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Friedrich Litke

Friedrich Litke

Viermalige Reise durch das nördliche Eismeer

auf der Brigg Nowaja Semlja in den Jahren 1821 – 1824

Herausgegeben von Claudia Weiss

Aus dem Russischen übersetzt von A. Erman

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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Alle Rechte vorbehalten

© by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2014
Der Text wurde behutsam revidiert
nach der Ausgabe Berlin, Göttingen 1853.
Lektorat: Dietmar Urmes, Bottrop
Covergestaltung: nach der Gestaltung von
Nele Schütz Design, München
Bildnachweis: culture-images, Köln
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0421-9

INHALT

Einführung von Claudia Weiss

Vorwort des Übersetzers A. Erman

ERSTES KAPITEL
Einleitung

ZWEITES KAPITEL
Erste Reise der Brigg Nowaja Semlja, 1821

DRITTES KAPITEL
Zweite Fahrt der Brigg Nowaja Semlja im Jahr 1822

VIERTES KAPITEL
Dritte Fahrt der Brigg Nowaja Semlja im Jahr 1823

FÜNFTES KAPITEL
Vierte Fahrt der Brigg Nowaja Semlja im Jahr 1824

EINFÜHRUNG

Die Arktis war eine der letzten von Menschen nahezu unerforschten Regionen der Erde. Heute, in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts, führen nicht nur die Routen von Kreuzfahrtschiffen nach Spitzbergen, auch Energiekonzerne haben im Nordpolarmeer mit ihren Bohrinseln bereits festen Fuß gefasst. Die gesamte Region ist dank moderner Satellitentechnik inzwischen vollständig kartographiert. So reichen heute ein paar Klicks im Internet, um exakte hydrographische und geographische Daten über das Nordpolarmeer und seine größte Insel, Nowaja Semlja, zu bekommen.

Die neunhundert Kilometer lange russische Doppelinsel wird zu Europa gezählt. Die Barentssee umgibt sie im Westen, die Karasee im Osten. Nowaja Semlja erstreckt sich vom 71. bis zum 77. Breitengrad und hat die Form einer sich nach Nordosten neigenden Sichel. Neben den beiden Hauptinseln, der Nord- und der Südinsel, gehören noch viele kleine Inseln und Eilande zu dem Archipel. Zusammen haben sie eine Fläche von 90 650 Quadratkilometern. Eine sehr schmale Meerenge, der Matotschkin Schar, durchtrennt Nowaja Semlja von West nach Ost. Die Nordinsel erhebt sich über 1500 Meter über den Meeresspiegel und ist stark vergletschert. Die Stärke des Eises erreicht an die 400 Meter. Die Südinsel erhebt sich bis auf eine Höhe von über 1300 Metern aus dem Nordpolarmeer und weist Tundra und Kältewüsten auf. Bis heute leben auf Nowaja Semlja nicht mehr als 2500 Einwohner. Klimatisch hat sich die Region in den letzten Jahren allerdings so erwärmt, dass die eisfreien Perioden der Meere im Sommer inzwischen mehrere Monate andauern, und nicht nur, wie im 19. Jahrhundert, wenige Wochen. Selbst die Nordostpassage ist inzwischen mehrere Monate im Jahr zu befahren.

Vor gut zweihundert Jahren stellte sich die Lage komplett anders dar. Die russische Marine begann erst, ihre nördlichen Küstengewässer systematisch vermessen zu lassen, um die Polarregion unter Umständen für den Seeverkehr zu erschließen. Damals waren weite Teile des Nordpolarmeeres und seiner Inseln auf den Seekarten weiße Flecken und in der Realität ganzjährig mit Eis bedeckt.

Die Insel Nowaja Semlja war den Russen, vor allem Pelzjägern, wohl schon seit dem 11. oder 12. Jahrhundert bekannt, Einzelheiten hydrographischer oder auch kartographischer Art kannte man aber kaum. Ins Visier der Entdecker kam die Insel erst im 16. Jahrhundert, als Briten und Niederländer nach einer Nordostpassage zum Pazifik suchten, um eine alternative Handelsroute nach Asien auszubauen, da die südlichen Seewege in den Fernen Osten lang waren und aufgrund der Vorherrschaft Spaniens und Portugals immer zu kostspieligen Kompromissen zwangen. 1553 machten sich drei Schiffe im Auftrag einer britischen Handelsgesellschaft auf den Weg, eine Nordostpassage durch die Arktis zu finden. Die kleine Flotte fiel einem Sturm zum Opfer, einige Seeleute kamen im Eis um, andere erreichten das Weiße Meer und gelangten schließlich auf dem Landweg nach Moskau, wodurch sich die ersten britisch-russischen Handelsbeziehungen ergaben. Eine Nordostpassage blieb der Seefahrt aber weiterhin versperrt.

Die Niederländer versuchten 1596, einen Weg durch die Arktis gen Osten zu finden. Willem Barents, ein mit den polaren Gewässern vertrauter und erfahrener Seefahrer, bekam das Kommando und stach am 15. Mai 1596 in See. Zunächst segelte Barents über die Bäreninsel nach Spitzbergen und von dort weiter zur Nowaja Semlja, die er am 17. Juli erreichte. Es gelang ihm, die Nordspitze der Insel zu umrunden, aber auf der Weiterfahrt durch die Karasee blieb sein Schiff im Eis stecken. So musste Barents mit seiner sechzehn Mann starken Besatzung auf Nowaja Semlja überwintern. Sie errichteten eine Unterkunft aus Treibholz, die sie allerdings mangels Brennmaterials kaum warm halten konnten. Als ihr Schiff nach einem entbehrungsreichen Winter im Juni 1597 immer noch im Eis gefangen war, entschieden sich die Männer, in zwei Rettungsboten den gefährlichen Rückweg anzutreten. Barents überlebte die Rückreise nicht. Er starb am 20. Juni 1597 auf See. Ihm zum Gedenken wurde jener Abschnitt des Nordpolarmeers nach ihm benannt.

Die erste Karte, die die Doppelinsel ausführlich darstellte, ist die Karte von Gerrit de Veer aus dem Jahr 1601. Er war selbst Mitglied der Barents-Expedition.

Sehr ähnlich, wenn auch nicht so opulent ausgestaltet, wurde Nowaja Semlja 1664 im Atlas van Loon präsentiert, auch hier wieder mit der niederländischen Namensvariante Nova Zembla tituliert.

Im Laufe der folgenden Jahrhunderte lieferten hauptsächlich russische Seeleute die präzisesten Informationen, um sich der physischen Gestalt von Nowaja Semlja kartographisch anzunähern. Im 18. Jahrhundert waren es vor allem Mitglieder der Großen Nordischen Expedition. Unter der Leitung von Vitus Behring erforschte diese von 1733 bis 1743 mit dreitausend Beteiligten die nördlichen Küsten des Russischen Reiches und war damit eines der größten jemals durchgeführten wissenschaftlichen Unternehmen.

