Thomas Thiemeyer

WorldRunner
Die Gejagten

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Bücher von Thomas Thiemeyer im Arena Verlag:

World Runner. Die Jäger

World Runner. Die Gejagten

Evolution. Die Stadt der Überlebenden

Evolution. Der Turm der Gefangenen

Evolution. Die Quelle des Lebens

Thomas Thiemeyer,

geboren 1963, studierte Geologie und Geografie, ehe er sich selbstständig machte und eine Laufbahn als Autor und Illustrator einschlug. Mit seinen preisgekrönten Wissenschaftsthrillern und Jugendbuchzyklen, die mittlerweile in dreizehn Sprachen übersetzt wurden, ist er eine feste Größe in der deutschen Unterhaltungsliteratur. Seine Geschichten stehen in der Tradition klassischer Abenteuerromane und handeln des Öfteren von der Entdeckung versunkener Kulturen und der Bedrohung durch mysteriöse Mächte.

Der Autor lebt mit seiner Familie in Stuttgart.

www.thiemeyer.de

www.thiemeyer-lesen.de

»Willst du Weisheit dir erjagen,

lerne Wahrheit erst ertragen.«

Sprichwort

»Im Spiel verraten wir,

wes Geistes Kind wir sind.«

Sprichwort

»Die wichtigste Qualifikation für einen

Anführer ist es, keiner sein zu wollen.«

Plato

1

Die Lichter Kölns huschten wie Sternschnuppen an Tims Augen vorbei. Farben, helle Flächen und Muster verschwammen zu einem fiebrigen Regenbogen.

Tim presste die Nase ans Fenster der Luxuslimousine und wünschte sich weit weg. Irgendwohin, wo ihn niemand finden konnte, wo ihn niemand kannte. In ein Strandhaus vielleicht, ans Meer. Von ihm aus auch in die Berge. Nur fort von dieser Stadt, diesem Event. Diesem Abend.

Dabei hatte er ihn sich so herbeigesehnt.

Zehn Wochen war es her, seitdem sie sich für die Global-Games-Weltmeisterschaft qualifiziert hatten. Zehn Wochen, in denen kaum ein Tag vergangen war, an dem Tim und Annika nicht irgendwelche Interviews geben mussten, Fanpost beantworteten oder auf Social-Media-Kanälen unterwegs waren. Für das Spiel selbst blieb da kaum noch Zeit. Inzwischen war es Ende September und die Schule ging normal weiter. Wobei normal vielleicht das falsche Wort war, denn für die Gewinner des Vorentscheids herrschte noch immer Ausnahmezustand. Tim war an seinem Gymnasium der Star und wurde von Schülern wie Lehrern gleichermaßen bewundert. Sein Sonderstatus ermöglichte es ihm, während der kommenden zwei Wochen dem Unterricht fernzubleiben und sich ganz auf die Spiele zu konzentrieren. Manchmal kam ihm das alles so unwirklich vor, dass er glaubte, er würde das alles nur träumen.

»Lampenfieber?« Emily sah ihn mit leuchtenden Augen an. Sie schien direkt in ihn hineinzusehen. »Ich könnte es verstehen, ich bin auch ganz schön aufgeregt.«

»Bis runter in meine Unterhose«, murmelte Tim.

Seine kleine Schwester verzog das Gesicht. »So genau wollte ich jetzt es auch nicht wissen.«

»Du hast gefragt.«

Zwei Monate lagen die Ereignisse nun zurück, doch noch immer geisterten Erinnerungsbruchstücke durch sein Gehirn. Es kam ihm vor, als wäre all das erst gestern geschehen. Ob die Bilder jemals verblassen würden?

Dad wuschelte ihm über den Kopf. »Mach dir keine Gedanken. Ist doch ganz normal, wenn man vor so etwas aufgeregt ist. Wer kann schon behaupten, jemals in einer Samstagabendshow aufgetreten zu sein? Und dann noch als Gast von Carmen Silber. Mom wäre stolz auf dich. Vielleicht ist sie jetzt irgendwo dort oben und sieht dir zu.« Er bemühte sich, fröhlich zu erschienen, doch Tim sah die Traurigkeit hinter dem Lächeln.

Mom war vor über einem Jahr gestorben. Leukämie. Es war ziemlich schnell gegangen. An sie zu denken, fiel Tim immer noch schwer. Es gab Wunden, die brauchte man nur anzusehen, dann taten sie wieder weh. Dass Dad jetzt ausgerechnet damit anfangen musste, war wirklich nicht hilfreich. Tim strich sich die Haare aus dem Gesicht.

Es gab Menschen, die glaubten an ein Leben nach dem Tod. Viele sogar. Emily beispielsweise hatte sich eine Welt zurechtgezimmert, in der niemand starb. Weder Mom noch Muckel, das Meerschweinchen. Ja, nicht einmal der kleine Vogel, der neulich gegen ihre Scheibe geflogen war und sich dabei das Genick gebrochen hatte. Sie alle lebten weiter in einer zuckersüßen Welt aus Gummidrops und Kinderliedern.

Wenn Tim an Mom dachte, war da nur Traurigkeit. Und das Gefühl, ihr etwas schuldig zu sein. Hol dir die Sterne vom Himmel, hatte sie ihm zum Abschied gesagt und verdammt noch mal, das würde er tun.

