Louis Lambert

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Louis Lambert wurde 1797 in Montoire geboren, einem kleinen Städtchen in der Landschaft Vendôme, wo sein Vater eine kleine Gerberei betrieb. Er hatte den Sohn zu seinem Nachfolger bestimmt, aber die Neigungen, die derselbe schon frühzeitig für das Studium zeigte, änderten die Pläne des Vaters. Zudem liebten die Gerbersleute Louis so, wie man eben einen einzigen Sohn liebt, und legten ihm keinerlei Hindernisse in den Weg. Mit fünf Jahren war Louis das alte und neue Testament in die Hände gefallen, und dieses Buch, das so viele Bücher umfaßt, hatte sein Schicksal bestimmt. Begriff der kindliche Verstand schon die geheimnisvolle Tiefe der Heiligen Schrift, konnte er dem Heiligen Geist in seinem Fluge durch die Welt folgen; liebte er nur den romantischen Zauber, der in diesen orientalischen Dichtungen enthalten war; oder sympathisierte diese Seele in ihrer ersten Unschuld mit dem religiös Erhabenen, das göttliche Hände in diesem Buche ausgestreut haben? Einigen Lesern wird unsere Erzählung diese Fragen beantworten. Eine Folge hatte diese erste Lektüre der Bibel jedenfalls: Louis ging durch ganz Montoire und sammelte Bücher, die er auch bekam, dank jener Unwiderstehlichkeit, die allein das Geheimnis der Kinder ist und der niemand etwas abschlagen kann. Bei dieser Art Studium, das von keinem Menschen überwacht wurde, erreichte er sein zehntes Lebensjahr. Damals waren Ersatzmänner für den militärischen Dienst sehr selten zu bekommen; viele reiche Familien sicherten sie sich daher schon im voraus, um dann bei der Aushebung nicht in Verlegenheit zu kommen. Aber das geringe Vermögen der armen Gerbersleute gestattete es ihnen nicht, für ihren Sohn auch einen Ersatzmann zu kaufen. So fanden sie nur in dem geistlichen Stand das einzige ihnen vom Gesetz übriggelassene Mittel, ihren Sohn vor dem Militär zu bewahren. Sie schickten ihn daher im Jahre 1807 zu seinem Onkel mütterlicherseits, dem Pfarrer von Mer, einer anderen kleinen Stadt, die an der Loire, in der Nähe von Blois, gelegen ist. Diese Wahl befriedigte sowohl die Leidenschaft Louis' für die Wissenschaft wie auch den Wunsch seiner Eltern, ihn nicht den Zufälligkeiten des Krieges ausgesetzt zu sehen. Seine Neigung für das Studium und sein frühreifer Geist gaben zudem zu der Hoffnung Anlaß, daß er es in seiner kirchlichen Laufbahn noch einmal weit bringen werde. Nachdem Louis ungefähr drei Jahre bei seinem Onkel geblieben war, einem alten gelehrten Oratorianer, verließ er diesen zu Anfang des Jahres 1811, um in das Institut zu Vendôme einzutreten, wo er auf Madame de Staëls Veranlassung und Kosten untergebracht worden war.

