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Westend Verlag

Ebook Edition

Sven Plöger

Zieht euch warm an, es wird heiß!

Den Klimawandel verstehen und aus der Krise für die Welt von morgen lernen

Unter Mitarbeit von Andreas Schlumberger

Westend Verlag

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-061-1

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2020

Mit Beiträgen von Andreas Schlumberger, Kira & Hermann Vinke sowie Eckart von Hirschhausen

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Umschlagfotos: © Sebastian Knoth

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Titel
Inhalt
Vorwort
Mit Zuckerbrot und Peitsche. Der Diskurs der Digitalisierung
Vorbemerkung zur durch die Corona-Krisen-Politik veränderten Situation1
Herrschsüchtiger Diskurs
Die Aufgaben des Herrschers von den Beherrschten erledigen lassen
Psychotherapeuten, Psychologen und Ärzte wehren sich
Die »Religion der Produktivkräfte«
Die Wiedergeburt des Autoritären
Die Verleugnung
Die »Opposition« bewegt sich nach rechts? Inwiefern? Weshalb?
Digitalisierung accomplished
Über den Autor
Literatur
Kritik im digitalen Zeitalter
Vom Faszinosum und der Aura des Digitalen oder wo Fundamentalkritik in einer total digitalisierten Kultur ansetzen könnte
Die Aufgabe
Worum geht es?
Vom Versagen intellektueller Kritik
Auf der Suche nach einem Standpunkt
Was heißt Kultur?
Medien im Kulturprozess
Eine kurze Mediengeschichte
Die digital-libertäre Postmoderne
Politik als Spektakel
Über den Autor
Literatur
Rückkehr zur Vernunft in Zeiten totaler Digitalisierung
Neodigitaler Super-GAU
Machtpolitische Kernschmelze
Wissenschaftlich-kultureller Paradigmenwechsel
Ethos und Nation
Rückkehr zur Vernunft
Über den Autor
Literatur
Kritik der digitalen Ideologie. Kapitalismus, Schizophrenie, Digitalisierung
Über den Autor
Technologie der Desinformation und Kommunikationszerstörung. Historische Kritik der binär-digitalen IKT und Plädoyer für die Wiedererlangung einer humanen und analogen Perspektive
Vorabnotiz: Digitalisierung in »Coronaren Zeiten«
Vorbemerkung
Vorgeschichte der binär-digitalen IKT
Technikgeschichte im Nachgang
Alan Turings Symbolische Maschine
John von Neumanns Binär-Digital-Rechner
Digitale Angriffslogik [militant – ökonomisch – paranoid – apokalyptisch – robotisch]
Übergangslogik
Logos des Menschlichen, Natürlichen und Analogen
Über den Autor
Literatur
Digitalisierung und gesellschaftlicher Wandel. Zu psychologischen, ethisch-philosophischen und politischen Aspekten
Einleitung
Digitalisierung, Algorithmisierung, Künstliche Intelligenz, Cyborgs, Androide
Qualitative Veränderungen durch Digitalisierung
Über den Autor
Literatur
Widerstand
Der digitale Sicherheitsstaat: Eine besondere Herausforderung für die Grundrechte
Über den Autor
Zerstreutes Arbeiten. Kommunikation und Hörigkeit im Digitalen Kapitalismus
Das Ende des Massenarbeiters: Die diffuse Fabrik
Lenkung neuer Freiheiten: Die Kontrollgesellschaft
Fabbrica diffusa und digitale Kommunikation
Verfügbarkeitsregime des Digitalen
Ängstliche Hörigkeit, fürsorgliche Macht
Über die Autorin
Literatur
Die Rolle der IT-Industrien in der gegenwärtigen Offensive kapitalistischer Reorganisation und die Perspektiven von Widerstand und sozialer Revolution
Operationsfelder der digitalen Innovationsoffensive
Widerstand
Corona, das »digitalisierende Virus«
Über den Autor
Literatur
Arbeit
Arbeit demokratisieren – Digitalisierung gestalten. Bisherige Formen des organisierten und arbeitsrechtlichen Widerstands
Neue Technologien im Kapitalismus
Digitalisierung aus dem Silicon Valley
Disruptive innovation
Menschenrechtlich gestaltete Arbeit
»Wenn du Frieden willst, sorge für Gerechtigkeit«
Das Recht auf Arbeit
Gegen die Menschenrechts-Vergessenheit der EU
Menschenrechtliche Gestaltung digitalisierter Arbeit
International vernetzt gegen Amazon
Ein Bummelstreik in Polen
10,5-Stunden-Schicht mit unbezahlter Pause
Solidarność zieht jetzt auch mit
»Einer der wichtigsten Arbeitskämpfe«
Gig Worker gründen eigene Kooperative
Hedgefonds-Spekulant organisiert die neue Arbeiterklasse
Crowdworking: Isoliert, ungeschützt, schlecht bezahlt
Klage auf den Status als Arbeitnehmer
Über den Autor
Literaturverzeichnis
Chance oder Risiko? Über die Auswirkungen des Computers in der Arbeitswelt
I
II
III
IV
V
VI
VII
Der Autor
Literatur
Digitalisierung und Psychotherapie
Der Widerstand gegen die Telematik im Gesundheitswesen. Persönliche Erfahrungen
Vorbemerkung
Historie der Telematikinfrastruktur
Aktuelle Anforderungen des Protestes
Über den Autor
Literatur
Privilegien 5.0 – Cyborgs und Psyborgs mit intersektionalem Privilegienbewusstsein?
Intersektionalität
Identitäten de- und rekonstruierende Dilemmaspirale
Soziale Ungleichheiten anhand (digitaler) Technologien
Vom Cyborg zum Psyborg
Uneindeutiger Ausblick für neue Verbindungen
Über die Autor*in
Literatur
Subjektivitäten
»Innerlichkeit« als digitale Ware versus Subjektivität als psychologischer Ausdruck der Person. Vom Überwachungskapitalismus zum humanen und analogen gesellschaftlichen Wandel
Kommunikation als Rohstoff
Die Verdinglichung der Subjektivität
Psychologische Aspekte der Digitalisierung: Die Eroberung des Unbewussten
Digitalisierung als Ent-Demokratisierung
Und die spekulative Finanzwirtschaft immer vorne mit dabei
Beharren auf Subjektivität. Der Schlüssel zur Welt liegt im Anderen
Über den Autor
Literatur
Analoges Bekenntnis zu einer humanen Digitalität: Die neuen Grenzziehungen von »Gesellschaft-Gemeinschaft« und »Öffentlichkeit-Privatheit«
Begrifflich-konzeptionelle Grundlagen des Gesellschaft- und Gemeinschaft-Begriffes
Gesellschaft und Gemeinschaft vor dem Hintergrund des digitalkulturellen Wandels
Begrifflich-konzeptionelle Grundlagen des Öffentlichkeit- und Privatheit-Begriffes
Öffentlichkeit und Privatheit vor dem Hintergrund des digitalkulturellen Wandels
Die Sphärenverschiebungen als Anzeichen einer analogen Revolution?
Über die Autorin
Literaturverzeichnis
Online-Dating – Digitalisierung des Eros als »Befreiung des Alltags«?
Über den Autor
Literatur
Schule, Krieg und eine Alternative
Imperativ Digitalisierung: Bedrohung oder Chance? Zu den Widersprüchen des Diskurses um die Digitalisierung von Schule
Einleitung
Der bildungspolitische Digitalisierungsdiskurs: Fortschrittgläubigkeit, Subjektlosigkeit, Kontrollphantasien
Der gesundheitspolitische Diskurs
Jugendliche Perspektiven auf die Nutzung und den Einfluss digitaler Medien: »Der digitale Wandel ist unverkennbar und wird bei den Menschen Anpassungen in der Lebensart erfordern.«
Zusammenführung und Fazit
Über die Autorin
Literatur
Digitalisierung, moderne Kriegsführung und ihre Akteure/Profiteure
Vorbemerkungen zum »technischen Fortschritt«
»Fighting at Machine Speed«
Tolstoi und die Ursprünge der Cloud
Beispiel Atos
Kapital- und Beratungsgesellschaften
»… as a Service«: Digitalisierung als Outsourcing
Begründetes militärisches Zögern
Der geopolitische Diskurs und die dahinterstehenden Koalitionen
Über den Autor
Literatur
Eine andere Digitalisierung ist möglich! Das Beispiel der Zapatisten
Einführung
Wer sind die Zapatisten?
Die Zapatisten als Initiatoren einer emanzipatorischen Digitalisierung
Das Problem der Kontrolle des Internets
Fazit
Über die Autorin
Literaturverzeichnis