»Mein Bruder, der Promi«, summte Emily hinter dem Chauffeur, den Rücken in Fahrtrichtung. »Wer hätte das gedacht? Ich habe allen in meiner Schule gesagt, dass sie heute Abend einschalten sollen. Das wird ein Riesending.«

»Könntest du bitte mal aufhören«, murmelte Tim genervt. Seine Hände waren schweißnass. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals.

»Du hast nur Schiss, das ist alles«, fuhr Emily fort. »Dabei gibt es überhaupt keinen Grund. Du bist schließlich nicht allein. Annika wird auch dort sein.« Sie zwinkerte ihm zu.

»Deine Schwester hat recht«, sagte Dad. »Ich wette, die anderen sind genauso aufgeregt wie du. Kopf hoch. Das wird schon.«

»Ja, vermutlich …« Tim versuchte, sich zusammenzureißen.

In nicht mal einer Stunde würde er auf der Bühne stehen. Sichtbar für Millionen von Menschen, die live die große Carmen-Silber-Show verfolgten. Dass seine Mitstreiter ebenfalls Lampenfieber haben könnten, tröstete ihn nur bedingt.

»Ich habe übrigens vorhin noch mit Annikas Eltern telefoniert«, sagte Dad. »War ein sehr interessantes Gespräch.«

»Ach ja …?«

»Sie haben den Vertrag ihrem Anwalt gegeben und der hat sich das mal genauer angesehen. Juristischer Alptraum waren, glaube ich, die Worte, die er benutzt hat. Er erzählte etwas von Ausschlussklauseln, Haftungsbeschränkungen und anderen Risiken. Sein Ratschlag lautete: auf keinen Fall unterschreiben. Und ich bin geneigt, ihm zuzustimmen …«

»Laaangweilig!«, rief Emily von gegenüber. »Tim wird das Spiel gewinnen und niemand kann ihn davon abhalten. Ist es nicht so, Tim?«

»Wenn du das so siehst …«

»Klar sehe ich das so. Du wirst dir den Preis holen, du hast es mir versprochen. Du und ich auf den Mond, das wird sooo cool …«

»Ich habe dir versprochen, dass ich mich bemühen werde. Nicht mehr und nicht weniger.«

»Das reicht schon. Du bist der Beste, das weiß doch jeder.«

Tim musste grinsen. Emily schaffte es immer wieder, ihn aus einem Stimmungstief herauszuholen. Eben noch hatte er sich gewünscht, weit weg zu sein und die ganze Sache zu vergessen, jetzt freute er sich schon wieder auf den Abend. Tapfere, kleine Schwester. In diesem Moment drehte sich der Fahrer zu ihnen um. »Wenn ich kurz unterbrechen dürfte? Ich wollte Sie informieren, dass wir bald da sind. Die Festhalle ist gleich dort drüben.«

Alle reckten ihre Hälse.

Tim bemerkte, dass vor ihnen eine weitere Limousine fuhr. Ebenfalls schwarz und ebenfalls mit dunkel getönten Scheiben. Wer wohl dadrin sitzen mochte? Vielleicht Annika. Er konnte es kaum erwarten, sie wiederzusehen.

Sie hatten ganz bewusst den Kontakt gemieden, um den Medien kein Futter zu liefern. Tratsch und Klatsch gab es schon genug, da musste man nicht zusätzlich Öl ins Feuer kippen. Abgesehen davon hatte Jeremy Tims Vorschlag, sie könnten sich ja mal treffen und als Team zusammen trainieren, schlichtweg abgebügelt. Nicht nötig, hatte die Antwort auf Tims E-Mails gelautet. Wir kriegen das schon gerockt, wenn ihr nur tut, was ich sage. Na prima. Da Annika ebenfalls keinen Wert auf Teamplay zu legen schien, hatte er weiter mit Farid trainiert. Der stand wenigstens an seiner Seite, auf ihn war Verlass.

Heute würden endlich wieder alle zusammentreffen. Der Gedanke an Jeremy und Darius, diese beiden Ekelpakete, trübte Tims Stimmung. Wie sollte das mit denen funktionieren? Er bezweifelte, dass sie auch nur die erste Runde überstehen würden. Aber momentan war selbst das egal. Es gab genug anderes, um das er sich Gedanken machen musste.

Die Lanxess-Arena war prachtvoll angestrahlt. Scheinwerfer erhellten den Himmel mit Säulen aus purem Licht. Wenn er aus dem Rückfenster blickte, sah er den Kölner Dom, der heute ebenfalls heller zu strahlen schien. Vielleicht lag es ja an dem Mond, der wie ein dicker Silbertaler über den zwei Kirchturmspitzen prangte.

Vor dem Haupteingang der Festhalle waren Palmen aufgestellt worden. Ein roter Teppich wies ihnen den Weg ins Innere. Eine riesige Menschenmenge drängelte sich auf dem Vorplatz und erwartete die Ankunft der Stars.

Beim Anblick der vielen Schaulustigen rutschte Tim das Herz in die Hose. Der Sender hatte sich das Event etwas kosten lassen. Während der letzten Wochen war überall Werbung zu sehen gewesen. In allen Kanälen und auf allen Plakatwänden. Welcome to the Greatest Show on Earth, stand dort zu lesen – der offizielle Slogan der GlobalGames-Weltmeisterschaft.