Lambert verdankte die Protektion dieser berühmten Frau dem Zufall oder besser der Vorsehung, die dem hilflosen Genie stets die Wege zu ebnen weiß. Aber uns, deren Blicke an der Oberfläche der menschlichen Dinge haften bleiben, erscheinen diese Schicksalswendungen, für die das Leben der großen Männer uns so viele Beispiele gibt, nur als das Resultat eines rein natürlichen Vorganges. Und für die meisten Biographen erhebt sich das Haupt eines Genies über die Massen wie eine schöne Pflanze, die auf den Feldern durch ihren Glanz die Augen des Botanikers auf sich lenkt. Dieser Vergleich ließe sich auch auf das seltsame Ereignis in Louis Lamberts Leben anwenden: Gewöhnlich verbrachte er die Zeit, die sein Onkel ihm als Ferien gönnte, im Elternhause. Aber anstatt sich nach Schülerart den Freuden des »dolce far niente« hinzugeben, ging er mit Brot und Büchern bewaffnet fort und las und grübelte in den Wäldern, um sich den Ermahnungen seiner Mutter zu entziehen, der dieses andauernde Studium gefährlich erschien. Wunderbarer Mutterinstinkt! Von dieser Zeit an war die Lektüre bei Louis zu einer Art Heißhunger geworden, den nichts stillen konnte. Er verschlang Bücher aller Art und labte sich wahllos an religiösen, geschichtlichen, philosophischen und physikalischen Werken. Er hat mir einmal gesagt, daß er, wenn ihm andere Bücher nicht zur Hand waren, einen unglaublichen Genuß bei der Lektüre von Wörterbüchern empfand, was ich ihm gern glaubte. Welcher Schüler hat nicht immer wieder Freude daran gehabt, den wahrscheinlichen Sinn eines Substantivs zu suchen? Die Analyse eines unbekannten Wortes, sein Charakter, seine Geschichte waren für Lambert Ursache langer Träumerei. Aber es war nicht jene unbewußte Träumerei, durch die ein Kind sich an die Phänomene des Lebens gewöhnt, sich an die geistigen wie körperlichen Erscheinungen heranwagt; eine unbewußte geistige Bildung, die später sowohl im Verständnis wie im Charakter seine Früchte trägt. Nein, Louis Lambert erfaßte die Tatsachen wirklich und erklärte sie, nachdem er sowohl Anfang wie Ende derselben mit dem Spürsinn eines Wilden aufgefunden hatte. Auch konnte er, durch eines jener sonderbaren Spiele, in denen sich die Natur zuweilen gefällt und die die Anomalie seines Wesens bewies, schon mit vierzehn Jahren mit Leichtigkeit Gedanken äußern, deren Tiefe mir erst viel später aufgegangen ist.

»Oft«, so sagte er mir, wenn er von seiner Lektüre sprach, »oft habe ich wunderbare Reisen gemacht, indem ich mich auf einem Wort in die Abgründe der Vergangenheit einschiffte, wie das Insekt auf einem Grashalm einen Fluß hinuntertreibt. Von Griechenland aus ging ich nach Rom und durchquerte den weiten Raum des modernen Zeitalters. Was für ein schönes Buch könnte man da nicht zustande bringen, wenn man das Leben und die Abenteuer eines Wortes schriebe? Es hat von den Ereignissen, denen es gedient hat, sicherlich die verschiedensten Eindrücke erhalten; je nach dem Orte hat es die verschiedensten Ideen erweckt; aber ist es nicht noch größer, wenn man es unter dem dreifachen Gesichtspunkt von Seele, Körper und Bewegung betrachtet? Und wenn man von seinen Funktionen, seinen Wirkungen und Handlungen absieht und es nur an sich betrachtet, versinkt man da nicht in ein Meer von Reflexionen? Tragen nicht die meisten Worte die Färbung der Idee, die sie äußerlich darstellen? Welchem Genie verdanken wir sie? Wenn ein großer Geist notwendig ist, um ein Wort zu schaffen, welches Alter hat dann die menschliche Sprache? Die Zusammensetzung der Buchstaben, ihre Formen, das Aussehen, das sie einem Wort geben, zeichnen, je nach dem Charakter jedes Volkes, ein deutliches Bild von den unbekannten Wesen, deren Erinnerung in uns lebt. Wer erklärt uns philosophisch den Übergang von der Empfindung zum Gedanken, vom Gedanken zum Wort, vom Wort zu seinem hieroglyphischen Ausdruck, von der Hieroglyphe zum Alphabet, vom Alphabet zur geschriebenen Sprache, deren Schönheit in einer Folge von Bildern besteht, die der Redner anordnet und die wie Hieroglyphen des Gedankens sind? Hat nicht die alte Wiedergabe menschlicher Gedanken, die in Tierformen dargestellt wurden, die ersten Zeichen bestimmt, deren sich der Orient bediente, um seine Sprache niederzuschreiben? Und hat sie nicht durch Traditionen ein paar Spuren in unsern modernen Sprachen zurückgelassen, die sich dann in die Trümmer des ersten Wortes der Völker geteilt haben, des erhabenen und feierlichen Wortes, dessen Erhabenheit und Feierlichkeit in dem Maße abnimmt, in dem die Gesellschaft altert, dessen Klang, der so volltönend in der hebräischen Bibel ist und so schön noch in Griechenland im Fortgang unserer nacheinander folgenden Zivilisationen jedoch sich abschwächt? Verdanken wir diesem alten Geist die Mysterien, die sich in jedes menschliche Wort geflüchtet haben? Lebt nicht in dem Wort »wahr« eine geradezu unwirkliche Lauterkeit? Ist nicht in dem kurzen Ton, in dem es ausgesprochen wird, ein unbestimmtes Bild der keuschen Nacktheit, der Schlichtheit des Wahren in jedem Ding? Diese Silbe atmet eine unerklärliche Frische. Ich habe als Beispiel die Formel für einen abstrakten Begriff genommen, da ich das Problem nicht an einem Wort erläutern wollte, das es zu leicht verständlich machen würde, wie zum Beispiel das Wort »Flug«, in dem soviel zu den Sinnen spricht. Und ist es nicht mit jedem Wort so? Alle sind sie Zeichen einer lebendigen Kraft, die sie von der Seele empfangen und die sie ihr wieder zurückerstatten durch das Geheimnis wunderbarer Wirkung und Gegenwirkung zwischen Wort und Gedanken. Könnte man sie nicht mit einem Liebenden vergleichen, der von den Lippen seiner Geliebten so viel Liebe schlürft wie er ihr gibt? Durch ihr Aussehen allein beleben die Worte in unsrem Hirn die Dinge, denen sie als Gewand dienen. Wie alle Wesen haben sie nur einen Platz, wo ihre Eigenart voll wirken und sich voll entfalten kann. Aber dieser Gegenstand brauchte wohl eine ganze Wissenschaft für sich.« Und Louis zuckte die Achseln, wie um zu sagen: wir sind zu groß und auch zu klein!