Vorwort

»Digitale Revolution«, »Digitalisierung«, »Digitalpakt« und »5G-­Mo­bil­funk«, »Internet der Dinge«, »Künstliche Intelligenz«, »Blockchaining«, Abschaffung des Bargeldes, autonomes Fahren und so weiter; so lauten die klangvollen Refrains des Sirenengesangs, die von den Eliten der deutschen, westlichen und globalen Politik und Wirtschaft angestimmt werden. Digitalisierung ist Staats­aufgabe mit höchster Priorität und festverbunden mit den sprach­lich-­metaphorischen »Frames« (Elisabeth Wehling): »Fortschritt«, »Wohlstand«, »Zukunft«, »Jugend« und andere mehr. Die Überzeugungsarbeit der Vorzüge, Erleichterungen, Verwöhnungen und Effizienzsteigerungen der von Computern und Smartphones gestützten und vernetzten Digitalwelt haben das Feld bereits gut vorbereitet, und das angestrebte 5G-vernetzte Web 4.0 wird auch als Prolongierung und Optimierung dieser Positiveffekte verkauft.

Dennoch regen sich Kritik und zum Teil auch Widerstand gegen einen weiteren, intensivierten Ausbau der Digitaltechnologie: Die Möglichkeit einer digitalen Totalüberwachung wird ebenso vorstellbar wie der Verlust von immens vielen Arbeitsplätzen, von Privatheit, persönlicher Freiheit und demokratischer Teilhabe sowie psychischer und physischer Unversehrtheit. Der mit der angestrebten digitalen Hyper-Technisierung verbundene Extraktivismus wird die letzten Reserven an Rohstoffen angreifen und eine exorbitante Menge an Energie erfordern, die Klimakatastrophe verschärfen, die Natur (die natürliche Mitwelt des Menschen) mit Giftstoffen, Abfällen und hoch gepulster elektromagnetischer Strahlung hoher Frequenzen belasten.

Dies alles folgt der Logik eines digital beschleunigten kapitalistischen Marktradikalismus, der schon alle Beschönigungen eines sogenanten »Neoliberalismus« weit hinter sich gelassen hat, und die Frage nach dem »cui bono« beantwortet sich fast automatisch im Hinblick auf wenige Machteliten und eine technische, des Programmierens fähige Oberschicht.

Der »Krieg nach innen und außen« wird im »Krieg um die Köpfe« grundgelegt und basiert immer mehr auf der Verfügungsgewalt über Elektronik, spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg ist dem so. Digitale Computertechnik auf der Basis binärer Logik wurde als technische Antwort auf politisch-militärische Fragestellungen im Kontext der Materialschlachten des Zweiten Weltkrieges entwickelt. Der digitale Kapitalismus befindet sich im Kriegsmodus, weil er die Grundbedingungen und Fragestellungen seiner Anfänge weiter mit sich führt: schneller zu rechnen als der Gegner, mit spieltheoretischen Algorithmen dessen Züge antizipieren, Befehle effektiv abarbeiten, das Terrain erobern, »the winner takes it all«.

Die »äußeren Zwänge« der Informations- und Kommunikationstechnik (kurz: IKT) sind längst innere Zwänge geworden, weil sie täglich seelisch metabolisiert werden: Dass eine maschinelle »Interface-Welt« ohne Bewusstsein und Verstehen gerade dieses total-simuliert, wird zum unheimlichen Hintergrund der Erfahrung und zur Ursache eines zuvorkommenden nicht authentischen Verhaltens, das stets mit Überwachung (und folglich Entdeckt-, Beschämt- und Beschuldigtwerden) rechnet. Privatheit und Geheimnis (schon frühkindlich Kern der Identitätsbildung) sind allein durch die Möglichkeit ihrer Verwehrung und Verletzung bedroht, durch die technisch umgesetzte Totalüberwachung werden sie zerstört und damit auch die Integrität der Person.

Was ist zu tun im Übergang zu einer neuen Phase der Digitalisierung oder »Digitalen Revolution«? Zunächst weist die aufkeimende Kritik auf etwas zum Digitalen Anderen hin: die mögliche Hochschätzung des Humanen und Analogen, die dem Wirklichen entspricht, das uns trägt, umgibt und erfüllt. Wir sind Menschen und analoge Wesen wie die Mitwelt, die Natur, in die wir eingebettet sind. Die zur Zeit der Entwicklung der ersten Digitalrechner auch gedanklich erarbeitete Kybernetik nach Norbert Wiener trug dieser Wirklichkeit auf verstehende und zulassende Weise Rechnung, als Theorie der Information in technischen, lebendigen und sozialen Systemen, die aufgrund von Selbstregulation funktionieren (indem sie Feedback, auch negatives, verarbeiten).

Dieser andere Ansatz des respektvollen, verstehenden Umgangs mit komplexen Systemen drückt sich in mannigfachen Gestaltungen und Bewegungen neben, teils im Gegensatz zu dem »erfolgreichen« Mainstream des binär-digitalen Kapitalismus aus, so in der Ökologie-Bewegung, in der Open-Source-Bewegung, in den Systemischen (und auch anderen) Therapieansätzen – oder im Bereich der Musik als Community der Analog-Modularen Klangsynthese. Auch ist an alternative Online-Informationskanäle zu denken, die das Monopol der öffentlich-rechtlichen, privaten und kommerziellen Medien brechen.