In der zweiten Dekade des 19. Jahrhunderts entschied sich die russische Regierung, erneut eine Erkundung von Nowaja Semlja zu finanzieren. Zwar wusste man um die Mühen und Probleme, die eine solche Expedition mit sich brachte, zugleich aber war spätestens seit den Napoleonischen Kriegen jedem Generalstab Europas die enorme Bedeutung exakter und detailreicher Karten bewusst. Und die russischen Küsten des Nordpolarmeeres waren noch bei Weitem nicht befriedigend erforscht. Wollte Russland seine territorialen Ansprüche in der Region im Zeitalter imperialer Machtausdehnung sichern, so war die hydrographische wie auch geographische Erschließung des eigenen Territoriums notwendig. Außerdem war noch immer keine Nordostpassage gefunden, ein verkürzter Handelsweg nach Asien aber weiterhin von größtem Interesse.

Die Nordinsel von Nowaja Semlja zu umschiffen, barg auch im Hochsommer ein hohes Risiko, im Eis stecken zu bleiben. So richtete sich die Hoffnung zusehends auf die schmale Meerenge Matotschkin Schar, die vielleicht eine zügigere und südlichere Durchfahrt erlauben könnte.

 

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Karte der Doppelinsel Nowaja Semlja, gezeichnet von Gerrit de
Veer, einem überlebenden Teilnehmer der Barents-Expedition.
Veröffentlicht wurde die Karte 1601 von Theodore de Bry
.

 

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Karte von Nowaja Semlja, veröffentlicht 1664 im Atlas van Loon

Man wählte für die geplante Expedition Andrej Lasarew aus, den Bruder des bekannten Michail Lasarew, der zu jener Zeit als Kommandant einer Fregatte unter der Leitung von Fabian von Bellingshausen auf einer Weltumsegelung unterwegs war, in deren Verlauf der antarktische Kontinent entdeckt wurde.

Andrej Lasarew sollte 1819 mit einer alten englischen Brigg die Küstengewässer der Insel Nowaja Semlja erforschen und die Meerenge Matotschkin Schar auffinden. Aber die Expedition war ein Desaster. Die Witterungsverhältnisse und dichtes Eis sowie die Erkrankung der Mannschaft an Skorbut machten es Lasarew unmöglich, die Insel auch nur zu erreichen. Ohne neue Erkenntnisse kehrte er nach Archangelsk zurück und lehnte jede weitere Expedition zur Nowaja Semlja ab.

Die russische Regierung und die Marine waren aber keineswegs bereit, ihre Bemühungen um bessere Kenntnisse der Region um Nowaja Semlja so schnell aufzugeben. 1820 sollte die Forschungsreise wiederholt werden. Zu diesem Zweck wurde eine neue Brigg, die man Nowaja Semlja taufte, eistauglich ausgerüstet und nach einem neuen Kommandanten gesucht. Die Wahl fiel auf den damals 23-jährigen Leutnant der russischen Marine, Fjodor Petrowitsch Litke.

Eine solche Karriere war Fjodor Litke keineswegs in die Wiege gelegt worden. Litkes Familie stammte aus Deutschland. Sein Großvater, Johann-Philipp Lütke, kam 1735 als Magister der Theologie nach Russland, wurde später Direktor einer kirchlichen Schule und beendete sein Leben als Pastor einer kleinen lutherischen Gemeinde in Moskau. Litkes Vater wurde 1750 geboren und schlug eine Militärlaufbahn ein. Er heiratete 1787 Anna Iwanowna Engel. Sie schenkte ihm fünf Kinder. Die Geburt ihres jüngsten Kindes Fjodor, lutherisch getauft auf den Namen Friedrich Benjamin, am 17./28. September 1797, überlebte sie nicht. Pjotr Litke wurde über den Tod seiner Frau depressiv und suchte seine Kinder schnellstmöglich anderweitig unterzubringen. Fjodor Litke verbrachte deshalb die ersten Jahr seines Lebens in der Obhut seiner Großmutter mütterlicherseits. An seinen Vater erinnerte er sich nur als ernsthaften, gefühllosen Mann, der stets beschäftigt war und seinem jüngsten Sohn niemals Aufmerksamkeit schenkte.1 Als Pjotr Litke im März 1808 starb, wurde Fjodor zum Vollwaisen. Seine Großmutter starb noch im selben Jahr, und Fjodor musste das Internat, das er seit 1804 besuchte, aus Geldmangel verlassen. Denn mit dem Tod des Vaters versiegten die Pensionsansprüche, und über Grundbesitz verfügte die Familie nicht. Noch nicht einmal einen Adelstitel hatte der Vater seinem Sohn Fjodor zu vererben, da er keinen ausreichend hohen Rang in der russischen Adelstabelle bekleidete. In der Folge wuchs Fjodor Litke unter der Obhut seines Onkels Fjodor Iwanowitsch Engel auf. Aber niemand kümmerte sich um die Erziehung des Jungen. Er fühlte sich wie jemand, den man von der Straße geholt hatte, damit er nicht verhungerte. Und tatsächlich war seine Situation nicht viel besser. Man schenkte ihm jenseits von Schelte keine Aufmerksamkeit und ließ ihm im Alter von elf bis fünfzehn Jahren keinerlei Erziehung oder gar Ausbildung angedeihen, denn die kostete viel Geld. Sein Onkel vernachlässigte den jungen Fjodor so sehr, dass er ihn noch nicht einmal in die Schule des Seekadettenkorps einschrieb, obwohl bereits Litkes Vater alle dafür wichtigen Papiere zusammengestellt hatte. Doch ohne Ausbildung zum Offizier stand kein Weg in den russischen Dienstadel offen. Der Junge wurde einfach sich selbst überlassen. Aber Fjodor Litke hatte das Glück, über einen hellen Verstand, Ehrgeiz, Ausdauer und Zielstrebigkeit zu verfügen. Sein Onkel hatte eine gut sortierte Bibliothek, und die durfte der Junge nach Belieben nutzen. So las er alles, was ihm in die Hände fiel und bildete sich unsystematisch im Selbststudium.

Eine glückliche Wende trat im Herbst 1810 in Litkes Leben, da war er gerade dreizehn Jahre alt. Seine Schwester Natalija heiratete einen hohen Offizier der Marine, Iwan Sulmenjew, und zog mit ihm nach Kronstadt unweit von Sankt Petersburg. Sulmenjew wurde für Fjodor Litke zu einer Vaterfigur, und schnell verband die beiden eine lebenslang andauernde Freundschaft. Litke verbrachte von nun an so viel Zeit wie möglich im Haus seiner Schwester. Durch Sulmenjew lernte Litke viele Marineoffiziere kennen und lauschte ihren Gesprächen über die Marine, ihre Geschichte, die aktuelle politische Lage und über den Krieg gegen Napoleon. Schnell stand für Litke fest, dass er auch zur Marine wollte. Im Selbststudium eignete er sich das nötige Wissen an und im April 1813 bestand er mit siebzehn Jahren als externer Anwärter die Abschlussprüfungen des Seekadettenkorps. Im Anschluss diente Litke als Seekadett unter seinem Schwager Sulmenjew auf einem Kanonenboot, das entlang der Baltischen Küste seinen Dienst im Krieg gegen Napoleon versah. In einem Gefecht vor Danzig konnte Litke sich erfolgreich profilieren, erhielt seinen ersten Orden, den Sankt-Anna-Orden 4. Klasse und wurde zum Mitschman, dem untersten russischen Marine-Offiziersrang befördert.