Glaubte man Medienberichten, dann waren Tim und seine Mitstreiter Teil von etwas, das es in dieser Form noch nicht gegeben hatte. Etwas Großem. Größer als die Ernennung des Papstes. Größer sogar als die letzte Fußballweltmeisterschaft und Olympiade zusammen.

Tim versuchte, die Gedanken daran auszublenden. In wenigen Momenten musste er das schützende Wageninnere verlassen und hinaustreten in die Öffentlichkeit. Dann gab es kein Zurück mehr.

Er zupfte an sich herum. Irgendetwas zwickte ihn unterm Arm. Er war es nicht gewohnt, ein weißes Hemd und ein Jackett zu tragen. Die Hose hatte eine Bügelfalte und die glänzenden Lederschuhe mit dem glatten Profil waren so rutschig, dass er glaubte, über einen zugefrorenen Teich zu laufen.

Die Limousine vor ihnen bremste ab und hielt dann am roten Teppich. Türen gingen auf, Menschen stiegen aus. Im Blitzlichtgewitter war nicht zu erkennen, um wen es sich handelte. Schien ein Mädchen zu sein. Annika? Tim hätte es beim besten Willen nicht sagen können. Sicherheitsleute umringten sie, versperrten ihm die Sicht. Er sah noch, wie sie den Arm hob und in Richtung Presse winkte, dann verschwand sie im Inneren des Gebäudes. Die Limousine fuhr weiter.

Dann waren sie dran.

Der Fahrer rollte im Schritttempo auf den roten Teppich zu, bremste und stieg aus. Mit einem Lächeln öffnete er ihnen die Türen. Dad und Emily auf der Rückseite, Tim auf der Vorderseite. »Ich drücke dir die Daumen, Junge«, sagte der Fahrer und half ihm. »Du wirst das schon hinbekommen. Showtime.«

Das Blitzlichtgewitter blendete Tim, ließ ihn für einen kurzen Moment orientierungslos auf dem roten Teppich stehen. Überall waren Reporter. Er hörte Stimmen auf sich einprasseln:

»Sieh mal hier rüber, Tim.«

»Wie fühlst du dich? Bist du stolz, dein Land zu vertreten?«

»Dein Vater und deine Schwester müssen bestimmt mächtig stolz auf dich sein.«

»Wie bist du Runner geworden?«

»Bist du schon mal unerlaubt irgendwo reingeklettert?«

»Seid du und Annika ein Paar?«

Zu viele Fragen, zu viele Blitzlichter. Tim war so verwirrt, dass er nicht mal eine Frage beantworten konnte. Schon wurde er von einer Gruppe von Sicherheitsleuten umringt, die ihn, Emily und Dad Richtung Eingang trieben. Es blieb nur die Zeit, den Kameraleuten kurz zuzuwinken, dann waren sie auch schon drin.

Durch weiß gestrichene Gänge ging es im Eiltempo in den hinteren Teil des Gebäudes, wo Tim zwei Angestellte des Senders sah, die sie empfingen.

»Hallo, ich bin Randolph, persönlicher Assistent von Carmen Silber.« Der junge Mann schleuderte ihnen ein Zahnpastalächeln entgegen. »Das hier ist meine Kollegin Corinna. Wir haben die große Ehre, euch willkommen zu heißen. Geht es euch gut, hattet ihr eine schöne Fahrt?«

»Das Auto war so cool«, grätschte Emily rein, ehe Tim etwas erwidern konnte. »Bin noch nie mit so einer Riesenkiste gefahren. Da gab’s sogar kalte Getränke und einen Fernseher.«

»Freut mich, dass es dir gefallen hat«, erwiderte Corinna.

»Carmen Silber lässt es sich nicht nehmen, jeden ihrer Gäste mit einer Luxuslimousine abholen zu lassen. Es soll euch an nichts fehlen.«

»Wie viele Zuschauer erwarten Sie denn heute Abend?« Dad hatte vor Aufregung ganz rote Ohren.

»Die Arena ist für zwanzigtausend Menschen ausgelegt. Wir sind bis auf den letzten Platz ausgebucht«, sagte Randolph mit stolzgeschwellter Brust. »Leider haben wir einen sehr engen Zeitplan. Corinna wird Sie und Ihre Tochter jetzt in die Festhalle begleiten, Tim kommt mit mir. Ich führe dich in die Garderobe und in die Maske. Dort bekommst du dann dein Mikrofon.«

»Wann ist Tim dran?«, fragte Emily.

Randolph blickte auf die Uhr. »Die Show fängt in einer Viertelstunde an. Tim und die anderen werden aber erst in einer Stunde zu sehen sein. Sie sind ja der Höhepunkt. Danach gibt es noch eine große After-Show-Party. Alles klar so weit?«

»Ja …«

»Prima, dann los. Viel Spaß bei der Show.«

Tim folgte Randolph in einen großen Raum mit lauter Spiegeln und Lichtern. Hier sah es aus wie bei einem Edelfriseur. »Das ist unsere Maske«, erläuterte ihm der Assistent. »Hier werdet ihr abgepudert, frisiert und gestylt. Du willst doch nicht glänzen wie eine Speckschwarte, oder?« Er grinste. »Du bist übrigens nicht der Erste. Da drüben sind bereits ein paar deiner Mitstreiter. Geh ruhig zu ihnen rüber und begrüße sie. Wir holen euch dann nachher ab.«

Tim hatte darauf gehofft, Annika und Malte zu sehen, wurde aber enttäuscht.

