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In Liebe und Hass

Fioria Band 3

Maron Fuchs

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind

zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.papierfresserchen.de

© 2016 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

info@papierfresserchen.de

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2016

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

www.literaturredaktion.de

Titelbild: © TTstudio – lizensiert AdobeStock

ISBN: 978-3-86196-634-0 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-084-1 – E-Book (2020)

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Widmung

Für meine lieben Verwandten aus dem hohen Norden, besonders für die Ibbenbürener: Lore und Wilhelm, Claudia und die wunderbare Clara, Oliver, Julia, Paul, Leo und nicht zuletzt Brigitte. Es ist immer wieder herrlich bei euch!

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Inhalt

Prolog

Ein anderes Leben

Renia

Mit Blick nach vorne

Kein Entkommen

Langersehntes Wiedersehen

Nichts als Probleme

Bis an die Grenzen

Familie verpflichtet

Kommunikation

Ein neuer Blickwinkel

Hals über Kopf

Dem Ziel so nah

Brandheiße Neuigkeiten

Der nötige Abstand

Im Blute verbunden

Mit lautem Knall

Zu viel und nie genug

Die beste Medizin

Erst der Anfang

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Prolog

Es ist leicht, jemanden zu hassen. Doch es ist schwer, ihm zu verzeihen. Und echtes Vertrauen in diese Person zu setzen, stellt wohl die größte Herausforderung dar.

Kapitel 1

Ein anderes Leben

„Mia, hilf mir!“

„Bin schon da!“, antwortete ich und lief zu der etwa 40-jährigen brünetten Frau ins Nebenzimmer, das ein wenig nach Desinfektionsmitteln roch.

Schnell hatte ich die Situation überblickt. Meine Chefin, Frau Hana, stand im Untersuchungsraum ihrer Animaliaarztpraxis und hielt nur mühsam ein aufgeregtes Nekota fest. Das kleine Wesen fauchte laut, sträubte sich gegen ihren Griff, stellte sogar sein Fell auf und legte die Ohren an.

„Ganz ruhig“, flüsterte ich dem Animalia zu und streckte langsam meine Hand nach ihm aus. „Dir passiert nichts. Frau Hana will dir helfen.“ Ich spürte deutlich, wie sich die Angst und Wut des Wesens in Verwunderung und Ruhe verwandelten. Es schnupperte an meinem Zeigefinger, seine Schnurrhaare kitzelten mich. Dann schmiegte es seinen Kopf in meine Handfläche. Ich lächelte und kraulte es hinter den Ohren.

„Ein Glück“, seufzte meine Chefin und ließ das Nekota langsam los. Sie richtete ihre Gummihandschuhe und griff nach dem silbernen Wagen, auf dem ihre Utensilien lagen. „Halt es kurz ruhig, Mia.“

Ich nickte. „Kein Problem.“ Während ich dem Animalia übers braun-grau gescheckte Fell streichelte, ließ ich es spüren, dass ihm keine Gefahr drohte. Die Ärztin wollte es schließlich nur impfen – dafür hatte sein Besitzer es hierher gebracht.

Die Animalia waren ganz besondere Wesen, die sich überall in dieser Welt fanden. Kurz ließ ich meinen Blick aus dem Fenster schweifen, über den kleinen Vorgarten der Praxis und den strahlend blauen Himmel. Es herrschte angenehmes Frühlingswetter. Fioria war eine wunderschöne Welt, ohne Zweifel. Was vor allem an den Animalia, Dämonen und Geistern lag. Diese drei Gruppen gehörten zu den sogenannten Fiorita.

Animalia lebten überall, auf Wiesen und Bergen, in Wäldern und Seen. Manche von ihnen wurden sogar als Hausanimalia gehalten. Sie hatten viele verschiedene Fähigkeiten, einige konnten Wellen entstehen lassen oder Feuer speien, fliegen oder besonders gut schwimmen. Es gab sogar Arten, die als Fortbewegungsmittel genutzt wurden, wie etwa die Flugvögel. Dämonen und Geister wiederum bekam kaum ein Mensch je zu Gesicht. Aus gutem Grund. Diese Wesen waren viel zu mächtig, als dass die Menschen einfach an sie herankommen durften. Es gab schon genügend Verbrecher, die die Kräfte der Animalia ausnutzen wollten. Doch die Dämonen und Geister hatten weitaus mehr Macht, von Zeitreisen bis hin zu Sofortheilungen besaßen sie alle möglichen Fähigkeiten. Ihre jeweiligen Anführer herrschten sogar über die Dunkelheit und das Licht. Solche Mächte durften nicht in die Hände der Menschen geraten.

Fasziniert beobachtete ich, wie geübt Frau Hana ihrem Job nachging. Es dauerte nicht lange, bis sie fertig war und ihre Handschuhe abstreifte. „Das wäre geschafft.“

„Und jetzt kommst du zu deinem Herrchen zurück“, wandte ich mich an das Nekota und lächelte es an. Das Animalia maunzte leise, als es mit seiner Pfote gegen meine Hand stupste. Ich verstand genau, was es meinte. Es verabschiedete sich von mir. „Tschüss“, antwortete ich.

„Kannst du es bitte rausbringen?“, bat mich meine Chefin. Ein paar braune Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst, die sie nun beiseitepustete. „Herr Tokano sitzt im Wartezimmer.“

„Na klar, mach ich“, stimmte ich zu und hob das Nekota auf meine Arme.

„Bist du eigentlich eine Animaliaflüsterin?“, lachte Frau Hana plötzlich. „Egal, wie aufgewühlt die Geschöpfe sind, sobald du kommst, sind sie alle zahm.“

Ich zwang mich zu einem Lächeln. „Quatsch, so was gibt es doch nicht ...“

„Aber du bist noch keine 19 Jahre alt und gehst so behände mit ihnen um“, entgegnete sie. „Nicht mal nach über zehn Jahren Berufserfahrung kann ich das auf diese Weise. Wie machst du das bloß?“

„Ich schätze, Animalia mögen mich einfach ... vielleicht weil ich sie auch so gerne hab“, redete ich mich heraus.

Die Antwort auf ihre Frage war eigentlich so einfach. Und doch unaussprechlich. Ich war keine Animaliaflüsterin, doch ich verstand die Fiorita wie kein anderer Mensch. Denn ich war das Mädchen aus der Legende, durch ein magisches Band mit den wundervollen Wesen meiner Heimat Fioria verbunden. Darum kannte ich die Dämonen und Geister, die weit oberhalb unserer Atmosphäre, fernab von den Augen anderer Menschen, lebten.

Es rankten sich zwei Legenden um Fioria – eine besagte, dass der Anführer der Dämonen, Shadow, unsere Welt geschaffen hätte und sie daraufhin wieder vernichten wollte. Die andere berichtete von einem Mädchen, das imstande sein sollte, mit den Fiorita zu kommunizieren und diese Wesen jederzeit zu sich zu rufen.