Auch auf See verbrachte der ehrgeizige junge Mann seine freie Zeit im intensiven Selbststudium, um all die Lücken, die seine unzureichende frühere Erziehung gerissen hatte, möglichst vollständig zu schließen. Von 1815 an diente Litke in Schwedenburg als persönlicher Offizier des Admirals Bodisko sowie seines Nachfolgers Heiden. Aber schon im Frühjahr 1816 leistete Sulmenjew Litke erneut einen Freundschaftsdienst. Er vermittelte den jungen Offizier für eine Weltumsegelung, die 1817 unter dem Kommando von Wassili Michailowitsch Golownin, einem expeditionserfahrenen Marineoffizier und Wissenschaftler beginnen sollte. Diese Reise war eine enorme Herausforderung für Fjodor Litke und bestimmte maßgeblich seinen weiteren Werdegang, der eine Wende hin zur Wissenschaft nahm.

Golownins Name war damals in den Kreisen der Marineoffiziere in aller Munde. Drei Jahre hatte er als gefangener Marineoffizier in japanischer Gefangenschaft verbracht, in einem Land, das damals in Europa noch nahezu unbekannt war. Daraus erwuchs ihm eine enorme Autorität, und gemeinsam mit der Strenge, die er im Umgang mit seinen Untergebenen walten ließ, verlieh sie ihm den Ruf eines tapferen und hochgebildeten Seefahrers, der einen unbezwingbaren Willen besaß. Auch wurde Golownin nachgesagt, ausnehmend gut auf die Gesundheit seiner Mannschaftsmitglieder zu achten, sie entsprechend gesund zu ernähren und außergewöhnliche Leistungen stets gebührend anzuerkennen. So gelang es ihm, seine Untergebenen stets bei guter Gesundheit von den Reisen zurückzubringen.

Die Möglichkeit, unter so einem Mann um die Welt zu segeln, verstand Litke als eine hervorragende praktische Ausbildung, aber auch als eine gehörige Herausforderung seiner nautischen Kenntnisse. So intensivierte er seine Studien noch mehr und beschäftigte sich gründlich mit den Reiseberichten früherer Weltumsegler wie Adam Krusenstern oder James Cook. Trotzdem brachte die zwei Jahre dauernde Reise Fjodor Litke an seine persönlichen Grenzen. Nicht etwa die nautischen Anforderungen, die harte Arbeit oder die strenge Disziplin an Bord machten dem jungen Mann zu schaffen, sondern ein sich bereits am Anfang der Reise entzündender Konflikt mit einem Kapitänleutnant, der ihn zermürbte. Litke wollte die Reise bereits nach der Hälfte abbrechen, als das Schiff die russische Halbinsel Kamtschatka erreichte. Aber sein enger Freund Ferdinand von Wrangel, der ebenfalls als Offizier auf dem Schiff war, hielt ihn von diesem Schritt ab und rettete Litke damit nicht nur seine Zukunft in der Expeditionsseefahrt, sondern half ihm, die genügende innere Stärke zu finden, um künftig noch größere Herausforderungen zu meistern. Solche erwarteten den schon während der Reise zum Leutnant beförderten Litke bald nach seiner Rückkehr im Winter 1819 nach Sankt Petersburg.

Auf der Weltumsegelung hatte Litke seine Liebe für ferne Länder entdeckt. Er träumte von weiteren Reisen, vor allem in die noch kaum erforschte Polarregion. Darum bat er um seine Versetzung nach Archangelsk, der nordrussischen Hafenstadt an der Mündung der Dwina ins Weiße Meer. Im Frühjahr 1820 wurde sie bewilligt, und Litke fand sich kurz darauf in seinem neuen Stützpunkt ein. In dem Sommer sah er auch zum ersten Mal die für Polarexpeditionen frisch ausgerüstete Brigg Nowaja Semlja, ohne allerdings zu ahnen, dass er selbst schon binnen weniger Monate ihr neuer Kommandant sein sollte.

Für die Übernahme eines so verantwortungsvollen Kommandos war Fjodor Litke mit seinen dreiundzwanzig Jahren noch recht jung. Aber er hatte einen gewichtigen Fürsprecher. Wassili Golownin persönlich empfahl Litke für die Polarexpedition. Litkes Durchhaltevermögen unter härtestem psychischem Druck hatten ihn wohl überzeugt. Auch Litkes großer Wissensdurst und seine Bereitschaft, sich stets neues Wissen und neue Fertigkeiten anzueignen, wusste Golownin sehr zu schätzen.

Tatsächlich schien es Litke wirklich um die Sache selbst zu gehen und nicht nur um seine Karriere innerhalb der Marine, um möglichst hochdekoriert in den Petersburger Salons zu glänzen. In Petersburg gab es viele gut ausgebildete und tüchtige Marineoffiziere. Aber kaum einer hatte einen so steinigen und mit Hindernissen versehenen Weg wie Fjodor Litke auf sich nehmen müssen, um sein Leben voranzubringen. Die persönliche Bescheidenheit und der eiserne Wille, der sich dahinter erahnen ließ, waren Eigenschaften, die den jungen Leutnant für jene extremen Situationen qualifizierten, die ihn am Rand des ewigen Eises im Nordpolarmeer erwarten sollten.

Im Frühjahr 1821 erhielt Fjodor Litke vom Marineministerium den Befehl für die Expedition ins Nordpolarmeer. Explizit wurde darauf hingewiesen, dass die Aufgabe nicht darin bestehe, eine detaillierte Beschreibung von Nowaja Semlja zu machen, sondern eher eine Anfangsstudie ihrer Küsten. Auch sollte er die Größe der Insel und die geographische Position ihrer Kaps herausfinden, sowie die Länge der Meerenge Matotschkin Schar, soweit ihn Eis und andere Hindernisse nicht von seinen Aufgaben abhielten. Die Admiralität gab Litke noch weitere spezielle Instruktionen für geodätische Beobachtungen und hydrographische Untersuchungen mit auf die Expedition. Darüber hinaus wurde der junge Kommandant ausdrücklich angewiesen, nicht vor Juli aufzubrechen und unter keinen Umständen den Winter auf Nowaja Semlja zu verbringen.