Es waren Jeremy, Darius und Vanessa. Ausgerechnet!

Vanessa steckte in einem knallengen neongrünen Kleid, das kaum Luft zum Atmen bot. Jeremy trug einen pechschwarzen Anzug mit Fliege und Einstecktuch. Darius hingegen machte einen auf Edelrapper. Der Trainingsanzug glänzte, als wäre er mit Lack überzogen. Um seinen Hals trug er eine schwere Goldkette und die mit Pailletten besetzte Baseballkappe war einfach nur peinlich.

Während Vanessa noch stand, fläzten sich die zwei Jungs breitbeinig in den roten Plüschsesseln und blickend grinsend zu Tim herüber. »Na, wenn das nicht der Feldmann ist.« Jeremy grinste breit. »Welcome to the show, Runner.«

»Hallo.« Tim hielt Ausschau nach einer Sitzgelegenheit, die möglichst weit von den dreien entfernt war. Doch es gab nichts. Der einzige freie Sessel stand direkt zwischen ihnen. Jeremy klopfte darauf. »Komm, hock dich hin. Wir beißen schon nicht. Was für ein Abend, he? Haben sie dir auch so eine Luxuskarosse geschickt? Nicht schlecht, oder? Also, gemessen an deutschen Standards, meine ich. In den USA wäre das natürlich alles noch mal eine Nummer größer.« Er griff in die Schale mit Erdnüssen und ließ eine davon genüsslich zwischen den Zähnen zerknacken.

»Stimmt«, grunzte Darius. »Die hatten nicht mal eine Playstation an Bord.«

»Und keine Models«, ergänzte Jeremy. »Eine Stretchlimo ohne Models, das ist doch wie Nike ohne Air.«

»Aha …« Tim blickte zu Vanessa hinüber. »Willst du dich nicht setzen?«

Sie zog ihr Kleid glatt. »Liebend gerne, ich habe bloß Angst, dass eine Naht reißt. Ich trage das Kleid heute zum ersten Mal.« Sie nahm dann aber doch zögernd Platz und sah ihn erwartungsvoll an. Tim musste gestehen, dass sie fantastisch aussah, doch er hatte sich fest vorgenommen, dass die drei ihn nicht aus der Reserve locken würden.

»Und, was hast du so getrieben?« Jeremy musterte ihn unter seinen perfekt gezupften Augenbrauen. »Fleißig fürs Event gelernt?«

»Was denn gelernt?«

»Na Rätsel lösen, Codes knacken, Symbole entschlüsseln, das ganze Zeug. Alter, wir müssen bei diesem Event fit sein. Nicht nur körperlich, sondern vor allem hier.« Er tippte an seine Schläfe. »Grips ist das eine, Muskeln das andere. Darius und ich haben beides.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Mein Vater hat eigens ein Büro angemietet, in dem Leute arbeiten, die nichts weiter tun, als Rätsel zu lösen. Brainstorming von morgens bis abends. Ein echter Thinktank. Inzwischen dürfte es kaum noch ein Rätsel geben, das ich nicht kenne. Wie gesagt: Vorbereitung ist alles.«

Tim bezweifelte, dass es mit Auswendiglernen getan war. Er bezweifelte auch, dass die Spieleveranstalter die üblichen Rätsel einsetzen würden. Er verließ sich da lieber auf sein Gespür und seine Erfahrung. Die hatten ihm in der Vergangenheit gute Dienste geleistet.

Zum Glück kamen in diesem Augenblick Malte und Annika und erlösten Tim aus dem peinlichen Gespräch. Gut sahen die beiden aus. Malte hatte, wie Tim, ein Jackett angezogen. Es war ungewohnt, ihn in so einem edlen Outfit zu sehen. Annika trug eine einfache Jeans, ein Bandshirt mit der Aufschrift Stormbringer und eine Lederjacke. Beim Betrachten ihres Outfit ärgerte sich Tim, dass er den Anweisungen seines Vaters entsprochen hatte. Viel lieber wäre er auch so locker und cool dahergekommen und nicht in diesen Anzug gepresst, der ihn wie einen dressierten Affen aussehen ließ. Doch Annika schien er zu gefallen.

»Schick «, sagte sie und umarmte ihn mit geröteten Wangen. »Siehst aus wie James Bond«, flüsterte sie, als sie sich wieder trennten.

Jetzt fühlte er, wie ihm ebenfalls die Röte ins Gesicht stieg. »Du aber auch«, sagte er und fügte hastig hinzu: »Also, schick, meine ich. Nicht wie James Bond. Du weißt schon, äh …« Er räusperte sich. »Gute Fahrt gehabt?«

»Ja, es war der Wahnsinn. Die halbe Stadt hat sich nach uns umgedreht. Am Rudolfplatz habe ich kurz die Scheibe runtergekurbelt und prompt kamen ein paar Mädchen herbeigelaufen und wollten Autogramme. Das war total irre.«

Er wollte etwas Schlagfertiges erwidern, doch in diesem Moment ging die Tür auf. Carmen Silber, umschwärmt von einem Stab von Beratern und Assistenten, betrat den Raum. Sie war eine beeindruckende Erscheinung. Groß, glamourös und strahlend. Sie überragte Tim um beinahe einen halben Kopf. Manche behaupteten, sie wäre früher mal ein Mann gewesen, doch das hatte nie bestätigt werden können. Es blieb ein Gerücht und letztlich war es auch völlig egal. Tim konnte sich jedenfalls nicht erinnern, jemals einer so überwältigenden Persönlichkeit begegnet zu sein. Die Luft um diese Frau war mit Energie aufgeladen. Ihr Kleid schien aus Abertausenden von Fischschuppen zu bestehen, die das Licht mit jedem Schritt auf eine andere Weise reflektierten.