Louis' Lesewut hatte übrigens viel Nahrung gefunden. Der Pfarrer von Mer besaß ungefähr zwei- bis dreitausend Bücher. Dieser Reichtum rührte von Plünderungen her, die während der Revolution in den umliegenden Klöstern und Schlössern gemacht worden waren. In seiner Eigenschaft als Priester, der auf die Verfassung vereidigt war, hatte der gute Mann die besten Werke aus den kostbaren Sammlungen, die damals nach Gewicht verkauft wurden, auswählen dürfen. Innerhalb dreier Jahre hatte sich Louis Lambert den Inhalt all der Bücher angeeignet, die in der Bibliothek seines Onkels wert waren, gelesen zu werden. Die Art, wie er bei der Lektüre die Gedanken aufnahm, war überaus merkwürdig. Seine Augen überblickten sieben bis acht Reihen auf einmal, und sein Geist erfaßte den Sinn derselben ebenso schnell. Oft genügte ihm sogar ein einziges Wort in einem Satz, um den Kern desselben zu erfassen. Sein Gedächtnis war wunderbar. Er erinnerte sich mit gleicher Treue der Gedanken, die er durch die Lektüre erworben hatte, wie derjenigen, die ihm durch Nachdenken oder im Gespräch gekommen waren. Kurz, er besaß ein Gedächtnis für alles: für Orte, Namen, Worte, Dinge und Gesichter. Er erinnerte sich nicht nur auf Wunsch eines Gegenstandes, er sah ihn in seinem Innern sogar an der Stelle, in der Beleuchtung und in der Farbe, wie er ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Diese Kraft war auch bei Vorgängen wirksam, die der Anschauung unzugänglich waren. Er entsann sich, wie er sich ausdrückte, nicht nur der Anordnung der Gedanken in dem Buche, aus dem er sie geschöpft hatte, sondern auch seiner eigenen Seelenzustände in weit zurückliegenden Zeiten. Dank einer unerhörten Begabung konnte sein Gedächtnis ihm die Entwicklung und das ganze Leben seines Geistes wieder aufbauen, von seinem ersten Gedanken an bis zu dem jüngst entfalteten, von dem verwirrtesten bis zum klarsten. Sein Gehirn, das schon in jungen Jahren an den schwierigen Mechanismus der Konzentration der menschlichen Kräfte gewöhnt war, schöpfte aus diesem reichen Vorrat eine Menge Bilder von wunderbarer Wirklichkeit und Frische, von denen es sich in den Zeiten klaren Nachdenkens nährte.