Die Kybernetik sozialer Systeme hat in den beginnenden Siebzigerjahren eine Rolle in der DDR, in der UdSSR, in Kuba und in Chile unter Salvador Allende gespielt, jeweils mit der erklärten Absicht, die Gesellschaftssysteme zum Nutzen aller besser zu verstehen. Im Rahmen der Zapatistischen Bewegung in Mexiko wird ein grundlegend anderer Begriff von Technologie und Technik entwickelt, der in einem sozialen System von partizipativem Zusammenleben, Verehrung der Schöpfung und einer symbolischen Kunst der Gemeinschaft wurzelt und dem oben genannten offenen kybernetischen Ansatz Wieners sehr viel mehr entspricht als dem westlichen Digitalismus – obwohl auch hier Digitaltechnik eine wesentliche Rolle spielt, nur dient sie eben der Allgemeinheit, auch über die Grenzen der eigenen Kommunität durch die Vernetzung mit anderen indigenen Völkern hinaus.

Allerdings ist bei allen alternativen Online-Informationskanälen zu bedenken, dass auch hier Möglichkeiten der Überwachung und Decodierung gegeben sind, insbesondere weil es bei der kursierenden Software Programmebenen geben kann (»Hintertüren«), die nur wenigen bekannt sind, und weil die Server größtenteils auch unter der Kontrolle nur weniger betrieben werden. Aber der Kampf im Netz (beispielsweise jener der Zapatisten) ist dabei das Entscheidende.

Um sich nicht nur von den Sirenengesängen verführen zu lassen und sich auch die Gefahren zu vergegenwärtigen, versammeln wir in diesem Band sowohl die gehaltenen Vorträge als auch darüber hinaus weitere Beiträge, die uns im Rahmen dieser Konferenz eingereicht wurden.

Wir danken allen Beiträger*innen, Almuth Bruder-Bezzel, Ingrid Rothe-Kirchberger, Raina Zimmering und Julia Kansok-Dusche für die Übernahme einer Moderation, Bernd Leuterer, Juliane Kersten, Marcella McNulty, Rasmus Overthun und Benjamin Lemke für ihre tatkräftige Hilfe sowie Emil Fadel und dem Westend-Verlag für ihre Unterstützung.

Klaus-Jürgen Bruder

Mit Zuckerbrot und Peitsche. Der Diskurs der Digitalisierung

Odysseus und die Sirenen. Ausschnitt aus einem attischen rotfigurigen Stamnos, ca. 480470 v. Von Vulci.

Vorbemerkung zur durch die Corona-Krisen-Politik veränderten Situation1

Wenige Tage nach dem Kongress im März 2020, auf dem dieses Referat vorgetragen worden war, war die Welt eine andere geworden, einem Kulissenwechsel im Theater vergleichbar: Die Corona-Krisen-Politik hat geschafft, was die Propagandisten der Digitalisierung sich in ihren kühnsten Zukunftsvorstellungen nicht hätten träumen lassen.2

Die »Digitalisierung der Gesellschaft« – Thema des vorliegenden Bandes – ist galoppierend Wirklichkeit geworden.

Gewiss: »Digitalisierung« hat seit geraumer Zeit immer weitere Anwendungsfelder erobert. Aber die neue Entwicklung hat die Perspektive einer »Durch-Digitalisierung« der Gesellschaft realisierbar werden lassen.

Das »neuartige« Corona-Virus erlaubt und rechtfertigte umfassende und tiefgreifende Eingriffe in das öffentliche Leben bis hin zur Stilllegung ganzer Produktionsbetriebe und der Schließung alle Gaststätten, Cafés, Kaufhäuser, Schulen, Kitas. Das Parlament wurde auf ein Viertel seiner Mitglieder ausgedünnt, öffentliche Kundgebungen auf die Zahl einer kleinen Großfamilie gepresst, mit eineinhalb Meter Abstand voneinander. Das hat natürlich nicht das Virus selbst geschafft, sondern die Politik, beziehungsweise die Politiker*innen haben aus der Existenz des Corona-Virus Erlaubnis und Rechtfertigung für die viel zu tief greifenden und viel zu wenig differenzierten Maßnahmen hergeleitet. Teil dieser Legitimationsstrategie ist auch die Rede von der »Neuartigkeit« des Corona-Virus. Mit dieser verhält es sich genauso wie mit der Digitalisierung: Jeder Virologe kann bestätigen, dass es Corona-Viren schon immer gab. Genauso wie die schon früher begonnene Digitalisierung sich verändert hat, hat sich auch ein neuartiger Virus entwickelt, der aber nicht völlig neu ist. Er ist immer noch sehr verwandt mit bereits bekannten Corona-Viren und daher sowohl neuartig als auch bekannt.

Die nach den mit dem Virus begründeten Kontaktverbotsmaßnahmen einzig noch verbliebene Kommunikationsmöglichkeit der Isolierten ist die digitale: Digitaler Unterricht, digitale Heimarbeit, Homeoffice, Homeschooling, Homefighting… in der Sprache von Bill Gates verbrämt geht es gleich besser runter! So wie »Social Distancing« Kontaktverbot geradezu schick macht, und was früher »in« war, ist heute »viral«.

Es ist wie bei jenen Eingeborenen, die ihre Goldschätze gegen Glasperlen getauscht haben, die ihnen die weißen Eroberer angeboten hatten. Die Digitalisierung wird mit offenen Armen und strahlenden Gesichtern begrüßt – wie der Einzug eines langersehnten Befreiers.

In unserem Fachbereich, der Psychotherapie sind die Debatten über IT und Widerstand wie weggeblasen. Der Gipfel der Verkehrung, zuckersüß: Digitale Therapie! Das Grundprinzip der Therapie: geschützter Raum, zwischen zweien, in dem in nicht alltäglicher Weise und in ungewöhnlicher Offenheit alle Gedanken und Phantasien ausgesprochen werden dürfen, unabhängig davon, wie akzeptiert sie in der Normenwelt außerhalb dieses Raumes sein mögen – nicht nur der Staatstrojaner kann sich einschleichen, die zertifizierten Anbieter überhäufen uns mit »selbstlosen« Angeboten, ihren Videosprechstundendienst kostenlos zu nutzen, und die großen Internetfirmen freuen sich über Daten und Metadaten aus einem besonders kostbaren Bereich: dem Gesundheitssektor.

