem Chrom und schwarzem Leder. In der Ecke ist eine Bar aufgebaut, daneben führt eine breite Schiebetür hinaus in einen parkähnlichen Garten und gibt den Blick frei auf einen Swimmingpool. Eindeutig – wer hier wohnt, hat richtig viel Geld! Wahrscheinlich ist die angesäuerte Minikleid-Dame die Hausherrin. Doch wer sie ist und wo sich ihr schickes Haus genau befindet, muss Lucy wohl später herausfinden. Nun gilt es erst einmal, aus der Schusslinie der Gastgeberin zu kommen, die ganz offensichtlich von den Schwestern erwartet, dass sie irgendwelche Arbeiten verrichten. Ihrem Outfit nach sollen sie wohl kellnern. Zu diesem Resultat kommen Lucy und Hanna ziemlich gleichzeitig, weshalb sie mit wiederholtem »Sorry« gemeinsam dorthin eilen, wo sie die Küche vermuten.

Auf dem Weg stoßen sie um ein Haar mit einer jungen Frau zusammen, die dank ihrer Kurzhaarfrisur und der superschlanken Figur fast wie ein Junge aussieht – wenn ihre Ohren nicht mit extragroßen Creolen geschmückt wären und sie nicht das gleiche Outfit anhätte, das auch Hanna und Lucy tragen.

»Oh, tut mir leid«, stößt Hanna erschrocken hervor.

»Schon gut«, sagt die Angerempelte und balanciert gekonnt das Tablett aus, das sie mit der linken Hand trägt. Kein einziges Glas fällt um, nicht einmal ein winziger Tropfen Flüssigkeit schwappt über. Sie scheint diesen Job nicht zum ersten Mal zu machen. »Ich heiße Peggy. Freut mich, dass ihr zur Unterstützung gekommen seid!« Dann streckt sie den Schwestern die freie rechte Hand hin: »Ich bin hier die Nanny. Aber heute darf ich mich zur Feier des Tages um die großen Kinder kümmern statt um die kleinen.«

Erleichtert atmen die Schwestern auf. Peggy scheint nett zu sein. Und vor allem kann sie ihnen erklären, was zu tun ist. Bestimmt wird sie ihnen auch verraten, wo und wann sie hier gelandet sind.

»Zur Feier des Tages?«, wiederholt Hanna, nachdem sie sich ebenfalls vorgestellt haben.

»Zur Feier der Mondlandung natürlich«, meint Peggy, »sagt bloß, ihr habt das nicht mitbekommen? Seit Tagen wird von nichts anderem gesprochen und heute sind die Weltraumkutscher endlich am Ziel. Deshalb wird hier gerade große Fete gemacht. Ich find’s wirklich hyperphänomenal! Vor allem, dass wir hier in Houston alles live mitbekommen.«

»Es ist der zwanzigste Juli 1969«, begreift Hanna. »Wahnsinn!« Ganz offensichtlich sind sie durch die Zeit gereist und auf einer waschechten Mondlandungsparty gelandet, und das in einer schicken texanischen Villa.

»Exakt«, sagt Peggy und lacht. »Übrigens sind die Partygäste ziemlich hungrig und durstig. Schnappt euch die Tabletts mit Häppchen und Getränken in der Küche und legt los.«

Ein großer Schritt …

»Mensch, Lucy, hast du wieder an Omas Taschenuhr herumgespielt, ohne nachzudenken?«, zischt Hanna in Lucys Ohr, während sich die beiden auf den Weg in die Küche machen. Zerknirscht zuckt Lucy mit den Schultern. »Hab ich ganz spontan gemacht«, murmelt sie als Entschuldigung. »Diese Dokumentation war einfach so langweilig, dass ich es nicht länger ausgehalten habe. Dann dachte ich mir: Mal sehen, ob die Realität damals nicht ein bisschen spannender war. Und zack, waren wir hier. Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach geht.«

»Tja, und schon wieder hast du uns damit unvorbereitet in die Vergangenheit katapultiert«, stellt ihre Schwester fest, doch ihre Stimme klingt dabei nicht mehr ganz so vorwurfsvoll wie eben.