»Da sind ja meine Helden!«, rief sie mit weit ausgebreiteten Armen. »Wie schön, euch endlich persönlich zu begegnen. Ich wollte meine Show nicht beginnen, ohne euch vorher Hallo gesagt zu haben.« Sie reichte jedem von ihnen die Hand. Als Tim in ihre Augen blickte, hatte er den Eindruck, in zwei klare Bergseen einzutauchen. Waren das Kontaktlinsen?

»Wunderbar, wunderbar«, fuhr sie fort, nachdem sie alle begrüßt hatte. »Ich freue mich darauf, euch nachher auf der Bühne zu sehen. Zusammen werden wir den Zuschauern eine tolle Show bieten, meint ihr nicht? Lasst euch noch ein bisschen aufhübschen, Kinder, und dann sehen wir uns gleich. Ciao!« Mit diesen Worten rauschte sie ab, ihre Berater und Assistenten wie einen Schwarm Clownsfische hinter sich herziehend.

Friseure und Visagisten betraten den Raum und führten jeden von ihnen an seinen Platz vor dem Schminkspiegel. Puderquasten wurden ausgepackt, Nagelfeilen und Kämme, dann ging es los mit den letzten Vorbereitungen.

Tim atmete tief durch. Er musste seinen Puls unter Kontrolle bringen, ansonsten würde er den Abend nicht überleben.

2

Sehr verehrte Zuschauer, Ladys and Gentlemen. Willkommen zum zweiten Teil der Carmen-Silber-Show. Es ist Samstagabend und wir senden live aus der Lanxess-Arena in Köln. Begrüßen Sie mit mir zusammen noch einmal ganz herzlich unsere Gastgeberin. Einen großen Applaus für CARMEN SILBER!«

Annika hielt den Atem an. Das Publikum war jetzt richtig aufgeheizt und klang, als stünde es kurz davor zu explodieren. Selbst hier, hinter der Bühne, bebte der Boden. Sie sah zu Tim und Malte hinüber und grinste. Sie konnte nicht anders. Eben war ihr Arejay Storm über den Weg gelaufen, Gitarrist und Leadsänger von Stormbringer, einer von Annikas Lieblingsbands. Sie wusste ja, dass sie heute Abend spielen würden, und hatte sich deswegen das Bandshirt übergezogen. Und es hatte funktioniert. Kaum dass Arejay sie erblickt hatte, war er zu ihr herübergekommen und hatte ein Selfie mit ihr gemacht. Er hatte sich sogar mit ihr verabredet. Nachher auf der After-Show-Party würden sie sich wiedersehen. Tausend winzige Silberglöckchen klingelten in ihrem Inneren.

Inzwischen war die erste Hälfte der Show vorüber und in wenigen Augenblicken würden sie die Bühne betreten. Das rote Licht über der Studiotür flammte auf. Der Regieassistent gab ihnen ein Zeichen. Carmen Silbers Stimme ertönte:

»Und hier sind sie. Ladys and Gentlemen. Begrüßen Sie mit mir ganz herzlich unsere sechs verwegenen WorldRunner Annika, Vanessa, Jeremy, Malte, Darius und Tim!«

Im Glanz unzähliger Scheinwerfer betrat Annika die Bühne. Gegenüber befand sich eine halbrunde, aufsteigende Zuschauertribüne, die bis auf den letzten Platz besetzt war. Die Decke war gespickt mit Scheinwerfern, Kameras und Vorrichtungen für Pyroeffekte. Auch eine riesige weiße Kugel hing dort, auf die Annika sich allerdings keinen Reim machen konnte.

»Hier herüber!«, rief die Moderatorin und forderte sie auf, neben ihr auf einer roten Couchgarnitur Platz zu nehmen. Die gewaltige Videoleinwand hinter ihnen zeigte sie in Übergröße. Das Bild war so scharf, dass Annika jedes Detail bemerkte, jeden Knopf und jede Falte in ihren Klamotten. Annika, die die Schminkerei im Vorfeld als ziemlich affig empfunden hatte, war jetzt dankbar dafür, dass ihre Haare ordentlich saßen, die Mitesser überschminkt waren und Wangen, Nase und Stirn nicht glänzten wie bei einem Grillhähnchen.