Ebenso über den Haufen geworfen wie das Grundlegende jeder Demokratie ist die öffentliche Diskussion der Betroffenen, zumindest ihrer Vertreter. Erinnern wir uns nur daran, dass Kritiker der von der Regierung verordneten Maßnahmen zunächst einmal gar nicht in den Mainstream-Medien vorkamen und ganz einseitige Beratung durch die Politiker*innen in Anspruch genommen wurde, die alternative fachkundige Meinungen überhaupt zunächst nicht in Erscheinung treten ließen. Diese anderen Meinungen legten dar, dass spezifische Gruppen unbedingt geschützt werden müssen, aber nicht ein Lockdown für die gesamte Gesellschaft mit den schlimmen Folgen die einzige Möglichkeit gewesen wäre, mit der Situation umzugehen. Bei jeder wichtigen medizinischen Maßnahme wird eine zweite Meinung eingeholt, worauf hier völlig verzichtet wurde! Zynisch dabei ist, dass in fast allen beobachteten Staaten gerade die besonders schutzbedürftigen Gruppierungen keinen ausreichenden Schutz erfahren haben. Das Ganze will sagen, dass eben diese Diskussion frühzeitig nicht an der Stelle stattgefunden hat, wo sie hingehört hätte: in den öffentlichen Raum mit jenen, die Entscheidungen treffen und Meinungen und Gegenmeinungen beachten und abwägen (sollten). Und mittlerweile beginnt sogar das RKI, die eigenen Zahlen zu relativieren und statistische Fehler, auf die es schon frühzeitig von anderen aufmerksam gemacht wurde, zu korrigieren. Auf diese Weise hat sich eine sinnvolle Realangst (mit angemessener Vorsicht als Folge) für viele in nahezu neurotische Angst verwandelt.

Man kann es nicht anders als einen Notstand nennen, ohne dass dieser erklärt worden wäre, vielmehr wurde er mit dem Seuchenschutz begründet. Anstelle des Geistes der Verfassung trat der Buchstabe des Gesetzes, der von der Exekutive durchgesetzt werden sollte: Was soll eine »Kundgebung« von zwanzig Leuten, die nicht über den Kreis der Anmeldenden hinausgehen, auf durch die Polizei leergefegten Plätzen? Wenn das die »Väter des Grundgesetzes« – die Mütter nicht zu vergessen – gewusst hätten! In fast diktatorischer Weise wurde ein medizinischer Notstand behauptet, der mit dem Schutz der Reglementierten legitimiert werden sollte, die zum Teil in die Isolation geschickt wurden, um einen befürchteten Notstand der medizinischen Versorgung zu kompensieren. Eine digitale Sterbebegleitung gibt es eben nicht.

Und am Ende dieses politisch-viralen Geschehens bleibt als strahlender Sieger die »Digitalisierung« übrig und damit die freiwillige Unterwerfung unter ein Orwellsches 1984 oder eine brave new world à la Huxley: eine perfekte Kontrolle der Subjekte für den Reset der alten Strukturen der kapitalistischen Ökonomie.

Ursprünglich hatten wir das Thema unseres Kongresses aus zwei Gründen gewählt:

»Digitalisierung« war zu diesem Zeitpunkt das Thema des politischen, gesellschaftlichen Diskurses, das alle anderen Themen getoppt hat. Und das macht ja das Programm unserer Kongresse aus, als die einer Gesellschaft für politische, gesellschaftskritisch sich einbringenden Psychologie, an einem solchen Punkt zu intervenieren, an dem die Bildung des Unbewussten quasi labormäßig beobachtet werden kann.

Darüber hinaus – oder sollten wir sagen an erster Stelle – betrifft uns dieses Thema der Digitalisierung – ebenso wie die Ärzte – ganz direkt und unmittelbar, weil wir nicht nur als Citoyens in den Strudel des Diskurses hineingezogen werden, sondern uns als im Gesundheitsbereich arbeitende Bourgeois an der vordersten Front der Mobilisierung und der Durchsetzung dieses Projekts finden.

Das Thema unserer diesjährigen Jahrestagung: »Digitalisierung« – Sirenengesänge oder Schlachtruf der »Kannibalischen Weltordnung« haben wir aus zwei Gründen gewählt:

»Digitalisierung« ist gegenwärtig das Thema des politischen, gesellschaftlichen Diskurses, das alle anderen Themen toppt. Und das macht ja das Programm unserer Kongresse aus, als die einer Gesellschaft für politische, gesellschaftskritisch sich einbringende Psychologie, an einem solchen Punkt zu intervenieren, an dem die Bildung des Unbewussten quasi labormäßig beobachtet werden kann.

Darüber hinaus – oder sollten wir sagen an erster Stelle – betrifft uns dieses Thema der Digitalisierung – ebenso wie die Ärzte – ganz direkt und unmittelbar, weil wir nicht nur als Citoyens in den Strudel des Diskurses hineingezogen werden, sondern uns als im Gesundheitsbereich arbeitende Bourgeois an der vordersten Front der Mobilisierung und der Durchsetzung dieses Projekts finden.

Für die Bildung des Unbewussten – des Diskurses des Anderen – sind bei uns in allererster Linie die sogenannten Medien zuständig. Vielleicht trifft diesen Tatbestand der Begriff der »Unbewusstmachung« von Mario Erdheim am besten: Was wir erfahren, wahrnehmen, erleben, hören, wird dem Bewusstsein entzogen – weil es unerträglich ist (hatte Freud gemeint, er hat dabei von »Zensur« gesprochen).

Weil wir daraus keine Konsequenzen ziehen sollen (sagt die FAZ) – gewiss auch das ist unerträglich! Es gehe der Zensur nicht primär darum, nur Inhalte zu unterdrücken, totzuschweigen, was jeder bereits weiß, sondern darum, den letzten, viel wichtigeren Schritt zu verhindern, nämlich dass Menschen handeln; beziehungsweise zu fördern, dass ihr Handeln sich in die gewünschte Richtung bewegt.

Die FAZ, kann sich diese Offenheit leisten, denn hinter ihr steckt immer ein kluger Kopf – die Dummerchen erschreckt sie mit Erzählungen über die Zensur in China.3

»Verstecken durch Zeigen« haben Chomsky und Bourdieu die Formel dieser Methode der Unbewusstmachung genannt.

Dies ist die Arbeitsweise der Medien überhaupt – der »Leitmedien«, wie sie sich selber nennen, – oder sollen wir sie als Staatsmedien bezeichnen? Jedenfalls sind sie es, die »überall die öffentliche Kundgebung, die Zeugenschaft im öffentlichen Raum« »organisieren und beherrschen«, wie Derrida festgehalten hat (Derrida 1993/95, S. 90 f.). Durch sie und dank ihrer Vermittlung »werden die unterschiedlichen Diskurse der politischen Klasse, der massenmedialen Kultur und der akademischen Kultur […] miteinander verschmolzen« (ebd., S. 91).