»Sorry, nächstes Mal sag ich dir vorher Bescheid«, verspricht Lucy. »Ohne das Kribbeln war ich genauso überrascht wie du, plötzlich hier zu landen.«

»Immerhin wissen wir jetzt, dass es noch funktioniert.«

»Oh!«, macht Lucy. Daran hat sie noch gar nicht gedacht. Aber Hanna hat völlig recht: Die Frage, ob sie die Zeitreisefähigkeit durch ihren harmlosen Kuss auf der Berliner Mauer verspielt hat, ist damit beantwortet. »Dann ist es doch gut, dass ich – rein zufällig – diese Zeitreise ausgelöst habe«, findet Lucy, schon wieder ganz unbekümmert. »Und außerdem müsstest du doch ganz in deinem Element sein: Was den Modestil betrifft, passt du doch perfekt in dieses Jahrzehnt!«

Damit hat sie nicht ganz unrecht, das muss auch ihre Schwester zugeben, auch wenn sie eher die Doris-Day-Variante bevorzugt als die flippigen Endsechziger-Outfits. Im Gegensatz zu Lucy, die es gerne lässig mag, liebt Hanna klassische Linien – am besten einfarbig und dezent. Sie bevorzugt gerade geschnittene Hosen, hochwertige Shirts, schlichte Blusen oder schmale Etuikleider. Schmuck trägt sie selten, wenn man von ihrer silbernen Halskette mit Herzanhänger absieht, ohne die man sie fast nie sieht. Allerdings sind Hannas Lieblingsfarben Schwarz und Weiß – ganz im Gegensatz zu den Outfits der Partygäste, die es in Sachen Farbenpracht locker mit einem Pfau oder einem bunten Papagei aufnehmen können. Diese Farbenfreude entspricht wiederum ganz Lucys Geschmack: Die jüngere der beiden Schwestern mag es gerne bunt und flippig.

»Es kann wohl nicht schaden, sich hier ein bisschen umzuschauen«, grinst Hanna schließlich und pikst ihrer kleinen Schwester dann liebevoll in die Seite. »Du kannst einen aber auch erschrecken mit diesen unvorhergesehenen Abenteuern …«

Doch vorerst bleibt wenig Zeit zum Beobachten, denn Peggy kann jede Unterstützung gebrauchen und weist die beiden Aushilfskellnerinnen rasch ein. Lucy drückt sie ein Tablett mit Lachs-Kaviar-Häppchen, gefüllten Eiern und überbackenen Weißbrotscheiben in die Hand.

»Sind das etwa Hawaii-Toasts?«, fragt Lucy und fügt in Gedanken hinzu: Waren die damals etwa gerade modern?

»Wieso denn Toast aus Hawaii?«, erwidert Peggy. »Das sind Grilled Spamwiches.«

»Spam? Du meinst nervige Werbe-Mails?«, platzt Lucy verwundert heraus. Das kann doch nicht sein: In einer Zeit, in der es weder Laptops noch elektronische Post gab, müssten Junkmails doch eigentlich vollkommen unbekannt gewesen sein.

Zum Glück hat das Lachen der Partygäste Lucys unbedachte Frage übertönt. Während sich eine Gruppe Frauen in bodenlangen Blumenkleidern und Herren in schicken Anzügen über einen Scherz der Gastgeberin amüsiert, stupst Hanna ihre Schwester an und raunt ihr zu: »Spam-Mails wurden doch nach dieser Frühstücksfleisch-Marke benannt. Hast du noch nie davon gehört? Das geht alles auf einen dieser schrägen Monty-Python-Sketche zurück, die Papa so komisch findet.«