»Danke, dass ihr euch die Zeit genommen habt«, sagte die Moderatorin. »Ich könnte mir vorstellen, dass euer Terminkalender ziemlich voll ist, oder?«

»Nicht so voll, dass wir nicht in Ihrer Show auftreten würden«, sagte Jeremy mit professionellem Lächeln. Carmen Silber lächelte ebenfalls. »Ihr nennt euch selbst WorldRunner. Was genau ist das?«

»Ein Spiel«, antwortete Vanessa. »Es ist eine Art Schnitzeljagd nach verborgenen Schätzen. Geocaching hoch zwei, wenn Sie so wollen. Auf Straßen, in Parks, in der Nähe von Sehenswürdigkeiten. Es geht um Rätsel, um Spuren und Fährten und um das Entdecken geheimer Orte.«

»So habe ich mir das auch erklären lassen«, sagte Carmen Silber. »Allerdings habe ich auch gehört, es sei nicht so ganz legal.«

»Stimmt schon«, sagte Tim. »Zumindest in Deutschland war es bisher eher so ein Undergroundding und nur einer kleinen, eingeschworenen Community bekannt. Wir haben uns auf einer Internetplattform getroffen, gepostet, was wir gefunden hatten, uns gegenseitig Hinweise gegeben, wo schwer zu knackende Geheimnisse versteckt sind, und Ranglisten unter den Spielern geführt. Es konnten sogar Wetten auf uns abgeschlossen werden, was uns wiederum Sponsoren einbrachte. Die Internetseite wurde leider geschlossen …«

»Aber nur, weil daraus jetzt etwas viel Größeres geworden ist«, übernahm die Moderatorin wieder. »Worldrunning ist nicht nur in Deutschland bekannt, man spielt es in der ganzen Welt. Von Neuseeland bis Alaska, vom Südpol bis nach Grönland. Es ist ein Spiel, das jedes Abenteurerherz auf der Welt höherschlagen lässt. Und das gefährlich sein kann.« Carmen Silber deutete auf den Riesenbildschirm. »Wir möchten unseren Zuschauern mal einige Ausschnitte zeigen, die wir im Internet gefunden haben.«

Ein paar Videos von Bergungsaktionen flimmerten über die Großleinwand.

Die meisten davon kannte Annika. Der Film, in dem ein Chinese auf einen Funkmast kletterte und von oben mit dem Fallschirm absprang, zum Beispiel. Oder der von dem Inder, der zu einer kleinen Insel in einem Fluss rausschwamm und von Krokodilen verfolgt wurde.

Das meiste war alter Kram und in ziemlich schlechter Qualität. Aber was dann folgte, ließ sie zusammenzucken.

Es waren Aufnahmen von Tim, während er versuchte, Annikas »Nimm Zwei«-Claim zu bergen. Sie wusste nicht, woher der Sender diese Aufnahmen hatte. Offenbar verfügte er über Insiderquellen. Was wirklich beunruhigend war, denn es führte zu der Frage, was sonst noch in ihrem Besitz war.

Annika biss sich auf die Lippen. Ihren Eltern hatte sie immer verschwiegen, was sie in ihrer Freizeit wirklich tat, in welche Gefahr sie sich mitunter brachte. Erzählt hatte sie ihnen stattdessen, sie wäre beim Tennis oder würde mit Freundinnen abhängen. Vermutlich wären sie in Ohnmacht gefallen, hätten sie gesehen, welche Risiken Annika eingegangen war, um diesen Claim dort anzubringen.

Atemlos verfolgte sie, wie sich Tim unter den Stahlstreben hindurchhangelte. Die meisten Bilder stammten von Tims Freund Farid, doch es waren auch andere Aufnahmen darunter. Vermutlich stammten sie von den Leuten, die damals unter der Brücke auf einem Ausflugsschiff vorbeigefahren waren. Im Zusammenschnitt sah das ziemlich spektakulär aus.

Verstohlen blickte Annika zu ihrem Freund. Sein Gesicht war wie versteinert.

Carmen Silber zwinkerte Tim scheinheilig zu. »Das bist doch du, nicht wahr? Dort unter der Hohenzollernbrücke?«

»Ja …« Tim presste die Lippen zusammen.

»Magst du uns erzählen, was du dort machst?«

Annika spürte, dass es Tim peinlich war, so vorgeführt zu werden. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. Als die Pause zu lang wurde, sprang Annika ihm helfend zur Seite. »Er birgt einen Claim, den ich zuvor dort versteckt habe«, sagte sie mit klarer Stimme. »Ein ziemlich gemeines Versteck, das muss ich zugeben. Zumal eine doppelte Sicherung eingebaut war. Man musste zweimal dorthin klettern, um ihn zu bergen.« Jetzt war die Katze aus dem Sack. Na, da würde sie zu Hause noch etwas zu hören bekommen.

Carmen Silber strahlte. »Ich will gar nicht wissen, wie viel Mut es gekostet hat, sich unter diesen Stahlträgern hindurchzuhangeln. Hattest du gar keine Angst?«

»Ein bisschen unwohl war mir schon«, erwiderte Tim, der zum Glück seine Stimme wiedergefunden hatte. »Vor allem mit den vielen Leuten auf dem Schiff. Normalerweise betreiben wir unseren Sport im Verborgenen. Hier ging das nicht. Die Zeitschaltuhr war nur eine halbe Stunde aktiv. Ich musste mich beeilen, sonst hätte ich den Claim nie öffnen können. Und wir beide wären uns vielleicht nie begegnet.« Er warf Annika einen raschen Blick zu, der ihr die Röte auf die Wangen trieb.