Ich hatte nie an diese Legenden glauben wollen. Doch seit ich versehentlich Shadow zu mir gerufen hatte, wusste ich, dass sie stimmten. Nur gut, dass das Dämonenoberhaupt schon lange nicht mehr bösartig war, ganz im Gegenteil. Shadow war mein wichtigster Freund und Berater. Er hatte mir erklärt, wer ich wirklich war, und er stand immer treu an meiner Seite.

Doch zum Schutz der Fiorita behielt ich das alles für mich. Wobei es vor knapp zwei Monaten gegen meinen Willen herausgekommen war, weit weg von hier. Weit weg von meiner neuen Heimat und meinem neuen Leben.

***

„Wohin fliehen wir?“, fragte mein Freund Lloyd, als er mir die Hand reichte, um mir von der Feuertreppe herunterzuhelfen, auf der wir uns aufgehalten hatten.

„Nenn es nicht fliehen“, bat ich und kam vorsichtig auf dem Boden auf. Lloyds Hand ließ ich allerdings nicht los. „Das klingt schrecklich.“

Dabei hatte er recht. Es war eine Flucht. Eine Flucht aus dem Bezirk der Ranger, die uns jagten. Die Situation war wirklich schwierig. Gut, vielleicht war es nicht ganz richtig gewesen, mich jahrelang als Mann auszugeben, um als Ranger arbeiten zu dürfen. Aber deswegen hätte mich der Vorsitzende nicht lebenslang unter Strafe stellen müssen. Ich war nur aufgeflogen, weil ich meine Freunde und Kollegen vor dem Angriff einer verfeindeten Verbrecherorganisation gerettet hatte. Ich hatte öffentlich meine Fähigkeiten benutzt und die bösartigen Schattenbringer damit aufgehalten. Doch der Vorsitzende hatte mich gleich darauf eingesperrt, um den Ruf der Ranger nicht zu gefährden.

Zum Glück hatten mir meine Freunde in der Organisation, die von meiner wahren Identität wussten, beim Ausbruch aus dem Gefängnis geholfen. Sonst könnte ich wohl nicht mit meinem Freund hier stehen und über die Zukunft beraten.

Milde ruhten Lloyds blaue Augen auf mir. „Wie soll ich unser Vorhaben denn sonst nennen?“

„Einen Neuanfang?“, schlug ich vor und lächelte schief, obwohl ich immer noch Tränen in den Augenwinkeln hatte.

„Okay“, stimmte er zu und schloss mich fest in die Arme. „Und wo fangen wir neu an? In welche der äußeren Provinzen willst du gehen?“

Ich lehnte meine Stirn an seinen roten Pullover. „Ich habe an Renia gedacht“, erklärte ich. „Es ist eine der sichersten Gegenden mit wenig Kriminalität, obwohl die Ranger dort keinen Einfluss haben.“

„Hört sich nach einem guten Ort an, um eine Familie zu gründen“, lachte er.

Ich ließ ihn los und legte eine Hand auf meinen Bauch. „Wir haben noch gute sieben Monate Zeit, bis wir zu dritt sind.“

„Bis dahin haben wir uns bestimmt in Renia eingerichtet“, vermutete er.

Ich schaute kurz zum grauen Himmel auf. Der Wind an diesem kalten Wintertag brachte mich zum Zittern. „Das hoffe ich.“

Meine Schwangerschaft war völlig ungeplant gekommen, ich selbst wusste erst seit zwei Tagen davon. Und Lloyd hatte sich davon zum Glück nicht völlig schockieren lassen, was mich sehr erleichterte.

„Keine Angst, wir schaffen das“, beruhigte er mich und umarmte mich fester.

„Danke, dass ich dich hab“, wisperte ich und schloss die Augen.

Ohne Lloyd wüsste ich wirklich nicht weiter. Abgesehen davon, dass die Ranger mich wie eine Schwerverbrecherin behandelten, machten auch noch die verdammten Schattenbringer gewaltige Probleme. Unterstützt von reichen Unternehmern, die wütend wegen der wirtschaftlichen Reglementierungen der Ranger waren, versuchten diese Verbrecher, Fioria an sich zu reißen. Immerhin war der Vorsitzende der führende Politiker Fiorias, sodass die Schattenbringer den Rangern den Krieg erklärt hatten. Und der Verbrecherboss war kein anderer als mein Vater Erik Sato. Das war einfach zu viel. Ich ertrug das nicht mehr. Ich hatte genug vom falschen Stolz des Vorsitzenden und seiner bescheuerten Politik, genug von den fingierten Anklagen und Vorwürfen, genug von der Verlogenheit und Grausamkeit meines Vaters, genug von dieser Feindschaft zwischen Rangern und Schattenbringen. Ich hatte genug von der Verantwortung, die auf mir lastete. Ich wollte mich nur noch um die Fiorita, Lloyd und unser Kind sorgen.

„Ebenfalls danke“, flüsterte er und strich mir durchs offene Haar.

„Und es ist wirklich okay für dich, von hier zu verschwinden?“, vergewisserte ich mich.

Er nickte. „Wenn du gehen willst, hält mich doch nichts mehr hier. Ich hab den Schattenbringern den Rücken gekehrt. Der Neuanfang kann kommen.“

Glücklich sah ich ihn an. „Dann sollten wir packen.“

Mein Freund war sechs lange Jahre selbst ein Mitglied der Schattenbringer gewesen. Bis gestern. Aber er hatte sich nicht freiwillig diesen Verbrechern angeschlossen, er war von Erik dazu gezwungen worden, nachdem er zufälligerweise einen der illegalen Deals meines Vaters beobachtet hatte. Dabei hatte Lloyd damals nur einen Traum gehabt: mit seiner E-Gitarre durch Fioria zu ziehen und Musiker zu werden. Dazu hatte ihm Erik jedoch keine Chance gelassen.

„Nehmen wir nur das Nötigste mit“, schlug mein Freund vor.

„Klar, wir können sowieso nicht viel transportieren“, entgegnete ich. „Wir werden wohl mit Flugvögeln reisen.“

„Stimmt, ich hab jedenfalls kein Auto“, lachte er. „Aber ich muss in mein Appartement nach Regarn, da sind alle meine Sachen. Vor allem mein Mantel.“

Ich schmunzelte, als er seinen heiß geliebten blauen Mantel erwähnte. „Dann rufe ich dir am besten einen Flugvogel, damit du dorthin kommst.“

Meine eigenen Sachen befanden sich hier in Windfeld. Im Appartementwohnhaus der Ranger, für die ich bis gestern gearbeitet hatte. Nach meinem Abschluss an der Ranger-Schule war ich der hiesigen Zweigstelle zugeteilt worden. Und es war meiner Meinung nach die schönste aller 150 Stationen, schöner sogar als das Hauptquartier. Was natürlich an meinen lieben Freunden und Kollegen dort lag. Die ich nun leider verlassen musste.