Was Hanna so alles weiß … Lucy fand zwar die Achtziger megaspannend, aber für alles, was noch länger her ist, interessiert sie sich nicht besonders. Auch nicht dafür, wo irgendwelche Redewendungen ihren Ursprung haben. Und statt über Monthy Python lacht sie eher über Anke Engelke oder Elias M’Barek. Auch wenn sich die beiden Schwestern äußerlich fast so stark ähneln, als wären sie eineiige Zwillinge, sind sie doch in ihren Vorlieben sehr unterschiedlich. Lucy ist vor allem ausgesprochen spontan, was sie wie jetzt auch zuweilen in verzwickte Situationen bringt, aber sie ist auch äußerst pragmatisch. Deshalb schnappt sie sich ohne weitere Diskussionen das Tablett mit den Snacks und meint: »Am besten sage ich gar nichts mehr, abgesehen von feel free to take one oder please help yourself.« Mit diesen Worten stürzt sie sich ins Gewühl, um den Partygästen das Retro-Fingerfood anzubieten.

»Okay«, wendet sich Peggy an Hanna, »dann hilfst du mir mit den Getränken.«

Hanna nickt.

»Fangen wir mit dem einfachen Teil an«, beginnt Peggy. »Ganz unkompliziert sind die Männer, die nur Altherrenbrause trinken, und die Ladys, die Diplomatensprudel schlürfen.« Irritiert zieht Hanna die Stirn kraus. Peggy muss übersetzen. »Bier und Sekt«, erklärt sie schulterzuckend. Kaum zu fassen, dass Hanna die gängigen Jugendslang-Ausdrücke nicht kennt. Peggy kann ja nicht ahnen, dass ihre neue Kollegin einer völlig anderen Generation entstammt. Einer, in der man »Hopfenblütentee« und »Rülpswasser« zu Bier und Sekt sagt.

»Alles klar«, behauptet Hanna und tut so, als hätte sie Peggy eben nur rein akustisch nicht richtig verstanden. Sie kann ja unmöglich erklären, dass sie in Wahrheit fast fünfzig Jahre jünger ist als Peggy. Doch die hat ihren Vortrag zum Thema Getränkeservice längst fortgesetzt: »Die meisten Gäste lieben jedoch Longdrinks. Jack bereitet immer ganze Tabletts damit vor, die musst du einfach nur verteilen. Die anderen Drinks servierst du auf Bestellung.«

Hanna schwirrt jetzt schon der Kopf. Lucy hat’s gut! Hätte sie sich doch bloß für das Snack-Tablett entschieden …

»Die Lady mit dem langärmeligen Glitzer-Minikleid und den schulterlangen Haaren trinkt beispielsweise Pink Lady. Passend zur Garderobe.« Nach dieser Beschreibung erkennt Hanna sofort, wen Peggy meint, und prägt sich ihr Outfit zusammen mit dem Getränkewunsch ein. Rosa Glitzerkleid – Pink Lady. Eigentlich ganz einfach.

»Und siehst du die Dunkelhaarige dort drüben im Weltraum-Look?«

»Wenn damit die Frau im metallicfarbenen Rock und den weißen Lackstiefeln gemeint ist, ja«, grinst Hanna.

»Genau. Sie bestellt immer einen Old Fashioned.« Die Eselsbrücke ist naheliegend: futuristischer Modestil – altmodisches Lieblingsgetränk, jedenfalls wenn man es wörtlich übersetzt.

»Direkt daneben steht eine langhaarige Blondine im Flower-Power-Kleid mit indianischem Fransenleder und passendem Haarband. Ihr kannst du eine Bloody Mary servieren.« Indianerin – Skalp – Blut. Auch diese Eselsbrücke funktioniert gut, obwohl sie reichlich geschmacklos ist.

Doch bald hat Hanna den Überblick verloren. Es gibt einfach zu viele Gäste und zu viele unterschiedliche Drinks. Deshalb beschließt sie, lieber ins kalte Wasser zu springen und die Gäste höflich nach ihren Wünschen zu fragen. Sonst bringt sie der Dame mit den kurzen roten Haaren und dem weißen Anzug im Chanel-Stil womöglich aus Versehen einen Cuba Libre statt eines Whisky Sour und der Babydoll-Trägerin mit der hochtoupierten Beehive-Frisur einen Planters Punch statt eines Frozen Daiquiri.