Angesichts der klimatischen Verhältnisse vor Nowaja Semlja beschränkte sich so die Zeitspanne für die Expedition auf bestenfalls sechs bis zehn Wochen, sofern das Wetter mitspielte. Vor Anfang bis Mitte Juli war nicht zu erwarten, die Küstengewässer vor der Insel eisfrei vorzufinden, und mit einem plötzlichen Kälteeinbruch musste man in der Polarregion immer rechnen.

Fjodor Litke nutzte die ihm verbleibende Zeit, um sich bestmöglich auf die Expedition vorzubereiten. Er besorgte sich die nötigen Karten, Bücher, Chronometer und andere Messgeräte und stand in intensivem Briefaustausch mit erfahrenen Expeditionsleitern wie Golownin, um sich Ratschläge zu holen. Auch musste er seine Mannschaft zusammenstellen und das Schiff, die Brigg Nowaja Semlja, besser kennenlernen. Am Mittag des 20. Juli 1821 stach die Nowaja Semlja in See.

Der Reisebericht, den Fjodor Litke 1825, im Anschluss an seine letzte Polarfahrt in Sankt Petersburg und in einem Landhaus an der Newa niederschrieb, fasste insgesamt vier Reisen ins Nordpolarmeer zusammen, die keineswegs von vornherein geplant waren. Aber diese extreme Region ließ sich nicht einfach nach Plan bereisen und schon gar nicht erforschen. Vier polare Sommer, von denen keiner dem anderen glich, verbrachte Litke mit einer wechselnden Mannschaft in der Arktis und stellte sich den enormen Herausforderungen, die diese Expedition mit sich brachte. Das detaillierte Vermessen der Strömungen, des Küstenverlaufs, der Wassertiefen war häufig mit körperlichen Qualen verbunden, wenn einem der Eisregen ins Gesicht prasselte und die Hände steif froren, während man mit den kostbaren und empfindlichen Messgeräten hantierte. Die Zeit, die Litke nicht auf See verbrachte, nutzte er gewissenhaft für die Nachbereitung und erneute Vorbereitung der nächsten Expedition. Denn trotz aller Widrigkeiten und auch persönlicher schmerzlicher Verluste erzielten er und die Besatzung der Nowaja Semlja Ergebnisse, die beim Marineministerium Appetit auf mehr machten, sodass man dort immer wieder Order zu einer weiteren Expedition gab.

Im ersten Kapitel seines Reiseberichtes, das schon gut ein Viertel des Gesamtumfangs ausmacht, erläutert Litke ausführlich die Geschichte der Erforschung der Region, zeigt auf, welche Fortschritte gemacht wurden und wo bis zu seinem Reiseantritt noch großer Forschungsbedarf bestand. So wird der Leser ausführlich auf das ungastliche Forschungsgebiet vorbereitet. Zugleich spiegelt sich hier Litkes Gründlichkeit in seinen Vorbereitungen auf die ihm gestellte Aufgabe. In den weiteren Kapiteln gelingt es Litke, eine lebendige und detaillierte Schilderung der einzelnen Expeditionen zu geben, die Einblicke in den Alltag an Bord erlauben. So bietet sein Reisebericht weit mehr als nur eine Ergänzung der damaligen wissenschaftlichen Forschungsergebnisse um die Insel Nowaja Semlja. Er lässt einen vielmehr teilhaben an den Reisen, die die Männer unternahmen und auch an den Gefahren, denen sie ausgesetzt waren.

Litkes Reisebericht wurde mit großem Interesse und Wohlwollen in Sankt Petersburg aufgenommen und auch schon einige Jahre später ins Deutsche übersetzt, um ihn einem noch größeren Publikum zur Verfügung zu stellen.

Litke selbst war schon während der Polarexpeditionen zum Kapitänleutnant befördert worden. Als man ihn 1825 erneut bat, eine weitere Polarexpedition zu leiten, lehnte er ab, denn ihn lockten nach so vielen Jahren im Eis neue Herausforderungen. Aber mit seinen Expeditionsnachfolgern im Nordpolarmeer blieb er verbunden, verfasste für sie die neuen Instruktionen und begleitete und beurteilte in der Folge ihre Ergebnisse. Sein eigener Weg führte ihn allerdings auf eine noch größere Reise, eine erneute Weltumseglung. 1826 wurde er mit der Leitung dieser Expedition betraut, an der sich auch mehrere ausländische Wissenschaftler beteiligten. Drei Jahre lang erforschte er die Weltmeere, wurde 1829 zum Kapitän Ersten Ranges befördert und verfasste im Anschluss an die Expedition einen vielbeachteten Reisebericht. Auch wurde er zum korrespondierenden Mitglied der Kaiserlichen Russischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Zar Nikolaus I. machte Litke 1832 zu seinem Flügeladjutanten und ernannte ihn zum persönlichen Erzieher seines zweiten Sohnes Konstantin. 1845 stieg Litke zum Vizeadmiral der russischen Marine auf und gründete zusammen mit seinem Jugendfreund Ferdinand von Wrangel und anderen versierten Wissenschaftlern die Russische Geographische Gesellschaft, deren Vizepräsident er auch über viele Jahre war. Sie war eine der wichtigsten wissenschaftlichen Einrichtungen, die im russischen Zarenreich im 19. Jahrhundert ins Leben gerufen wurden. Ihre Arbeit an der Erforschung des riesigen russischen Territoriums setzt sie bis heute fort.

1855, im Alter von 58 Jahren, wurde Fjodor Litke zum Admiral der Russischen Marine ernannt und Mitglied des Reichsrats. Seit 1864 bekleidete er auch das Amt des Präsidenten der Kaiserlichen Russischen Akademie der Wissenschaften. In den erblichen Stand eines Reichsgrafen erhob ihn Zar Alexander II. 1866. Fjodor Litke starb 1882 hoch verehrt im Alter von 84 Jahren in Sankt Petersburg.

Trotz seines beeindruckenden gesellschaftlichen und sozialen Aufstiegs blieb Litke sein Leben lang sich selbst treu. Persönliche Bescheidenheit, wissenschaftlicher Eifer und ein präzise formulierender Verstand zeichneten ihn aus, was bereits in seinem ersten bedeutenden schriftlichen Zeugnis, dem Bericht seiner Viermaligen Reise durch das Nördliche Eismeer, zutage trat.

Claudia Weiss, Hamburg im Januar 2014

VORWORT DES ÜBERSETZERS

Das Werk, welches ich durch die vorliegende Übersetzung den deutschen Geographen zugänglicher zu machen wünschte, gibt Rechenschaft von einem Unternehmen, welches epochisch ist, obgleich es seinem Endzweck nicht vollständig entsprach. Herrn Kapitän Litke gelang es nicht, trotz viermaliger Wiederholung seiner Fahrten von Archangelsk nach Nowaja Semlja, den ganzen Umkreis dieser Insel zu sehen. Aber bei der Aufnahme und Beschreibung aller von ihm erreichten Punkte der Ufer des Eismeeres übertraf er seine Vorgänger durch wissenschaftliche Sorgfalt und seltene Unbefangenheit des Urteils so entschieden, dass diese Arbeiten weder in der Geschichte der Schifffahrt noch in der Geschichte der Geographie verschwiegen werden dürfen.