»Wenn ich will,« so sagte er in seiner Sprache, der die Schätze der Erinnerung eine frühreife Originalität verliehen hatten, »wenn ich will, ziehe ich einen Schleier vor meine Augen. Plötzlich gehe ich in mich hinein und finde dort eine Dunkelkammer, in der die Vorgänge der Natur sich in einer reineren Form darstellen, als es diejenige ist, in der sie meinen äußeren Sinnen anfangs erschienen sind.«

Mit zwölf Jahren hatte sich seine Phantasie, angeregt durch die unablässige Übung seiner Fähigkeiten, so hoch entwickelt, daß er von den Dingen, die er nur durch die Lektüre aufnahm, eine genaue Kenntnis besaß, daß das Bild, das in seiner Seele eingegraben war, nicht lebendiger hätte sein können, hätte er die Dinge wirklich gesehen; sei es nun, daß er sie sich durch Analogie zu eigen machte, sei es, daß er mit einer Art zweitem Gesicht begabt war, mit dem er die Natur umfaßte.

»Während ich den Bericht der Schlacht von Austerlitz las,« sagte er mir eines Tages, »habe ich alle Einzelheiten wahrgenommen. Der Flug der Kugeln, der Schrei der Kämpfenden klang an meinem Ohr wider und wühlte mein Inneres auf. Ich roch das Pulver, hörte das Getrappel der Pferde und die Stimmen der Menschen. Ich sah die Ebene vor mir, in der die Völker aufeinander stießen, als hätte ich auf der Höhe von Santon gestanden. Dieses Schauspiel schien mir furchtbar wie eine Seite aus der Apokalypse.«

Wenn er so alle seine Kräfte beim Lesen anspannte, verlor er gewissermaßen das Bewußtsein seines Körpers und lebte nur mehr durch das gewaltige Spiel seiner inneren Organe, deren Kräfte sich über alles Maß entfaltet hatten: er ließ nach seinem eigenen Ausdruck »den Raum hinter sich«. Aber ich will nicht alle geistigen Phasen seines Lebens vorwegnehmen. Ich habe schon wider meinen Willen die Ordnung verkehrt, in der ich die Geschichte dieses Menschen entrollen muß, der sein ganzes Handeln in sein Denken legte, wie andere ihr ganzes Leben in ihr Handeln legen.

Eine große Vorliebe zog ihn zu mystischen Werken hin. – »Abyssus abyssum«, sagte er zu mir. »Unser Geist ist ein Abgrund, der sich gern in Abgründen aufhält. Wir alle, Kinder, Männer, Greise, hungern immer nach Mysterien, unter welcher Form sie sich auch darstellen mögen.« Diese Vorliebe wurde verhängnisvoll für ihn, wenn man überhaupt sein Leben nach den gewöhnlichen Gesetzen beurteilen und das Glück anderer mit dem Maß des eigenen oder nach gesellschaftlichen Vorurteilen messen darf. Diese Freude an den Dingen des Himmels – ein anderer Ausdruck, den er oft gebrauchte – diese »mens divinior« war vielleicht auf den Einfluß zurückzuführen, den die ersten Bücher, die er bei seinem Onkel las, auf seinen Geist ausgeübt hatten. Die Heilige Therese und Madame Guyon schlossen sich an die Bibel an, waren die ersten Versuche seines jungen Geistes und gewöhnten ihn an jene tiefen Erregungen der Seele, deren Mittel sowohl wie Zweck die Ekstase ist. Dieses Studium, diese Neigung erhoben sein Herz, reinigten, veredelten es, gaben ihm ein Verlangen nach der göttlichen Natur und lehrten ihn eine fast weibliche Zartheit, die großen Männern angeboren ist: vielleicht ist das Göttliche in ihnen nur ein Bedürfnis nach Hingabe, wie Frauen es besitzen, nur daß es von ihnen in große Dinge hineinverlegt wird. Dank seiner ersten Eindrücke blieb Louis im Gymnasium rein. Diese edle Jungfräulichkeit der Sinne mußte notwendigerweise dazu beitragen, die Wärme seines Blutes zu erhöhen und die Fähigkeiten seines Denkens zu steigern.