„Wir sollten uns beeilen“, merkte Lloyd an. „Bevor uns jemand entdeckt.“

Ich nickte und schloss die Augen, um mich zu konzentrieren. Ich dachte an zwei Flugvögel, sang ein leises Lied und hörte gleich darauf Flügelschlagen neben mir. Wie üblich hatte es funktioniert. Da ich die Fiorita mit Gesang zu mir rief, bedeutete mir die Musik viel. Dummerweise fehlte mir in meinem schwangeren Zustand manchmal die Kraft, Dämonen und Geister zu beschwören oder bei mir zu behalten. Bei den Animalia fiel es mir deutlich leichter.

Ich streichelte einen der Flugvögel, blendete den Lärm vom Marktplatz aus, der gedämpft zu mir vordrang, und atmete tief durch. Bald würde ich diese Stadt verlassen – in der Ungewissheit, wann oder ob ich überhaupt zurückkommen würde. Ob ich meine lieben Freunde jemals wiedersehen würde, die alles getan hatten, um mich aus dem Gefängnis zu befreien. Der Gedanke tat weh.

„Treffen wir uns in drei Stunden am nördlichen Stadtrand von Windfeld?“, fragte Lloyd. „Ich hole dich dort ab.“

Ich runzelte die Stirn. „So spät?“ Brauchte er etwa so viel Zeit, um zu packen? Länger als eine halbe Stunde flog man doch nicht bis nach Regarn ...

„Dann ist es schon etwas dunkler“, antwortete er. „Es wäre besser, wenn wir nicht gesehen werden. Wir fallen ja doch ein wenig auf.“

Beschämt fixierte ich den Boden. Ich wusste selbst, dass ich alle Blicke auf mich zog. Das Mädchen aus der Legende zu sein, hatte einen entscheidenden Nachteil: ein auffälliges Äußeres. Meine braunen Augen wurden nach oben hin orange. Meine braunen Haare waren von knallorangen Strähnen durchzogen, die ich nicht loswerden konnte. Sobald ich eine farbige Stelle abschnitt, färbte sich das Haar woanders orange. Ich hasste es, schon allein weil ich in der Schulzeit deswegen gehänselt worden war. Aber durch meine auffällige Erscheinung konnten mich die Geister und Dämonen, die Fioria stets im Blick hatten, besser entdecken.

„Ich hole mir eine Mütze und packe meine farbigen Kontaktlinsen ein“, murmelte ich. „Ich tarne mich schon, keine Sorge.“

Lloyd ließ seine Hand sinken. „Meinetwegen müsstest du weder deine Augen noch deine Haare verstecken. Aber für die Flucht wäre es tatsächlich besser.“

„Nenn es nicht Flucht!“, fuhr ich ihn an. Erstaunt musterte er mich, ich verzog das Gesicht. „Entschuldige“, flüsterte ich. „Ich bin nur ... durcheinander. Ich wollte nicht schreien.“

„Weiß ich. Kann ich auch verstehen“, beruhigte er mich und fuhr sich durch sein dunkelbraunes, kurzes Haar. Dann grinste er. „Heißt es nicht außerdem, dass schwangere Frauen aufbrausender sind?“

Genervt hob ich die Augenbrauen. „Im zweiten Monat?“

„Keine Ahnung, kann doch sein.“

Ich bezweifelte, dass meine schlechte Laune etwas mit meinen Hormonen zu tun hatte. Sie beruhte eher auf der komplizierten Situation, in der wir steckten. „Gut, dann in drei Stunden am nördlichen Stadtrand.“

„Ach, Mia“, fiel ihm ein, „falls du dein Handy noch hast, solltest du es in deinem Zimmer zurücklassen. Sonst finden dich die Ranger darüber.“

Meine Augen weiteten sich. „Oh ... richtig ...“

Das bedeutete wohl, ich konnte das Gerät nicht benutzen, um den Kontakt zu meinen Freunden aufrechtzuerhalten. Es wäre zu riskant. Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen, um mich bei ihnen zu melden.

Lloyd umarmte mich fest. „Bis gleich.“

„Bis gleich“, flüsterte ich.

Bevor er auf einen der beiden Flugvögel stieg, hauchte er mir einen Kuss auf die Stirn. Dann machte er sich auf den Weg.

Eine Weile blickte ich ihm nach, bis mir klar wurde, dass ich nun auch meine Sachen packen sollte. Also schwang ich mich auf den Rücken des Animalias und flog zum Wohnhaus, das um diese Zeit hoffentlich verlassen war. Die meisten Ranger müssten gerade im Dienst sein. Solange ich mich leise hineinschlich, würde ich unentdeckt bleiben.

Eigentlich könnte ich dorthin laufen, doch dafür müsste ich den belebten Marktplatz überqueren. Ich durfte nicht riskieren, andere Leute zu treffen. Ich trug ja nicht mal mein Cap, meine einzige Tarnung bestand aus einer engen Jeansweste, die meine weiblichen Rundungen kaschieren sollte, und aus einer Ranger-Uniform. Aber mit offenen Haaren brachte das gar nichts.

Mein Flugvogel schwang sich kraftvoll in die Luft und trug mich zu meinem Ziel, ohne dass ich es ihm nannte. Die Fiorita verstanden mich sogar ohne Worte und ich war unendlich froh darüber. Ich liebte diese Wesen. Es war zwar nicht immer einfach, mit ihnen verbunden zu sein und all ihre Gefühle ebenfalls zu spüren, aber für nichts auf der Welt würde ich diese Fähigkeiten hergeben.

Sanft landete das Animalia auf der Rückseite des Wohnhauses. Von hier aus sah ich die Zweigstelle nicht. „Danke“, wisperte ich, als ich vom Rücken des Flugvogels stieg. „Ich rufe dich, wenn ich fertig bin, okay?“

Er krähte leise zur Zustimmung. Ich strich über seinen harten Schnabel und huschte dann um das Gebäude herum zur Tür. Niemand in Sicht, sehr gut. Seit ich aufgeflogen war, hatte ich meine Kollegen weder gesehen noch gesprochen. Ich fürchtete mich vor entsetzten oder vorwurfsvollen Blicken wegen meiner langjährigen Lüge, dass ich ein Mann namens Takuto wäre.

So leise wie möglich huschte ich in den ersten Stock zu meinem Zimmer. Als ich die Tür hinter mir schloss, überkam mich ein Moment von Ruhe. Dieser wohlbekannte Raum ließ mich aufatmen. Es hatte sich innerhalb von zwei Tagen alles verändert, doch hier drinnen sah ich keinen Unterschied.

Langsam ging ich zum Bett, das nahe beim Fenster stand, und zog darunter einen Rucksack hervor. Meinen Koffer nahm ich nicht mit. Der Rucksack musste reichen. Ich öffnete ihn und stellte ihn auf den Schreibtischstuhl. Nun hieß es packen.

Zuerst zog ich mich allerdings um, tauschte meine Uniform gegen Jeans und Pullover. Kurz musterte ich die dunkelbraune Hose, das weiße Hemd und die braune Jacke, die ich jahrelang bei der Arbeit getragen hatte. Diese Zeit war jedoch vorbei. Ich war kein Ranger mehr. Ich faltete die Uniform zusammen und legte sie aufs Fußende des Bettes.