Carmen Silber, die den Blick bemerkte, lächelte wissend. »Mit der Verborgenheit dürfte es jetzt vorbei sein. Spätestens seit heute Abend seid ihr Stars. Immerhin habt ihr euch für die Weltmeisterschaft – die GlobalGames-Worldchampionship – qualifiziert, die nächste Woche starten wird. Freut ihr euch?«

»Selbstverständlich freuen wir uns«, sagte Jeremy schnell. Vermutlich war er der Meinung, dass Tim und Annika jetzt genügend Sendezeit für sich beansprucht hatten. »Es ist eine Ehre, unser Land vertreten zu dürfen. Aber ein Spaziergang wird das nicht. Schließlich müssen wir gegen achtundvierzig konkurrierende Nationen antreten.«

Ein Raunen ging durch die Zuschauermenge.

»Es ist uns wichtig, dass Sie verstehen, warum wir das tun«, fuhr Jeremy fort. »Wir wollen allen Menschen zeigen, dass die Erde ein Ort ist, auf dem es sich zu leben lohnt. Wir wollen Ihnen die Schönheit und Vielfalt unserer Welt vor Augen führen und Ihnen zeigen, was wir verlieren, wenn wir die Umwelt weiter so ausbeuten wie bisher. Dies ist unser bescheidener Beitrag, die Erde zu einem besseren Ort zu machen.«

Carmen Silber applaudierte. »Ein wunderbares Statement.« Die Zuschauer schienen das ebenfalls so zu empfinden, denn sie klatschten begeistert.

Annika wurde bei Jeremys Heuchelei übel. Als hätte er jemals Interesse an der Umwelt gehabt.

In diesem Moment setzte epische Musik ein. Eine dunkle Männerstimme erklang: »Sie nennen sich Runner und spielen das gefährlichste Spiel der Welt. Im Grenzbereich zwischen Mut und Tollkühnheit treten zweihundertachtundachtzig Jugendliche an, um sich in einem Kampf um Rätsel, Schätze und verborgene Orte zu messen. Es ist ein Rennen gegen die Zeit, bei dem der größte Gegner die eigene Furcht ist. Überall lauern Gefahren. Ein einziger Fehltritt, eine einzige falsche Entscheidung und das Spiel ist verloren. Vielleicht sogar das eigene Leben.

Doch das Risiko schreckt sie nicht, denn auf sie wartet ein Preis, der größer ist als alles, wovon sie zu träumen gewagt haben.«

Sechs Spielerporträts erschienen auf dem Riesenbildschirm. Wie moderne Gladiatoren sahen sie aus. Annika erkannte sich selbst kaum wieder. Wann hätte sie jemals einen so kühnen und verwegenen Blick gehabt? Neben ihrem Spielernamen Sakura war ein Textblock, der ein paar Informationen enthielt. Neben dem Stichwort Stärken waren folgende Begriffe vermerkt: sportlich, unerschrocken, schnelle Auffassungsgabe. Steht auf Musik (von Klassik bis Hardrock). Beste Schülerin ihrer Jahrgangsstufe.

Darunter folgte der Punkt Schwächen. Annika kniff die Augen zusammen. Einzelkind, stand da zu lesen. Dickköpfig. Ist es gewohnt, ihren Willen zu bekommen. Wirkt nach außen hin cool und unnahbar, ist aber im Inneren sehr verletzlich. Hatte noch nie einen Freund.

Sie schluckte. Ihr Hals fühlte sich an wie Schmirgelpapier. Woher wussten die das? In ihrem Spielerprofil auf WorldRunner hatten diese Infos nicht gestanden. Abgesehen von ihren besten Freundinnen wusste niemand, dass sie noch nie mit einem Jungen zusammen gewesen war.

Bei Tim sah es nicht viel besser aus.

Spielername: Achenar. Stärken: flexibel, tollkühn, fürsorglich, breite Allgemeinbildung, ungewöhnliche Denkmuster. Schwächen: Leichtsinnig. Unbedacht. Weiß nicht, wann der Moment gekommen ist aufzugeben. Leidet unter dem frühen Tod seiner Mutter.

Ihr Blick zuckte zu ihm hinüber. Er schien genauso schockiert zu sein wie sie. Auch die anderen vier Teilnehmer wurden auf diese Weise vorgestellt. Dass bei Jeremy überheblich und arrogant stand, wunderte sie nicht. Auch Darius bekam sein Fett weg. Brutal gegenüber Schwächeren, war da zu lesen.

Interessant war Maltes Steckbrief. Bei Stärken wurden seine Hilfsbereitschaft, sein mathematisches Talent und sein Interesse an Computern hervorgehoben. Schwächen: Hat eine verborgene Seite, die er niemandem zeigt.

Was das wohl bedeuten mochte?

Sie kam nicht dazu, weitere Überlegungen anzustellen, denn schon ging es weiter. »Weltweite Übertragung!«, rief Carmen Silber. »48 Nationen, fünf Claims. Je zwei Teams pro Claim, die rund um die Uhr live sind. Das schnellere Team gewinnt. Vorausgesetzt, alle Spieler loggen sich im Ziel ein, denn nur dann wird der Punkt gezählt. Wie man hört, wird überall schon heftig trainiert, aber schließlich geht es ja auch um etwas. Wie ist es bei euch, trainiert ihr auch zusammen?«

»Nein«, sagte Jeremy. »Jedenfalls noch nicht. Wir denken, dass es besser ist, wenn jeder erst mal seine eigenen Stärken und Schwächen herausfindet und wir nicht gleich unser ganzes Pulver verschießen. Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn jemand sich bei dem Versuch verletzt, die anderen zu beeindrucken. Das würde unser Team noch vor Beginn der Meisterschaft erheblich schwächen.«

»Das ist ein gutes Argument«, sagte Carmen Silber, doch Annika fand, dass sie nicht sehr überzeugt aussah.