»Hauptsache, du probierst nicht selbst davon«, warnt Peggy sie noch. »Das Zeug haut den stärksten Eskimo vom Schlitten.«

»Keine Sorge«, gibt Hanna zurück, »ich steh nicht auf Alkohol.« Und während sie sich schon mit einem Getränketablett unter die Gäste mischt, wundert sich Peggy noch darüber, wie merkwürdig Hanna sich ausdrückt. Auf einem Getränk kann man doch nicht stehen!

Die nächsten Stunden verbringen die Schwestern damit, die Partygäste zu bedienen und sich ihre Outfits einzuprägen. Dabei stellen sie fest, dass in Omas Jugendzeit offenbar ziemlich wenig gegessen wurde, dafür aber umso mehr getrunken und noch mehr geraucht. Man könnte fast meinen, die gesundheitlichen Risiken von Alkohol und Nikotin seien 1969 noch vollkommen unbekannt gewesen. Die Zigarette in der einen und das Glas in der anderen Hand scheinen unvermeidbare Modeaccessoires zu sein. Zum Glück hält sich ein Teil der Gesellschaft draußen um den Pool herum auf, sodass Hanna und Lucy wenigstens ab und zu frische Luft schnappen können.

»Dieser Qualm ist unerträglich«, klagt Hanna, als sich die Wege der Schwestern wieder kreuzen.

»Mir brennt er auch in den Augen«, stimmt Lucy zu, »aber ich versuche ihn zu ignorieren und stattdessen auf die Mode zu achten. Welches ist denn dein Lieblingsoutfit? Ich finde die Frau mit den Hotpants, der halb transparenten Batikbluse und dem Federschmuck im Haar ziemlich schick.«

»Meinst du die mit den Perlenketten und den unzähligen Armreifen?«

»Genau die.«

»Ehrlich gesagt gefällt mir die Dame im blassgelben Etuikleid mit der Doris-Day-Frisur und den halbhohen Pumps irgendwie besser. Die ist eleganter.«

»Alles andere hätte mich auch gewundert«, meint Lucy lachend und begutachtet kritisch das Styling der Gäste. Egal, was die Frauen tragen und wie viel Kilo Haarspray sie für ihre Frisuren brauchen: Was das Make-up betrifft, haben sie alle denselben Geschmack. Schwarzer Kajal, dunkler Lidschatten, künstliche Wimpern und blasser Lipgloss. »Irgendwie sehen alle aus wie Pandabären.«

Hanna grinst und dreht mit Altherrenbrause und Diplomatensprudel ihre nächste Runde.

Abgesehen vom Make-up kann von einem einheitlichen Look der Partybesucher nicht die Rede sein. Vielmehr zeigen die modebewussten Gäste mit ihren Kleidern eine bunte Auswahl an Farben, Schnitten und Materialien. Von schlichten, knielangen Kleidern in zarten Farben über gewagte Minis in auffallenden Mustern bis hin zu bodenlangen Gewändern im Ethno-Style ist alles dabei. Allerdings scheinen Hosen für Frauen in diesem Jahrzehnt rar gesät zu sein – zumindest als Party-Outfit. Auch die Frisuren könnten unterschiedlicher kaum sein: Während viele Damen ihre halblange Haarpracht am Hinterkopf hochtoupiert haben, tragen andere ihr in der Mitte gescheiteltes, glattes Haar hüftlang. Einige besonders selbstbewusste jüngere Ladys haben knabenhaft kurze Frisuren, so wie Peggy, oder geometrisch wirkende Haarschnitte mit exakt geschnittenem Pony.

Die Gäste amüsieren sich köstlich, unterhalten sich, lachen, trinken und rauchen, als gäbe es kein Morgen. Erstaunlicherweise ignorieren die meisten von ihnen den Fernseher, auf dem nach wie vor die Berichterstattung zur Mondlandung läuft. Noch tut sich dort auch nicht viel.