Danach zog ich eine Mütze aus meinem Schrank und lief damit durch die Verbindungstür in mein Badezimmer. Ich wusch mir die Hände und das Gesicht, kämmte meine wirren Haare und versteckte sie anschließend unter der roten Mütze. Am liebsten hätte ich mich geduscht, aber das wäre auffällig laut gewesen. Das riskierte ich besser nicht.

Aus dem Schrank hinter dem Spiegel am Waschbecken holte ich meinen ganzen Vorrat an dunkelbraunen Kontaktlinsen. Ein Päckchen benutzte ich direkt, um meine Augen damit zu verdecken. Ein Blick in den Spiegel versicherte mir, dass ich wie eine gewöhnliche junge Frau aussah. Selbst wenn mich jemand sah, würde er mich nicht gleich als Mädchen aus der Legende identifizieren.

Um mich in den nächsten Wochen weiterhin tarnen zu können, verstaute ich die übrigen Kontaktlinsen in meinem Rucksack. Auch meine Klamotten suchte ich zusammen. Hosen, Shirts, Pullover, Unterwäsche, Socken ... Viel passte nicht in den Rucksack, aber genug. Ich nahm eine Jacke vom Haken im Schrank und zog sie mir über. Draußen war es schließlich kalt.

Da fiel mein Blick auf etwas anderes. In meinem Schrank hing ein wunderschönes oranges Kleid mit einem weißen Bolerojäckchen. Meine Mutter hatte mir das Outfit zum 18. Geburtstag geschenkt. Unwillkürlich schossen mir Tränen in die Augen. Nicht wegen des Kleides, sondern wegen der Erinnerung an meine Mutter Cassandra. Bisher hatte ich verdrängt, was heute im Morgengrauen zwischen uns vorgefallen war, doch nun überwältigte mich die Erinnerung daran. Meine Mutter hatte nichts davon gewusst, dass ich das Mädchen aus der Legende war und verkleidet als Ranger gearbeitet hatte. Sie hatte nichts davon gewusst, dass ihr eigener Mann die wohl gefährlichste Verbrecherorganisation aller Zeiten gegründet hatte und anführte. Und all das hatte sie gestern Abend auf einmal erfahren. Sie war verhaftet, verhört und wegen ihrer Unschuld wieder freigelassen worden. Aber zugleich hatte sie den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen. Gesagt, dass sie keinen Mann und keine Tochter mehr hätte. Meine Nummer gesperrt, damit ich sie nicht mehr erreichen konnte. Meine Mutter wollte nichts mehr von mir wissen. Und das zerriss mir das Herz. Vor allem weil ich rein gar nichts tun konnte.

Ich schluchzte auf, als ich das Kleid zusammenfaltete und mit dem Bolero in den Rucksack packte. Ich musste es einfach mitnehmen. Schon allein wegen der Erinnerung an eine Zeit, in der Cassandra meine fröhliche, liebevolle und etwas durchgeknallte Mutter gewesen war.

Aber nun hatte ich keine Familie mehr im Bezirk der Ranger. Mit meinem grausamen Vater wollte ich nichts mehr zu tun haben. Meine Mutter wollte mit mir nichts mehr zu tun haben. Geschwister oder andere Verwandte hatte ich sowieso nicht. Ich war allein.

Vor lauter Frust und Hilflosigkeit ballte ich die Hand zur Faust und schlug gegen die Tür des Kleiderschranks. Das schmerzhafte Pochen in meinen Fingern dämpfte die Verzweiflung allerdings kaum.

„Mia, reiß dich zusammen!“, ertönte eine Stimme in meinem Kopf. „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für solche Gefühlsausbrüche!“

„Shadow“, murmelte ich. Es war eindeutig das Dämonenoberhaupt, der Herr über die Dunkelheit, der in meinem Kopf zu mir gesprochen hatte. Er ließ mich seine Worte über unsere Verbindung hören.

„Vergiss nicht, du bist nie allein“, erinnerte er mich. „Du hast uns stets an deiner Seite. Und Lloyd. Und das Ding in deinem Bauch.“

Ich prustete los. „Das Ding?“, wiederholte ich und wischte mir die Tränen aus den Augen. „Nimm das zurück!“

„Ich wusste, dass du so reagieren würdest“, lachte der Dämon. „Natürlich meinte ich dein Kind. Und nun beruhige dich.“

„Danke“, flüsterte ich.

Shadow hatte recht. Gefühlsausbrüche halfen mir nicht weiter. Ich konnte nicht rückgängig machen, was geschehen war. Ich musste nach vorne schauen. Auch wenn es mir verdammt schwerfiel. Um nicht zu sagen: unmöglich erschien.

Schnell schüttelte ich den Kopf und begutachtete den Inhalt meines Rucksacks. Ich hatte alles, was ich brauchte. Geldbeutel, Klamotten, Kontaktlinsen, Zahnbürste und andere Hygieneartikel. Aber es blieben noch zwei Stunden, bis ich mich mit Lloyd treffen würde. Was sollte ich so lange tun?

„Mein Handy!“, fiel mir ein. Ich griff zur zusammengefalteten Hose meiner Uniform und zog es aus der Tasche. Handys waren teuer in Fioria. Ich hatte mich sehr über das silberne Arbeitsgerät gefreut. Doch nun musste ich es zurücklassen. Daher legte ich es auf den Schreibtisch, während mein Blick auf den Stapel Papier und die Kugelschreiber fiel, die darauf lagen. Kurz runzelte ich die Stirn. Ich hatte mich zwar von meinen Freunden verabschiedet, aber eigentlich hätte ich ihnen noch so viel zu sagen ...

Zögerlich nahm ich den Rucksack vom Stuhl und stellte ihn auf den Boden. Dann setzte ich mich hin und griff nach einem der Stifte sowie einem Blatt Papier. Doch schon nach der ersten Zeile geriet ich ins Stocken.

Ich stand wieder auf und holte meinen Schlüsselbund, den ich beim Eintreten schnell auf den Nachtschrank geworfen hatte. Es hingen nur drei Schlüssel daran – einer für die Zweigstelle, einer für dieses Zimmer und derjenige meines Elternhauses im kleinen Dörfchen Brislingen. Doch ich wollte nicht die Schlüssel anschauen, sondern den Anhänger, den mir meine Freundinnen Melodia und Haru zum Geburtstag geschenkt hatten. Er zeigte uns drei an unserem fünften Arbeitstag in der Zweigstelle. Das Foto war schon drei Jahre alt, wir waren gerade 15 gewesen. Damals hatte noch keiner davon gewusst, dass ich Mia Sato und nicht Takuto Matsui war. Ich stand in meiner Verkleidung als Mann in der Mitte, rechts und links von mir die Mädchen in ihren gelben Techniker-Uniformen. Die dunkelhaarige Haru lächelte in die Kamera, wirkte dabei geradezu schüchtern. Meine Grundschulfreundin Melodia grinste breit, ihre grünen Augen strahlten richtig und ihre blonden Locken waren wie immer perfekt gestylt. Sie war beliebt in der Zweigstelle, einige der Ranger waren sogar ein wenig in sie verschossen. Dabei hatte sie inzwischen einen Freund. Ich atmete tief durch, steckte den Schlüsselbund ein und setzte mich wieder hin. Nach und nach fiel mir ein, was ich meinen Freunden sagen wollte. Plötzlich war ich froh darüber, dass Lloyd so viel Zeit zum Packen eingerechnet hatte. Ich brauchte lange, um die richtigen Worte für diesen Brief zu finden. Und ich brauchte noch länger, um sie niederzuschreiben.