In einer Zeit, wo ich mit der Ausarbeitung meiner Beobachtungen auf einer dreijährigen Reise um die Erde beschäftigt bin, hätten mich aber weder die genannten Vorzüge des Litke’schen Werkes noch das Gefühl inniger Hochachtung und Zuneigung für dessen Verfasser zu der Übersetzung bewogen, wären mir nicht die hier vorliegenden Berichte über das Eismeer als Anklänge an eigene Erinnerungen noch ungleich wichtiger geworden. Die klimatischen und geognostischen Verhältnisse, welche ich zu Obdorsk und auf den Gebirgen am Karischen Meerbusen beobachtete, zeugten so entschieden für den Einfluss des nahe gelegenen Polarmeeres und machten eine Kenntnis seiner Inseln so wichtig, dass weder die Erzählungen der samojedischen und russischen Bewohner jener Gegend noch auch die des Herrn Steuermann Iwanow, dem ich daselbst begegnete2, die nicht vergönnte Autopsie zu ersetzen vermochten. Herrn Litkes bereits im Jahre 1822 zu Petersburg gedruckte Tagebücher wurden mir daher von unschätzbarem Wert, und die darin enthaltene Geschichte seiner Fahrten im Eismeer gewährte noch außerdem so mannigfaltige Anknüpfungspunkte an Erscheinungen, die ich in dem Ochozker Meer und in dem nördlichen Teil des Großen Ozeans beobachtete, dass ich mir nicht versagen konnte, gleichzeitig mit meinem Reisebericht, den Litke’schen als ergänzende Grundlage zu bearbeiten.

Sollte dieser Versuch einige Teilnahme finden, so werde ich spätere Muße benutzen, um von neueren Russischen Expeditionen in derselben Gegend Rechenschaft zu geben. Namentlich von der Aufnahme der Küsten zwischen den Mündungen der Petschora und des Obi durch Herrn Steuermann Iwanow. Über den Anfang dieses Unternehmens, welches nach Kapitän Litkes Instruktionen gleichzeitig mit dessen Nowasemler Reisen ausgeführt wurde, befindet sich bereits Einiges in dem Anhang zu dem Russischen Original des vorliegenden Werkes. Ich habe aber diesen Anhang zu der Übersetzung nicht hinzugefügt, weil mir Herr Litke neuerdings auch von der Fortsetzung der Iwanow’schen Aufnahme die Resultate mitgeteilt hat, gleichzeitig mit dem handschriftlichen Tagebuch über eine Reise des Unterleutnants vom Steuermannskorps Herrn Pachtusow in den Jahren 1832 und 1833. Bekanntlich wurde diesem Seemann von zwei Archangeler Privatleuten dem Kommerzienrat W. Brandt und dem Forstbeamten Klokow die Führung eines offenen Fahrzeuges anvertraut, auf welchem ihm in den genannten Jahren die erste Aufnahme der Ostküste von Nowaja Semlja gelungen ist. – Das nicht minder wichtige Unternehmen des Steuermanns Krotow der zugleich mit Herrn Pachtusow von Archangelsk auslief, um von Nowaja Semlja aus den Jenissei zu erreichen, scheint (nach brieflichen Mitteilungen vom November 1834) als verunglückt zu betrachten, denn man hatte bis dahin von dem genannten Seefahrer keine anderen Spuren als die Trümmer seines Schiffes an der Westküste von Nowaja Semlja gefunden.

Berlin, im Januar 1835

A. Erman

ERSTES KAPITEL

EINLEITUNG

KRITISCHE ÜBERSICHT DER REISEN NACH NOWAJA SEMLJA UND DEN IHR NAH GELEGENEN KÜSTEN, BIS ZUM JAHRE 1820 – DAMALIGER ZUSTAND DER KARTEN

Sehr viele der wichtigsten geographischen Entdeckungen verdanken wir dem Zufall. Ein normannischer Seeräuber gab die erste Kunde von Island, als ihn Stürme von seinem Wege verschlugen3; ebenso entdeckte Kolumbus den neuen Erdteil, indem er den kürzesten Seeweg nach Ostindien suchte; dann wurden seine nächsten Nachfolger, für gleiche Absicht, durch Auffindung der Insel-Archipele des Großen Ozeans belohnt, während die Seefahrer, welche ebendahin auf nördlichstem Weg zu gelangen versuchten, nach Spitzbergen, und andere endlich, bei beabsichtigtem Nordost-Durchgang, nach Nowaja Semlja, der größten Insel des Nördlichen Eismeers gelangten.

Als Epoche der Entdeckung von Nowaja Semlja rechne ich übrigens hier die Zeit, in welcher davon erste glaubwürdige Kunde zu den schon damals gebildeteren Nationen Europas gelangte, obgleich, im weiteren und eigentlichen Sinne, die Ehre der Auffindung ohne Zweifel den Russen gebührt, welche die Landschaften an der Dwina bewohnten. Schon die jetzige und niemals bestrittene Benennung dieser Insel spricht hinreichend für diese Ansicht, denn höchst auffallend wäre es sonst, dass es keinem der Seefahrer des 16. und 17. Jahrhunderts einfiel dieselbe umzutaufen, während sie doch die Leidenschaft, ihre Namen schon früher entdeckten und bezeichneten Ländern beizulegen, gar häufig betätigten, namentlich aber an den Küsten des Kontinentes und den Inseln, welche Nowaja Semlja umgeben. Von dieser selbst aber sprechen schon die ersten Reisenden nur als von einem viel besagten Gegenstand; auch fanden sie wirklich auf deren äußersten nördlichen Ufern Kreuze mit slawischen Inschriften, Ruinen von Wohnungen und manches Ähnliche. Die russischen Segler, denen sie oft während ihrer Fahrten begegneten, zeigten ihnen den Weg und gaben wichtige Anleitungen, sodass wohl endlich aus diesem allen hinreichend hervorgeht, wie schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts alle Küsten des Nördlichen Eismeers den Russen ausführlich bekannt waren, und wie diese daher, ohne Zweifel schon um einige Jahrhunderte früher, jene Gewässer zu befahren begannen.