»Ich will auf keinen Fall Neil Armstrongs erste Schritte auf dem Mond verpassen«, raunt Lucy ihrer Schwester zu, als sie einander auf dem Weg zur Küche begegnen.

»Keine Sorge«, meint Hanna, »in der Dokumentation, die wir bei Oma gesehen haben, wurde gesagt, dass Armstrong und Aldrin erst um kurz vor 10 Uhr texanischer Ortszeit aussteigen. Vorher müssen sie noch den Rückflug der Landekapsel zum Mutterschiff vorbereiten und programmieren.«

»Das dauert ja noch Stunden!«, sagt Lucy, nachdem sie einen Blick auf Omas Taschenuhr geworfen hat, und seufzt.

»Oh nein«, korrigiert Hanna ihre Schwester und deutet auf die Wanduhr. »In knapp fünfzig Minuten dürfte es so weit sein, wenn die Uhr stimmt.«

Das ist ja seltsam! Ist die Taschenuhr etwa stehen geblieben? Oder zeigt sie noch mitteleuropäische Zeit an? Nein, das würde auch irgendwie nicht stimmen … Auch der kleine Zeiger, der angibt, wie lange die Zeitreise noch dauert, scheint sich nicht zu bewegen.

Hanna und Lucy beschließen, die Wanduhr von nun an nicht mehr aus den Augen zu lassen, um den großen Augenblick am Ende nicht doch noch zu versäumen. Daran, was womöglich passieren könnte – oder besser gesagt, nicht passieren könnte –, wenn die Uhr wirklich kaputt sein sollte, denken sie lieber nicht …

Draußen wird inzwischen getanzt. Ein junger Mann im grauen Anzug legt Schallplatten auf. Gerade läuft ein sehr ruhiger Song, bei dem die Paare einander eng umschlingen. Wange an Wange bewegen sie sich langsam im Rhythmus der Musik. In the Ghetto – das ist von Elvis Presley, erkennt Hanna. Wenig später geht es zu Surfin’ USA von den Beach Boys deutlich ausgelassener zu, ebenso zu You can’t hurry love von Diana Ross & The Supremes. Hanna wundert sich darüber, dass diese Lieder schon so alt sind. Rund fünfundvierzig Jahre ist es her, dass sie modern waren. Die Melodien sind ihr vertraut, sie werden noch heute regelmäßig im Radio gespielt. Jedenfalls in den Sendern, die Oma immer hört.

Um Viertel vor zehn gibt Hanna ihrer Schwester ein Zeichen und gemeinsam machen sich die beiden auf den Weg nach drinnen. Es ist höchste Zeit, sich unauffällig in die Nähe des Fernsehers zu begeben. Erst jetzt fällt den Schwestern auf, dass es sich bei dem Gerät um einen jener altmodischen Röhrenfernseher handelt, der fast so tief wie hoch und mit all seiner komplizierten, platzraubenden Technik in einer Art Holzschrank samt verschließbaren Türen eingebaut ist. Im Vergleich dazu war der Fernseher, den sie bei ihrer ersten Zeitreise ins Jahr 1985 bestaunt haben, regelrecht Hightech!

Inzwischen haben sich auch die Gäste, die vorhin noch am Pool getanzt haben, vor dem Fernseher eingefunden, wo jetzt ein ziemliches Gedränge herrscht. Aber natürlich will niemand den wohl bedeutendsten Moment in der Geschichte der Raumfahrt verpassen. Die Schwestern müssen gar nicht so tun, als würden sie weiterhin Getränke und Snacks servieren, denn niemand achtet mehr auf etwas anderes als auf das, was sich auf dem Bildschirm abspielt, am allerwenigsten die Gastgeberin.