Lieber Ulrich, lieber Jakob, lieber Mark, liebe Melodia und liebe Haru,

ich weiß ehrlich gesagt nicht, wo ich anfangen soll. Bitte entschuldigt, wenn dieser Brief ein wenig chaotisch wird.

Ich war kurz im Wohnhaus, um meine Sachen zu packen. Ich werde lange nicht zurückkommen. Und damit meine ich nicht nur, dass ich Windfeld verlasse, nein, ich werde weiter weggehen. Aber macht euch keine Sorgen um mich. Lloyd ist bei mir und auch die Fiorita lassen mich nie allein. Wir fangen neu an.

Bitte passt auf euch auf. Lasst euch nicht von den Schattenbringern erwischen, lasst meinen Vater nicht gewinnen. Würdet ihr bitte ein Auge auf meine Mutter haben? Ich kann sie nicht mehr beschützen ...

Ulrich, ich danke dir für alles. Du warst für mich der beste, zuverlässigste, klügste Vorgesetzte der Welt. Ohne dich wäre ich in Windfeld vor Heimweh gestorben. Ohne dich hätte ich nie so viel über das Dasein als Ranger gelernt. Ohne dich hätte ich nie als Takuto arbeiten können. Danke für deine Hilfe in allen Lagen, dein Vertrauen und deinen Rat. Du wirst immer wie ein Vater für mich sein.

Jakob, es tut mir schrecklich leid, dass ich dir so oft Sorgen bereitet habe. Dass ich dich zur Verzweiflung und zur Weißglut getrieben habe. Danke, dass du mir immer wieder verziehen und mich jederzeit beschützt hast. Danke, dass du mir trotz des Schocks darüber, wer ich wirklich bin, wieder vertraut hast. Du bist der liebe, clevere, aufrechte große Bruder, den ich mir immer gewünscht habe und der immer auf mich aufpasst.

Mark, ich hätte nie gedacht, dass ich das mal schreiben würde, nachdem du mich in der Grundschule immer so fertiggemacht hast, aber inzwischen bist du einer meiner liebsten Kollegen und einer meiner besten Freunde. Obwohl du nur zufällig und unfreiwillig erfahren hast, wer ich bin, hast du mich nicht verraten. Du bist stärker und vertrauenswürdiger, als ich gedacht habe. Du hast mir bewiesen, dass der erste Eindruck nicht immer der richtige ist. Danke für alles. Und sei Melodia ein guter Freund.

Womit ich auch gleich zu dir komme, Melodia. Du warst nicht nur in der Schulzeit meine beste Freundin. Selbst als ich dich als Takuto kennengelernt habe, bist du wieder zu meiner besten Freundin geworden. Was uns verbindet, ist unglaublich. Darum weiß ich, dass du verstehen wirst, was ich dir hier kurz und knapp sagen will: danke, dass ich immer auf dich zählen kann, danke, dass du mich immer aufheiterst, danke, dass ich immer so offen zu dir sein kann.

Haru, es ist kaum zu glauben, wie wichtig du mir in so kurzer Zeit geworden bist. Du bist einer der intelligentesten, besonnensten und liebenswertesten Menschen, die ich je getroffen habe. Du hast dich nicht mal davon erschüttern lassen, dass ich euch jahrelang belogen habe. Danke für unsere Gespräche, unsere Mädelsabende, unsere gemeinsame Zeit. Ich bin so froh, dass wir zusammen in Windfeld gelandet sind.

Danke, dass ich euch alle meine Freunde nennen darf. Und entschuldigt all die Probleme, die ich euch gemacht habe.

Ich werde einen Weg finden, mich bei euch zu melden. Ich weiß noch nicht, welchen, doch sobald sich die Aufregung gelegt hat, wird mir etwas einfallen.

Ich hab euch unendlich lieb.

Eure Mia

Stille Tränen rannen über meine Wangen. Es war mir nicht leichtgefallen, das zu schreiben. Aber vielleicht freuten sich der Stationsleiter, die beiden Ranger und die Technikerinnen über den Brief. Vielleicht erklärte er einiges oder ermutigte sie.

Ob ich meine Schwangerschaft erwähnen sollte? Außer Lloyd, den Fiorita und mir wusste niemand davon, nicht mal meine Eltern. Eigentlich hatte ich mit Melodia und Haru darüber reden wollen, aber nun erschien mir das Thema unpassend. Immerhin herrschte Krieg.

Nein, das reichte so. Ich legte den Kugelschreiber weg und erhob mich. Dann platzierte ich das Handy auf dem Zettel und überflog ein letztes Mal die Zeilen. Unkontrolliert schluchzte ich auf. Ich musste gehen, bevor es mir noch schwerer fiel, Windfeld hinter mir zu lassen.

Ich schniefte laut, schwang mir den Rucksack über die Schultern und blickte auf das Zimmer, in dem ich drei Jahre gewohnt hatte. Nur mühsam riss ich mich davon los. Und hinter mir fiel die Tür leise ins Schloss.

***

„Mauz, da bist du ja!“, freute sich Herr Tokano und nahm mir das Nekota ab, um es zu streicheln und in den Transportkäfig zu setzen. „Ich hoffe, er hat keinen Ärger gemacht?“

Ich schüttelte den Kopf. „Er war nur ein wenig aufgeregt, aber das war kein Problem“, erzählte ich.

„Dann gehen wir mal nach Hause“, sagte der Mann, wahrscheinlich an sein Hausanimalia gerichtet. „Auf Wiedersehen.“

„Tschüss“, verabschiedete ich mich.

Nachdem der ältere Mann das Wartezimmer verlassen hatte, blieb ich im nun leeren Raum stehen, um tief durchzuatmen. Ich legte beide Hände auf meinen mittlerweile runden Bauch. Es war ungewohnt, plötzlich so viel Gewicht mit mir herumzuschleppen. Dabei war ich erst im vierten Monat – wie sollte ich das bis zur Geburt, wenn diese Kugel noch größer und schwerer wurde, schaffen? Hoffentlich gewöhnte ich mich irgendwann daran.

Langsam kehrte ich in den Untersuchungsraum zurück, in dem Frau Hana gerade aufräumte. „Soll ich helfen?“, fragte ich.