Herrschsüchtiger Diskurs

Derrida nennt den durch die Medien vermittelten Diskurs einen »herrschsüchtigen« (Diskurs des Herrn), denn: alle »zielen in jedem Augenblick darauf hin, die politisch-ökonomische Hegemonie und den Imperialismus zu sichern« (ebd., S. 91).

Die zurzeit herrschsüchtigste Parole dieses herrschsüchtigen Diskurses lautet »Digitalisierung«. Sie ist gegenwärtig die Ultima Ratio jeder Diskussion, das ceterum censeo, auf das jede Diskussion zuläuft.

Hinzu kommt, dass dieser Diskurs (der Digitalisierung) zugleich materialisiert ist, vergegenständlicht in Geräten, durch deren Gebrauch er überzeugt: Computer in jedem Gerät des Alltags, ob im Beruf oder der Freizeit, Auto und Smart-Phone, sodass uns der Ausdruck »Digitalisierung« mit dem Pawlowschen Reflex reagieren lässt: Alles okay, wir wissen Bescheid, wir sind dabei, vorne dran, oder: wer nicht Bescheid weiß, ist wohl nicht ernst zu nehmen, ist out, ist zu bemitleiden.

Mit der Digitalisierung wird eine smarte neue Welt versprochen, die wir als Verwirklichung von Selbstbestimmung und Freiheit erleben (werden) können, in der alle überkommenen Verhältnisse überwunden scheinen und alle gewohnten Verrichtungen unnötig geworden sind.

Eigenartig nur, dass diese »Vision für den europäischen Datenraum« »mit Zuckerbrot und Peitsche« durchgesetzt werden soll, wie Gesundheitsminister Jens Spahn, einer der Protagonisten, verkündet hat (vgl. Neumann 2018).

Ein Argument, das immer wieder aufgefahren wird: »Aber wenn wir das nicht schnell genug machen, dann wird es wieder von anderen kommen« (Ärztenachrichtendienst 2019/1; vgl. auch ders. 2019/2). Die »Eile bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens in Deutschland« sei als »eine Form von Selbstbehauptung Europas gegen Überwachungskapitalismus in den USA und Überwachungsstaat in China« zu betrachten (ders. 2020).

Besser kann man nicht klarmachen, dass nicht das Wohl des Patienten (oder der Behandler) im Vordergrund steht, sondern die Interessen anderer Akteure.

Hinter dem Zauberwort »Telematikinfrastruktur« wird der direkte Datenaustausch versprochen, zwischen dem Arzt und den Kassen – sie sind die »Partner« auf dem vielgerühmten neoliberalen Markt –, die Patienten treten auf diesem Markt nicht auf beziehungsweise allenfalls als »Ware«. Und als Ware haben sie wohl keine Privatsphäre, könnten also wohl auch keinen Schutz derselben beanspruchen, im Gegenteil, sie haben »gläsern« zu sein, damit der Austausch der Daten über die elektronische Patientenakte laufen kann. Die Akteneinsicht durch die Patienten ist »nicht gesichert«.

»Ankunft im 21. Jahrhundert« nennt Minister Spahn das Ziel, das damit erreicht werden soll – zu Recht: im Jahrhundert der Überwachung. Überwachungskapitalismus – viel Bluff und wenig Konsequenz dahinter (vgl. Zuboff 2015). Auch das gehört zum Diskurs (der Macht): die Schöpfung neuer Begriffe. Der Begriff »Überwachungskapitalismus« arbeitet mit der »Erregungsproduktion« (so ähnlich könnte Rainer Mausfeld das nennen), man könnte auch sagen: Die Empörung ist primär, die Analyse darf man nicht erwarten.

Denn Kapitalismus als Ökonomie, deren Profit aus der Aneignung des Mehrwerts gekaufter Arbeit stammt, liegt vor, gleichgültig, ob mit oder ohne Big Data. »Kapitalismus« geht hier als reines Erregungs- und Empörungsstimulanz durch. Viel wichtiger ist, was nach der Erregung kommt. Einerseits setzt die Skizzierung einer alles umfassenden Entfremdung in Schockstarre. Die einzige Perspektive aus dieser Totalität wäre Amoklauf. Die Perspektive, die Zuboff propagiert: Änderung der Politik (statt Änderung der Verhältnisse). Also haben wir wieder den geschlossenen Kreis: Der Berg kreißt und gebiert eine Maus.

Marx, der diese heutigen Verhältnisse und diesen Zustand der Entfremdung noch nicht erlebt, sondern nur vorausgesehen hat, sah bereits die einzig erfolgversprechende Perspektive in der Revolutionierung dieser Verhältnisse, worin anderem sollte heute die Perspektive zu finden sein, wenn nicht darin.

Zurück zum Jahrhundert der Überwachung: Schon lange erleben wir den Ausbau der Apparate sozialer Kontrolle, sowie die Überwachung durch vorsorgliche Datensammlung, sie begleiten Sozialabbau und Prekarisierung durch Rationalisierung von Arbeitsabläufen und Abbau von Arbeitsplätzen in großem Stil, und zugleich Entpolitisierung und Befriedung durch Intensivierung des Konsums und Manipulation.

Es scheint, dass die Neoliberale Front hier ihre eigentliche Speerspitze gefunden hat mit Minister Spahn als ihrem Kommissar im Gesundheitsbereich. Und Spahn hat die entsprechenden Kräfte hinter sich, für die er den Napoleon (vgl. Ärztenachrichtendienst 2019/3) macht: zum Beispiel Achim Berg, Präsident von Bitkom (Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien): »Jetzt muss es heißen: nicht reden, sondern machen und in aller Konsequenz und ohne Wenn und Aber digitalisieren« (zit. nach Heeg 2019, S. 21). Aber natürlich auch Deloitte, einer der »Big Four« der Wirtschafts-«Prüfer«.

Nicht zufällig ist es der BDI, der Bundesverband der Deutschen Industrie, der mit der unerhörten Aufforderung an die Bürger auftrat, »ihre Daten zu spenden« – selbstredend nur die Kassenpatienten.

Die Aufgaben des Herrschers von den Beherrschten erledigen lassen

Jahrhundert der Überwachung: Edward Snowden, Julian Assange, Chelsea Manning haben das Ausmaß der bereits stattfindenden Überwachung gezeigt – weltweit, die Medien berichten ständig darüber – allerdings berichten sie lieber über die Überwachung in China –, nicht nur um uns zu zeigen, wohin die Reise geht, bei der die Regierung den Lokführer stellen will, sondern primär, um uns davon abzulenken, wie weit es bei uns tatsächlich schon gediehen ist, und um uns daran zu gewöhnen, was »auf uns zukommen« wird.