Die Baronin von Staël, die auf vierzig Meilen von Paris verbannt war, verbrachte mehrere Monate ihres Exils auf einem Gut in der Nähe von Vendôme. Eines Tages, auf einem Spaziergang, begegnete sie am Saum des Parkes dem Kind des Gerbers, das in fast zerlumpter Kleidung in ein Buch vertieft war. Dieses Buch war eine Übersetzung des Werkes »Von Himmel und Hölle«. Zu dieser Zeit waren Saint-Martin, de Gence und ein paar andere Schriftsteller – zur Hälfte Deutsche – fast die einzigen Menschen, die im französischen Kaiserreich den Namen Swedenborg kannten. Erstaunt ergriff Madame de Staël das Buch, mit jenem Ungestüm, das sie in ihre Fragen, ihre Blicke und ihre Bewegungen zu legen pflegte; dann sah sie Lambert an und sagte zu ihm: »Verstehst du denn das?«

»Beten Sie zu Gott?« fragte das Kind.

»Aber gewiß doch!«

»Und verstehen Sie ihn?«

Die Baronin blieb ein paar Augenblicke sprachlos; dann setzte sie sich neben Lambert hin und unterhielt sich mit ihm. Leider ist mein Gedächtnis, wenn auch sehr umfassend, so doch lange nicht so treu wie das meines Freundes, und ich habe dieses Gespräch bis auf jene ersten Worte ganz vergessen. Diese Begegnung war dazu angetan, Madame de Staël aufs lebhafteste zu interessieren. Bei ihrer Rückkehr ins Schloß sprach sie wenig davon, trotz ihres Mitteilungsbedürfnisses, das bei ihr in Geschwätzigkeit ausartete; sie schien nur sehr nachdenklich. Die einzige noch lebende Person, die die Erinnerung an diese Begegnung bewahrt hat und die ich befragt habe, um die wenigen Worte zusammen zu bringen, die Madame de Staël damals entschlüpft waren, fand in ihrem Gedächtnis nur mühsam den Satz, den die Baronin in bezug auf Lambert gesagt hat: »Das ist ein wahrer Seher!« Louis rechtfertigte in den Augen der Welt die schönen Hoffnungen nicht, die seine Beschützerin in ihn gesetzt hatte. Das flüchtige Interesse, das sie ihm entgegenbrachte, wurde daher als Weiberlaune angesehen, als eine jener besonderen Launen, wie sie Künstlernaturen eigen sind. Madame de Staël wollte Louis Lambert dem Kaiser und der Kirche entreißen, um ihn dem auserwählten Schicksal zurückzugeben, das, wie sie sagte, seiner harrte. Denn sie machte schon einen neuen Moses aus ihm, den sie aus den Wassern errettet hatte. Vor ihrer Abreise beauftragte sie einen ihrer Freunde, den Herrn de Corbigny, der damals Präfekt in Blois war, ihren Moses zur gegebenen Zeit aufs Gymnasium von Vendôme zu schicken. Dann vergaß sie ihn wahrscheinlich.