Auf genauere Festsetzung des Anfangs dieser Schifffahrt der Russen und des Zeitpunktes ihrer ersten Bekanntschaft mit Nowaja Semlja werden wir dennoch wohl auf immer zu verzichten haben, und zwar aus sehr natürlichen Gründen. Auch heute noch rühmen wir uns nur sehr weniger Schriftsteller, welche der Nachwelt von wichtigen Privatunternehmungen ihrer Landsleute und Zeitgenossen und von deren Erfolgen berichten: Ein Hakluyt ist auch noch jetzt in unserem Vaterland selten.4 Wie vielmehr nicht in jenen kulturlosen Zeiten, welche dem 16. Jahrhundert vorhergingen und in denen sogar die Schreibekunst nichts weniger als allgemein verbreitet war? Sicher würde die Geschichte der ersten russischen Unternehmungen im Eismeer und der allmählichen Auffindung der Küstenorte, welche es bespült, uns von Taten zu berichten haben, die denen der Normannen an Merkwürdigkeit nicht nachständen; – aber aus jener Zeit sind uns weder Denkmale noch Überlieferungen irgendwelcher Art geblieben, und kaum gibt es hinreichende Materialien, um darüber einigermaßen wahrscheinliche Konjekturen zu begründen.

Unsere Chronikenschreiber berichten, dass die Bewohner der Landstriche zwischen Dwina und Petschora, welche Nestor mit dem Namen Sawolozkaja Tschud (der Fremdenstamm jenseits der Wasserscheide) belegt, schon in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts den Nowgoroder Slawen tributpflichtig waren.5 Im Verlauf der Zeiten ließen sich allmählich diese erfolgreichen Eroberer in den unterworfenen Gegenden nieder, sie verbreiteten daselbst mit dem christlichen Glauben auch ihre Sprache und Sitte, sodass bald der Charakter der Urbewohner fast gänzlich verschwand. Erinnerungen an jenen ursprünglichen Zustand finden wir nur noch in der Benennung einiger Flüsse und anderer Lokalitäten.6 Wann aber unter den Nowgorodern diese Auswanderungen in den höheren Norden begannen, hat man bis jetzt ebenso wenig ergründet, wie so viele andere Umstände aus der mittleren Geschichte derselben. Um die Mitte des 9. Jahrhunderts scheint noch niemand von ihnen an der Dwina gelebt zu haben, denn der verdiente norwegische Reisende Oter oder Ochter7, welcher ungefähr um dieselbe Zeit die Mündung jener Flüsse erreichte, fand dort ein Volk, welches sich derselben Sprache wie die Finnländer bedienten: Die Slawen aber werden von ihm durchaus nicht erwähnt. Es ist äußerst bedauernswert, dass jener unternehmende Normanne die imposante Volksmenge der Bjarmen allzu sehr fürchtete und es daher nicht wagte, ihre Küste zu betreten: Denn sicher wäre er imstande gewesen, über die damaligen Beziehungen dieses Volks zu den Nowgoroder Slawen zu berichten. – Anderweitig ist es übrigens wahrscheinlich, dass die Einwanderungen dieser Letzteren in die Dwinagegend zugleich mit der Ankunft und mit dem Emporkommen des warägischen Fürstenstammes in Russland begannen. Die Nowgoroder beriefen diese fremden Herrscher nur, damit sie in ihrem Vaterland innere Unruhen beschwichtigten und es vor äußeren Feinden kräftiger sicherten. Durch Charakter und Gewohnheit zu aufrührerischen Bewegungen geneigt, verlangten sie nach Beschützern, aber keineswegs nach Herrschern, und, nach langer Gewöhnung an eigenmächtige Freiheit, konnten sie sich nicht mit Rjuriks Verfassung befreunden, welche zum ersten Male Unterwürfigkeit verlangte: noch unerträglicher aber erschien ihrer Eigenliebe der Vorzug, welchen die fremden Herrscher den mit ihnen eingewanderten vornehmen Vasallen erteilten. Der Aufruhr wurde genährt, und um ihn zu beschwichtigen schritt man zu Hinrichtungen und schwerer Ächtung, von denen dann Flucht und Auswanderung notwendige Folgen wurden. Die dwinische Landschaft, die, bei Überfluss an kostbaren Pelzwaren, nur von einem friedlichen Stamme bewohnt wurde, bot nun der Tätigkeit und dem rastlos unruhigen Geiste unserer Republikaner ein weites Feld. Die glücklichen Erfolge der Ersten, welche die Sucht nach Abenteuer in jene Gegend trieb, und der Ruf von den Reichtümern, welche sie dort erwarben, musste bald auch bei den Übrigen die angeborene Leidenschaft zu bewaffnetem Wanderleben wieder erwecken8, und ihnen den Gehorsam, welchen nun, wider jedes ursprüngliche Abkommen, auch die Statthalter der Fürsten verlangten, weit unerträglicher darstellen. Zum Kriege weder geübt noch geschickt wurden die Sawolozkischen Fremden eine leichte Beute für die unternehmenden Nowgoroder, von denen nun viele Begüterte und Ausgezeichnete sich ansiedelten, um über das unterworfene Volk und dessen Ländereien nach den Gesetzen und Herkömmlichkeiten ihres Vaterlandes zu herrschen, — die Ärmeren unter ihnen, und die, welchen kein Recht an dem Grundbesitze zustand, mussten ihre Wanderungen noch weiter fortsetzen, und folgten dem Wasserlaufe stromabwärts bis zum Meere. So entfernt nun auch ihre ursprünglichen Wohnorte von den Küsten gewesen waren, so konnten sie doch von nun an sehr schnell zum Bau und zur Lenkung von Seeschiffen die erforderlichen Kenntnisse erwerben: teils durch Verbindungen mit den Warägern, welche Stammverwandtschaft an die Normannen, die ausgezeichnetsten Seefahrer des Mittelalters, band; teils durch unmittelbaren Verkehr mit diesen Letzteren, welche nach Ochters Beispiel die Küsten von Bjarmaland nicht selten besuchten.9

Das auf den Werften nötige Holz fanden sie im Überfluss, längs der Flüsse welche in den Nördlichen Ozean münden. Das Meer, mit seinem Reichtum an Fischen und anderen jagdbaren Tieren, erregte Wissbegierde und Gewinnsucht und lockte so dringend zur Schifffahrt, dass die Unternehmungssucht der Einwanderer unmöglich widerstehen konnte.

Höchstwahrscheinlich war dieser der Verlauf eines Ereignisses, welches der dwinischen Landschaft ein durchaus neues Ansehen erteilte und welches die Russen mit dem Nordmeer bekannt machte. Zu Anfang des 12. Jahrhunderts bestand bereits an der Mündung der Dwina das Sawolozker Kloster des Erzengels (Archangel) Michael, woraus deutlich hervorgeht, dass der dwinische Küstenstrich bereits im 11. Jahrhundert von Russen bevölkert ward, und dass auch schon damals ihre Schifffahrten auf dem Nordmeer begannen. Wie weit aber dieselben in den einzelnen Perioden jenes Zeitalters sich erstreckten, bleibt gänzlich unbestimmt. Die Chroniken lassen uns hierüber durchaus hilflos, obgleich durch deren dunkle und unbestimmte Andeutungen einige Schriftsteller beweisen wollen, dass schon im 11. Jahrhundert den Nowgorodern ein Weg nach Nowaja Semlja bekannt war.