Die Welt räumt zwar ein: »Das Überwachungsnetz [in China] ist pro Kopf nicht dichter als in westlichen Städten« (Fuest 2019, S. 12), doch besinnt sie sich auf die pfäffische Asymmetrie, »was sich in China gegen die Bürger richtet, geschieht bei uns im Interesse der Bürger und für sie«. Der IT-Spezialist Felix von Leitner merkte dagegen in einem Gespräch mit Frank Rieger, dem Sprecher des Chaos Computer Clubs an:

In der Volksrepublik China werden soziale Kontrolle und Massenüberwachung deutlich anders organisiert als beispielsweise in der BRD oder den USA. […] Man wird dort von der Staatsmacht wenig behelligt. […] Kontrolle dient dort dem Ziel, eine »harmonische Gesellschaft« zu schaffen. (Leitner 2019, S. 14)

Zygmunt Bauman schreibt 2013 (mit Rückgriff auf Von der freiwilligen Knechtschaft von Étienne de la Boétie) über die

Manipulation, die erwünschtes Verhalten wahrscheinlicher macht und die Gefahr von Abweichungen auf ein Minimum reduziert. […] Das Genie des Herrschens besteht darin, die Aufgaben des Herrschers von den Beherrschten erledigen zu lassen. […]

[Wer eine Aufgabe erledigt haben will, setzt heute] statt auf Zwang auf Verlockung und Verführung, statt auf normative Regulierung auf »Öffentlichkeitsarbeit«, statt auf polizeiliche Maßnahmen auf »reizvolle Angebote«; und jedes Mal wird damit die Verantwortung für das Erzielen der erwünschten Resultate von den Bossen auf deren Untergebene übertragen, von den Supervisoren auf ihre »Klienten«, kurz: von den Managern auf die Gemanagten.(Bauman & Lyon 2013, S. 76)

Also: Zuckerbrot – aber für wen denn noch die Peitsche? Es gibt wohl noch welche, die nicht freiwillig mitmachen. Das herrische Auftrumpfen gegen sie, die Drohung mit Honorarkürzungen und »Schlimmerem« zeigt, dass es »Aufgaben des Herrschers« sind, die auch mithilfe der Digitalisierung »erledigt« werden sollen – durch die Beherrschten selbst, so wie es das Heer der Freiwilligen bereits millionenfach praktiziert.

Die Massen, die bereits Stunden vor Geschäftseröffnung bei einem neuen Apple-Produkt Schlange stehen, man braucht sie zur Digitalisierung ihrer Daten nicht zu zwingen: Sie stellen sie tagtäglich »freiwillig« ins Netz, jedermann zugänglich und kontrollieren nicht, wer alles Zugang dazu hat. Trotz aller ausufernden staatlichen Kontrollen geschieht die Auflösung der »Privatsphäre« nicht nur durch die Datenkraken, sondern zugleich auch durch die Ausspionierten selbst, die die Öffentlichkeit ihrer Privatwelt erst herstellen: über Facebook, WhatsApp und so weiter, – in der die Kontrolleure sich erlauben, alles einzusammeln, was sie vorfinden.

Die Floskel »Ich habe nichts zu verbergen« verleugnet den gesellschaftlichen Zusammenhang der Kontrolle und der Ökonomisierung, in dem die Datenerhebung von Bedeutung ist, Werner Meixner nennt sie unethisch4 – denn sie kehrt die Verhältnisse um: Tatsächlich ist es der Staat, der »etwas zu verbergen« hat: der Nutznießer des Terrors.

Sie wollen nach dem Anschlag in Halle erneut digitale Überwachung ausbauen. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) neben Dieter Romann, Chef der Bundespolizei, BKA-Chef Holger Münch, BND-Präsident Bruno Kahl und BfV-Chef Thomas Haldenwang (v. l. n. r.) in Berlin, am 10.09.2019.5

Psychotherapeuten, Psychologen und Ärzte wehren sich

Die Psychotherapeuten, Psychologen (und Ärzte) – beziehungsweise ein großer Teil von ihnen – wehren sich dagegen, zum Verräter ihrer Patienten gemacht zu werden. Sie wehren sich zugleich gegen den Verrat und die Deformation ihrer Arbeit, gegen die Verkehrung ihrer Hilfe in Überwachung und Gehirnwäsche/Indoktrination.

Von daher, vom Widerstand der Psychologen und Ärzte her, können wir die Digitalisierung in ihrer Funktion für die Macht sehen, sie hat eine doppelte Funktion: Zum einen die Zerstörung der Demokratie – oder besser gesagt des Schleiers von Demokratie (durch Überwachung der Kommunikation der Bürger), und zum anderen die Zerstörung ihrer Arbeit selbst, der Grundlagen ihrer Arbeit (Vertrauen des Patienten, Beziehung, Übertragung).

Die Zerstörung der Demokratie ist durchaus beabsichtigt: Toni Negri stellt die Entwicklung der Digitalisierung (damals Informatisierung) in den Zusammenhang der kapitalistischen Antwort auf die Bewegungen der Schwarzen, der Frauen, der Studenten und der Arbeiter*innen in den Sechzigerjahren (vgl. Breljak & Schulz 2019, S. 320). Die »Regierbarkeit der Gesellschaft« war es, worum die Herrschenden fürchteten.6

Ihre Antwort bestand in der Veränderung der Organisation der Produktionsabläufe (vgl. ebd.) und der Diffusion der Produktion in die Gesellschaft und neuen Formen der sozialen Kontrolle der Arbeiter außerhalb der Fabrik. Diese wurden mit der Digitalisierung möglich, die ab Ende der Siebzigerjahre und im massiven Umfang erst in der Mitte der Achtzigerjahre in Gang kam. Gleichzeitig wurden durch diese »Diffusion« der Produktion in die Gesellschaft alle Bereiche und Dimensionen des Lebens Gegenstand von Ausbeutung: Produktion, Reproduktion, Zusammensein, Wissen, Affekte, Erfindungskraft.7

Das hat allerdings Konsequenzen, die vor allem die Psychotherapeuten zu Gesicht bekommen: Zunahme der psychischen »Störungen«: Depression, Burn-out, um nur die wichtigsten zu nennen (vgl. Ehrenberg 1998; Han 2000). Für deren Heilung sind wiederum die Psychotherapeuten und Ärzte gefragt – Heilung der Folgen der Digitalisierung.

Gleichzeitig wird aber durch die Digitalisierung die Grundlage der Arbeit der Psychotherapeuten und Ärzte zerstört: das Vertrauen der Patienten und die Bedingungen für die Arbeit der Übertragung, Beziehung, je mehr Apparate zwischen Therapeut und Patient geschoben werden.

Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter. (Marx 1867, S. 530)

Hier hat die seit Langem beobachtete Entwicklung der Ökonomisierung der Medizin und Gesundheitswirtschaft einen Punkt erreicht, wo diese an ihre Grenzen stößt, ihren – vorgeblichen – Auftrag (der Gesundheit) nicht mehr erfüllt. Oder muss man sagen: Eine andere Aufgabe zugeschoben bekommt, die der Kontrolle der Patienten sowie der Ärzte und Psychotherapeuten selbst?