»Die Chefin macht selbst viereckige Augen, das ist hypergut, dann kann sie uns wenigstens keine Gardinenpredigt halten, weil wir mal eben eine Pause einlegen«, sagt Peggy, die plötzlich neben den Schwestern auftaucht. Auch sie will sich die Liveübertragung nicht entgehen lassen. Lucy will schon nachfragen, was sie mit »viereckige Augen machen« meint, als ihr klar wird, dass damit das Fernsehschauen gemeint ist. Ziemlich schräg, die bildhafte Sprache der Sechziger! Und schon fährt Peggy damit fort: »Ich glaub, mein Nilpferd bohnert! Es geht los! Einsamer Knüller, ein Mensch auf dem Mond, das ist so was von mythologisch!«

Und tatsächlich: In diesem Moment klettert der erste der beiden Astronauten in seinem unförmigen Raumanzug aus der Landefähre. Auf dem Rücken trägt er ein Atemgerät, das ungefähr so groß ist wie ein riesiger Trekking-Rucksack. Insgesamt wiegt die Ausrüstung der Astronauten 180 Kilogramm, doch dank der geringen Anziehungskraft des Mondes dürfte sich das eher wie 30 Kilogramm angefühlt haben.

Neil Armstrong kündigt an, dass er nun die Leiter hinuntersteigen wird, und alle halten vor Aufregung den Atem an. Sogar Lucy und Hanna, und das, obwohl sie die nun folgenden Bilder schon mehrmals gesehen haben. Aber quasi live dabei zu sein ist natürlich viel spannender, als Jahrzehnte später eine Dokumentation darüber zu sehen.

»Astige Show«, seufzt Peggy ergriffen, als der große Augenblick gekommen ist und sich Armstrongs Fuß um 21 Uhr 56 Minuten und 20 Sekunden texanischer Ortszeit der bleichen Mondoberfläche nähert.

»Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit«, murmelt Hanna die berühmten Worte des ersten Menschen auf dem Mond, während fast zeitgleich Armstrongs Original zu hören ist: »That’s one small step for … man … one … giant leap for mankind.«

»Oberklasse, du bist ja eine echte Hellseherin«, staunt Peggy und Hanna kaut schuldbewusst auf ihrer Unterlippe. Lucy wirft ihr einen vielsagenden Blick zu. Er ist weniger vorwurfsvoll als vielmehr belustigt. Für Lucy ist es nicht immer leicht, eine große Schwester zu haben, die so perfekt ist und selten Fehler macht. Umso mehr beruhigt es sie, wenn es dann doch einmal vorkommt.

Als Neil Armstrong gemeinsam mit Buzz Aldrin die US-Flagge hisst, wird laut applaudiert und einige Gäste stimmen spontan die amerikanische Hymne an, The Star-Spangled Banner. Die Dame in dem rosafarbenen Glitzer-Minikleid und einige andere Frauen verdrücken ein paar Tränen. Ihr schwarzer Kajal verläuft und hinterlässt eine dunkle Spur auf beiden Wangen, was ein bisschen wie Kriegsbemalung aussieht. Selbst Hanna und Lucy läuft in diesem Augenblick eine Gänsehaut über den Rücken, und das, obwohl diese Sommernacht tropisch warm ist.

Als die Gäste mit Sparkling Wine auf den amerikanischen Triumph beim Wettlauf zum Mond anstoßen, stürzen sich die Schwestern ins Gewühl, um Eindrücke aufzuschnappen. Vom Arbeiten haben sie endgültig die Nase voll. Schließlich sind sie ja nicht zum Schuften hier!

»Ehrlich gesagt, finde ich es wahnsinnig schade, dass der Mond jetzt entzaubert ist«, verkündet die Lady mit dem bodenlangen Ethno-Kleid und spült ihre Enttäuschung mit einem großen Schluck Sekt hinunter.

»Du hast recht – die ganze Magie ist zerstört«, stimmt ihr eine Blondine mit toupierter Hochfrisur zu. Ihr Tonfall ist so gedehnt und affektiert, dass Hanna kichern muss.