Von der Decke der Halle senkte sich die riesenhafte Kugel auf die Zuschauer herab. Annika erkannte, dass durch den raffinierten Einsatz von Projektionstechnik ein gewaltiger Mond über ihren Köpfen hing.

Die Auflösung war erstaunlich. Annika glaubte, zwischen den Bergen und Tälern spazieren gehen zu können.

»Die Siegesprämie umfasst eine Reise zu unserem Erdtrabanten!«, rief Carmen Silber, die jetzt direkt unter der Kugel stand. Ein überirdisches Licht strahlte auf sie herab. »Die Reise zum Mond für zwei Personen sowie einen Aufenthalt im neu entstandenen Luna-Hotel für einen ganzen Monat. Ins Leben gerufen wurde das Event von Shenmi Stevenson, einer der erfolgreichsten Unternehmerinnen der Welt. Nicht nur ist sie Gründerin verschiedener börsennotierter Techunternehmen, sondern auch Vorstandsvorsitzende einer Firma für Weltraumraketen. Eine Frau, die mit 39 Jahren bereits alles erreicht hat, wovon andere nur träumen.«

Das Bild einer überwältigend schönen Frau erschien auf der Großbildwand. Leicht asiatische Gesichtszüge, hüftlanges blondes Haar, strahlende Augen. Sie trug einen weißen Hund in ihrer Armbeuge.

Annika hatte Shenmi als kühl und unnahbar empfunden, doch Carmen Silber schien sie geradezu anzuhimmeln.

»Während wir hier gemütlich beisammensitzen, werden letzte Arbeiten an einem Mondhotel ausgeführt, mit dessen Bau Ms Stevenson vor über einem Jahr begonnen hat«, fuhr die Moderatorin fort und schnippte mit den Fingern. Annika verdrehte den Hals, um etwas erkennen zu können. Möglich, dass das in den Aufnahmen komisch aussah, aber sie musste unbedingt wissen, was dort zu sehen war.

Ein roter Kreis war auf der Mondoberfläche erschienen. Der Ausschnitt wurde riesenhaft vergrößert und zeigte eine kuppelartige Struktur zwischen den kargen Felsen. Annikas Blick glitt über die Projektion. Es war das erste Mal, dass sie das Mond-hotel zu sehen bekam. Bis zu der Pressekonferenz vor einigen Wochen hatte keiner von ihnen gewusst, dass dort überhaupt gebaut wurde. Alles war unter strengster Geheimhaltung vorbereitet worden. Nun war also die Anlage zum ersten Mal in voller Pracht zu bewundern.

Um eine leuchtend grüne Kuppel, unter der offenbar Pflanzen gezüchtet wurden, erstreckten sich ringförmig mehrere Gebäude. Verbunden wurden sie durch Streben, die wie die Speichen eines Rades aussahen. Ein durch und durch futuristisches Konzept. Die Verblüffung im Zuschauersaal war mit Händen zu greifen.

»Beeindruckend, nicht wahr?« Carmen Silber strahlte. »Dies sind weltweit die ersten Aufnahmen des neuen Luna-Hotels. Sie wurden uns für unsere Show exklusiv von Stevenson-Enterprises zur Verfügung gestellt. Die Siegesprämie umfasst einen Aufenthalt für zwei Personen in einer Luxussuite in diesem Hotel, und zwar für einen Monat. Der Wert: fünf Millionen Dollar. Start ist in etwa vier Monaten. Und das ist noch nicht alles. Der Sieger bekommt die Erlaubnis, den ersten Claim auf dem Mond zu legen. Und diese sechs Kandidaten haben jetzt die Chance, diesen irrsinnigen Preis zu gewinnen. Liebe Zuschauer, finden Sie nicht, dass dies einen Beifall wert ist?«

Atemlose Spannung lag über dem Saal. Dann brach der Applaus los. Die Zuschauer rasteten förmlich aus. Das Klatschen und Fußstampfen wollte kein Ende nehmen. Es dauerte eine geschlagene Minute, bis sich die Zuschauer so weit beruhigt hatten, dass die Sendung fortgesetzt werden konnte. Carmen Silber kam nun zum Ende.

»Abschließend möchten wir Ihnen noch einmal die Bilder zeigen, die vor Kurzem um die Welt gingen und die sich in unser Gedächtnis gebrannt haben. Bilder von der Pressekonferenz, in der Shenmi Stevenson der Welt von ihren Plänen und diesem großartigen Event berichtete. Euch, liebe Kandidaten, danke ich, dass ihr hier wart, und wünsche euch alles erdenklich Gute für die bevorstehende Weltmeisterschaft. Wir werden eure Abenteuer live und mit größter Spannung verfolgen. Ich glaube fest an euch und bin mir sicher, dass ihr uns stolz machen werdet! Meine Damen und Herren, Applaus für unsere sechs WorldRunner.«

Den Rest bekam Annika nicht mehr mit. Zwischen der Musik, dem Licht der Scheinwerfer und den Bildern aus London war sie wie berauscht. Sie war sich sicher, dass nichts in ihrem Leben diesen Moment noch toppen konnte.