In den russischen Chroniken wird ein Feldzug der Nowgoroder erwähnt, durch welchen sie, unter dem Großfürsten Jaroslaw, jenseits der eisernen Pforten gelangten.10 Der Historiograph Müller behauptet in seinen geschichtlichen Abhandlungen, dass man unter dieser Benennung nicht etwa die Kaspischen eisernen Pforten (Derbent) zu verstehen habe, welche den Nowgorodern allzu entfernt lagen, sondern vielmehr die Werchoturische oder Uralische Gebirgskette, welche früher die Jugrische genannt wurde, und er schloss, dass vielleicht mit jenem Feldzuge die Unterwerfung von Permien und Jugrien begann.11 Diese Meinung wird indessen von Hrn. Krestinin, dem Verfasser der Entstehungsgeschichte des dwinischen Volkes, nicht gebilligt. Dieser setzt vielmehr voraus, dass wohl die Straße zwischen Waigatsch und Nowaja Semlja den Namen der eisernen Pforten führe, und die bezeichnete Stelle der Chroniken auf diese Durchfahrt beziehend, schließt er daher, dass die Nowgoroder schon im 11. Jahrhundert Nowaja Semlja kannten.12 Mir scheint diese Meinung nicht hinreichend begründet. Zuerst deswegen, weil jene Durchfahrt nicht eiserne, sondern Karische Pforte, oder auch wohl bloß die Pforten genannt wird, denn so berichteten mir einstimmig unsere Nowasemlischen Seefahrer, welche ich angelegentlich deshalb befragt habe. So unveränderlich werden aber in jener Gegend die einmalgegebenen Benennungen noch den spätesten Nachkommen überliefert, dass ich mich überzeugt halte, auch die hier in Rede stehende stamme aus dem höchsten Altertume.

Dasselbe beweisen sodann auch die von Hrn. Krestinin selbst gesammelten Nachrichten, denn überall, wo er die Aussagen unserer Schiffer wörtlich aufführt, wird jene Straße nur die Pforten genannt, und es scheint fast, als habe ihn gerade nur die fragliche Stelle der Chroniken veranlasst, das Beiwort der eisernen zu supplieren.13 In der Tat gibt es eine Straße dieses Namens bei Nowaja Semlja, aber sie liegt weiter gegen Nordwesten. Außerdem auch, selbst wenn man voraussetzt, dass jene zuerst erwähnte Örtlichkeit im 11. Jahrhundert wirklich die eisernen Pforten genannt wurde, so bliebe es dennoch sehr zweifelhaft und fast unwahrscheinlich, dass die Annalisten sich auf jene beziehen, denn höchst auffallend wäre es, dass sie ein so bedeutendes Unternehmen ihrer Landsleute so außerordentlich kurz behandelten, und sogar nicht ein Mal berichteten, ob dasselbe zu Lande oder auf Schiffen ausgeführt worden? in welches Land man jenseits jener eisernen Pforten gelangt sei? und weshalb man sich dahin begeben habe? – Im Weißen Meer finden wir jene Benennung für zwei Straßen üblich, von denen die eine zwischen der Nordspitze der Mudiujskischen Insel und der Küste des Festlandes, die andere zwischen der Solowezker und Muksalmer Insel liegen. Mir scheint es glaublicher, dass die Nowgoroder, welche sich um jene Zeit an der Dwinamündung niederließen, zur Unterwerfung der Anwohner des Weißen Meeres Streifzüge unternommen und dabei eine dieser letzteren Straßen überschritten haben, sodass dann auch die Stelle der Chroniken nur auf diese zu deuten wäre.

Da nun also ein gänzlicher Mangel an Kunde über die ersten Reisen der Russen im Nördlichen Eismeer in den Chroniken herrscht, so würden wir auch vergebens hoffen, in ihnen eine nähere Aufklärung der im dwinischen Kreise gangbaren Überlieferung zu finden: dass die Nowgoroder dereinst auf Nowaja Semlja Silber gewonnen haben. Diese Sage, welche zu Ende des vorigen Jahrhunderts durch Hrn. Krestinin bekannt wurde14, und welche dann noch in der neuesten Zeit eine Expedition veranlasste, die wir unten näher zu erwähnen haben, gründet sich aber weder auf irgendein echt historisches Denkmal noch auch vielleicht überhaupt auf einen reellen Beweisgrund. Die Wichtigkeit neu entdeckter Erzanbrüche musste in jenen Zeiten, wo man noch weit ärmer an edlen Metallen war, noch ungleich höher sein als jetzt. Sicher hätte die Nowgoroder Regierung an der Bearbeitung derselben teilgenommen, umso mehr da eine solche in jener unbewohnten und jenseits des Meeres gelegenen Gegend nicht ohne bedeutende Beschwerden und erheblichen Kostenaufwand gelingen konnte; es hätte einer großen Menge von Schiffen bedurft, und deren Absendung hätte allgemeines Aufsehen erregt; eine einmalige Unternehmung dieser Art hätte wohl auch zur Nachahmung aufgefordert und wäre jedenfalls mit vielen anderen bürgerlichen Angelegenheiten in sichtbare Verbindung getreten. Wie könnte man also erklären, da derselben weder in irgendeiner Chronik noch auch in irgendeiner Nowgoroder Befehls- oder Verordnungsschrift, oder von einem gleichzeitigen Historiker erwähnt wird15, dass keiner der Reisenden, welche Nowaja Semlja im 16. Jahrhundert besuchten, davon Kunde erhielt!! –

Auch auf Nowaja Semlja selbst sind keine diesbezüglichen Spuren hinterblieben. Herr Krestinin deutet an, dass unsere Seefahrer auch noch heutigentags die Stellen kennen, an denen Silber in Gestalt eines Anfluges an der Erdoberfläche sich zeige16, aber dass sie wegen gewisser Verbote dasselbe nicht ausbeuten. Man weiß aber nichts von solchem Verbote, und selbst wenn es wirklich dergleichen gäbe, die man geheim gehalten hätte, so würden Leute, welche für höchst mäßigen Gewinn ihr Leben stündlich aufs Spiel setzen, sich schwerlich durch die Furcht vor einem Prozesse von dem Streben nach bedeutenden Reichtümern zurückhalten lassen. Zur Bekräftigung der Sage führt man den Namen der Silberbucht an, aber es konnte ja ebenso wohl dieser durch jene entstehen, als umgekehrt. Auch sind unsere Seefahrer im Allgemeinen nicht sehr vorsichtig in der Wahl topographischer Benennungen: So gibt es an der lappländischen Küste eine Bucht, welche die Goldene genannt wird, weil sie von (gelben) Sandufern umgeben ist. Ein ähnlicher Umstand konnte auch der Silbernen Bucht ihren Namen verleihen. Die weiteren Sagen der redseligen Seeleute sind aber ebenso wenig überzeugend, denn immer wiederholen sie durchaus unkritisch alles Gehörte, es ist ihnen eigen, alles Glänzende für Gold zu nehmen; für das Geheimnisvolle und für Übertreibungen haben sie eine ausgezeichnete Leidenschaft, und gern erregen sie Bewunderung durch Erzählungen von den Reichtümern der besuchten Gegenden; weil ein ähnlicher Hang zu allen Zeiten und in allen Ländern gleichartige Sagen veranlasste, so sehen wir nun die amerikanische Fabel von dem Dorado auch auf unserem Nowaja Semlja sich wiederholen.