„Nicht nötig, mein Mann ist jeden Moment da“, winkte sie ab. „Es ist schon kurz nach fünf, du hast längst Feierabend, Mia.“

„Aber Herr Hana operiert doch noch den Feuerhund“, wandte ich ein und half ihr dabei, die benutzten Utensilien zusammenzuräumen.

Sie lächelte milde. „Du bist wirklich ein Schatz. Wie gut, dass wir dich haben.“

„Ich bin froh, dass ich hier arbeiten darf“, lachte ich.

Ich konnte kein Ranger mehr sein, doch umgeben von Animalia zu arbeiten, kam meiner Definition eines Traumjobs schon sehr nahe. Außerdem mussten Lloyd und ich Geld verdienen. Wir hatten zwar unsere Konten geräumt, aber unsere Ersparnisse reichten nicht ewig, erst recht nicht für Arztkosten, Miete, Strom, Wasser, Lebensmittel, Kleidung und was wir sonst alles brauchten.

Kurz nachdem wir alles aufgeräumt hatten, betrat Herr Hana das Zimmer. Der dunkelhaarige Mann, der kaum älter war als seine Frau, wirkte erschöpft. „Zeit für Feierabend ...“

„Ganz meine Meinung“, stimmte sie zu. „Mia, ab nach Hause. Du musst dich bestimmt auch ausruhen.“

Ich lächelte schief. „Ja, ich bin echt müde.“ Kein Wunder, ich arbeitete seit acht Uhr heute Morgen. Also fast zehn Stunden, was trotz Mittagspause ziemlich anstrengend war. „Bis morgen!“

„Bis morgen“, antworteten die beiden Animaliaärzte wie aus einem Mund.

Ich holte meine Handtasche hinter der Rezeption hervor und verließ die Praxis. Warme Luft hüllte mich ein, als ich ins Freie trat. Durch den Vorgarten, an einem kleinen Blumenbeet vorbei, gelangte ich zur Straße. Einige Animalia, sogenannte Farbfalter, flatterten um mich herum, manche setzten sich sogar auf meine Schultern.

„Leute, nicht so auffällig“, ermahnte ich sie, musste aber lächeln. „Sonst wird noch jemand misstrauisch.“ Wilde Animalia näherten sich Menschen nur selten, zu mir kamen sie aufgrund unserer Verbindung jedoch immer. Zum Glück hörten sie auf mich und flogen zum Blumenbeet zurück.

„Ständig umschwärmt, so kenne ich meine Mia“, lachte plötzlich eine wohlbekannte Stimme. „Na, musstest du heute länger arbeiten?“

Als ich meinen Freund entdeckte, strahlte ich übers ganze Gesicht. „Lloyd! Hast du auf mich gewartet?“

„Hab ich dir beim Frühstück doch gesagt“, entgegnete er.

Ich lief über den Gehweg zu ihm und umarmte ihn fest. Wie üblich trug er seinen blauen Mantel über den Arbeitsklamotten. Er war seit knapp zwei Monaten medizinischer Assistent. Immerhin für eine Sache hatte sich die Ausbildung meines Vaters gelohnt. Jeder Schattenbringer musste nämlich ein halbes Medizinstudium hinter sich bringen, sodass mein Freund problemlos im örtlichen Krankenhaus eine Anstellung gefunden hatte. Zwar mit gefälschten Papieren, aber er machte den Job gut.

„Die blonde Perücke irritiert mich immer noch total“, flüsterte er mir ins Ohr, als er meine Umarmung erwiderte.

„Zu Hause setze ich sie ab, genau wie die Kontaktlinsen“, antwortete ich leise. „Aber bei der Arbeit kann ich schlecht ständig eine Mütze tragen.“

Er schmunzelte und ließ mich los, um mir seine Hand zu reichen. „Schon klar. Dann ab nach Hause, Frau Ito.“

Ich verschränkte meine Finger mit seinen. „Gerne, Herr Ito.“

***

Nervös trat ich von einem Fuß auf den anderen. Der Himmel wurde immer dunkler, der Wind kälter. Ich hasste den Winter. Aber viel schlimmer fand ich, dass Lloyd schon seit einer Viertelstunde hier sein sollte. Hoffentlich war ihm nichts passiert ... Und hoffentlich entdeckte mich niemand am nördlichen Stadtrand von Windfeld. Die wenigen Passanten beachteten mich kaum, ich stand an der Bushaltestelle, damit sich niemand darüber wunderte, dass ich so lange wartete.

Endlich spürte ich, wie sich ein Flugvogel näherte. Es war Lloyd, der direkt neben mir auf dem Gehweg landete. „Entschuldige, es hat länger gedauert.“

Sofort fiel ich ihm um den Hals. „Ich hab gedacht, dir wäre was passiert!“

Er drückte mich an sich. „Nein, alles okay. Tut mir leid, dass ich dir Sorgen gemacht habe. Aber jetzt können wir los.“

Als ich ihn losließ, musterte ich ihn kurz. Wie ich trug er nun einen Rucksack, außerdem seinen blauen Mantel. „Hast du alles?“

„Und ob“, bestätigte er und zog zwei laminierte Karten aus der Hosentasche.

„Was ist das?“, wunderte ich mich, als er mir eine davon gab. Mir klappte der Mund auf. Das war ein gefälschter Ausweis für mich! „Mia Ito“, las ich.

„Ich dachte, es wäre einfacher, die Vornamen zu behalten“, erklärte er und zeigte mir seinen. „Sonst nennen wir uns versehentlich bei unseren gewohnten Namen und andere Leute werden misstrauisch.“

„Clever“, murmelte ich. „Du bist also Lloyd Ito?“

„Genau. Es ist das Einfachste, wenn wir als verheiratetes Paar gelten“, erklärte er. „Vor allem wenn unser Nachwuchs kommt.“

Ich nickte. Richtig zu heiraten stand sowieso außer Frage, solange wir als Verbrecher gesucht wurden und unsere richtigen Namen – Mia Sato und Lloyd Sakai – nicht benutzen konnten.

„Woher hast du die bloß? Und das so schnell? Und warum bin ich auf dem Foto blond?“

Er grinste schief. „Das Foto hab ich am Computer bearbeitet, weil dich deine echten Haare sofort verraten würden. Eine Perücke treiben wir schon auf.“

„Okay ... Und woher hast du die Ausweise jetzt?“, wiederholte ich und steckte meinen in den Geldbeutel.

„Ich hab ein paar Beziehungen spielen lassen“, erzählte er. „Hat manchmal doch Vorteile, in der Unterwelt aktiv gewesen zu sein. Sebastian kennt jemanden, der jemanden kennt, der mit solchen Ausweisen handelt.“

„Dein bester Freund hat innerhalb von drei Stunden falsche Ausweise aufgetrieben?“, vergewisserte ich mich fassungslos.