»Die wird staunen, wenn sie eines Tages von den Verschwörungstheorien erfährt«, meint Lucy und lacht. »Wahrscheinlich gehört sie zu den Ersten, die an diesen Unsinn glauben.«

»Was denn für Verschwörungstheorien?«, will Hanna fragen, kommt aber nicht mehr dazu. Das typische Kribbeln in Händen und Beinen hält sie davon ab, weiterzusprechen, und für einen kurzen Moment schließt sie die Augen.

»Immer wieder spannend«, seufzte Oma. »Die Sechziger waren mein Lieblingsjahrzehnt und die Mondlandung das größte Ereignis dieser Epoche. Schade nur, dass ich nie dorthin zurückreisen konnte.«

Die Mädchen brauchten einen Moment, bis sie gedanklich wieder zurück in der Gegenwart angekommen waren.

»Tja, aber wir konnten es«, fasste sich Lucy als Erste. »Gerade waren wir quasi live bei der Mondlandung dabei.«

»Oh! Deswegen wart ihr so verdächtig still«, sagte Oma und zwinkerte den Schwestern zu. »Erzählt, wo wart ihr und was ist passiert?«

»Wir sind mitten in eine Mondlandungsparty in Houston geplatzt und da wurden wir für Kellnerinnen gehalten«, berichtete Hanna lachend.

»Eins kann ich euch mit Sicherheit sagen: Ich werde später auf keinen Fall Bedienung, so viel steht fest«, stöhnte Lucy. »Meine Füße tun höllisch weh und mein Rücken erst …«

»Du liebe Güte«, meinte die Großmutter schmunzelnd. »Das hört sich ganz danach an, als könntet ihr noch ein bisschen Zeitreisetraining vertragen.«

»Unbedingt!« Wäre Lucy nicht so ausgepowert, würde sie am liebsten sofort damit beginnen.

»Wie war das eigentlich damals?«, wollte Hanna wissen. »Gab es da auch so richtige Mondlandungspartys oder habt ihr von alldem nicht viel mitbekommen?«

»Oh doch! Das war hier eine Riesensache«, erklärte Oma.

»Konntest du die Mondlandung auch live im Fernsehen verfolgen?«

»Natürlich. Im Sommer 1969 war es das Medienereignis schlechthin. Obwohl es in Europa mitten in der Nacht war, lag zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich niemand im Bett und hat geschlafen. Dafür war das alles viel zu aufregend.«

»Hast du etwa auch eine Mondlandungsparty geschmissen?«, fragte Lucy kichernd und stellte sich die Großmutter im stylischen Sixties-Dress vor.

»Das nicht, aber trotzdem hat das Thema uns natürlich auch alle beschäftigt. Die Fernsehübertragung haben ungefähr 500 bis 600 Millionen Menschen weltweit an den TV-Bildschirmen verfolgt. Die Hälfte aller Fernsehsender der Welt hat die Mondlandung in der Nacht vom 20. auf den 21. Juli live übertragen und die Bilder gezeigt, wie Neil Armstrong in seinem weißen Raumanzug als erster Mensch über den Mond spazierte. Es war DAS Ereignis damals. Das ZDF hat sogar achtundzwanzig Stunden am Stück aus einem eigens gebauten ›Apollo-Studio‹ eine Sondersendung ausgestrahlt.«

»Achtundzwanzig Stunden? Im Ernst?«

Oma nickte. »Es war ein richtiger Fernseh-Marathon.«

»Das scheint für die Menschen wirklich unheimlich aufregend gewesen zu sein«, überlegte Hanna laut und schaute wieder zum Fernseher.

Der Sprecher aus dem Off berichtete gerade über die verschiedensten Verschwörungstheorien, die sich seit damals um die Mondlandung von 1969 rankten.

»Ach, seit fünfundvierzig Jahren immer die gleichen Geschichten.« Oma winkte ab und erhob sich aus dem Ohrensessel. »Da gehe ich doch mal lieber in die Küche und hole uns frischen Eistee.«

Als sie das Wohnzimmer verlassen hatte, strahlten sich die Mädchen mit leuchtenden Augen und geröteten Wangen an.

»Das war cool!«