Lambert war mit vierzehn Jahren, zu Beginn des Jahres 1811, in die Anstalt eingetreten und sollte sie zu Ende 1814 nach bestandenem Abiturientenexamen verlassen. Ich glaube nicht, daß er in dieser Zeit jemals das geringste Zeichen des Erinnerns von seiner Wohltäterin bekommen hat, wenn denn überhaupt als eine Wohltat gelten soll, daß man drei Jahre hindurch die Pension für ein Kind bezahlt, ohne weiter an dessen Zukunft zu denken, nachdem man es aus einer Laufbahn herausgerissen hat, in der es vielleicht sein Glück gefunden hätte. Die Zeitverhältnisse und auch der Charakter Louis Lamberts können Madame de Staël hinsichtlich ihrer Sorglosigkeit wie auch ihrer Großmut in weitem Maße von aller Schuld freisprechen. Die Persönlichkeit, die in ihren Beziehungen zu dem Kinde als Mittelsperson gedient hatte, verließ Blois in dem Augenblick, da der Knabe aus dem Gymnasium herauskam. Die politischen Ereignisse, die dann folgten, rechtfertigen einigermaßen die Gleichgültigkeit dieses Mannes für den Schützling der Baronin. Die Verfasserin von »Corinna« erfuhr von ihrem kleinen Moses nichts mehr. Die Hundert Dukaten, die sie Herrn von Corbigny gegeben hatte – der, wie ich glaube, 1812 starb – waren keine so bedeutende Summe, um Madame de Staëls Erinnerung wach zu halten, deren überspannte Seele nun genügend Nahrung fand und deren ganzes Interesse durch die Ereignisse von 1814 und 1815 aufs lebhafteste in Anspruch genommen wurde.

Louis Lambert war zu jener Zeit zu arm und auch zu stolz, um seine Wohltäterin, die durch Europa reiste, wieder aufzusuchen. Trotzdem ging er zu Fuß von Blois nach Paris, in der Absicht, sie zu sehen, und kam unglückseligerweise gerade an dem Tage dort an, an dem die Baronin starb. Zwei Briefe, die Lambert geschrieben hatte, waren ohne Antwort geblieben. Das Andenken an die guten Absichten der Madame de Staël für Louis ist also nur in einigen jungen Köpfen lebendig geblieben, die, wie der meine, durch das Eigenartige dieser Geschichte stark beeindruckt wurden. – Man muß in unserer Anstalt gewesen sein, um den Eindruck zu verstehen, den die Ankündigung eines »Neuen« auf unsere Gemüter machte, und vor allem die Wirkung, die Lamberts Abenteuer auf uns hatte.

Hier werden einige Aufschlüsse über die Grundgesetze unseres Institutes, das früher halb militärisch, halb religiös gerichtet war, notwendig, um das neue Leben, das Lambert dort führte, anschaulich zu machen. Vor der Revolution war der Orden der Oratorianer, wie der der Jesuiten, der öffentlichen Erziehung gewidmet und besaß in der Provinz mehrere Anstalten, von denen diejenigen in Vendôme, Tournon, La Flèche, Pont le Voy, Sorrèze und Juilly die bedeutendsten waren. In Vendôme wurde, wie ich glaube, ebenso wie in den anderen Instituten, eine gewisse Anzahl zu Kadetten bestimmt. Die Abschaffung des kirchlichen Lehrkörpers durch den Konvent hatte auf die Schule von Vendôme nur geringen Einfluß. Nachdem die erste Krise vorüber war, nahm das Institut ihre Häuser wieder in Besitz. Ein paar in der Umgegend zerstreute Oratorianer kamen zurück, eröffneten die Anstalt wieder und behielten die alten Regeln, Gewohnheiten, Gebräuche und Sitten bei, die ihr ein Gesicht gaben, dem ich nichts vergleichen kann, auch in irgend einer der anderen Anstalten, in die ich dann nach meinem Austritt aus Vendôme kam. Das Institut, das mitten in der Stadt gelegen ist, an dem kleinen Loirflüßchen, dessen Wasser seine Gebäude umspült, bildet einen weiten, sorgsam abgeschlossenen Komplex, der die für eine Anstalt notwendigen Gebäude umfaßt: eine Kapelle, ein Theater, ein Krankenhaus, eine Bäckerei; außerdem Gärten und Wassergräben. Diese Schule, das berühmteste Erziehungszentrum der mittleren Provinzen, wird von diesen beschickt und von den Kolonien. Die Entfernung gestattet es den Eltern also nicht, ihre Kinder oft zu besuchen. Die Vorschrift verbietet zudem, die Ferien außerhalb der Anstalt zu verbringen. Sind die Schüler einmal eingetreten, so verlassen sie die Schule erst nach Beendigung ihrer Studien. Mit Ausnahme der Spaziergänge draußen unter Führung der Priester war alles dazu angetan, diesem Hause die Vorteile einer klösterlichen Disziplin zu geben. Zu meiner Zeit war der »Zuchtmeister« noch eine lebendige Erinnerung, und der klassische Kantschu spielte noch in allen Ehren seine fürchterliche Rolle. Die Strafen, wie sie vordem von den Jesuiten erdacht worden waren und die sowohl auf Seele wie Körper einen gefährlichen Einfluß hatten, waren unveränderlich in das Programm mit aufgenommen worden. Die Briefe, die an bestimmten Tagen an die Eltern geschrieben werden mußten, waren ebenso obligatorisch wie die Beichte. So waren unsere Vergehen wie unsere Gefühle in Regeln eingeordnet, alles trug das Gepräge klösterlicher Einförmigkeit. Ich erinnere mich neben anderen Überbleibseln ehemaliger Schulregeln noch an die Inspektion, der wir alle Sonntage unterzogen wurden: wir trugen unsere Galauniform, standen wie die Soldaten in Reih und Glied und erwarteten die beiden Direktoren, die, von den Lieferanten und Lehrern gefolgt, uns nach den drei Gesichtspunkten des Anzuges, der Gesundheit und der Moral untersuchten.