Da musste er lachen. „Eigentlich hat’s keine zwei Stunden gedauert. Sebastian ist genial. Er hat geahnt, dass ich ihn darum bitten würde. Hat schon alles vorbereitet und einen riesigen Rabatt rausgehandelt.“

„Wow“, flüsterte ich. Ich kannte und mochte Sebastian, doch das überraschte mich wirklich. Er war selbst ein Schattenbringer, stand jedoch loyal zu seinem besten Freund Lloyd. Und er war mit einer alten Grundschulfreundin von mir zusammen, mit Arisa.

Diese hatte ich nach meinem Wechsel auf die Ranger-Schule völlig aus den Augen verloren. Kürzlich hatte ich sie endlich wiedergesehen, sie studierte inzwischen, um Journalistin zu werden. Doch wahrscheinlich traf ich weder sie noch Sebastian in absehbarer Zeit.

„Die Ausweise sollten dabei helfen, eine Wohnung und neue Jobs in Renia zu finden“, äußerte sich Lloyd und riss mich damit aus meinen Gedanken.

„Auf jeden Fall. Also ... fliegen wir jetzt los?“, erkundigte ich mich zaghaft.

Er biss sich auf die Unterlippe. „Nicht ganz. Ich würde gerne noch einen Abstecher machen. Ich kann nicht abhauen, ohne meinen Eltern die Wahrheit zu sagen. Ich will nicht, dass sie es von den Rangern erfahren. Oder von deiner Mutter. Ich will es ihnen selbst erzählen.“

Meine Augen weiteten sich. „Nico und Fiona hab ich völlig vergessen. Klar besuchen wir sie noch! Die beiden bekämen einen Herzinfarkt, wenn du einfach verschwindest.“

Seine Eltern waren die besten Freunde meiner Eltern, dadurch hatten Lloyd und ich uns auch kennengelernt. Sie wussten nichts von seinem wahren Job, sie glaubten, er wäre ein Ranger. Und bevor meine derzeit hysterische, erschütterte Mutter den beiden alles sagte, sollte Lloyd es lieber selbst tun.

Er nahm meine Hände. „Dann ab nach Färnau zu meinen Eltern.“

„Und danach ab in unser neues Leben“, ergänzte ich und küsste ihn.

Er lächelte. „Wir schaffen das schon.“

***

Lloyd schloss die Tür unseres kleinen Reihenhauses auf. Ich lächelte die Farbfalter in unserem Vorgarten an, dann folgte ich ihm ins Innere.

Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, hängte ich meine Handtasche an die Garderobe und seufzte: „Ich bin erledigt. Und ich hab Hunger.“ Der Fußweg von der Praxis zum Haus dauerte keine zehn Minuten, doch ich hatte jetzt schon das Bedürfnis, mich aufs Sofa zu legen.

„Was hältst du von Pizza?“, schlug Lloyd vor, der seinen Mantel ebenfalls an einen der Haken hängte. „Bestellen wir eine, dann müssen wir nicht kochen.“

„Ich glaube, das ist heute genau das Richtige“, stimmte ich zu. „Mir tut alles weh, vor allem der Rücken. Das zusätzliche Gewicht bringt mich um“, lachte ich und umschlang meinen Bauch. „Rufst du bei der Pizzeria an? Dann kann ich mich umziehen.“

Er ging schon zum Telefon, das im Wohnzimmer stand. „Na klar, mach ich.“

Ich küsste ihn auf die Wange. „Danke, du bist ein Schatz.“ Dann ging ich die Treppe hoch und ins Badezimmer.

Dieses Reihenhaus war klein, doch es hatte alles, was wir brauchten. Ein Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, ein Esszimmer, eine Küche, ein Bad, und das alles auf zwei Stockwerken.

Ich wusch mir die Hände, nahm die Kontaktlinsen heraus und blinzelte. Im Anschluss lief ich in Lloyds und mein Schlafzimmer, ging um das Doppelbett herum und hängte meine Perücke über den Halter neben dem Kleiderschrank. Ich öffnete meinen Zopf, schüttelte die Haare und schlüpfte in ein frisches T-Shirt und eine bequeme Sporthose.

Bevor ich den Raum verließ, kam mein Freund herein, um sich ebenfalls umzuziehen. „Die Pizza kommt, für dich eine vegetarische.“

„Super, danke!“ Da ich mit den Fiorita verbunden war, brachte ich kein Fleisch herunter, das ja von geschlachteten Animalia stammte. „Ich freue mich schon total aufs Essen.“

„Ihr freut euch schon beide, was?“, lachte Lloyd und tauschte seine blauen Klamotten gegen ein Hemd und eine Jeans.

„Oh ja“, kicherte ich. „Wollen wir fernsehen, bis die Pizza kommt?“ Gemeinsam schlenderten wir die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.

„Sehr gerne. Hauptsache, Elly klingelt nicht schon wieder.“

Ich grinste schief. „Die nervigste Nachbarin der Welt. Wobei sie echt nett ist, jedenfalls im Vergleich zu ihrem ätzenden Mann.“

„Ich verbringe den Abend trotzdem lieber mit dir. Da muss ich kein Theater spielen“, wandte er ein.

Wir setzten uns zusammen aufs Sofa, Lloyd legte einen Arm um meine Schultern und ich kuschelte mich an ihn. „Ich bin auch am liebsten einfach nur mit dir zusammen.“

Er küsste mich auf die Stirn und griff zur Fernbedienung. „Endlich zu Hause“, seufzte er erleichtert.

Ich lächelte ihn an. Endlich in Sicherheit.

Kapitel 2

Renia

„Es ist viel zu eng hier. Gehen wir raus, Mia! In den Wald“, rief Celeps aufgeregt und flog so schnell um mich herum, dass mir schwindlig wurde, als ich versuchte, ihm mit den Augen zu folgen. Der kleine grüne Waldgeist war so lebhaft und gut gelaunt wie immer, sehr erfrischend.

„Das geht nicht“, seufzte ich und lümmelte mich tiefer ins Sofa. „Weißt du doch. Wenn ich auch noch in den Wald laufen müsste, bevor ich dich rufe, könnte ich dich nicht lange in Fioria halten.“

„Verrückt, dass dich die Schwangerschaft so schwach macht“, jammerte er.

„Ich hätte auch lieber mehr Kraft, aber langsam gewöhne ich mich daran“, erzählte ich. „Hier drinnen wäre es sowieso zu eng, um alle 14 Geister und die 13 Dämonen zu rufen.“

„Das stimmt“, lachte Celeps und flatterte so schnell mit seinen durchsichtigen Flügeln, dass er wirkte, als würde er in der Luft stehen. „Was machst du heute Abend denn noch?“

„Lloyd und ich sind bei den Nachbarn zum Essen eingeladen. Und was hast du vor?“, erkundigte ich mich.

„Ich muss mich im Wald bei Brislingen um einige Bäume kümmern. Denen geht es nicht gut.“ Er flatterte wieder um mich herum. „Das ist schlimm!“

Als er mein Heimatdorf erwähnte, senkte ich den Blick. „Oh.“

„Ich grüße die Animalia im Wald von dir“, versprach er.