Die Zerstörung der Demokratie ist nicht automatische Folge der Digitalisierung, sondern ihrer Entwicklung und Anwendung unter kapitalistischen Verhältnissen: Die befragten und ausgeforschten Bürger haben keine Kontrolle, weder über ihre Daten noch über deren Verwendung, sie wurden weder gefragt, noch sind sie beteiligt an der Sammlung der Daten (abgesehen von ihrer passiven Beteiligung durch Smartphone- und Internet-Kommunikation).

Auch die Arbeitslosigkeit ist nicht automatische Folge der Digitalisierung, sondern ihrer Entwicklung und Anwendung unter kapitalistischen Verhältnissen: Der Preis für das Festhalten an diesen (Eigentums-)Verhältnissen, der auf diejenigen abgeschoben wird, die sie »auf die Straße setzen«.

Die durch Digitalisierung mögliche Abschaffung der mühseligen Arbeit und Reduzierung der Arbeitszeit wird nicht zur Verkürzung der täglichen Arbeitszeit verwendet, sondern zur Reduzierung der Arbeitskräfte genutzt, zur Produktion von Arbeitslosigkeit bei unveränderter »Regel«-Arbeitszeit der immer kleiner werdenden Minderheit von »Arbeitsplatz-Besitzern«.8

Bedeutet die Digitalisierung unter anderen Verhältnissen, die befreit sind von der Herrschaft des Privateigentums, deshalb vielleicht einen Fortschritt? Oder ist die Digitalisierung sogar heute schon – unter den gegenwärtigen Herrschaftsbedingungen – ein Fortschritt der Produktivkräfte, welcher die gesellschaftlichen Verhältnisse der Herrschaft sprengen wird?

Die »Religion der Produktivkräfte«

Bereits Marx hatte prognostiziert, dass die Produktivkräfte zu Destruktivkräften werden. Max Horkheimer beginnt seine Analyse des Autoritären Staats mit der Feststellung: »Im System der freien Marktwirtschaft […] sind die Maschinen Destruktionsmittel nicht nur im wörtlichen Sinne geworden: Sie haben anstatt der Arbeit die Arbeiter überflüssig gemacht« (Horkheimer 1967).

In seiner Faschismusanalyse 1941/42 hielt Marcuse fest, Herrschaft sei in den Produktivkräften inkorporiert (vgl. Marcuse 1998). Sie würden den Stempel der Produktionsbeziehungen tragen, hatte André Gorz 35 Jahre später den Faden wieder aufgegriffen: Die Produktivkräfte seien »Matrices der hierarchischen Sozialbeziehungen, der Pyramidenstruktur aller Institutionen, der kulturellen, politischen und beruflichen Monopole« (Gorz 1976, S. 134).

Sie sind funktionell – also nicht sprengend – zum größten Teil nur innerhalb der Logik der Kapitalverwertung: Dort haben sie in erster Linie die Funktion, die Überakkumulationskrise aufzuschieben, indem sie den Konsum am Laufen halten, ohne das Niveau der Befriedigung zu erhöhen.

Das geschieht mittels Techniken der Verschwendung, das heißt, destruktiver Produktion, Zerstörung, deren Hauptziel die Veralterung der Produkte ist sowie die Substitution eines Produkttyps durch einen anderen, der zwar nicht zwangsläufig »besser«, sondern »revolutionär«, »hochgezüchtet«, kurz: neu ist. Die Forschung hat die Aufgabe, es zu gewährleisten. In der Elektroindustrie (und Elektronik) entspricht sie eher einer Forschung der »Kontrolle« (auf Amerikanisch »Herrschaft«).

Für den Bereich der Medizin und Psychotherapie kommentiert der Mathematiker und Methodenwissenschaftler Gerd Antes, viele Jahre Leiter des Deutschen Cochrane Zentrums für Verbesserung der wissenschaftlichen Grundlagen für Entscheidungen im Gesundheitssystem, diese Entwicklung folgendermaßen:

Wir werden täglich mit Schlagworten wie Digital Health, künstliche Intelligenz und personalisierte Medizin überschwemmt. Die zentrale Botschaft lautet: Alles wird besser. In diesem Hype werden jedoch alle grundlegenden Kriterien der Wissenschaft ignoriert.(zit. n. Fried 2020)

In technischen Zusammenhängen mag das als Sachschäden und Verschwendung akzeptiert werden, in der Medizin bedeutet es Krankheit und Tod. Das Versprechen von Big Data basiere auf der falschen Annahme, dass mehr Daten automatisch mehr Wissen bedeuteten, dass man riesige Datenmengen völlig unstrukturiert und unsystematisch durchwühlen kann und dabei auf sinnvolle Zusammenhänge stößt. Das sei wie das Suchen nach einer Nadel im Heuhaufen. »Durch Big Data macht man jedoch den Heuhaufen nur noch größer« (ebd.).

Die Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens sei es vielmehr, mithilfe von Theorie und Daten Hypothesen zu generieren, die empirisch durch Studien bestätigt oder widerlegt werden müssen. Es werde die fundamentale Unterscheidung zwischen technischer Unterstützung einerseits, welche mit Intelligenz nichts zu tun hat, und Entscheidungen in komplexen Situationen andererseits ignoriert. Darüber hinaus sei die Medizin zu komplex und voller nichtvorhersagbarer, unerwarteter Entwicklungen, um sie automatisierten Verfahren überlassen zu können.

Die Digitalisierung sei zu einer Ideologie und zur Staatsräson mutiert, die realisiert werden muss. Speicherplatz und Rechnerkraft haben die kritische Betrachtung von Nutzen gegenüber Risiken und den verbundenen Kosten in der Weiterentwicklung des Gesundheitssystems abgelöst.

Damit ist die Digitalisierung jedoch nicht ohne Bedeutung. Wenn auch nicht für die Weiterentwicklung der Medizin und Psychotherapie, so ist der Zugriff auf gigantische Datensätze gleichwohl von einem Interesse sowohl von kommerziellem als auch politischem, und zwar für die Meinungserforschung und Meinungsbeeinflussung, Werbung und psychologische Kriegsführung (vgl. Bunke 2020, S. 3).

Nicht nur, dass die Produktivkräfte nichts mehr sprengen, sondern sie verstärken im Gegenteil die Herrschaft, machen sie zugleich unsichtbar (vgl. Nassehi 2019), indem sie in den Alltag eingegangen sind, zur Selbstverständlichkeit geworden (Bourdieu), »unbewusst« geworden.