Die zwei- bis dreihundert Schüler, die in dem Institut wohnen mochten, waren nach altem Brauch in vier Sektionen eingeteilt: die »Kleinsten«, die »Kleinen«, die »Mittleren« und die »Großen«. Die Abteilung der »Kleinsten« umfaßte die sogenannte achte und siebente Klasse, diejenige der »Kleinen« die sechste, fünfte und vierte Klasse, die der »Mittleren« die dritte und zweite Klasse und endlich die »Großen« die Klassen der Rhetorik, Philosophie, Mathematik, Physik und Chemie. Jede einzelne dieser Abteilungen hatte ihr Gebäude, ihre Klassenzimmer und ihren Hof inmitten eines großen gemeinsamen Platzes, auf den sich die Schulsäle öffneten und der an das Refektorium grenzte. Dieses Refektorium, das eines alten religiösen Ordens würdig war, faßte alle Schüler. Entgegen den Regeln der anderen Lehranstalten durften wir beim Essen sprechen, eine Freiheit, die uns gestattete, nach unserem Geschmack die Speisen auszutauschen. Dieser gastronomische Tauschhandel ist eine der größten Freuden unseres Anstaltslebens geblieben. Wenn irgend ein »Mittlerer«, der am oberen Ende des Tisches saß, lieber eine Portion gelbe Erbsen haben wollte anstatt Nachtisch (denn wir bekamen Nachtisch!), dann ging das Wort von Mund zu Munde: »Ein Dessert für Erbsen!« bis ein Leckermaul sie nahm; darauf schickte dieser seine Portion Erbsen, die von Hand zu Hand ging, bis zu dem Anbietenden, dessen Nachtisch den gleichen Weg machte. Nie kam ein Irrtum vor. Wenn mehrere gleiche Forderungen waren, so trug jede ihre Nummer, und man sagte: »Erste Erbsen für erstes Dessert«. Die Tische waren lang, unser andauernder Handel hielt alle unablässig in Bewegung; und wir aßen, sprachen und bewegten uns mit beispielloser Schnelligkeit. Das Geschwätz der dreihundert jungen Menschen, das Hin und Her der Bediensteten, die die Teller wechselten, die Platten auftrugen und das Brot verteilten, die Aufsicht der Direktoren machte das Refektorium von Vendôme zu einem eigenartigen Schauspiel, das alle Besucher in Erstaunen setzte.