Ich streckte meine Hände nach ihm aus und drückte den kleinen Geist sanft an mich. „Danke.“

Da betrat Lloyd das Wohnzimmer. „Mia, bist du so weit? Elly und Burkhard warten bestimmt schon auf uns.“

Ich nickte. „Klar. Celeps, wir sehen uns.“

„Unbedingt!“

„Tschüss, Celeps“, verabschiedete sich auch Lloyd von ihm.

Der Waldgeist setzte sich kurz auf seine Schulter, bevor er mit einem hellen Lichtblitz verschwand.

Mein Freund reichte mir seine Hand. „Kommst du?“

Ich ließ mich von ihm auf die Beine ziehen. „Schon lustig, vorgestern haben wir noch darüber geredet, dass Elly vielleicht an unserer Tür klingelt, und dann lädt sie uns prompt für heute zum Essen ein.“

„Wir haben es verschrien“, lachte er. „Und zwei Stunden Theater schaffen wir schon.“

„Wir spielen jeden Tag stundenlang bei der Arbeit Theater“, merkte ich an.

Lloyd reichte mir meine Jacke und schlüpfte in seinen eigenen Mantel. Wir hatten uns ein wenig schick gemacht, wobei mich mein kugeliger Bauch ziemlich nervte. Ich fühlte mich wirklich fett. Und dass Elly immer so einen Wirbel um meine Schwangerschaft machte, nervte noch viel mehr. Aber gut, Augen zu und durch, um der guten Nachbarschaft willen. Immerhin hatte uns die Frau sehr dabei geholfen, uns in Renia zurechtzufinden.

„Sitzt meine Perücke richtig?“, fragte ich, als wir vor der Tür vom Nachbarhaus standen.

Lloyd nickte. „Perfekt.“

Ich klingelte, als uns die pummelige, schwarzhaarige Nachbarin auch schon öffnete. „Mia! Lloyd! Meine Lieben, kommt doch rein!“, rief sie und drückte uns der Reihe nach.

„Danke, Elly“, keuchte ich unter ihrem festen Druck.

„Oh nein, tue ich dir weh?“, fragte sie entsetzt und ließ mich los. „Ich will ja nicht, dass eurem süßen, kleinen Kind was passiert.“

„Alles okay“, beruhigte ich sie.

Sie strich ihr geblümtes Kleid zurecht und strahlte mich an. „Ein Glück. Dann ab ins Esszimmer, ihr kennt den Weg ja. Das Essen ist angerichtet.“

„Ist Lloyd da?“, rief eine kindliche Stimme, gefolgt von schnellen Schritten. Im nächsten Moment stand der zwölfjährige Junge auch schon bei uns. „Lloyd!“

„Hi, Quirin“, begrüßte mein Freund ihn und schlug bei ihm ein. „Alles klar bei dir?“

„Und ob! Ich hab morgen schulfrei“, erzählte der schlaksige Junge.

„Klingt sehr gut“, kommentierte Lloyd, während wir ins Esszimmer gingen.

„Hallo, Mia“, begrüßte mich Quirin nun ebenfalls. „Du bist dicker geworden.“

„Quirin, das sagt man nicht zu einer schwangeren Frau!“, ermahnte Elly ihn sofort und legte schnell einen Arm um mich. „Mia, du siehst hinreißend aus, wirklich! Du strahlst richtig!“

„Schon gut, ist alles in Ordnung“, wimmelte ich sie ab und zwang mich zu einem Lächeln. Als würde ich es einem Zwölfjährigen übel nehmen, wenn er ehrlich zu mir war. „Schön, dich zu sehen, Quirin.“ Der Junge grinste mich an, bevor er weiter mit Lloyd plauderte.

Als wir das Esszimmer betraten, erhob sich Ellys Mann Burkhard von seinem Stuhl, um uns die Hand zu reichen. „Guten Abend.“

„Ebenso“, antwortete Lloyd.

Ich nickte dem Mann nur zu. Ich fand den Oberschullehrer ehrlich gesagt sehr anstrengend und erschreckend ernst ‒ sogar äußerlich. Er trug immer Anzug und Krawatte, hatte ganz kurze Haare und eine Brille. Ich fragte mich oft, wie es seine Frau mit ihm aushielt.

„Bedient euch“, forderte Elly uns auf, nachdem wir uns hingesetzt hatten. „Es gibt vegetarisches Risotto mit Gemüse aus unserem eigenen Garten.“

„Wow, das sieht lecker aus“, freute ich mich. „Und vielen Dank, dass es extra was Vegetarisches gibt.“

„Nicht doch, meine Liebe, das mach ich gerne“, lachte sie.

„Mama sagt immer, wenn jemand schwanger ist, soll man Rücksicht nehmen“, äußerte sich Quirin.

Ich seufzte leise. Elly war lieb, aber diesbezüglich auch ein wenig eigen. „Sei still beim Essen, wenn dich niemand zum Reden auffordert“, verlangte Burkhard. „Und iss.“

„Ja, Papa“, murmelte der Kleine eingeschüchtert.

Lloyd und ich tauschten einen betrübten Blick. Es ging wieder los ...

„Setz dich gerade hin, Quirin“, fuhr der Lehrer fort.

„Ja, Papa“, wiederholte sein Sohn.

Elly räusperte sich. „Wie ... wie läuft es denn in der Arbeit, Mia?“

„Gut“, begann ich zu erzählen. „Es gibt immer was zu tun in der Praxis. Vor allem Frau Hana hat endlos viele Aufgaben für mich.“

„Dabei wollte sie dich erst gar nicht einstellen“, lachte meine Nachbarin. „Wie gut, dass sie ihre Meinung geändert hat.“

Lloyd lächelte. „Wenn man erst mal sieht, wie Mia mit Animalia umgeht, muss man sie einfach in einer Animaliaarztpraxis einstellen.“

„Das hat Frau Hana auch gesagt“, bestätigte ich. „Sie meinte, sie wollte nie eine Assistentin, aber ich wäre echt praktisch. Es war mein Glück, dass es gerade einen Notfall gab, als ich mich in der Praxis vorgestellt habe.“

„Was für einen Notfall?“, fragte Quirin.

„Hör auf zu zappeln“, ermahnte ihn sein Vater.

„Ja, Papa ...“

„Da war ein aggressives Nekota, das Herrn Hana verletzt hat“, erzählte ich und lächelte den Jungen aufmunternd an. „Ich konnte es beruhigen.“

Quirin grinste. „Ich hätte auch gern ein Nekota. Oder einen Feuerhund.“

„Hier gibt es keine Hausanimalia“, brummte Burkhard.

„Ja, Papa, ich weiß.“

„Kann ich dich nach dem Essen kurz mit Elly und Burkhard allein lassen?“, flüsterte Lloyd mir zu. „Ich würde gerne eine Runde mit Quirin spielen.“

„Mach das“, antwortete ich leise. „Der arme Kerl braucht dringend etwas Spaß ... Dafür halte ich die zwei in Schach.“