Deshalb können wir uns die Gesellschaft der Zukunft auch nicht mehr ohne Digitalisierung vorstellen; so sehr geht diese schon in großen Teilen in unsere Daseinsvorsorge und Infrastruktur, in Logistik, Medizin, Verkehrsregelung, Produktion ein. Wir haben uns daran gewöhnt, dass wir »mit einem Klick alles erledigen können«, und nehmen in Kauf, dass wir bei jedem Klick Informationen über uns weitergeben, über den Ort, an dem wir uns gerade befinden, über das Produkt, die Dienstleistung, die wir gerade bezahlen, und verrechnet mit den anderen Daten, mit denen wir bereits die Computer gefüttert haben, Auskunft über unsere Absichten und nächsten Wege. Das bindet uns in Loyalität an das System, das uns überwacht, verführt, anstachelt und stillstellt (Foucault) – statt uns von ihm zu befreien, statt die Fesseln zu sprengen.

Diese Loyalität überwältigt auch das Denken von Teilen der Linken – zumindest in der Linkspartei, wenn Katja Kipping und andere phantasieren:

Die Digitalisierung eröffnet Chancen für eine demokratische wie solidarische Gestaltung von Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums – und ist selbst das Ergebnis sozialer Kämpfe, die das Kapital dazu zwangen, in die Automatisierung von Arbeit zu investieren, statt die Ausbeutung der Arbeit zu intensivieren.(Kipping 2017)

Es reicht nicht, die Digitalisierung als vermeintlich fortschrittliche Produktivkräfte in die Hände anderer/»unserer« Leute zu legen, um die inhumanen Folgen loszuwerden (obwohl die Verdrängung der falschen Leute von der Macht grundsätzlich richtig ist). Es bleibt weiterhin die Ausschaltung der Selbstbestimmung, der Entscheidung dieser Massen über ihre Laufrichtung, die Ausschaltung ihrer schöpferischen Kraft und ihre Konzentration in der Spitze der Hierarchie der Lenker.

Digitalisierung hat die Herrschaftsfunktion inkorporiert: in der Zentralisierung der Information, der schnellen Verarbeitung und Einleitung der Konsequenzen der Ergebnisse der Berechnungen: Damit werden die Fähigkeiten der Einzelnen bei dieser Aufrechterhaltung zu »Stör- und Fehlerquellen«, die ausgeschaltet werden müssen. Und an die Stelle der menschlichen Kreativität müssen Belohnungssysteme gesetzt werden (Boni und Sanktionen: Zuckerbrot und Peitsche). Von Sozialismus braucht man dann nicht mehr zu reden – wohl aber von Autoritarismus!

Die Wiedergeburt des Autoritären

Und damit kommen wir zu einem weiteren Punkt: die gegenwärtige Wiedergeburt des Autoritären. Sie wird durch die Digitalisierung unterstützt, ja geradezu forciert: General Spahn ist nur die Personifizierung dieser Forcierung.

Der Glaube an den Fortschritt der Wissenschaft (dessen Funktion die Enteignung der kreativen Potentiale der Einzelnen ist) und ihre Konzentration in den zentralen Bürokratien unterscheidet sich nicht grundsätzlich vom Glauben an den starken Mann (und habe er das Geschlecht einer Frau), der seine Stärke ja nur aus der Schwäche der vielen bezieht, die sich ihm unterwerfen.

Diese Art von Glauben basiert auf Verleugnung – der Verleugnung dessen, was diese Wissenschaft, die Religion der Produktivkräfte (Gorz 1976, S. 130) ausschaltet beziehungsweise deren Ausschaltung legitimiert, der Verleugnung der »Grenzen« des Wachstums, die Grenzen des Kapitalismus als Lebensmodell sind, der Verleugnung der Begrenztheit des Individuums (das seine Bezogenheit verleugnet) und der Verleugnung des Krebsgeschwürs des Privateigentums (an Produktionsmitteln), in der sie alle zusammenfinden.

Die Verleugnung

Die Digitalisierung beziehungsweise die dazu nötigen (fähigen) Maschinen sind so faszinierend, dass darüber ihre Voraussetzungen vergessen werden: Produktionsbedingungen, die elendeste Ausbeutung, die es mit jeder historisch bekannten Sklavenschinderei aufnehmen kann. Amazon steht inzwischen in der Kritik, aber Apple?

Der Apple-Computer ist grundsätzlich entschieden teurer als alle vergleichbaren Geräte, deshalb ist er ja auch »unvergleichlich« – er dient dem Differenzgewinn des Benutzers, hebt ihn in eine andere Klasse.

Die Herstellung geschieht unter unglaublichen, tödlichen Bedingungen, weitab von unseren Sphären, in Indonesien, Indien, im Kongo, auch in China. Für die Gewinnung der notwendigen Materialien werden Wälder gerodet, Meere verseucht, Treibhausgasemissionen in die Atmosphäre gepumpt, verheerend nicht nur für die Anwohner und die sich zu Tode schuftenden Arbeiter.

»Imperiale Lebensweise« nennen Ulrich Brand und Markus Wissen diese Ignoranz unseres Lebens auf Kosten der anderen, die wir »vergessen«. Wir leben nicht nur auf Kosten der »Dritten Welt« (das gilt auch, wenn wir diese Bezeichnung nicht mehr verwenden). Dieses Vergessen trifft aber zugleich auch die Arbeitssklaven in den Call Center und anderen »Service«-Einrichtungen, die unter permanenter Überwachung ihre eintönige Arbeit verrichten müssen.

Das Vergessen gilt auch den von den Rationalisierungszielen der Digitalisierung »überflüssig« gemachten Menschen: In den nächsten zehn, fünfzehn Jahren sollen an die fünfzig Prozent der Normal-Arbeitsplätze wegfallen (vgl. Hans Böckler Stiftung 2018). Dieses Vergessen ermöglicht uns, unsere »schöne neue Welt« zu genießen: ohne »schlechtes Gewissen«, ohne uns um die zu kümmern, denen wir diese Privilegierung verdanken – »Schmarotzer« wäre der weniger noble Ausdruck für unsere Lebensweise.

Diese Lebensweise selbst affirmiert die Bedingungen ihrer Möglichkeit: Zwei Drittel der Bevölkerung nutzen Smartphones, bei den Jungen sind es bereits neunzig Prozent. Das ist Zustimmung zur imperialen Lebensweise – auf der Ebene des Tuns, nicht primär der Argumente: die Smartphones »überzeugen« durch ihre Möglichkeiten, der Diskurs der Überzeugung kommt danach: als Rationalisierung des Griffs nach dem Gerät.

Demgegenüber ist die Kritik an der Digitalisierung »hilflos«, selbst wenn sie als Kritik an unserer Entfremdung, der Zerstörung des Analogen auftritt, als Kritik an der Überwachung, an der Zerstörung der Demokratie, solange sie nicht zu diesen »vergessenen« Voraussetzungen vorstößt. Dies erklärt zugleich auch unser Unverständnis unserer eigenen Situation gegenüber: Wie kann es sein, dass in den »reichsten Ländern« die Opposition sich nach rechts bewegt?

Die »Opposition« bewegt sich nach rechts? Inwiefern? Weshalb?