Obgleich also kein einziger direkter Beweis dafür spricht, dass Nowaja Semlja schon in den mittleren Jahrhunderten von unseren Landsleuten entdeckt war: so bleibt doch kein Zweifel über diesen Punkt, wenn man die Schriftsteller und Reisenden anderer Völker liest, und noch zu unserer Zeit geschieht es ja leider gar nicht selten, dass wir vaterländische Entdeckungen zuerst aus dem Ausland vernehmen!

Mauro Urbino, ein italienischer Schriftsteller aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts, erzählt folgendermaßen: ›Nach der Versicherung von Wagries haben die Russen vor 107 Jahren von Bjarmaland aus eine bis dahin unbekannte Insel entdeckt, welche von einem slawischen Volk bewohnt wird. Nach dem Bericht von Philipp Kallimach an Papst Innozenz VIII. ist sie ewigem Frost unterworfen. Man nannte diese Insel Philopodia, sie übertrifft Zypern an Größe und wird auf den Karten unter dem Namen Nowaja Semlja angedeutet.‹17 Hier haben wir also eine direkte Aussage, dass Nowaja Semlja schon im Anfang des 16. Jahrhunderts nicht nur entdeckt, sondern auch durch Slawen bevölkert war. Man kann mit Recht sowohl an diesem letzteren Umstand zweifeln als auch daran, dass die Russen jemals Nowaja Semlja durch Philopodia bezeichnet haben. Beides möchte wohl für allmähliche Hinzufügungen durch spätere Überlieferer dieser Nachricht zu halten sein, jedenfalls aber sieht man, dass auch fremde Schriftsteller die Entdeckung von Nowaja Semlja den Russen zuschreiben. Noch andere positive Bestätigung der in Rede stehenden Tatsache habe ich nicht auffinden können. –

Die Reisen, welche in Europa die Kunde von Nowaja Semlja verbreiteten, hatten, wie schon oben angedeutet, die Auffindung eines näheren Seewegs nach Ostindien zum Hauptgegenstand.

Die wichtigen Entdeckungen, welche den Spaniern und Portugiesen zu Ende des 15. Jahrhunderts gelangen, die großen Reichtümer, die daraus erwuchsen und sich von Osten her über Portugal, von Westen aber über Spanien verbreiteten, erregten auch andere seefahrende und Handel treibende Nationen zum Wetteifer; um aber diesem zu genügen, schien die Auffindung eines neuen und näheren Weges nach China, Japan und den Gewürzinseln das einzige Mittel. Die Briten, welche sich zu allen Zeiten durch Unternehmungsgeist und Beharrlichkeit auszeichneten, erschienen zuerst auf dieser neuen Laufbahn. Nach einigen vergeblichen Versuchen im Nordwesten von Europa beschlossen sie, den gewünschten Weg im Nordosten zu suchen.

1553. WILLOUGHBY

Sebastian Cabot, der durch eigene Reisen und Entdeckungen bereits berühmt und zur Würde eines Großsteuermanns von England (grand pilot of England) erhoben worden war18, entwarf den Plan zu dieser Unternehmung. Eine Kaufmannsgesellschaft, welche sich zu Entdeckungsreisen in unerforschten Gegenden unter Cabots Vorsitz vereinigt hatte, rüstete dazu im Jahre 1553 drei Schiffe: die Bona Esperanza von 120 Tonnen, den Edward Bonaventura von 160 Tonnen und die Bona Confidentia von 90 Tonnen, aus. Zum Anführer der gesamten Expedition und Kommandeur des ersteren Schiffes wurde Sir Hugh Willoughby ernannt, das zweite Schiff befehligte Kapitän Chancellor und das dritte Master Durforth.

Am 20. Mai liefen sie von Ratcliff aus, erreichten im Juni Helgoland, Ochters Geburtsort, und gingen von dort nach Lofot (den Loffoden) und Seinam. Bald darauf erlitten sie einen Sturm, durch welchen Kapitän Chancellor vom Admirale getrennt wurde. Der Letztere sah im Verlauf seiner Reise Land in 72° Breite und 160 gr. Seemeilen Ost zu Nord von Seinam.19 Eis und geringe Wassertiefen verhinderten ihn anzulegen: Er kehrte gegen Westen zurück und lief an der lappländischen Küste in einen kleinen Hafen bei der Mündung des Flusses Arzina, wo er wegen vorgerückter Jahreszeit zum Überwintern verblieb. Mehrmals sandte er Leute in verschiedenen Richtungen ins Innere des Landes, fand aber weder Ansässige noch auch Spuren von Bewohnung. Endlich, sei es vor Hunger oder vor Kälte oder aus beiden Ursachen zugleich, starb er daselbst mit den gesamten Mannschaften beider Schiffe20, welche sich auf 70 Seelen beliefen. – Sie wurden durch Loparen im folgenden Frühjahr gefunden und die Schiffsgeräte und Waren von beiden Fahrzeugen nach Cholmogory gebracht, und auf Befehl des Zaren an die Engländer zurückgegeben, welche nur auf diesem Wege von dem Ende ihrer Landsleute Nachricht erhielten.

Kapitän Chancellor, welcher sich nach der Trennung vom Admiral nach Wardhus flüchtete, erwartete ihn daselbst während sieben Tagen vergeblich. Er hielt nachher gegen Osten, lief in das Weiße Meer und gelangte endlich in die westliche Mündung des Dwina-Flusses zum Nikolo-Korelski-Kloster. Der Handel zwischen England und Russland wurde hierdurch begründet.

Das von Willoughby gesehene Land ist von manchen für Spitzbergen gehalten worden, doch ist dieses im höchsten Grade unwahrscheinlich, weil ja alsdann jener Seefahrer sich um mehr als 5° bei der Bestimmung der Breite geirrt haben müsste. Außerdem aber hätte dann das erreichte Land, von Seinam aus ungefähr nach NNO, nicht aber nach O zu N gelegen, wie Hakluyt ausdrücklich angibt. Dieser Rhumb und die früher erwähnte Entfernung21 Es gibt aber keinen solchen Hafen längs der ganzen lappländischen Küste. Auf alten Karten findet sich dieselbe Benennung für die Nordwestspitze der Fischerinsel (Rybatschi ostrow) und sie entstand durch Entstellung des russischen Namens Kekurski mys oder Kekurisches Vorgebirge.23